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Steven Bloom

Mendel Kabakov
und das Jahr des Affen

Roman

 

Aus dem amerikanischen Englisch
von Silvia Morawetz

 

 

 

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Wir tasten an der Wand entlang wie die Blinden und tappen wie die, die keine Augen haben. Wir stoßen uns am Mittag wie in der Dämmerung.

           Jesaja 59,10

 

 

Die höchste Form der Weisheit ist Freundlichkeit.

           Talmud: Berekoth 17a

 

 

Lass mich von keinen Hindernissen hören,

Die treuer Seelen Ehebund bedräun.

           William Shakespeare, Sonett 116

 

 

Fünfmal zu Boden, sechsmal wieder auf.

           Chinesischer Glückskeks

Die Übersetzerin dankt dem Deutschen Übersetzerfonds e. V.
für die freundliche Förderung ihrer Arbeit an diesem Text.

 

 

 

 

 

 

 

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

 

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese

Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;

detaillierte bibliografische Daten sind im Internet

über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

 

 

© Wallstein Verlag, Göttingen 2019

www.wallstein-verlag.de

 

Umschlaggestaltung: Stine Wiemann

 

ISBN (Print) 978-3-8353-3443-4

ISBN (E-Book, pdf) 978-3-8353-4402-0

ISBN (E-Book, epub) 978-3-8353-4403-7

 

Inhalt

 

Mendel Kabakov und das Jahr des Affen

Eine Nachbemerkung des Autors

Nachweise

 

1.

Hast du was gegessen, Mendel?, war unser letzter privater Witz. Isaac Bashevis Singer, der oft die Tauben auf dem Broadway fütterte, hatte bereits alles Nötige über Liebe und Ehe geschrieben, als er die im Sterben liegende Scheindel mit letzter Kraft zu ihrem Mann sagen ließ: »Ezriel, hast du was gegessen?« Und so sagte auch Sonia in dem Zimmer, das sie und ich siebenundvierzig Jahre lang geteilt hatten, im Beisein von unserem Sohn Sammy und unserer Tochter Eva etwas, das eigentlich nur ich wirklich verstand.

 

*

 

Ich war schon lange, um es mit Mordecai Richler zu sagen, Jude nur noch, wenn es ans Verfolgtwerden ging. Trotzdem beschloss ich, Schiwa zu sitzen. Ich saß Schiwa, weil ich nicht wusste, was ich sonst tun sollte.

Alle kamen: entfernte Vettern Sonias, Nachbarn, sämtliche Angestellte aus dem Gebäude, ehemalige Kollegen. Sogar Brewster. Brewster, über dreißig Jahre lang Kollege, konnte mich nicht leiden, weil ich Jude war. Mit derlei konnte man sich in New York aber nicht mehr blicken lassen. Zum Glück hatte er noch andere Gründe, mich nicht leiden zu können. Auf Befragen hätte er geantwortet, meine »Ansichten« verzerrten Amerikas Vergangenheit, weil ich »Gräuel« herausstellte und übersah, was Amerika einzigartig unter den Völkern machte. Wozu sollte es gut sein, Studenten zu erzählen, dass eine Freiwilligen-Miliz in Colorado, befehligt von Oberst J. M. Chivington, der methodistischer Priester war, eine gehisste weiße Fahne nicht zur Kenntnis nahm und in Sand Creek vierhundertfünfzig Cheyenne, Männer, Frauen und Kinder, abschlachtete? Musste man ihnen sagen, dass die Toten und die Sterbenden zudem noch skalpiert wurden? Mussten sie wirklich wissen, dass die Soldaten den Frauen die Geschlechtsorgane herausschnitten und auf Pfähle spießten oder unter ihren Hüten trugen?

Auch wenn, hätte Brewster erklärt, gewiss entsetzliche Dinge geschehen seien (Denn alle haben gesündigt und sind hinter Gottes Herrlichkeit zurückgeblieben) und ein ehrlicher Historiker die nicht auslassen dürfe, komme es darauf an, das große Ganze nicht aus den Augen zu verlieren. Wenn eine philopietistische Geschichte mit dem Verstand nicht zu rechtfertigen war, galt das für ihr Gegenteil genauso. Die Besiedlung des Westens war nicht bloß eine Geschichte der Grausamkeiten. Sie war auch eine Geschichte der Möglichkeiten, die Amerika Millionen bot, die sie sonst nirgendwo auf der Welt gehabt hätten.

