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Walter Schübler

»Komteß Mizzi«

Eine Chronik
aus dem Wien
um 1900

 

 

 

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet

diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;

detaillierte bibliografische Daten sind im Internet

über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

 

 

 

© Wallstein Verlag, Göttingen 2020

www.wallstein-verlag.de

Umschlaggestaltung: Susanne Gerhards, Düsseldorf,

unter Verwendung von »Loge im Sofiensal« (1903, Ausschnitt)

von Josef Engelhart

ISBN (Print) 978-3-8353-3624-7

ISBN (E-Book, pdf) 978-3-8353-4449-5

ISBN (E-Book, epub) 978-3-8353-4450-1

Inhalt

16.05.1908: Marie Veith wird tot aus dem Donaukanal geborgen
11.11.1907: Gegen Marcell Veith wird anonym Anzeige erstattet
28.04.1908: Marcell und Marie Veith werden festgenommen
28.04.1908: Zeugen berichten von »Herrenbesuchen«
29.04.1908: Marcell Veith wird vernommen
30.04.1908: Das Sittenamt erkennt »schwer belastendes Tatsachenmaterial«
30.04.1908: Über Marcell Veith wird Untersuchungshaft verhängt
05.05.1908: Die Causa gerät zum »Großstadtscandal«
10.05.1908: Der »Fall« erscheint (neuerlich) als Feuilleton
03.-15.05.1908: Was wissen Ämter und Behörden?
17.-24.05.1908: Der Geliebte Marie Veiths sagt aus
12. u. 20.05.1908: Die Mentorin Marie Veiths wird vernommen
18.05.1908: Die Leiche Marie Veiths wird »gerichtlich beschaut und eröffnet«
19.05.-04.07.1908: Beweismittel werden gesichert, Zeugen vernommen
01.05.-06.07.1908: Der Beschuldigte, Marcell Veith, wird verhört
29.05.1908: Die Beschuldigte, Anna Veith, wird verhört
13.07.1908: Die Anklage lautet auf »Kuppelei nach § 132 IV St.G.«
30. u. 31.07.1908: Die Hauptverhandlung »wider Marcell Veith u. Anna Veith« findet unter Ausschluß der Öffentlichkeit statt
29.07.-09.09.1908: »Sachdienliche Hinweise aus der Bevölkerung« gehen ein
25.08.1908: Marcell Veith stellt Antrag auf Enthaftung
09.09.1908: Marcell Veith fordert Berichtigung des Protokolls der Hauptverhandlung
21.09.1908: Marcell Veith beantragt 210 Kunden seiner Tochter als Zeugen
15. u. 16.10.1908: Die zweite Hauptverhandlung »wider Marcell Veith u. Anna Veith« wird »mit Ausschluß der Öffentlichkeit« durchgeführt
16.10.1908: Das k. k. Landes-Gericht in Strafsachen Wien fällt ein Urteil
16.10.1908: Marcell Veith meldet Nichtigkeit und Berufung an
10.02.1909: Marcell Veith tritt seine einjährige Kerkerstrafe an

19.10.1908, Seitenstück 1: Der Chef des Sicherheits-Bureaus läßt seine »schwer angegriffene Amtsehre« gerichtlich wiederherstellen

20.10.1908, Seitenstück 2: Der Vorstand des Sittenamts läßt sich gerichtlich bestätigen, daß er ein »Beamter von makelloser Ehre« ist

31.12.1909, Nachspiel: Marcell Veith veröffentlicht die Kundenliste

Anhang

Was wurde aus …

Nachwort

Zeitgenössische Kommentare

Glossar

Anmerkungen

Bildnachweise

Impressum

Nachsatz

 

 

 

Anhang

16.05.1908: Marie Veith wird tot aus dem Donaukanal geborgen

Gegen 10 Uhr vormittags zieht der Schiffer Jakob Fröbrich am Samstag, dem 16.5.1908, knapp oberhalb der Stephanie-Brücke die schlammbedeckte Leiche einer jungen Frau aus dem Donaukanal: mittelgroß, kräftig gebaut, dichtes langes Haar; das Weiß der bis zu den Ellbogen reichenden Glacéhandschuhe ebensowenig vom grauen Schlamm versehrt wie das Schwarz der Lackhalbschuhe.

Die Mutmaßungen, es handle sich um ebenjene ungefähr zwanzigjährige »Frauensperson«, die, wie Passanten beobachteten, einen Panamahut mit rotem Band tragend, sich am 28.4. um halb 10 Uhr abends vom Treppelweg an der Elisabeth-Promenade auf Höhe der Georg-Sigl-Gasse in den Donaukanal gestürzt hatte, verdichten sich zur Gewißheit. In der Beisetzkammer des zweiten Wiener Gemeindebezirks, Am Tabor, wird die Leiche am späten Nachmittag des 16.5. vom Chauffeur Victor Widakowich identifiziert: anhand der inzwischen grob gereinigten Kleidung – besonders des graufarbenen Taillengürtels, dessen breite, mittig geteilte und vergoldete Schnalle auf jeder Platte ein modelliertes Brustbild trägt, einen Männerkopf mit Automobilmütze die eine, einen Frauenkopf mit weißem Häubchen die andere –, der feinen, dichten, bis in die Mitte des Rückens reichenden Haare, der zarten Oberarme und der breiten, langen Fingernägel, der schlanken Waden und der kleinen Füße, der stark ausgeprägten Ballen beider großer Zehen, der sehr kleinen, gestochenen Ohren, der ziemlich weit auseinanderstehenden oberen Schneidezähne und eines dunkelbraunen erbsengroßen Muttermals in der Mitte der Brust. Das gibt auch die kurz nach Widakowich erschienene Anna Veith als besonderes Merkmal ihrer seit drei Wochen abgängigen Tochter an, die sie schon an der Kleidung wiedererkennt: dunkelgrünes, breit blau und grün gestreiftes Cheviot-Kostüm, weiße Spitzenbluse, schwarzer Seidenunterrock, weiße, mit breitem Zwirnspitzenbesatz versehene Batist-Unterwäsche, schwarze Seidenstrümpfe.

 

*

 

Am 17.5. beantragt die k. k. Staatsanwaltschaft die Obduktion der Leiche, »insbesonders in Bezug auf die geschlechtliche Integrität«.

11.11.1907: Gegen Marcell Veith wird anonym Anzeige erstattet

Am 11.11.1907 ergeht eine anonyme Anzeige an die »Löbliche Polizei Direktion«, die das Sicherheits-Bureau – Unterschrift: »Stukart« – an das Kommissariat Margareten »zur Erhebung, eventuell Amtshandlung« weiterleitet. Darin wird »der sehr geschätzten Wiener Polizei pflichtgemäß u. vielleicht notwendig im Interesse der Öffentlichkeit bekannt gegeben«, daß im Haus Kriehubergasse Nr. 13, 1. Stock, Tür 14, ein »Mann mit angeblicher Frau u. Tochter« wohne, die »sich jedem Menschen als Grafenfamilie vorstellig machen, in Wirklichkeit jedoch ›Veit‹ heißen sollen«.

