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»Schwerer werden. Leichter sein.«

Gespräche um Paul Celan

Mit Durs Grünbein, Gerhard Falkner,
Aris Fioretos und Ulrike Draesner

Michael Eskin

 

 

 

WALLSTEIN VERLAG

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

 

Ulrike Draesner, für die nacht geheuerte zellen. Gedichte

© 2001 Luchterhand Literaturverlag, München in der Verlagsgruppe Random House GmbH

 

Der Abdruck der Gedichte von Gerhard Falkner erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Autors

 

© Wallstein Verlag, Göttingen 2020

www.wallstein-verlag.de

Umschlaggestaltung: Marion Wiebel, Wallstein

 

ISBN (Print) 978-3-8353-3631-5

ISBN (E-Book, pdf) 978-3-8353-4454-9

ISBN (E-Book, epub) 978-3-8353-4455-6

Inhalt

Mit und um Celan sprechen. Wie es zu diesem Buch kam
Michael Eskin

Der Spiritus des Lebendigen
Gespräch mit Durs Grünbein

»Derrida! die Blumen sind da!«
Gespräch mit Gerhard Falkner

»Zuviel, Zuwenig«
Gespräch mit Aris Fioretos

Die Poesie reizt das Extrem
Gespräch mit Ulrike Draesner

Dank

Die Autorin und die Autoren

Mit und um Celan sprechen

Wie es zu diesem Buch kam

Vor mehreren Jahren schrieb ich einen Essay mit dem Titel »In der zweiten Person lesen«. Es war dies ein erster Versuch, einem Bedürfnis Rechnung zu tragen, das mich schon seit längerem beschäftigt hatte: Wie als Kritiker über Dichtung und Dichter sprechen, ohne über den Dichter hinweg zu sprechen, das heißt, ohne den Dichter gewissermaßen in der dritten Person Singular von der eigentlichen Teilnahme am kritischen Gespräch über seine Dichtung auszuschließen?

Dies mag zunächst etwas paradox klingen, kann man doch davon ausgehen, dass der Kritiker den Dichter, um den es jeweils gehen mag, ausgiebig zitiert und dessen Stimme somit sehr wohl in das Gespräch, das er mit seiner Leserschaft führt, integriert. Aber gerade ein derartiges Zitieren überdeckt in der Geste der scheinbaren Stimmverleihung die eigentliche Ausblendung des Dichters als aktiver Teilnehmer am Dialog, denn das Zitat ist immer schon ein ›Sprechen für‹ bzw. ›im Namen von‹, was das stillschweigende Verstummen, wenn nicht gar Mundtotmachen, des Zitierten suggeriert. Der Kritiker behandelt den Dichter, über den er spricht, somit in gewissem Sinne immer schon, um mit T. S. Eliot zu sprechen, als »patient etherized upon a table«, als einen Patienten unter Vollnarkose, als eine Art Sprach-Leiche also, deren Sprach-Körper mehr oder weniger beliebig hin und her gewendet und für alle möglichen Zwecke verwendet werden kann.

Aber wie sonst soll man denn über Andere sprechen, als eben über sie zu sprechen, mag es sich nun um einen Dichter oder um eine beliebige andere Person handeln? Das sind doch alles nur Metaphern! Niemand wird hier in Vollnarkose gelegt, zum Schweigen gebracht oder gar mundtot gemacht! So funktioniert einfach menschliche Kommunikation: indem man eben nicht umhin kann, ständig etwas oder jemanden zum Thema zu machen, das heißt, über irgendetwas oder irgendjemanden zu reden.

Eine derartige Gegenreaktion mag verständlich und auch zum Teil berechtigt sein, denn in der Tat verbringen wir einen Großteil unseres Lebens damit, uns mit Anderen über Andere zu unterhalten, sei es in der Form des Besprechens, Analysierens, Beurteilens, Bewunderns, Bedauerns, Lobens, Lästerns usw. oder eben der Literaturkritik, die alle genannten Formen in sich versammelt. Und doch haftet dem Über-Andere-Reden – vor allem wenn es sich um unmittelbar anwesende Andere handelt – immer auch etwas ›Ungehöriges‹, ›Unhöfliches‹ an. So bringen wir unseren Kindern bei, im Beisein von Anderen nicht über sie, sondern wenn schon dann mit oder zu ihnen, zu reden. Weshalb? Was genau gehört sich hier nicht?

