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Judith Butler

Rücksichtslose Kritik

Körper, Rede, Aufstand

 

Aus dem Englischen von
Michael Adrian und Bettina Engels

 

 

 

 

Konstanz University Press

 

 

JUDITH BUTLER ist Philosophin und lehrt an der

University of California in Berkeley. Sie zählt zu den prominentesten Theoretikerinnen des Feminismus und tritt für zivile politische Bewegungen und gewaltfreie Formen des Protests ein.

 

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© Konstanz University Press 2019

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Konstanz University Press ist ein Imprint der

Wallstein Verlag GmbH

 

Einbandgestaltung: Eddy Decembrino, Konstanz

ISBN (Print) 978-3-8353-9120-8

ISBN (E-Book, pdf) 978-3-8353-9729-3

ISBN (E-Book, epub) 978-3-8353-9730-9

Inhalt

Vorwort

1 Der unorganische Leib beim frühen Marx:
Ein Grenzbegriff des Anthropozentrismus

2 »Die Philosophie hat sich verweltlicht«.
Marx über rücksichtslose Kritik

3 Furchtlose Rede und Widerstand

4 Der Aufstand

Anmerkungen

Vorwort

Ein zeitgenössisches Vorurteil gegenüber der kritischen Theorie scheint auf zwei landläufigen Vorstellungen davon zu beruhen, was sie ist und was sie macht. Die erste ist insofern wenig überraschend, als sich die kritische Theorie schon lange mit ihr herumzuschlagen hat, nämlich mit der Idee, Kritik sei etwas Negatives, inspiriert vom Geist der Verneinung, Zerstörung, Skepsis, Verdächtigung und Ablehnung. Die zweite Unterstellung lautet, Kritik sei anthropozentrisch und gehe von der dem menschlichen Subjekt vorbehaltenen Fähigkeit aus, sich von seiner Welt zu distanzieren und sie zu dekonstruieren. Wenn wir jedoch über einige der Schlüsselfragen nachdenken, die die kritische Theorie seit ihrer Begründung verfolgt hat, stoßen wir auf eine ganz andere Geschichte. In seinem grundlegenden Aufsatz »Traditionelle und kritische Theorie« distanziert sich Horkheimer vom Neukantianismus der Marburger Schule, den er mit folgender Begründung zurückweist: »[E]ntscheidende Züge des gesellschaftlichen Lebens werden auf die theoretische Tätigkeit des Gelehrten reduziert. Die ›Kraft der Erkenntnis‹ wird ›die Kraft des Ursprungs‹ genannt. Unter ›Erzeugen‹ wird die ›schöpferische Souveränität des Denkens‹ verstanden.« Diese Position, kritisiert Horkheimer, ordnet alles Tatsachenwissen dem Begrifflichen unter:

 

Und weil am Gegenstand sich alles in gedankliche Bestimmung auflöst, ist als Resultat dieser Arbeit nichts Festes, Materielles vorzustellen; die bestimmende, einordnende, einheitsstiftende Funktion ist das einzige, worin alles gründet, worauf alle menschliche Anstrengung abzielt. […] Die Selbsterkenntnis des Menschen in der Gegenwart ist jedoch nicht die mathematische Naturwissenschaft, die als ewiger Logos erscheint, sondern die vom Interesse an vernünftigen Zuständen durchherrschte kritische Theorie der bestehenden Gesellschaft.[1]

 

Er warnt: »Insofern aber die Sachverhalte, die in der Wahrnehmung gegeben sind, als Produkte begriffen werden, die grundsätzlich unter menschliche Kontrolle gehören und jedenfalls künftig unter sie kommen sollen, verlieren sie den Charakter bloßer Tatsächlichkeit.«[2] Gleichzeitig jedoch wird die kritische Theorie, die sich einem solchen Verlust der Tatsächlichkeit widersetzt, für genau dieses Ergebnis verantwortlich gemacht. So bemerkt Horkheimer: »Wenngleich die kritische Theorie nirgends willkürlich und zufällig verfährt, erscheint sie der herrschenden Urteilsweise daher subjektiv und spekulativ, einseitig und nutzlos.«[3] Und weiter:

 