 

Der Mann sowie die Frau haben keinen Beruf noch Einkommen u. leben von ihrer minderjährigen Tochter welche immer u. zwar täglich nachtsüber außer Hause u. zumeist mit hilfe ihres Papas in Gesellschaft zahlungsfähiger Herrn geführt wird. Tagsüber Schlaf u. Müßiggang, nachtsüber u. wenn das Mädel noch so auffallend matt und schlaff ist, heißt es dringend in die Stadt mit der Komtesse, welche auch unter diesem Titel Briefe erhält.

Hiebei dürfte es sich jedenfalls um eine professionsmässige Ausbeutung junger den besseren Gesellschaftskreisen angehöriger Männer handeln.

Es wäre interessant dem Spiele hinter den Coulissen nachzusehen, welches meinem Verdachte nach »Hochstapplerei« sein muß. Obendrein ist jedoch dieser Herr Graf mit Sicherheitswachmännern des Rayons Kriehubergasse auch befreundet.

Bei der Behörde mögen ja diese Leute richtig gemeldet sein, jedoch muß es doch im Interesse der Betroffenen strafbar sein wenn unter schlauer (äusserst schlauer) Findigkeit junge Männer ausgenutzt werden u. hiebei der Herr Papa den Leiter dieses Geschäftes bildet.

 

*

 

Der k. k. Polizei-Agent Carl Cohlmann hält in seiner mit »Margareten, am 24.11.07« datierten »Relation« fest:

 

Die im beiliegenden Anonymus genannten Personen sind identisch mit Marcell Veith (laut Meldezettel Marcell röm. Graf Veith), 47 Jahre, mit Gattin Anna geb. Wimmer, 45 Jahre, und Tochter Marie Comtesse Veith, Schauspiel-Elevin, 18 Jahre.

Die Familie bewohnt seit 13.8.1905 im Hause Kriehubergasse 13 2 Zimmer, Vorzimmer u. Küche gegen 60 Kronen Monatszins (Vorwohnung II., Ausstellungsstraße Nr. 41).

Wie vertraulich erhoben wurde, verläßt Vater und Tochter täglich um 9h längstens ½ 10h abends das Haus und kommen gegen 5h früh gemeinsam nachhause.

Die Tochter wird des öfteren zu verschiedenen Nachmittagsstunden per Automobil oder Fiaker von einem Mann, der das Aussehen eines Privatdieners (ohne Livré) hat, abgeholt.

Der Vater ist mit nachlässiger Eleganz gekleidet, während die Tochter äußerst elegant und höchst auffällig gekleidet sein soll.

28.04.1908: Marcell und Marie Veith werden festgenommen

Am Dienstag, 28.4.1908, wird Marcell Veith in der Schönburgstraße 19 im vierten Wiener Gemeindebezirk, wohin er mit seiner Familie Ende Dezember 1907 umgezogen ist, um 8 Uhr früh von drei Polizeibeamten, die Haftbefehle gegen ihn und seine Tochter – er der »Kuppelei«, sie der »Geheimprostitution« beschuldigt – präsentieren, festgenommen. Er wird auf das Kommissariat Schottenring gebracht, kurz darauf auch seine Tochter, seine Frau und das Dienstmädchen, Marie Blaha.

Polizei-Oberkommissär Dr. Anton Baumgarten vom Bureau für sittenpolizeiliche Agenden – kurz: Sittenamt – eröffnet Veith, daß er beschuldigt ist, seine Tochter »der Prostitution zugeführt und zur Prostitution verleitet zu haben«. Veith weist die Anschuldigung vehement zurück. Er spricht von Intrige. Das Hausmeister-Ehepaar, mit dem er wie auch seine Frau und das Dienstmädchen der Familie wiederholt Streit gehabt hätten, habe ihn vermutlich angeschwärzt. Kürzlich seien die Händel nämlich eskaliert: Er habe im Hausflur aufgeschnappt, was die in der Tür der Hausbesorgerwohnung stehende Frau Schwankhart einer Nachbarin zugerufen habe, und das so laut, daß er es im Vorübergehen nicht habe überhören können: »Da geht der Koberer!« Daraufhin habe er die Schwankhart beschimpft; so heftig und laut, daß das ganze Haus es habe hören können. Er habe dann, weil er sich diese Frechheiten nicht länger habe bieten lassen wollen, seinen Hausherrn brieflich um die vorzeitige Auflösung des Mietvertrags per 1. Mai oder 1. Juni gebeten.

Am Samstag, 25.4., sei die Hausherrin am Vormittag in seiner Wohnung vorstellig geworden, um diese Dinge zu regeln, und von ihr habe er erfahren, daß sich kurz vor dem Vorfall mit der Hausmeisterin drei Polizeibeamte im Haus eindringlich nach ihm erkundigt hätten. Worüber genau, dazu habe sie sich nicht äußern wollen. Auf dem Kommissariat Wieden, wohin er stracks aufgebrochen sei und um Aufklärung gebeten habe, habe man ihm auf seine Vorhaltungen hin und nach Einsichtnahme im »Journal-Buch« mitgeteilt, daß nichts gegen ihn vorliege und man darüber Bescheid wüßte, sollte andernorts eine Anzeige gegen ihn laufen. Es könne sich allenfalls um Privatdetektive gehandelt haben, die sich als Polizisten ausgegeben hätten. Um 1 Uhr mittags habe er die Hausherrin brieflich davon benachrichtigt, was er auf dem Kommissariat erfahren habe.

Baumgarten läßt Veith daraufhin wissen, daß man ihn vier Jahre hindurch beobachtet habe, und konfrontiert ihn mit dem Hausbesorger. Als der seinen Schluß aus den »Wahrnehmungen« über das »Treiben« der vorgeblich gräflichen Familie auftischt – es sei für ihn vollkommen klar, daß die Eheleute Veith nur vom »Schandverdienste« ihrer Tochter leben –, braust Veith auf und droht Schwankhart. Baumgarten läßt Veith in den Arrest abführen.

Marie Veith wird nach ihrer Vernehmung durch Baumgarten wieder auf freien Fuß gesetzt und von Polizeibeamten in die Schönburgstraße begleitet. Der verstörten Mutter, nicht vernehmungsfähig, schärft Polizeikommissär Dr. Hugo Glück ein, sie solle ihre Tochter nicht mehr aus dem Haus lassen, sonst könnten ihr »die Leute« etwas antun, sonst würde sie Marie nie mehr wiedersehen.