Was sich nicht ziemt, so scheint es, ist zum einen der Übergriff auf die Redefreiheit und die damit einhergehende Entmächtigung des Anderen, und zum anderen die Nicht-Anerkennung seiner Gegenwart als Person und die damit einhergehende Verletzung seiner Menschenwürde im Zuge seiner Degradierung vom Subjekt eigener zum bloßen Objekt fremder Rede: Über Andere sowie die Rede Anderer in ihrem Beisein reden, heißt, sich ihrer zu bemächtigen, sich in gewisser Weise über sie hinwegzusetzen, ihnen den einem jeden Menschen gebührenden Respekt zu verweigern, der minimal darin bestünde, einem Anderen nicht das Wort zu nehmen. Man denke nur an all die Situationen, in denen sich mehrere Personen unterhalten und einer der Gesprächspartner einem anderen in dem Glauben, er verstehe das Gesagte bzw. Zu-Sagende besser als der Sprecher selbst, ungebeten das Wort entreißt, um es einem Dritten zu erklären – »Was er meint, ist …« oder »Was sie sagen will, ist …« –, statt den Sprecher selbst weiterreden zu lassen. Gerade dies aber ist des Kritikers Hauptgeschäft: das Wort des Anderen zu vereinnahmen, um es einem Dritten gegenüber zu erläutern, zu besprechen und zu beurteilen.

Dies alles mag sich jedoch nur als ein vermeintliches Problem erweisen, da der besprochene Dichter normalerweise sowieso nicht anwesend ist, wenn der Kritiker seiner Arbeit nachgeht, und also auch gar nicht leibhaftig, viva voce mitreden und somit auch nicht eigentlich entmächtigt, der Redefreiheit beraubt und in seiner Menschenwürde verletzt werden kann. Außerdem muss man ja irgendwie über Andere und deren Rede reden können, warum also nicht nach den Spielregeln der Literaturkritik? Bei einem lebenden Dichter zumal, der also im Prinzip anwesend sein und am kritischen Dialog über sein Werk öffentlich oder privat teilnehmen kann oder könnte, stellt sich das Problem in dem Sinne nicht wirklich.

Wie steht es nun aber mit einem Dichter, der nicht mehr oder vielmehr nur noch in absentia ›mitreden‹ kann? Insbesondere mit einem toten Dichter, der das Sprechen der Menschen zu- und miteinander ins Zentrum seiner Dichtung und Existenz gerückt und sich selbst als in seiner Dichtung leibhaftig anwesend verstanden und somit zwischen Mensch und Gedicht keinen prinzipiellen Unterschied gemacht hat? Einem Dichter also wie Paul Celan, dessen Leben und Werk ganz und gar im Zeichen des – nicht immer möglichen oder gelingenden – menschlichen Gesprächs durch die Zeiten hindurch stehen, der stets im Namen des Menschlich-Kreatürlichen dem Dialog das Wort zu reden suchte, der den Dialog regelrecht als ›Waffe‹ gegen jedwede Form von Entmenschlichung und Menschenentwürdigung und -zerstörung einsetzte, der im Gedicht stets die lebendige Stimme des Dichters vernahm? Wie also über Celan sprechen, ohne ihn in die Ecke der dritten Person abzudrängen, ohne über ihn hinweg zu sprechen? Wie über Celan so sprechen, dass das Gespräch, das sich in und durch seine Dichtung hindurch entfaltet, nicht abbrechen und verstummen, sondern sich weiter entfalten und neue, ungewohnte Wege gehen möge? Wie über ihn anders sprechen, als ich es selbst als Kritiker jahrelang unbedacht in meinen Büchern und Essays über Celan bislang getan hatte?

Dies war die grundlegende Frage, die mich bewegte, als ich den Gedanken fasste, Paul Celan anlässlich seines hundertsten Geburtstages und fünfzigsten Todestages im Jahr 2020 auf meine Art für sein Leben und Werk dialogisch zu danken – für all das, was mir sein Leben und Werk auch im ganz pragmatischen Sinne im Leben eröffnet und mit ermöglicht haben: Beruf, Anstellungen, Wohnorte, Reisen, Bekannt- und Freundschaften, intellektuelle und geistige Erfüllung …

Es konnte somit nicht angehen, wieder dieselben alterprobten Pfade zu beschreiten und ein weiteres Mal einfach nur über Celan in der dritten Person zu schreiben, zum Beispiel als den Dichter der Shoah par excellence usw. Wie aber Celan gleichsam selbst sprechen lassen? Wie seinem Insistieren auf dem lebensrettenden und lebenserhaltenden menschlichen Gespräch angemessen Tribut zollen?