Brewster hätte angemahnt, jemand wie Mendel Kabakov, dessen Familie ja selbst den Schrecken von Pogromen entkommen war, die von der Regierung auch noch befeuert wurden (was Mendel Kabakov und sein Volk in den Vereinigten Staaten nie erleben mussten), könnte dem Land, das ihm so viel gegeben habe, sogar die Freiheit, es zu kritisieren, ruhig etwas dankbarer sein.

Brewster fand, ich sei nicht antikommunistisch genug. Nicht nur, dass ich den christlichen Gott ablehnte, ich sei auch zu nachsichtig mit dem kommunistischen Teufel. Das stimmte aber einfach nicht. Mich hat immer erschüttert, wie bereitwillig intelligente und herzensgute Männer und Frauen annahmen, dass die Äußerungen eines militanten Antikommunisten wie Brewster über sowjetische Gräuel falsch sein mussten. Sie wollten nicht glauben, dass Menschen in den Gulag geschickt und Kulaken hingerichtet wurden und dass man Ukrainer Hungers sterben ließ. Ich erzählte den Witz, in dem Stalin eine Frau zu ihrem hundertsten Geburtstag besucht und verspricht, ihr jeden Wunsch zu erfüllen. Wenn ich sterbe, sagt sie, möchte ich eine schöne Todesanzeige. Sie bekommen eine ganze Seite in der Prawda, sagt Stalin. Aber wenn Sie die da reinsetzen, glaubt kein Mensch, dass ich tot bin.

Wenn ich den Witz erzählte, wollten diese intelligenten und herzensguten Leute ihn nicht verstehen.

 

*

 

Brewster und Sonia lernten sich auf einer Party kennen, die Benson für Fakultätsangehörige und ihre Frauen gab. Benson war eine der führenden Autoritäten zur Shang-Dynastie. Kollegen unseres Fachbereichs gehörten zu den wenigen in New York, einer Minderheit sogar unter Historikern, die überhaupt irgendetwas über die Shang sagen konnten.

Ah, ja, die Shang. Großartige Ackerbauern. Weizen, Hirse, Sojabohnen, Gerste und eventuell sogar Reis. Großartige Bronzekünstler. Hegten jedoch eine übertriebene Neigung zum Darbringen von Opfern. Ihre üblichen Opfergaben waren Rinder, Schafe, Schweine und Hunde; zu besonderen Anlässen opferten sie aber auch gleich mal hundert Menschen. Die Geister der Shang waren überaus anspruchsvoll, und zwischen ihnen und den Menschen zu vermitteln war überaus heikel. Schamanen, ob Männer oder Frauen, wurden ihrerseits geopfert, wenn es ihnen nicht gelang, die Geister zu besänftigen.

Der große Vorteil für den Shang-Experten, sagte Benson gern, ist, dass so wenig über sie bekannt ist. Hatte man die Bambus-Chronik gelesen und die zweitausend Schriftzeichen gelernt, die man benötigt, um die Orakelknochen zu entziffern, und hatte man sich mit den raffinierten Waffen und Bronzen vertraut gemacht, die aus dieser Kultur überliefert sind, wusste man das meiste, was es derzeit über sie zu wissen gab.

Brewster hingegen hatte sich seine eigenen Vorfahren, die Puritaner, ausgesucht. In Bezug darauf, was es über sie zu wissen gab, waren sie allerdings kein Vergleich mit den Shang. Die Puritaner waren hochgebildet und nicht weniger streitlustig. Häufig trugen sie ihren Streit im Druck aus. Auf Roger Williams’ Das blutige Prinzip der Verfolgung aufgrund des Gewissens antwortete John Cotton mit Das blutige Prinzip, im Blut des Lamms gewaschen und weiß gemacht, worauf Roger Williams seinerseits wieder mit Das blutige Prinzip, noch blutiger replizierte. Zusätzlich zu diesem Gedankenaustausch gab es Briefe und Tagebücher, Predigten und Gerichtsakten, Erbauungsschriften und Chroniken. Eine bedeutende Gestalt in so einer Chronik, der Schrift Über die Kolonie Plymouth von William Bradford, hieß William Brewster. Brewsters Namensvetter war 1620 mit seiner Frau Mary und den gemeinsamen Söhnen Wrestling und Love auf die Mayflower gekommen. Brewster tat zwar so, als ob er nicht ungemein stolz auf seine Herkunft wäre, aber das nahm ihm niemand ab. Mit seinem leichten britischen Akzent wollte er sich zweifellos von denen abheben, deren Altvordere erst viel später in Amerika gelandet waren.

Wenn Sonia lächelte, war das viel aufrichtiger als das Lächeln der Leute, die mit ihrem nur das häufig unaufrichtige Lächeln anderer nachahmten. Sonia lächelte, und Brewster lächelte ebenfalls. Sie streckte die Hand aus, wie man es ihr beigebracht hatte, und Brewster umfasste sie mit beiden.