Marie Veith schreibt am Abend des 28.4.1908 drei Briefe: einen, per Adresse Baumgarten, an ihren Vater; einen an ihre Mutter; mit einem dritten an Franz Freiherrn von Kubinzky schickt sie das Dienstmädchen ins Theresianum. Als Blaha eben wieder zurückkommt, verläßt Marie – »ein auffallendes Benehmen zur Schau tragend«, wie das Dienstmädchen zu Protokoll gibt – das Haus. Ihre Mutter hat sie wissen lassen, sie wolle in ein Kaffeehaus gehen, um zu telephonieren, sie sei in einer halben Stunde wieder zurück. Blaha entdeckt den Brief an die Mutter auf Maries Schreibtisch: »Verzeihe mir Mutter. Ich kann nicht anders. Küss mir den Vater. Mizzi.«

28.04.1908: Zeugen berichten von »Herrenbesuchen«

Noch am Dienstag beginnt das Bureau für sittenpolizeiliche Agenden mit der Sicherung von Beweismitteln und der Einvernahme von Zeugen. Bei einer mittags vorgenommenen Wohnungsdurchsuchung stellen die k. k. Polizei-Agenten Alois Niederhuemer und Anton Powolny ein »Paket mit Briefschaften, der Comtesse Veith gehörig«, sicher, weiters ein »Paket mit obscönen Bildern in der Schreibtischlade der Vorgenannten« sowie Eintrittskarten diverser Vergnügungsetablissements.

Der Besitzer des Hauses Schönburgstraße 19, der Architekt und Bauunternehmer Alfred Wildhack, gibt an, »daß eine Partei des gegenüberliegenden Hauses über die obscönen Vorgänge in der Wohnung der Eheleute Veith sich aufgehalten habe«. Nachdem sein Portier ihm mitgeteilt habe, daß ihm die Familie Veith »bedenklich vorkomme« – häufige Herrenbesuche zur Nachtzeit –, habe er durch seinen Administrator die sofortige Kündigung veranlaßt.

Der Friseur Johann Wagner, dessen Geschäft vis-à-vis dem Haus Schönburgstraße Nr. 19 liegt, präzisiert, er habe bemerkt, »wie sich die Comtesse Veith mit Herren beim Fenster ungeniert abgeküßt hat«. Auch hätten seine Kunden wiederholt abfällig über die vielen Herrenbesuche bei Veiths gesprochen.

Franz Schwankhart, 46, Hausbesorger in der Schönburggasse 19, gibt zu Protokoll, daß Marcell Veith, als er mit Frau und Tochter einzog, sich ihm gegenüber als Graf Veith vorgestellt und sich sofort um den Haustorschlüssel bei ihm »beworben« habe, für dessen Überlassung er 6 Kronen monatlich zu bezahlen hatte. Über das »Treiben seiner Tochter«, das er sehr genau habe beobachten können, da sich die Portierloge genau gegenüber der Wohnung der Eheleute Veith befinde, gibt er an: Zwischen 1 und 6 Uhr nachmittags hätten jeweils einer oder mehrere Herren, die zumeist im Fiaker gekommen seien, der Familie Veith Besuche abgestattet. Daß diese Besuche »dem Fräulein Veith« galten, daran könne nach seinen Beobachtungen kein Zweifel bestehen, denn täglich seien zwei, drei Briefe oder Telegramme gekommen, die an »Fräulein Veith« gerichtet waren, ein-, zweimal die Woche auch Blumenbouquets. Sei bereits Besuch dagewesen, dann sei ein neu angekommener Gast wieder weggeschickt worden, nachdem Frau Veith mit diesem zwischen Tür und Angel unterhandelt habe. Die Herren seien bisweilen bis 10 Uhr abends geblieben, und dann sei es vorgekommen, daß Marcell Veith dem jeweiligen Herrn und seiner Tochter, wenn sie gemeinsam im Wagen wegfuhren, das zu diesem Zeitpunkt bereits verschlossene Haustor geöffnet habe. Auch habe er selbst gesehen, »daß Fräulein Veith die Herren öfters im tiefsten Negligé verabschiedet« habe. Beinah täglich hätten Veith und seine Tochter am Abend die Wohnung verlassen und seien erst in den frühen Morgenstunden, gegen 6 Uhr, wieder zurückgekehrt. Die Tochter manchmal auch allein und erst gegen 9 Uhr.

Marie Blaha, 19, seit drei Wochen Dienstmädchen bei Familie Veith, berichtet von Herrenbesuchen »beim Fräulein« zwischen 1 Uhr nachmittags und 8 Uhr abends, von denen sie, Blaha, zumeist 1 Krone oder 1 Gulden Trinkgeld erhalten habe. Sie habe oft Briefe ins Theresianum tragen müssen, die an ebenjene Herren im Alter von 21, 22 Jahren adressiert gewesen seien, die regelmäßig bei der »Comtesse« zu Besuch waren. Sie sei strikt dazu angehalten worden, vor Eintritt in das Zimmer der »Comtesse« stets anzuklopfen. Am Abend, gegen 10, manchmal auch ¼ 11 Uhr, habe »das Fräulein« mit ihrem Vater die Wohnung verlassen. Wann sie zurückkamen, wisse sie nicht, weil sie da noch geschlafen habe.

Elisabeth Kortner, 28, die im November und Dezember 1907 bei Familie Veith bedienstet war, spricht von drei, vier Herrn, die »Fräulein Veith« täglich nachmittags besucht hätten und teils zwei, drei Stunden, teils nur eine halbe Stunde geblieben seien. »Das Fräulein Veith« sei »immer mit dem betreffenden Herrn allein im Zimmer« gewesen, und sie habe den »Auftrag« gehabt, »vor dem Betreten des Zimmers anzuklopfen«. Manchmal sei es vorgekommen, daß die Herren Tee tranken, den habe sie dann serviert. Für Kortner war klar, daß »das Fräulein Veith mit den Herren in intime Beziehungen getreten ist«. Die Eltern hätten sich nämlich stets ins Kabinett zurückgezogen und nie in das Zimmer »des Fräuleins« hineingesehen, so daß sie dort mit ihrem Gast »ganz ungeniert« gewesen sei. Sie habe gekündigt, weil sie es nicht riskieren habe wollen, es mit der Polizei zu tun zu kriegen.