Und so kam mir die Idee, statt über Celan, mit und gleichsam um ihn herum, ihn sozusagen umkreisend, zu sprechen. Dies wiederum, so schien mir, konnte so richtig nur im Kreise von Anderen, das heißt, im Gespräch mit Anderen geschehen. Wenn überhaupt, so dachte ich, dann würde seine Stimme wohl nur im Raum eines lebendigen Gesprächs mit Anderen ihrerseits ›lebendig‹ wirken können. Nur im Raum eines sich genuin entfaltenden, zwischenmenschlichen Dialogs würde seiner Stimme wirklich Gehör verliehen, würde sein Wirken und dichterisches Atmen im Leben und Wirken Anderer dialogisch sinnfällig werden – solcher Anderen vor allem, die Celans Leben und dichterisches Sprechen selbst auf ihre Art und mehr oder weniger direkt und explizit weiter dichten und leben und so in besonderem Maße in die Zukunft tragen.

 

*

 

Das vorliegende Buch ist Frucht und Zeugnis meines Versuchs im Kreise Anderer mit und um Celan zu sprechen. Die Gespräche wurden schriftlich über einen Zeitraum von mehreren Monaten geführt. Alle Gesprächspartner sind Celan tief verbunden und sprechen ihn in den verschiedensten Registern und Tönen auf je eigene, besondere Weise weiter. Darüber hinaus, denke ich, bedarf die Auswahl der Gesprächspartner, ebenso wie Freundschaft oder Liebe, keiner weiteren Begründung oder Erklärung – mögen es geistige Affinität, gegenseitige Sympathie, künstlerische Bewunderung, Anregungen Dritter, Kairos oder bloßer Zufall gewesen sein. Mich zumal hat jedes Gespräch nicht nur Paul Celan neu sehen, hören und sprechen gelehrt … Möge es Ihnen ebenso ergehen.

 

Michael Eskin

Der Spiritus des Lebendigen

Gespräch mit Durs Grünbein

MICHAEL ESKIN Celan – Künstlername, Anagramm, onomastisches Vexierbild. Ein Name, der für mich bis heute rätselhaft und geheimnisvoll klingt, auch noch nach fast dreißig Jahren Beschäftigung mit Celans Werk. Diaphan und milchig zugleich, scharf wie eine Messerklinge, spitz wie eine Lanze, aufs Feinste ziseliert und zerbrechlich wie Porzellan, doch auch daunenweich und geschmeidig wie ein Schleier aus lana vergine, lebendig und voller Elan und gleichzeitig erfüllt von Trauer und Melancholie. Kein deutscher Name … Man will ihn unbedingt französisch aussprechen, wie das Wort ›selon‹ – und schon hört man das englische ›so long‹ darin, ein Abschiedswort, Trennung, Heimweh, Verlust und Leid verheißend: Leitmotive in Celans Leben und Werk. Oder die Berührung der Lippen im russischen ›poceluj‹ – Kuss –, das paronomastisch aus ›Paul Celan‹ herausperlt, spricht man den Namen französisch aus und hört dabei mit dem Ohr des von Celan beschworenen Ostens hin, wo er bekanntlich seine »Hoffnung« verortete: »Mon espoir est à l’est – il y est«, schrieb er aus seiner Wahlheimat Paris einmal an seinen rumänischen Freund Petre Solomon. Ganz zu schweigen von den Namen, die da mitschwingen: Thomas von Celano etwa – Franziskanermönch und mutmaßlicher Autor des Dies Irae – oder Céline, antisemitischer Verfasser der Reise ans Ende der Nacht, und natürlich Lancelot … Dass der Akzent, wie Celan angesichts der oft falschen Aussprache seines Namens immer wieder betont haben soll, auf der ersten Silbe zu liegen habe (wohl in Anlehnung an seinen Geburstnamen ›Ántschel‹ bzw. ›Áncel‹ in rumänisierter Form), jedoch ganz intuitiv auf der zweiten gesetzt sein will, stellt außerdem eine musikalische Grundspannung her, die das Geheimnisvolle und Fluide dieses Namens melodisch ins Schwingen bringt: als gemahnte er buchstäblich daran, dass »noch Lieder / zu singen [sind] jenseits / der Menschen«, wie es in Celans berühmtem Gedicht »Fadensonnen« heißt. Auch Du schreibst ja in diesem Zusammenhang in Deinem Essay Artistik und Existenz, der im Dezember 2011 in der Neuen Zürcher Zeitung erschien: »Ich habe bis heute Schwierigkeiten mit der Betonung des Namens. Heißt es nun Célan (gesprochen wie WLAN), oder sagt man Celán, wie man Elan sagt, nach dem französischen Wort für Schwung und Begeisterung? Ich habe mich dann belehren lassen, der Mann hieß Célan, so nannten sie ihn im engsten Freundeskreis.«