Die Feindschaft gegen das Theoretische überhaupt, die heute im öffentlichen Leben grassiert, richtet sich in Wahrheit gegen die verändernde Aktivität, die mit dem kritischen Denken verbunden ist. Wo es nicht beim Feststellen und Ordnen in möglichst neutralen, das heißt für die Lebenspraxis in den gegebenen Formen unerläßlichen Kategorien bleibt, regt sich sogleich ein Widerstand. Bei der überwiegenden Mehrheit der Beherrschten steht die unbewußte Furcht im Weg, theoretisches Denken könnte die mühsam vollzogene Anpassung an die Realität als verkehrt und überflüssig erscheinen lassen; bei den Nutznießern erhebt sich der allgemeine Verdacht gegen jede intellektuelle Selbständigkeit.[4]

 

Was den Aspekt der Skepsis, Negativität und Zerstörung angeht, so beachte man die Analogie, die Horkheimer zwischen kritischer Theorie und Phantasie herstellt:

 

Das eine hat dieses Denken mit der Phantasie gemeinsam, daß ein freilich aus dem tiefsten Verständnis der Gegenwart entspringendes Bild der Zukunft auch in solchen Perioden Gedanken und Aktionen bestimmt, in denen der Gang der Dinge weit von ihr wegzuführen und jede Lehre eher zu begründen scheint als den Glauben an die Erfüllung. Zu diesem Denken gehört zwar nicht das Willkürliche und vermeintlich Unabhängige, aber der Eigensinn der Phantasie. Innerhalb der avanciertesten Gruppen ist es der Theoretiker, der diesen Eigensinn aufbringen muß.[5]

 

Dieser obligatorische Eigensinn hat einen doppelten Charakter. Auf der einen Seite muss er wach dafür sein, wie sich die Strukturen des Kapitals, die Horkheimer als Klassen identifiziert, durch die Geschichte dessen ziehen, was er als »liberalen Kapitalismus« bezeichnet. Auf der anderen Seite verändern sich diese historischen Strukturen mit den historischen Gegebenheiten. »Dieser Einfluß der gesellschaftlichen Entwicklung auf die Struktur der Theorie«, schreibt Horkheimer entsprechend, »gehört zu ihrem eigenen Lehrbestand«.[6] Es hat natürlich anhaltendes Kopfzerbrechen bereitet, wie man die Tatsache, dass die Geschichte der Theorie immanent ist, verstehen und wie man ihr durch eine Form des Denkens, eine theoretische Praxis Rechnung tragen soll, die unweigerlich von dieser Geschichte geprägt und betroffen ist.

Diese kurze Rückbesinnung auf Horkheimer soll dazu dienen, den zukunftsweisenden Charakter der kritischen Theorie, ihre Ausrichtung auf die Bedingungen eines lebenswerten Lebens, auf Gerechtigkeit und das Ende aller Ausbeutung zu unterstreichen. Sie soll zudem daran erinnern, dass sich das Subjekt der Erkenntnis nie ganz aus den historischen Umständen herauslösen lässt, die es ermöglichen. Gewiss bestimmt Horkheimer die Natur gelegentlich als eine Form unbezwingbarer Notwendigkeit und würdigt die Zunahme der sozialen Kräfte des Menschen. Gleichzeitig lässt er keinen Zweifel daran, dass der Individualismus lediglich eine Form ist, die das Subjekt unter bestimmten historischen Bedingungen angenommen hat, und dass diese Kräfte nicht mit Ausbeutung gleichzusetzen sind.

Der Versuch, auf die gesellschaftlichen und historischen Bedingungen der eigenen Zeit zu reflektieren, wird immer wieder von denen abgelehnt, die sich im Zentrum einer solchen Reflexion ein ortsungebundenes oder losgelöstes Subjekt vorstellen. Von der Geschichte, der menschlichen Geschichte, der Geschichte der Natur einschließlich der heutigen Bedingungen des Klimawandels geprägt und betroffen zu sein, heißt jedoch gerade, dass sogar die eigene Subjektstruktur durch die Geschichte verändert wird. Nicht das Subjekt im Singular bewegt sich durch die Zeit. Diese Bewegung impliziert eine Veränderung, die nicht als dialektisches Fortschreiten zu erfassen ist. Im Gegenteil: Diese Bewegung und Veränderung ist der steinige Weg historischer Reflexion.