Ida Riedl, Büffetdame im Etablissement Ronacher*, gibt an, sie kenne »das Fräulein Mizzi Veith seit ca. 3 Jahren, da sie fast täglich im Ronacher und dem mit demselben in Verbindung stehenden Kaffeehause, vormals ›Ronacher‹, jetzt ›Alcazar‹, zur Nachtzeit verkehrt« habe. Anfangs habe sie ihr Vater begleitet, der meistens allein an einem Tisch gesessen sei, »während seine Tochter Einladungen von Cavalieren annahm, mit denen sie champagnisierte«. Sie sei oft mit »Cavalieren« weggegangen. »Darüber, ob Fräulein Veith mit Cavalieren intim in Hotels oder sonstwo verkehrte«, sei ihr nichts Genaues bekannt, doch sei »das allgemeine Gespräch dahin« gegangen.

Johanna »Jenny« Borys, 29, seit August 1907 Büffetdame im Ronacher, kennt Marie Veith und deren Vater noch aus der Zeit, da sie Büffetdame im Pavillon »Cliquot« in »Venedig in Wien«** war. Die beiden seien fast täglich dort zu sehen gewesen. »Fräulein Veith« habe da in Herrengesellschaft in verschiedenen Lokalen soupiert, etwa im Römerlokal und im Französischen Restaurant. Im Ronacher, wo »Fräulein Veith« täglich hinkomme, nehme sie immer in der Fremdenloge Platz. Dort nehme sie Einladungen von Herren an, mit denen sie dann im Café Alcazar champagnisiere. Das Lokal verlasse sie mal allein, mal in Begleitung ihrer »Cavaliere«. Zweimal sei Borys mit ihr in derselben Gesellschaft gewesen, und da habe sie bemerkt, daß sie einem Herrn heimlich eine Visitenkarte zugesteckt habe. Bestimmte Angaben darüber, ob und wo »Fräulein Veith mit Cavalieren intim verkehre«, könne sie nicht machen.

Marie Papp, 24, ebenfalls Büffetdame im Ronacher, gibt an, daß Fräulein Veith oft schon mit Herren ins Lokal gekommen sei, aber auch Einladungen angenommen habe, wenn sie allein gekommen sei. Sie habe einen großen Kreis von bekannten Herren unter den Stammgästen. »Ob Fräulein Veith mit Herren sich in intimen Verkehr einläßt«, sei ihr nicht bekannt. Ebensowenig, ob sie von den Geschenken, die sie bekommt, ihrem Vater etwas zukommen läßt. Bis vor circa einem Jahr sei »Fräulein Veith« in dem Ruf gestanden, daß sie »mit ihren Verehrern in rein platonischem Verhältnisse stehe«. Wieso sich dieser Ruf geändert hat, sei ihr nicht bekannt.

Christine Jasbez, Marie Maroz, Rosalia Loibl und Marie Nagel, allesamt Büffetdamen im Ronacher, bestätigen die Angaben ihrer Kolleginnen. Die 18jährige Nagel ergänzt, ein Gast habe ihr erzählt, Graf Veith habe ihm im Café de l’Europe kürzlich mit den Worten »Schauen Sie, das ist ein hübsches Mädchen, sehr billig, unter 50 Kronen nicht zu haben« seine Tochter angeboten.

Sandor Rosenthal, Zahlmarqueur im Café Alcazar, gibt zu Protokoll, daß »Fräulein Veith« häufig in Begleitung ihres Vaters nachts ins Café Ronacher gekommen sei, wo sie sich »von Cavalieren als Gesellschafterin einladen ließ«. Während die Tochter champagnisierte, sei der Vater allein an einem Tisch gesessen. Es habe den Anschein gehabt, als verständige sich die Tochter mit dem Vater, ob sie eine Einladung annehmen solle oder nicht. Manchmal habe der Vater sich von den Zigaretten geben lassen, die ihr die Herren spendiert hätten. Sie habe häufig in Begleitung ihrer »Cavaliere« das Café verlassen, allerdings nicht ohne mit ihrem Vater zu verabreden, wo sie sich später treffen würden. Seit der Eröffnung des neuen Café Alcazar sei Herrn Veith über Verfügung Direktor Waldmanns der Zutritt nicht mehr gestattet, »Fräulein Veith« komme aber immer noch täglich um circa 10 Uhr abends in die Fremdenloge und nehme dort Einladungen an, nicht nur von ihr bekannten Verehrern, sondern auch von Fremden. Sie habe auch ihn schon ersucht, ihr passende Einladungen zu vermitteln. Ob sie sich »auf intimen Verkehr mit Herren einlasse«, sei ihm nicht bekannt, es werde jedoch allgemein erzählt. Auch habe er von Gästen gehört, daß »Fräulein Veith« Herren zu sich in die Wohnung zum Tee einlade. Es gehe schon seit Jahren die Rede, daß Veith vom Verdienst seiner Tochter lebe.

Leopold Jöstl, ebenfalls Oberkellner im »Alcazar«, bestätigt die »Wahrnehmungen« seines Kollegen. Ob und wo »das Fräulein Veith, das bei den Herren sehr beliebt« gewesen sei, mit ihnen »intim verkehrte«, sei auch ihm nicht bekannt.

Viktor Thomanik, Zahlkellner im Café Ritz, teilt mit, daß »das Fräulein« vor etwa eineinhalb Jahren in seinem Kaffeehaus verkehrt habe. Es sei gewöhnlich gegen ½ 11 Uhr abends gekommen, habe dort »ihre Bekanntschaften mit den Herren« gemacht und sei dann mit ihnen ins Hotel gefahren. Gegen 3, 4 Uhr früh sei dann der Vater erschienen und habe sich erkundigt, ob seine Tochter da sei oder fortgegangen. Er habe immer gewartet, bis sie gekommen sei, und sich dann wieder entfernt. Daß »Fräulein Veith mit den Herren sich geschlechtlich unterhielt u. dafür gezahlt bekam«, könne keinem Zweifel unterliegen. Gäste hätten ihn »zu wiederholtenmalen« gefragt, »ob Fräulein Veith zu haben ist«, und seien dann auch mit ihr ins Hotel gegangen. Ebenso klar sei es für ihn und seine Kollegen gewesen, daß ihr Vater »von dem Schandlohne lebt«. Er sei im Café Ritz nur als »Strizzi« bekannt gewesen. Deswegen habe man ihn dann auch aus dem Lokal geworfen. Danach sei »das Fräulein« immer nur in Begleitung von Herren ins Café gekommen, mit denen es stets ins Séparée gegangen sei.