Wann und wo hast Du diesen geheimnisvollen, dem Deutschen so fremden Namen eigentlich zum ersten Mal gehört? Kannst Du Dich noch erinnern, wie er auf Dich gewirkt hat und was Du dabei empfunden oder gedacht hast?

 

DURS GRÜNBEIN Auf den Namen Celan stieß ich zum ersten Mal bei dem Philosophen Adorno. Der sprach immer von einem Dichter, der die deutsche Sprache nach Auschwitz zu retten versuchte und gewissermaßen als Einziger die Last der Geschichte trug. Ich hatte noch nichts von ihm gelesen, aber vor dem Namen hatte ich von da an den allergrößten Respekt. Dabei war es eigentlich gar kein Name, sondern eher ein Code unter Eingeweihten, eine Parole, es klang auch wie ein unbekanntes chemisches Element. Als ich dann die »Todesfuge« las, war ich überrascht, wie einfach er sich ausdrückte. Ich hatte weiß Gott was erwartet, dunkle hermetische Texte von enormem Schwierigkeitsgrad – und dann das. Man muss dazusagen, dass Celan in Ostdeutschland keine Schullektüre war. Kein Schulmeister hatte mir diesen Singsang durch Didaktik vergällt. Ich traf also unvorbereitet, geradezu unschuldig auf diese magischen, schamanistischen Zeilen. Schamanistisch kommt mir jetzt unfreiwillig in den Sinn, als sinnloses Wortspiel – denn was ich damals erfasste, war, dass es um Scham ging, um eine große Scham. Die Scham dessen, der sich dafür schämte, dass offenbar kaum einer unter den Menschen seiner Zeit sich schämte. Im selben Augenblick, da ich die »Todesfuge« las, erfuhr ich auch alles über sein Leben. Vom Tod der Eltern, seiner Zeit im Arbeitslager, seiner Übersiedlung nach Paris, vom Auftritt bei der Gruppe 47, von der Goll-Affäre und von seinem Freitod in der Seine. Das Thema der Scham ist mir seither nicht mehr aus dem Kopf gegangen. Und das quälte mich. Wieso schämte sich dieser feine Mensch so sehr für seine Mitmenschen, dass er immer dünnhäutiger wurde, immer misstrauischer auch, ja geradezu paranoid, bis er es schließlich nicht mehr aushielt und nur noch verschwinden wollte? Man konnte sein Werk aus mehreren Perspektiven lesen. Als eine Anklage der deutschen Judenmorde und der Verdrängung dieses Verbrechens nach dem Krieg. Als einen Versuch, vor dem schrecklichen Realitätsprinzip Geschichte in die Dichtung abzutauchen, indem man die Sprache für sich behauptete wie das Kind – das Kind, das vor sich hin murmelt und Selbstgespräche führt. Oder als einen ununterbrochenen Kampf mit der Scham, einer Scham, die viele Facetten hatte. Der Scham des Überlebenden, der seine Eltern nicht hatte beschützen können. Der Scham des Sprechers, der sich in der Sprache der Mörder zu Hause fühlte, weil es die Sprache seiner Mutter war. Der Scham des Dichters, der instinktiv weiß, dass die moderne Dichtung immer nur von sich selbst spricht und starke Ähnlichkeiten mit einer narzisstischen Erkrankung hat. Der aufgrund dessen spürt, dass er niemals ganz erwachsen werden kann, weil ihn die tiefere Spracherfahrung vom Leben abschneidet. Die Scham für die falschen Töne in den Gedichten der andern, Scham für die Nachahmer. (»Mutter, sie schreiben Gedichte.«) Die Scham eines Menschen, der sich selber so wenig trauen kann wie allen anderen. Eines Menschen, der immer am Rande der Depression lebt und sich dafür schämt. Schließlich die Scham eines Idiosynkratikers der Sprache, den sein Sprachgefühl in eine immer tiefere Isolation treibt, den das gemeinsame Sprechen buchstäblich anekelt und der sich dabei schlecht vorkommt. »DAS AUSGESCHACHTETE HERZ, / darin sie Gefühl installieren. / Großheimat Fertig- / teile.« Deutlicher kann man nicht reden, mehr Klartext geht nicht. Ich habe den Vorwurf des Hermetischen gegen Celan nie verstanden. Mich hat aber auch immer gewundert, wieso viele sich so leicht mit ihm in Verbindung bringen konnten. Mir wollte das nicht gelingen.