Die Kritik an Horkheimers Auffassung von kritischer Theorie ist bekannt. Dazu gehört natürlich auch der – am eindringlichsten von Habermas vorgetragene – Vorwurf, dass sich eine Theorie, die so eng mit der Geschichte verbunden ist, jeder Möglichkeit begibt, handlungsleitende Normen zu begründen und zu rechtfertigen. Dafür bräuchten wir eine transzendentale Wende. Befürchtet wurde, dass kritische Theorie als eine historisch veränderliche Theorie, die auf die Bedingungen, unter denen sie stattfindet, reagiert, in einer Zirkularität und einem moralischen Relativismus gefangen wäre. Einer solchen Charakterisierung entgehen aber mitunter die eingreifenden und zukunftsweisenden Dimensionen dieser Theorie. So zeigt Horkheimer selbst, wie sich Eigentum und soziale Klassen im Zuge der jeweiligen Gestaltwechsel des Kapitalismus gewandelt haben. Und in seiner gegenwärtigen Verkörperung geht die Anhäufung von Kapital unter immer weniger Beteiligten mit neuen Formen der ökonomischen und sozialen Enteignung und Prekarität einher. Das Prekariat, einschließlich jener, die in Gefangenenlagern oder globalen Slums leben, lässt sich vielleicht nicht mehr als Klasse begreifen. Dennoch verlangt die Lage nach der kritischen Aufmerksamkeit der Theorie.

»Kritisch« hat in diesem Zusammenhang mindestens eine dreifache Bedeutung: Wir sind mit einer Krise konfrontiert, die benannt und beschrieben werden muss; etwas läuft falsch und nötigt uns zu einem Werturteil; die Welt sollte anders geordnet sein, sodass wir Breschen für einen sozialen Wandel schlagen müssen. Die erste Bedeutung ist diagnostischer Art, die zweite ist ein Urteil und die dritte zukunftsweisend oder performativ. Die Veränderung der historischen Formen von Ungerechtigkeit hat einen Einfluss auf die Formen des Denkens, die aus diesen Bedingungen hervorgehen und sie reflektieren (oder auf sie reflektieren). Es gibt Formen des Denkens, die diese Bedingungen rationalisieren, sie also zur Kenntnis nehmen und unkritisch reproduzieren; es gibt aber auch andere, die versuchen, die historischen Bedingungen der Prekarität und des Denkens zu erfassen und auf einer beschreibenden, urteilenden und zukunftsgerichteten Denkungsart bestehen. Das ist kein moralischer Relativismus. Es handelt sich vielmehr um eine Reihe von Praktiken, die auf eine wechselhafte Reihe von Krisen reagieren, von denen viele ursächlich mit den ökonomischen und finanziellen Formen verknüpft sind, die das Kapital auf der globalen Bühne von heute annimmt.

Aus meiner Sicht beeinflusst eine historische Lage, die von Umweltvergiftung, Klimawandel und Artensterben geprägt ist, die Theorie; sie bewirkt eine Veränderung auf der Ebene der Theoretikerin, verstanden als organischer historischer Körper. Denn die Theoretikerin atmet diese Luft ein, sie braucht diesen Boden unter ihren Füßen und ein Dach über ihrem Kopf. Was wir traditionell als »materielle Lebensgrundlagen« bezeichnet haben, sind faktisch all die Hinsichten, in denen der organische Leib eine soziale Struktur und Organisation benötigt, um leben und gedeihen, ja, um essen und trinken zu können. Wenn wir also fragen, wie denn ein »Subjekt« über seine eigenen geschichtlichen Bedingungen nachdenken kann, dann zeugt bereits die Formulierung der Frage in ebendieser Form von einer falschen Naivität. Das Subjekt wird nämlich von der Geschichte geprägt und beeinflusst, bevor es sich überhaupt eine Frage bezüglich dieser historischen Bedingungen stellen kann. Diese historischen Bedingungen sind in Wirklichkeit kein Gegenstand und auch keine Konstellation, die dem Subjekt, das sie zu erkennen sucht, vor- oder entgegengesetzt wäre. Eine derartige epistemologische Verblendung wird durch ein Verständnis der Subjektbildung in der Geschichte erschüttert. Denn das eigene Denken ist integraler Bestandteil dieser Geschichte, und die Geschichte lässt sich nicht verstehen, wenn man nicht einkalkuliert, dass sie die Macht hat, Subjekte unterschiedlich hervorzubringen, wenn man also nicht die Ungleichheit der Leben und die ungleiche Verteilung von Wert berücksichtigt. Die Geschichte ist kein Subjekt, das eine Reihe menschlicher Subjekte hervorbringt. Die Geschichte ist die Struktur der Lebenden, jenes Einwirken, das sowohl Leid stiftet als auch zum Handeln anstiftet.