Franz Münichsdorfer, 45, Fiakerkutscher, gibt an, er kenne »das Fräulein Veith« seit ungefähr vier Jahren und es sei ihm bekannt, daß ihr Vater sie ins Ronacher gebracht habe. Er habe sie oft vom Ronacher aus in verschiedene Hotels gefahren. Das letzte Mal vor etwa drei Wochen, und zwar ins Hotel Römischer Kaiser in der Annagasse. Dabei habe »das Fräulein« ihm eingeschärft: »Fiaker, aber schweigen, niemandem was sagen!« Er könne »ruhig behaupten«, daß er »das Fräulein Veith« mindestens ein Mal pro Woche vom Ronacher in verschiedene Hotels gefahren habe, und das »jedesmal mit einem anderen Herrn«. Gewöhnlich zwischen 1 und 3 Uhr früh. »Absteigquartier« sei entweder das Hotel Modern, das Hotel Derby oder der »Römische Kaiser« gewesen. Dabei habe er immer folgendes beobachtet: »Hatte das Fräulein Veith den betreffenden Herrn absolviert, so ging sie zu Fuß ins Etablissement Ronacher, telephonierte in der Portiersloge an ihren Vater, welcher sich im Café Gartenbau mittlerweile aufhielt, u. holte sie letzterer sodann mittelst Einspänner vom Ronacher ab.« Hie und da habe er sie auch von »Venedig« aus mit Herren ins Hotel gefahren. Dann habe ihr Vater gewöhnlich im Café Maendl in der Praterstraße gewartet. Von »Venedig« habe sie zumeist sein Kollege Preiß gefahren, der Fiaker Nr. 475, Standplatz Wien III, Landstraßer Hauptstraße. Etwa drei Jahre sei es her, daß er »die Veith« mit einem Herrn um 2, 3 Uhr früh durch die Hauptallee im Prater gefahren habe und ihm »durch den Unzuchtsakt« seine Wagendecke beschmutzt worden sei, so daß ihm »der Herr damals 20 Kronen Schadensersatz geleistet« habe. Das Dach des Wagens sei während der Fahrt geschlossen worden, er habe es, Verdacht schöpfend, zurückgeschlagen und »konstatiert, daß Fräulein Veith auf dem Schoße des Herrn gesessen« sei. »Der Herr selbst« habe »die Kleider noch ganz in Unordnung« gehabt, »speziell« habe er gesehen, »daß sein Hosenschlitz ganz geöffnet« gewesen sei. Bis zum Vorjahr habe »Fräulein Veith« meist mit der »Prostituierten Poldi« verkehrt, sie seien immer zusammen mit den Herren ins Hotel gegangen.

 

 

 

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*  Varietétheater im 1. Wiener Gemeindebezirk. Logen und Parkett waren mit Tischen und Stühlen ausgestattet, während der Vorstellungen wurde gegessen, getrunken, geraucht.

**  Im Mai 1895 auf dem Gelände des Englischen Gartens (ehemals Kaisergarten resp. Kaiserwiese) im Wiener Prater von Gabor Steiner eröffneter Lagunenstadt-Themenpark mit begehbaren Nachbauten von Palazzi, Kanälen, Cafés, Restaurants, Musik-, Theater- und Varietébühnen, der in der Sommersaison ein breitgefächertes Unterhaltungsprogramm bot.

29.04.1908: Marcell Veith wird vernommen

Mit den Aussagen konfrontiert, streitet Marcell Veith bei seiner Einvernahme am Mittwoch, 29.4.1908, auch gar nicht ab, seine Tochter in die von den Zeugen genannten Lokale begleitet zu haben. Er pocht allerdings auf seine lauteren Absichten: Er sei als Aufpasser, nicht als Kuppler zugegen gewesen. Anfangs habe ihn seine Tochter auch immer gefragt, ob er ihr die »Unterhaltung« mit dem jeweiligen Herrn gestatte. Wäre er imstande gewesen, das für die Ausbildung seiner Tochter nötige Geld aufzubringen, hätte er ihr diesen Lebenswandel nie und nimmer erlaubt. Und nur um sie von dieser Art Nachtleben loszureißen, habe er Herrenbesuchen in der Wohnung zugestimmt. Alleiniger Zweck der Nachtlokalbesuche sei es gewesen, seiner Tochter Bekanntschaften mit Herren der besseren Gesellschaft zu ermöglichen, damit sie einen reichen Freund finden und eine gute Partie machen könne.

Den Plan dazu habe er gefaßt, nachdem Professor Carl Arnau, Inhaber und Leiter der Theaterschule in der Spiegelgasse, die seine damals vierzehneinhalbjährige Tochter besuchte, ihn darauf aufmerksam gemacht habe, daß man sie das öfteren in Begleitung eines männlichen Zöglings der Schule im Stadtpark gesehen habe. Er habe befürchtet, daß seine Tochter sich »in ein aussichtsloses Verhältnis einlassen u. von einem armen Teufel ein Kind bekommen könnte«. Um das zu verhindern, habe er sie mit einem gutsituierten Herrn liieren wollen, der nicht nur für sie, sondern auch für ihre Mutter sorge. Er habe, in Absprache mit seiner Gattin, vorgehabt, aufgrund der desolaten finanziellen Verhältnisse nach Amerika auszuwandern.

1904 sei er zum Derby in die Freudenau gegangen, um seiner Tochter die »Lebewelt« zu zeigen. Es habe auch nicht lange gedauert, daß Herren sich ihr und einer Freundin aus der Theaterschule, die sie mitgenommen hatten, vorstellten. Darunter ein sehr reicher »Cavalier« Mitte Zwanzig, der vom Vater die Erlaubnis erbeten habe, seine Tochter und deren Freundin abends zum Souper in den Römersaal nach »Venedig in Wien« einzuladen.

Die beiden Mädchen hätten dann in Gesellschaft des »Cavaliers« soupiert, der sie Veith um 23 Uhr am vereinbarten Treffpunkt wieder übergeben, Marie Veith 50 Kronen eingehändigt und dem Vater für den nächsten Tag seinen Besuch angekündigt habe. Da habe er dann gefragt, ob er seine Tochter »haben könne«, sie habe ihm nämlich sehr gefallen. Veith habe ihn über die mißliche pekuniäre Situation aufgeklärt und klargestellt, daß, falls er ein Verhältnis mit seiner Tochter anfangen wolle, er sie auch versorgen müsse. Er habe ihm zu verstehen gegeben, daß er auf seine Tochter keinen Einfluß nehmen werde. Auf seine Frage nach der Höhe des eventuellen Geldbetrags habe er erwidert, daß er ja wissen werde, was ein »Cavalier« unter Versorgung verstehe. Ein paar Tage darauf habe dieser Herr seine Tochter zu einer Spazierfahrt abgeholt. Weil er sie dabei »in roher Weise gezwickt« habe, habe sie von ihm nichts mehr wissen wollen, obwohl er ihr, sollte sie sich von ihm aushalten lassen, 1500 Gulden sofort und 500 Gulden monatlich versprochen habe.