 

ME Unter diesem Aspekt der Scham sehe ich Celan ganz neu. Vor allem die Nuance des Sich-für-die-eigenen-Mitmenschen-Schämens – was ich so noch nicht bedacht hatte (vielleicht zu Unrecht) – rückt Celans existenzielle ›Grund-Anklagehaltung‹ gegenüber den Deutschen zumal für mich in ein ganz neues Licht. Bedenkt man seine eigene Scham für die anderen mit, dann könnte man zum Beispiel Celans in einem Brief von 1960 an Hans Bender gerichtete Zeitdiagnose – »Wir leben unter finsteren Himmeln – es gibt wenig Menschen« – auch als eine subtile ›Selbstzeihung‹ lesen … welcher Art auch immer – darüber erlaube ich mir an dieser Stelle nicht zu spekulieren.

Was mich aber ganz besonders in Deiner Replik aufhorchen lässt, ist die Verbindung, die ich zwischen Deinen Überlegungen zu Celans Scham und Deiner eigenen Behandlung dieses Themas in Deinem Werk sehe: Das Wort, das Du wiederholt verwendest, um deine eigene Scham hinsichtlich Deiner historisch-existenziellen Einbindung auszudrücken, ist »Peinlichkeit«. So schreibst Du im 1991 erschienenen Gedichtband Schädelbasislektion auf deine Jahre in der DDR bezogen: »Wird Dir nun klar, wie groß der Schaden ist / Sovieler Jahre Peinlichkeit und Komik …«. Im 2002 veröffentlichten Band Erklärte Nacht lässt Du Dein Alter Ego Seneca aus dem Exil zu uns von seinen »peinlich[en] … Tränen« sprechen. Und im 2005 veröffentlichten Elegien-Zyklus Porzellan: Poem vom Untergang meiner Stadt schließlich sprichst Du explizit von den »tausend Jahre[n] Scham«, die auf den Albtraum des »Dritten Reichs« folgen.

Siehst Du hier eine Verbindung zwischen Dir und Celan? Empfandest oder empfindest Du eine gewisse Peinlichkeit bzw. Scham für Deine Mitmenschen, die der von Dir für Celan veranschlagten Scham verwandt sein könnte?

 