Wenn wir jedoch fragen, welche Formen des Nachdenkens über eine historische Situation das Potenzial haben, auf diese Situation einzuwirken und sie zu verändern, dann fragen wir danach, was unsere Zeit erfordert. Anders gesagt: Das Bedürfnis nach Theorie entspringt der materiellen Welt, und eine responsive kritische Theorie erfasst dieses Bedürfnis in ihrer Sprache und ihren Begriffen. In Wirklichkeit ist die Geschichte schon in unserer Begrifflichkeit verzeichnet, sodass es von größter Bedeutung ist zu differenzieren, auf welche unterschiedlichen Weisen sie verzeichnet ist oder verzeichnet werden kann. Zumindest eine von Horkheimers Einsichten gilt auch heute unverändert für die kritische Theorie: Wir brauchen einen interdisziplinären Ansatz, um die vieldimensionalen Aspekte unserer historischen Lebensbedingungen zu erfassen. Unser Vermögen, zu begreifen, zu bewerten und zu verändern, hängt davon ab, wie wir dieses Eingelassensein des begrifflichen Lebens in das historische Leben verstehen. Obwohl – oder gerade weil – unser eigenes Denken unweigerlich in seine historische Zeit verstrickt ist, sind wir meines Erachtens verpflichtet, über die heutigen Formen von Herrschaft, Unterdrückung und Enteignung so nachzudenken, dass diese Machtformen nicht einfach reproduziert oder affirmiert werden. Dies mag nach einem hochreflexiven oder introspektiven Vorhaben klingen, einem Versuch der Selbstüberwachung, doch das Gegenteil ist der Fall: Die kritische Reflexion auf unsere eigenen historischen Bedingungen erfordert eine Bewegung über eine subjektzentrierte Epistemologie hinaus.

Ich würde durchaus behaupten, dass kritische Theorie nicht von einem Subjekt betrieben wird. Kritik bezeichnet vielmehr ein spezielles Verhältnis zwischen den historischen Bedingungen des Denkens und den Formen des Urteilens, die in das historische Leben eingreifen und es verändern wollen, um nach Möglichkeit politische Ideale wie Gleichheit, Freiheit und Solidarität zu verwirklichen. Dieser kritische Eingriff ist bis zu einem gewissen Grad von den Umständen selbst bestimmt, von der Machtstruktur, den Medien der Macht und ihrer globalen Verteilung. Die Landkarte der Macht und die Geschichte der Unterdrückung bilden einen Raumzeit-Vektor, der »organischhistorische« Akteurinnen und Akteure verortet und antreibt – für die, mit anderen Worten, der Dualismus zwischen organischem und historischem Leben nicht mehr greift. Die verkörperte Natur sowohl des Denkens als auch des Handelns kommt in jenen Momenten ins Spiel, in denen eine historische Krise Widerstand und kritische Eingriffe heraufbeschwört. Es geht nicht einfach darum, die Macht oder die Begriffsarsenale, mit denen sie arbeitet, vom Thron zu stoßen. Kritisches Denken beharrt vielmehr darauf, die zeitgenössische Form von Ungerechtigkeit zu erfassen und zu benennen, seine Unannehmbarkeit zu ermessen und eine Reihe von Potenzialen zu eröffnen, die mit der allgemein anerkannten gegenwärtigen Version der Realität brechen, um einer Verwirklichung zukunftsweisender Gerechtigkeitsideale näherzukommen.