Daraufhin sei er mit seiner Tochter wieder nach »Venedig« gegangen. Dort hätten sie einen älteren, etwa fünfzigjährigen Herrn kennengelernt, der Veith »ein Anbot von 200.000 Kronen« gemacht habe, die er ihm auch sofort auf den Tisch gelegt habe, zudem habe er versprochen, seiner Tochter eine Villa zu kaufen, wenn sie sich bereit erkläre, sich von ihm aushalten zu lassen. Seine Tochter habe aber die »günstige Gelegenheit dieser ganz außerordentlichen Versorgung« ausgeschlagen, weil der Herr einen Kropf gehabt habe.

Als seine Tochter die Bekanntschaft eines reichen Mannes gemacht habe, der ihr 250 Gulden und einen Brillantring geschenkt habe und sie gleichfalls aushalten habe wollen, habe er sie darauf aufmerksam gemacht, »daß sie sich nicht schon durch Versprechungen von Männern fangen lassen solle«, und sie darüber »aufgeklärt, daß sie sich nicht an Männer geschlechtlich hingeben solle, die sie dann später nicht versorgen würden«.

Seine Tochter habe im Lauf der Jahre viele Bekanntschaften gemacht, deren »platonischen Charakter« er nie bezweifelt habe. Ein einziges Mal, im Herbst 1906, habe er Verdacht geschöpft, da er bemerkt habe, daß »auch Liebe mitspiele«.

Auf die Frage, ob er wußte, daß seine Tochter »mit den Herren, die sie kennenlernte, geschlechtlich verkehrt habe«, erklärt Veith, ihm sei nur dieser eine Fall bekannt geworden. Er sei der Überzeugung gewesen, daß seine Tochter das Geld, das sie verdiente, dafür bekommen habe, »daß sie sich mit eleganten Herren in Séparées nach Art der Blumenmädchen beim Souper u. Champagner unterhält«. Daß seine Tochter »sich hiefür geschlechtlich hingeben« würde, wäre ihm nie eingefallen, wenngleich ihm bekannt gewesen sei, »daß die Herren ein solches Verlangen stellten«. Seine Tochter habe ihm noch in den letzten Tagen versichert, »daß sie sich von Herren geschlechtlich nicht habe gebrauchen lassen«.

Nach der Einvernahme setzt man Veith davon in Kenntnis, daß seine Tochter ihm via Sittenamt einen Brief geschrieben habe. Er erteilt die Erlaubnis, den Brief amtlich zu öffnen und zu lesen, bevor dieser ihm ausgefolgt wird, weil er ansonsten wegen der gegen ihn laufenden Untersuchung dem Bezirksgericht übermittelt werden müßte.

 

Lieber guter Papi!

Verzeihe mir, dass ich Dich durch meine Schlechtigkeit in eine solche schreckliche Lage gebracht habe. Glaube mir, Paperl, ich bin ganz verzweifelt. Was soll ich nur machen, um Dir zu helfen. Papa, ich weiss, Du wirst mich jetzt vielleicht hinaus jagen. Da hast Du ganz recht. Papi, mein armer Papa, warum musst gerade Du so leiden. Am liebsten ging ich jetzt ins Wasser, wenn es Dir etwas helfen würde. Papi, vielleicht kann ich Dir etwas helfen. Schreibe mir, was Du brauchst, Wäsche oder Bücher. Ich habe auch von Mutterl Geld bekommen, Du wirst doch gewiss was brauchen. Die Marie ist so ein gutes Mädchen; sie hat so geweint, wie ich gesagt habe, dass Du dort bleibst. Papi, schreib mir nur ein paar Zeilen. Wenn Du willst, verfluche mich, aber lass was von Dir hören, wenn es auch nur eine Zeile ist. Ich kann heute nicht schlafen Papa, überhaupt nicht, bis Du nicht da bist, Papa. Ich kann Dir nicht helfen, als für Dich beten. Ich habe es schon lange nicht getan, aber heute werde ich es wieder tun. Papi, was wirst Du tun, wie werden sie Dich behandeln. Mich haben sie freigelassen und Dich sperren sie ein, wo doch nur ich die Schuld bin. Mein guter, armer Papa, schreib mir und sag mir, ob ich gehen soll, ob Du mich nicht mehr sehen willst oder ob ich bleiben soll. Mein armes Vaterl, ich habe dem K. geschrieben, vielleicht borgt er mir etwas Geld, dass ich Dir Deine entsetzliche Lage, in die Du durch meine Schuld gekommen ist, etwas erleichtern kann. Papa, ich sehe Dein Bild am Schreibtisch, dein gutes, liebes Gesichterl. Papi, ich war schlecht, aber ich habe Dich immer gerne gehabt, das weisst Du doch. Bitte, sage mir, ob Du Wäsche oder was brauchst.

Es küsst Dich Deine unglückliche Mizzi.

30.04.1908: Das Sittenamt erkennt
»schwer belastendes Tatsachenmaterial«

Am 30.4.1908 übermittelt die k. k. Polizei-Direktion in Wien, Bureau für sittenpolizeiliche Agenden, der k. k. Staatsanwaltschaft Wien eine mit »Dr. Baumgarten« unterzeichnete neunseitige maschinschriftliche Zusammenfassung der Vorerhebungen. Die hätten »ein die Eheleute Veith schwer belastendes Tatsachenmaterial« ergeben. Marie Veith, die anfänglich versucht habe, sämtliche Zeugenaussagen als bösartige Verleumdungen darzustellen, habe schließlich gestanden, »dass sie schon mit 15 Jahren mit den Männern geschlechtlich, jedoch pervers verkehrte und sich in weiterer Folge von den Herren, die sie im Café Ronacher, Café Europe, Café Ritz und in ›Venedig in Wien‹ kennenlernte, im Hotel Modern, Hotel London, Hotel Derby und Hotel römischer Kaiser gegen hohes Entgelt, zumeist 100 Kronen, normalmäßig geschlechtlich gebrauchen ließ«.

Nur die Not habe sie zu diesem Leben veranlaßt. Aus ihrem bei der Wohnungsdurchsuchung sichergestellten Tagebuch gehe hervor, »dass Marie Veith schwere seelische Kämpfe mitmachte, bis sie sich dem liederlichen Lebenswandel vollständig ergeben« habe. Es könne »keinem Zweifel unterliegen, dass sie diesbezüglich unter einem äußeren Zwange gestanden habe«. Sie habe aber versucht, ihren Vater »durch die Angabe zu entlasten, dass ihm von ihrem liederlichen Lebenswandel nichts bekannt« gewesen sei. Sie habe »geleugnet, auch in ihrer Wohnung mit den Herren geschlechtlich verkehrt zu haben«, habe versucht, glauben zu machen, »dass die Herren nur zum Thee gekommen« seien.