DG In Berlin muss ich nur den Fuß vor die Tür setzen, dann stoße ich vor jedem zwölften Haus auf einen dieser Stolpersteine im Boden, und es geht wieder los. Oft nehme ich mir die Zeit, lese die Namen der früheren Nachbarn, die man alle abtransportiert hat, viele waren im Rentenalter, aber es gab auch ganz kleine Kinder oder frisch verheiratete Paare darunter. Dann denke ich: was für eine Schweinerei. Die Wohnungen wurden konfisziert, die Menschen kamen in die Viehwaggons und kehrten nie wieder. Es heißt dann beispielsweise »Ermordet in Minsk«, da denkt man an die weißrussische Hauptstadt von heute. Der Ort des Todes hieß aber Malij Trostinez (bei Minsk), dort wurden sie meistens sofort erschossen. Den Ort kennen nicht so viele, er spielt keine Rolle in der Nomenklatur der Vernichtungslager. Viele Deutsche würden sich wundern, wenn man ihnen genau erklärte, was da mit diesen ehemaligen Berlinern nach ihrer Ankunft geschah. Das waren die killing fields im Osten, irgendwelche Erschießungsgruben hinter der Front. Dieser Teil der Shoah liegt vielfach noch immer im Dunkel. Und da kommt die Scham und die Wut darüber, wie wenig doch im Allgemeinen bekannt ist. So viel zur »Vergangenheitsbewältigung« – auch so ein Unwort im Nachkriegsdeutschen. Scham über den Mangel an Unrechtsbewusstsein, Scham über den bestürzenden Mangel an Phantasie. Wehrlose Menschen, Zivilisten, werden im Schatten des Krieges umgebracht, und den meisten fällt es offenbar schwer, sich selbst an ihrer Stelle zu sehen. Der Nicht-Jude wird wieder zum Arier, indem ihn die Sache kaltlässt. Es ist nicht seine Familienangelegenheit, es betraf nur die anderen. Das ist keine gute Basis für ein Gemeinwesen. Und jetzt werden die Stimmen immer lauter, die sagen: Schwamm drüber, das war doch nur ein »Vogelschiss« in der großen deutschen Geschichte. Hier, an genau dieser Stelle, setzt jedes einzelne Wort von Celan an. Es fällt ihm schwer, ein Gedicht zu komponieren, weil die Sprache, in der er schreibt, vergiftet ist. Das Deutsch der Ämter, der Verwaltungen, der Rassejuristen, das Deutsch der Techniker und selbst das der Philosophen, der »Kulturmenschen«, alles ist toxisch. Vorsicht, Hochspannung, Stacheldraht. Das Alphabet ist vermint, von Blausäure durchzogen. Mich beschämt die Gleichgültigkeit, die Herzenskälte, oft auch die ungeschickte, verkrampfte Sprache der Politiker, die sich offiziell mit dem Faktum befasst. Dabei ist es ganz einfach, menschenrechtlich, auch zivilrechtlich betrachtet: ein Mord ist ein Mord ist ein Mord. Und niemand muss Jude sein, um sich zu sagen: Das bist du, der andere. Schau in den Spiegel: Auch Du willst nicht ermordet werden. Scham über staatliches Handeln, das im Namen der Nation die Vernichtung von Mitbürgern befahl und normalisierte. Wenn ich das sage, klingt es peinlich, aber es muss immer wieder gesagt werden, bis auch der letzte sich an der Stelle der Ausgelöschten sieht. Heiner Müller hat mir einmal einen jüdischen Witz erzählt, bei dem mir das Lachen im Halse stecken blieb. Treffen sich zwei Rabbiner, sagt der eine zum andern: »Das mit Auschwitz werden die Deutschen uns nie verzeihen.« Was spricht dagegen, die Scham zum Ausgangspunkt der Erkenntnis zu machen? Kafkas Josef K. endet so. Letzter Satz im Roman Der Prozess, der Moment der Hinrichtung: »… es war, als sollte die Scham ihn überleben.« Mich jedenfalls überlebt diese Scham.

 

ME Das verstehe ich sehr gut … Als Jude wurde ich im Leben schon oft gefragt – sowohl in Deutschland als auch in den USA, in Frankreich, in England und anderswo –, warum meine Eltern aus Israel, wohin sie und ich mit der ersten Welle jüdischer Emigranten 1972 aus der Sowjetunion ausgewandert waren, ausgerechnet nach Deutschland weiterzogen? Die Frage impliziert, dass man doch als Jude auf keinen Fall ins Land der Täter ziehen könne.

Weshalb ich dies erwähne hat damit zu tun, dass ich mich, obwohl ich schon seit Jahrzehnten genauso wie Du und Millionen anderer auch Deutscher bin, noch niemals in diesem Zusammenhang geschämt habe, dass ich zum Beispiel keine Scham empfinde. Ebenso wenig empfinde ich als US-Amerikaner, der ich auch bin, Scham über die Sklavenhaltervergangenheit unserer weißen Vorfahren. Noch auch empfinde ich Scham in Sachen Sowjetunion, wo eine meiner jüdischen Großmütter eine hohe Richterin unter Stalin und seinen Nachfolgern war und den einen oder anderen zum Tod und zum Gulag verurteilt haben soll … Sogar in meiner Familie ist all dies ein Thema: Meine Frau z. B., die eine gebürtige Deutsche ist, empfindet dieselbe Scham bzw. Peinlichkeit wie Du und sagt mir immer wieder, dass sie, anders als ich, nicht die innere Freiheit hat, dem Deutschen ›einfach nur‹ offen zu begegnen und es als eine große Bereicherung ihres Daseins zu empfinden mit all seinen Höhen und Tiefen … (Was jedoch nicht heißt, dass sie das Deutsche nicht mag.)