Sicherlich bezweifeln heute manche Kritiker, dass die kritische Theorie – in welcher Form auch immer – über die Begrifflichkeit und die Fähigkeit verfügt, irgendeines der genannten Ziele zu erreichen.[7] So glaubt etwa Bruno Latour, dass wir unter »Kritik« ein ausschließlich negatives Projekt verstehen, eine Praxis der Entlarvung und Demontage hegemonialer Annahmen über die Welt. Für ihn nährt die kritische Theorie Skepsis und entbehrt jeder transformierenden Kraft und jeglicher Verpflichtung auf emanzipatorische Ideale.[8] Die Stichhaltigkeit seiner Behauptungen steht und fällt damit, was genau »negativ« bedeuten soll und ob »das Negative« einen so schlechten Ruf verdient hat. Gewiss, ein »kritischer« Ansatz will keine Form des Denkens reproduzieren, von der gesellschaftliche Lebensweisen affirmiert werden, die Herrschaft oder Unterwerfung perpetuieren; doch das heißt nicht, dass kritische Theorie die Reproduktion aller Formen des Denkens ablehnt oder sich allen Oberflächenphänomenen widersetzt. Widerstand gegen eine naturalisierte Form der Erkenntnis, deren Begriffe Unterdrückung hinnehmen, bedeutet nicht, sich der gesamten Natur zu widersetzen oder sie durch Ausdrucksformen der menschlichen Macht ersetzen zu wollen. Eine naturalisierte Form der Unterdrückung zum Gegenstand der Erkenntnis zu machen, heißt nicht, sie realiter zu zerstören, sondern sie zu einem Gegenstand des Wissens, des Urteilens und der Veränderung zu machen. Auf diese Weise eröffnet die »Negation« – verstanden als Sistierung oder vorübergehende Aufhebung des für selbstverständlich genommenen Charakters der Realität – eine kritische Perspektive auf diese Form und schafft die Bedingungen der Möglichkeit genau jener Arten des Eingreifens und zukunftsweisenden Denkens, die Latour dem kritischen Projekt abspricht. Ein Problem an Latours Kritik der »Kritik« ist, dass er von der Vorstellung ausgeht, die kritische Theorie sei der aktuelle Ausdruck eines historisch folgenreichen, auf Kant zurückgehenden Fehlers. Latour schreibt:

 

Unser aller Fehler bestand in dem Glauben, daß es keine wirksame Weise gebe, Tatsachen zu kritisieren, es sei denn, indem man sich von ihnen entfernt und die Aufmerksamkeit auf die Bedingungen richtet, die sie ermöglichten. Damit aber akzeptierte man viel zu unkritisch, was Tatsachen sind. Das hieß, der unglückseligen Lösung zu sehr die Treue zu halten, die Immanuel Kants Philosophie uns vererbt hat.[9]

 

Latour scheint den Positivismus für den Gegenstand der Kritik zu halten und behauptet im Weiteren, dass man sich der Tatsachen wieder auf eine Art und Weise annehmen müsse, die deren eigenes Potenzial, deren Handlungswirksamkeiten unterstreicht. Dem mag ja so sein. Aber welche Version von Kritik assoziiert er mit Kant? Und hat Latour recht mit der Vorstellung, kritische Theoretikerinnen seien allesamt von einem Bild gefangen, das Tatsachen nicht gerecht wird (und sie nicht zu Dingen von Belang macht), um ihr, der Theoretikerinnen eigenes kritisches Potenzial hervorzuheben? Sollten wir nicht endlich aufhören, die Welt zu beeinflussen?

Das Subjekt der Kritik ist für Latour eines, das sich vornehmlich von dem, was ist (im Sinne von: was einfach nur ist), distanzieren und es somit negieren will. Latour zufolge kann eine solche Negation nicht der zwischen subjektiven und objektiven Feldern wirkenden gemeinsamen Handlungsmacht Rechnung tragen. Aus seiner Sicht entspringt dieses mangelnde Verständnis einer kantianischen Epistemologie. Zudem erschlössen sich ihm die kritischen Möglichkeiten, die die Bereiche der »Tatsachen« und der »Dinge von Belang« selbst eröffneten, nicht angemessen. Durch eine etwas differenziertere Darstellung des Verhältnisses von Subjekt und Objekt sowie von Natur und Leben im deutschen Idealismus ließe sich Latours Kritik freilich mühelos zurückweisen. Dabei könnte sich im Übrigen herausstellen, dass eine solche Darstellung womöglich in gar keinem so großen Gegensatz zu Latours eigenen Auffassungen steht. Die Essays des vorliegenden Bandes unternehmen einen Schritt in diese Richtung. Weiterhin könnte man Latour vorhalten, dass er die Negation, insbesondere Hegels Begriff der bestimmten Negation, als Teil einer Philosophie der Immanenz missversteht, mit gravierenden Folgen für einen nichtpositivistischen Naturbegriff. Die kritische Theorie hat zudem eine Reihe von Positionen gegen den Skeptizismus entwickelt, die Latour allesamt großzügig übersieht, wenn er den Skeptizismus zum bezeichnenden Merkmal der kritischen Theorie erklärt. Schließlich stellt seine Wiedergabe der kantischen Position, die er mit einem Hypersubjektivismus jenseits der objektiven Realität in Verbindung bringt, weder eine faire und begründete Charakterisierung Kants noch der Anliegen der kritischen Theorie dar.

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