Im vergangenen Monat habe sie ihrer Angabe zufolge »durch Ausübung des Unzuchtgewerbes« circa 1800 Kronen verdient. Auf die Frage, »ob sie von den Eltern nie um die Provenienz des Geldes befragt« worden sei, habe sie erklärt, »dies sei nie geschehen, da die Eltern annahmen, dass sie das Geld ›für nichts‹ erhalten habe«.

Bemerkenswert erscheint dem Sittenamt auch Marie Veiths Angabe, daß ihr Vater mit ihr gezankt habe, weil sie »mit einem Herrn namens Victor, der nicht besonders geldkräftig war, ein Verhältnis unterhielt und er die Befürchtung aussprach, dass sie von ihm ein Kind bekommen könne«. Diese Angabe sei deswegen so wichtig, weil Marcell Veith glauben machen wolle, »dass er bei den Unterhaltungen seiner Tochter nie an einen geschlechtlichen Verkehr gedacht habe«.

Schließlich habe Marie Veith noch zugegeben, daß ihr Vater sie zur Wahl eines reichen Freundes aufgefordert habe, damit die Not der Familie ein Ende habe. Auf diese Weise habe das Mädchen, »welches auffallend schön« gewesen sei, die verschiedensten Bekanntschaften gemacht, »bis sie schließlich zur gewöhnlichen Dirne wurde«. Marcell Veith habe gestanden, daß er seiner Tochter eingeschärft habe, sie solle sich nur Herren hingeben, die ihre Zukunft glänzend sicherstellen würden.

Er habe »rückhaltlos zugegeben, daß Marie in den ersten 3 Jahren jährlich durchschnittlich 3½-4000 Gulden, das letzte Jahr 6000 Gulden verdient habe«. Diese Einnahmen habe er »gewissenhaft – wie er sich ausdrückt – gebucht«. Davon sei in allererster Linie der Zins bezahlt worden. Außerdem habe Marie ihren Eltern in den ersten Jahren 60 und in den letzten zwei Jahren 90 Gulden monatlich an Kostgeld bezahlt. Daraus gehe »also klar hervor, dass Marie Veith den ganzen Haushalt mit ihrem Schandlohn bestritten habe«.

Die Aussagen der im Etablissement Ronacher beschäftigten Büffetdamen und Zahlkellner hätten ergeben, »dass Marie Veith ein tolles Lasterleben geführt habe und nach dieser Richtung hin im vollsten Maße von ihrem Vater favorisiert« worden sei. »Mit Rücksicht auf diesen gravierenden Tatbestand« könne »ruhig behauptet werden, dass Marcel Veith die sittliche Verwahrlosung seiner Tochter verschuldet habe«. Ebenso könne »über die Mitschuld seiner Gattin, die vom Lebenswandel ihrer Tochter Kenntnis haben musste, kaum ein Zweifel bestehen«. »Ihre hierämtliche Vernehmung« sei aber »mit Rücksicht auf ihre hier zur Schau getragenen Aufregungszustände vorläufig unterlassen« worden.

Von einer Bestrafung des Mädchens sei »trotz vollständig erwiesenen Tatbestandes Abstand genommen worden, da sie nach der derzeitigen Aktenlage als verführtes Opfer ihrer Eltern betrachtet werden muss, die mit Rücksicht auf ihr jugendliches Alter den Bestrebungen ihrer Eltern nicht den entsprechenden Widerstand entgegensetzen konnte«.

Marcell Veith habe sich nach der Konfrontation mit dem Geständnis seiner Tochter »in der Rolle des unglücklichen Vaters« gefallen, angefangen zu weinen und erklärt, »dass er erst auf der Polizei von dem liederlichen Lebenswandel seiner Tochter Kenntnis« erhalten habe. Als man ihm das Tagebuch seiner Tochter gezeigt habe, habe er anfangs behauptet, er habe von dessen Existenz nichts gewußt. Später habe er zugegeben, »dass er wohl das Tagebuch gesehen, aber nie in demselben gelesen habe«. In einer offenen Lade sei im Zimmer von Marie Veith »eine ganze Reihe obscöner, die gröbsten sexuellen Verirrungen darstellenden Fotografien vorgefunden« worden, die ihr vorgeblich von einem Herrn, der sie besuchte, geschenkt worden seien. »Diese Tatsache allein dürfte die in der Wohnung abgehaltenen Theenachmittage genügend charakterisieren.«

Daß Marcell Veith »Komödie spiele«, unterliege keinem Zweifel. Ihm sei schließlich schon zu der Zeit, da die Familie noch in der Kriehubergasse wohnte, bekannt gewesen, daß gegen ihn ermittelt wurde.

30.04.1908: Über Marcell Veith wird Untersuchungshaft verhängt

Die Polizei-Direktion erstattet Anzeige gemäß § 132 III St.G. (Verführung zur Unzucht) und § 132 IV St.G. (Kuppelei in Beziehung auf eine unschuldige Person) wider Marcell Veith und Anna Veith.

 

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Die k. k. Staatsanwaltschaft beantragt die Einleitung der Voruntersuchung gegen Marcell Veith wegen des an Marie Veith verübten Verbrechens nach § 132 IV St.G. sowie Verhängung der Untersuchungshaft. Anna Veith wolle als derselben Delikte verdächtig »abgehört« werden.

 

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Der »Übernahmsbericht« über den am 30.4.1908 um 14.30 Uhr ins k. k. Landes-Gerichts-Gefangenenhaus überstellten und in Zelle 60 »verwahrten« Untersuchungshäftling hält unter anderem fest: »Marcell Graf von Veith / Geburtsort: Liboch / Politischer Bezirk und Land: Wegstädtl, Böhmen / Zuständigkeitsort: Prag / Politscher Bezirk und Land: Böhmen / Geburtsjahr: 1862 / Glaubensbekenntnis: katholisch / Familienstand: verheiratet / Beruf: Privat / Letzter Aufenthalt: IV., Schönburgstraße 19, Parterre 3 / Größe: 180 / Gestalt: schlank / Haare: dunkel, leicht ergraut / Augen: braun / Augenbrauen: weiß / Bart: weißer Schnurrbart.«

Die »Ärztliche Beschau« ergibt unter der Rubrik »Gebrechen u. Merkmale«: »Rechtsseitiger Leistenbruch« sowie »Schnurrbart u. Augenbrauen immer weiß gewesen, während die Kopfhaare mit Ausnahme einiger Inseln am Hinterhaupt braun sind«.

Der »Abfuhr-Schein« über die von der k. k. Polizei-Direktion Wien durch das Depositenamt des k. k. Landes-Gerichts übernommenen Gegenstände verzeichnet unter anderem: »I. Briefschaften und Korrespondenzen, dem Marcel röm. Grafen Veith gehörend. II. Ein Tagebuch, 20 Stück obscöne Fotografien und Korrespondenzen, der Comtesse Mizzi Veith gehörend«.