Warum empfinde ich keine Scham? Sicherlich nicht, weil ich, wie manch anderer in den USA und vor allem in Washington, an Alexithymie leide (hoffe ich zumindest …). Ich glaube, es hat eher viel mit der Frage der Schuldzuweisung im moralischen Sinne zu tun sowie der Möglichkeit bzw. Unmöglichkeit, ohne moralische Schuldzuweisung zu existieren – an sich selbst und andere gerichtet.

Historisch betrachtet eröffnen sich für mich diesbezüglich zwei Perspektiven: diejenige Celans und diejenige Etty Hillesums. Für den einen gibt es nur »wenig Menschen«, für die andere gibt es nur Menschen. In ihren Tagebüchern, die sie im besetzten Amsterdam schrieb, bevor sie selbst der Todesmaschine zum Opfer fiel, heißt es an einer Stelle: »Ich wusste sofort, dass ich für diesen deutschen Soldaten beten musste. All den Uniformen entwuchs plötzlich ein Antlitz. Es wird weitere geben. Und darin werden wir etwas lesen können, das wir alle verstehen: Die deutschen Soldaten leiden ebenso. Es gibt keine Grenzen zwischen Menschen, die leiden.« Womit ich überhaupt nicht vergleichen noch auch das Leiden der Juden und anderer mit dem Leiden der Deutschen von damals gleichstellen will – ein zu weites und vermintes Pflaster. Aber für die Bundesbürger von heute könnte dies doch sehr wohl einen Zugang bedeuten, der sie lehren könnte, den Juden den Holocaust zu verzeihen? Denn der Witz, den Heiner Müller Dir erzählte ist natürlich absolut wahr: Man ›hasst‹ diejenigen ganz besonders, die Zeugen von Taten waren, für die man sich ganz besonders schämt … Aber muss das immer so weitergehen?

Ich persönlich wähle – mit und unter allen Vorbehalten – um der Gegenwart und Zukunft willen Hillesums Perspektive, weil ich denke, dass wir alle daran leiden, dass wir niemals wissen können, ob wir uns anders verhalten hätten unter den damaligen Strukturen oder ob wir uns anders verhalten werden, sollten sie in anderer Form wiederkehren. Im Kleinen habe ich es schon zu oft erlebt, wie Menschen in demokratischen Systemen sich so verhalten, wie es Millionen von Deutschen unter Hitler getan haben mussten – ganz ohne Zwang … Wenn es also bereits an der Upper West Side, wo ich lebe, so leicht von der Hand geht, die Augen zu schließen, wenn anderen Unrecht geschieht, um wie vieles leichter ist es dann, wenn wirkliche Gewalt droht?

In diesem Zusammenhang frage ich mich, ob Celans Ansatz, gerade weil er, wie Du sagst, »an dieser Stelle« ansetzt, eher historisch denn als gegenwärtig sozio-politisch gewinnbringend bzw. dialogfördernd gelesen werden sollte? Damit möchte ich Dir überhaupt nicht widersprechen, sondern nur ausloten, inwiefern jegliche Art von Anklagediskurs – den Celan ja auch immer führt – einem gemeinsam florierenden Miteinanderleben förderlich ist. Liegt Celans ethische Bedeutung vielleicht doch woanders? Liegt sie nicht gerade darin, dass er, trotz seiner Scham, trotz seiner Anklagehaltung, seiner Wut, den absoluten Wert des Einzelnen – und damit auch des einzelnen Deutschen – höher hält als alles andere? Anders gesagt: Weiß der Dichter Celan nicht eventuell schon immer mehr als der Mensch? Nämlich, dass wir alle leiden und dass das perennierende Leiden ein absolutes Recht auf Ausdruck hat? Denn wäre es anders, würden wir seine Dichtung überhaupt noch lesen? Wäre sie doch nur Ideologie (wenn auch die moralisch richtige) in Versen. Liegt nicht gerade in seiner allumfassenden dichterischen Liebe zur absoluten menschlichen Singularität auch seine Stärke als Dichter, der alle anspricht und für alle spricht?