05.05.1908: Die Causa gerät zum »Großstadtscandal«

Die Zeitungen bekommen Wind von der Sache. Sie zeigen sich bestens informiert über den Stand der Ermittlungen. Die »Neue Freie Presse« informiert unter der Spitzmarke »Tragischer Selbstmord« in der Rubrik »Lokales« nüchtern, daß es sich bei dem jungen Mädchen, das am Abend des 28.4. von der Elisabeth-Promenade in den Donaukanal gesprungen und ertrunken sei, um die »19jährige Komtesse Marie Veith, eine in der Wiener Lebewelt sehr bekannte Beauté«, gehandelt habe, deren Vater unter der Beschuldigung verhaftet worden sei, »seine Tochter zu einem unsittlichen Wandel veranlaßt zu haben«. Er werde durch ein Tagebuch, »in welchem das unglückliche junge Mädchen seine seelischen Kämpfe schildert, schwer belastet«. Das Mädchen habe in einem Abschiedsbrief »ihre Schande« als Motiv für den Suizid angegeben. Tags darauf füllt sie unter dem Titel »Die Abgängigkeit der Komtesse Veith« eine ganze Spalte mit der Genealogie der männlichen Linie der böhmischen Familie Veith vom 18. Jahrhundert bis zum Großvater Marcell Veiths, dem von Papst Pius IX. der Titel »Conte« verliehen worden sei, der auf dessen Sohn übergegangen sei, der das ihm hinterlassene Vermögen nach und nach durchgebracht habe. Die Mutter der »Komtesse«, »eine einfache Frau, verteidigt ihre Tochter gegen die Anschuldigung der Lasterhaftigkeit und erklärt, es werde sich bei dem gerichtlichen Verfahren die Haltlosigkeit der Beschuldigungen erweisen«. Ihre junge und schöne Tochter habe zwar Einladungen auf Einladungen erhalten, aber kaum welche angenommen. Auch Besuche habe sie nur wenige empfangen. Sie, die Mutter, könne nicht glauben, »daß ihre Tochter schlecht sei«. Sie habe, seit das Mädchen am Dienstagabend die Wohnung verlassen habe, keine Nachricht von ihr.

Groß aufgemacht und reißerisch servieren Blätter wie die »Illustrierte Kronen-Zeitung« oder das »Illustrirte Wiener Extrablatt« ihren Lesern, den sogenannten »kleinen Leuten«, den »Großstadtscandal«, indem sie den Polizeibericht über drei Ausgaben auswalzen, ein – gezeichnetes – Porträt der »Unglücklichen« inklusive. Vor fünf Jahren etwa sei eines Abends im Etablissement Ronacher »ein wunderschönes Mädchen mit einem kinderhaften Puppengesicht« aufgetaucht, »trotz seiner Jugend schon mit einer prächtigen Soiréetoilette bekleidet«: die kaum vierzehnjährige »Comtesse Mizzi Veith«. »Aus allen Logen wurden die Operngläser nach der jugendlichen Schönheit gerichtet.« Alsbald vielfach umworben, habe sich »in den Kreisen der Lebewelt« schnell herumgesprochen, daß sich die Comtesse, inzwischen Stammgast im Ronacher, »alles eher als spröde zeige« und daß der Vater »den – willfährigen Kuppler spiele«. Nur eine Geldfrage sei es gewesen, wenn man mit dem bildhübschen Mädchen habe »in Beziehungen treten« wollen. Trotzdem habe der »hochgeborene Herr Graf« streng auf den Ruf seiner Tochter geachtet und gegen eine Kassierin des Café Ronacher, die ihm auf den Kopf zugesagt habe: »Sie sind ein ganz niederträchtiger Mensch, Herr Graf. Sie sind viel schlechter als ein gewöhnlicher Zuhälter, denn Sie leben von der Schande Ihrer Tochter!« eine Ehrenbeleidigungsklage angestrengt. Der »Beschützer seiner Tochter« habe dem Gericht ein ärztliches Attest »über die damals wohl noch nachweisbare Unschuld seiner Tochter« vorgelegt, und die Geklagte habe nur durch eine Ehrenerklärung der Verurteilung entgehen können, wenngleich »die Comtesse« schon damals »grundverdorben« gewesen sei und an »zahlreichen wilden Orgien, die in den verschwiegenen Chambres séparées hiesiger Vergnügungs-Etablissements abgehalten worden seien«, teilgenommen habe.

Voll Neid mochte manches Arbeitermädchen der »herrlich schönen, entzückenden Erscheinung«, der scheinbar »sorgenlosen, vornehmen jungen Dame« nachgeblickt haben, wenn sie im Fiaker durch die Straßen fuhr – wie hätten sie auch ahnen können, »daß sie ebenso arg dran war wie die von einem habgierigen Zuhälter auf die Straße geschickte Dirne. Der Fall lag hier umso trauriger, als derjenige, der aus dem unsittlichen Lebenswandel des Mädchens seinen Vorteil zog, der eigene Vater der Unglücklichen war.«

Der »pflichtvergessene Vater«, der seine »kaum den Kinderschuhen entwachsene Tochter, sein einziges Kind, als Kapital« betrachtet habe, habe anfangs alle ihm zur Last gelegten Verbrechen rundweg abgestritten, aber inzwischen unter der erdrückenden Beweislast eines »vorgefundenen Cassabuches und eines von der Comtesse geführten Tagebuches« ein Geständnis abgelegt. Das Kassabuch weise allein für das Jahr 1907 12.370 Kronen aus, welche die »Comtesse« von ihren zahlreichen »Cavalieren« erhalten habe. Und im Tagebuch, in dem sich detaillierte »Aufzeichnungen über die wilden Orgien einzelner Lebemänner, über Halbweltdamen und Séparéegeheimnisse« fänden, kämen die »verschwiegenen Leiden der von dem Vater der Schande Preisgegebenen zum Ausdruck«. Aus zahlreichen Stellen sei ersichtlich, welcher »Lebensekel das Mädchen erfaßt hatte, das Einladungen der Cavaliere annahm«, indes der Vater ihr »den Schandlohn« abgenommen habe. Sie schildere dort »ihre seelischen Kämpfe, ihre moralischen Leiden, als sie, die kaum Vierzehnjährige, die Bahn des Lasters betreten« habe. Lebensmüde, habe die Unglückliche durch Selbstmord »ihrem durch das Laster früh verdorbenen Leben ein freiwilliges Ende bereitet«. Sie habe den Tod »einem Leben der Schande« vorgezogen.