 

DG Entfernt man diesen Zünder, ist seine Dichtung entschärft. Dann bleibt immer noch viel, es bleiben die linguistischen Rätsel und im Spätwerk die bewusst schizoiden Elemente. Dann könnte man Celan lesen, wie man heute Andrea Zanzotto liest, den italienischen Meister und anderen großen Depressionsfall der Lyrik, der gelegentlich mit ihm verglichen wird und der in seinen poetologischen Arbeiten manchmal auf ihn verweist. Dann sind wir bei Lacan und beim Stichwort des »gleitenden Signifikanten«. Die Sammlungen Fadensonnen und Schneepart – der letzte, posthum veröffentlichte Gedichtband – bieten ein reichhaltiges Material für diese Lesart einer im Psychotischen irrlichternden Sprache. Hier ist die Psyche aus der Spur geraten, die Signifikanten driften in unwegsames Gelände. Es kommt zu immer bestürzenderen Wortverbindungen. Celan reizt ja, wie kaum einer sonst, die Möglichkeiten zur Kombinatorik der Nomina aus. Das Deutsche erlaubt einem immer neue Kombinationen und Bandwurm-Konstruktionen. Man kann in dieser Sprache die tiefsten Widersprüche in Wortverbindungen gleichsam klammern. Der Ausdruck wird immer erratischer. Zerlegt man die zum Teil aberwitzigen Wort-Kristalle, setzen sie eine enorme Sprengkraft frei. Man könnte das mit der Urananreicherung in der Atomphysik vergleichen. Aus Gedichten werden Ausdrucks-Atombomben. Das ist der Dialog, den Celan unterirdisch mit Albert Einstein führt, um es ein bisschen verrückt zu formulieren.

Du fragst nach der Humanität seiner Dichtung. Natürlich ist auch das Menschenbild bei ihm bis in den tiefsten Kern erschüttert. Da hilft auch kein Emmanuel Levinas. Das Von-Angesicht-zu-Angesicht findet mit Freunden statt, engsten Vertrauten (zum Beispiel Jean Bollack, und mit den Geliebten, einzelnen Frauen). Hier sind die Widmungen ein Maßstab. Aber sonst?

Man täusche sich nicht: der Mensch als solcher ist diesem Dichter suspekt geworden. Schließlich kann man keinem einzigen Menschen trauen, weil die Geschichte je nach Geburtsort sich in ihn eingeschrieben hat und jeder die historische Erblast seines Stammes in sich trägt. »Es sind / noch Lieder zu singen jenseits / der Menschen«, heißt es in »Fadensonnen«, einem Schlüsselgedicht. Das klingt wie eine Absage, aber es steckt auch eine letzte, dystopische Hoffnung darin. »Fadensonnen / über der grauschwarzen Ödnis. / Ein baum- / hoher Gedanke / greift sich den Lichtton:«. Also die Bäume, also das Licht. Die letzten, die ein Gespräch über Bäume führen werden, sind die robusten Insekten und vielleicht die paar überlebenden Vögel. Auch die Tiere singen schließlich »Lieder«. An dieser fixen Idee hielt sich die Dichtung seit den frühesten Griechen. Allen Kriegen, allen Genoziden zum Trotz.

 

ME Es ist wahrlich schwer, jemanden in Sachen Celan zum Lachen zu bringen, aber Du hast es bei mir mit der grotesken Doppelhelix der »Bandwurm-Konstruktionen« und »Ausdrucks-Atombomben« geschafft! In diesem Zusammenhang muss ich auch an den bekannten französischen Germanisten Claude David denken, der Celan einmal den »größten französischen Dichter deutscher Sprache« genannt hat. Bist Du mit dieser Charakterisierung einverstanden oder siehst Du ihn als einen deutschen Dichter, der unter anderem auch in Frankreich gelebt hat? Scheint es Dir wichtig, Celan überhaupt national zu bestimmen?

 

DG Das eigentlich Aufregende an seiner Dichtung ist ihre Ortlosigkeit. Ortlosigkeit aber nicht als Manko verstanden, sondern als moralische Position oder gar Superposition (wie bei den elektromagnetischen Wellen). Es ist der Zustand des universellen Migranten, dem kein Zuhause vergönnt war. Man hat ihn als deutschsprachigen Juden aus der Herkunftskultur vertrieben – aus Rumänien oder der Ukraine, wie man will. Beziehungsweise, er konnte da, wo die Eltern ermordet wurden, nicht bleiben. Nach Deutschland will er nicht gehen, dort kann er höchstens in Form seiner Bücher anwesend sein, aber nicht physisch leben. Dort liefen die Mörder frei herum oder traten bei den Prozessen mit unerhörter Frechheit auf. Man sehe nur die Filmausschnitte vom Frankfurter Auschwitz-Prozess. Die Luft ist noch immer vom Nazitum vergiftet, er würde daran ersticken.