Kurz darauf schlenderte ich weiter. Bei Geselligkeiten unterhielten wir uns meistens mit anderen Gästen. Ich schlenderte allerdings nicht bis außer Hörweite, und trotz eines Gesprächs mit Cartwright, unserem Mediävisten, einem Mann, der in einem fort das, wie man heute sagt, Mantra von der Dummheit der Studenten sang, konnte ich Sonia und Brewster zuhören, da man sich an Gesprächen mit Cartwright nicht zu beteiligen brauchte.

Als erstes erkundigte sich Brewster bei Sonia nach ihrer Familie, weil er erwartete, sie werde sich umgekehrt auch nach seiner erkundigen. Sie erzählte ihm, ihre Großeltern seien Mitte des neunzehnten Jahrhunderts aus Deutschland eingewandert, erwähnte aber, weil es für sie wie Prahlerei geklungen hätte, keine ihrer außerordentlichen Leistungen. Nachdem Brewster gesagt hatte, was er immer sagte, wenn sich die Gelegenheit dazu bot, zeigte das Zögern in seiner Stimme, dass er sich nicht ganz sicher war, welche Art Smalltalk mit jemandem wie Sonia angebracht war.

Sehende wollen über das Leben von Blinden immer sehr viel wissen, Brewster war aber klar, dass er so tun musste, als hätte er nicht bemerkt, dass Sonia blind war. Smalltalk ist ja in erster Linie dafür da, eventuell unangenehme Themen zu vermeiden. Blind zu sein war zweifellos unangenehm.

Franklin Delano Roosevelt, dessen niederländische Ahnen vor fast ebenso langer Zeit nach Amerika gekommen waren wie die Brewsters, war jetzt Präsident. Schon nannten seine Widersacher ihn »Rosenfeld«. In Deutschland war ein Mann namens Adolf Hitler, der nie ein öffentliches Amt bekleidet und zehn Jahre zuvor sogar einmal im Gefängnis gesessen hatte, gerade Kanzler geworden. Da Sonia mit jemandem wie mir verheiratet war, waren Roosevelt und die Wahrheit über ihn für Smalltalk mit ihr unpassend. Hitler jedoch hielt Brewster, unglaublich, aber wahr, für geeignet.

Was, sagte er, halten Sie von dem neuen deutschen Kanzler?

Was ich von einem Mann halte, für den die Deutschen eine Herrenrasse sind?, sagte Sonia. Wenn Sie sein grauenhaftes Deutsch ertragen, lesen Sie Mein Kampf einmal. Das ist ein Hexengebräu aus unsinnigen und gefährlichen Ideen.

Ich vermute, heute sind Politiker weniger wegen ihrer Ideen bekannt. Im achtzehnten Jahrhundert gab es in diesem Land politische Führungsgestalten, die glänzende Denker waren, aber die Zeiten sind, fürchte ich, lange, lange vorbei.

Diese Männer mögen glänzende Denker gewesen sein, sagte Sonia, aber viele von ihnen waren moralisch blind.

Andere passten zwar sehr auf, das Wort »blind« im Gespräch mit Sonia zu vermeiden, sie hatte jedoch selbst keine Hemmungen, es zu verwenden.

Ich bin mir nicht sicher, ob ich Sie richtig verstehe, sagte Brewster.

Das leichte Flattern seiner Stimme verriet, dass das Gegenteil zutraf.

Für Jefferson waren Neger weniger wert als Weiße, sagte Sonia. Er glaubte genau wie Hitler an überlegene und unterlegene Rassen. Haben Sie seine Betrachtungen über den Staat Virginia gelesen?

Ich fürchte, sagte Brewster, das liegt ein wenig außerhalb meines Fachgebiets.

Es lag aber nicht außerhalb von meinem, und ich las Sonia oft vor, was ich selber las.

Jefferson, sagte sie, behauptete, es wäre bloß sein »Verdacht«, dass Schwarze in ihrer »körperlichen und geistigen Ausstattung« Weißen unterlegen seien, aber da er fähig war, zweihundert Menschen als bewegliche Habe zu behandeln, war es zweifellos mehr als ein bloßer »Verdacht«. Er fand auch, Neger seien »hässlich« und hätten »einen starken und unangenehmen Geruch«. Die Unabhängigkeitserklärung und die Verfassung haben Sie aber doch sicher gelesen.

Grundlegende Dokumente, sagte Brewster.

Grundlegende Dokumente, sagte Sonia, für eine Sklavenhaltergesellschaft.

Wir dürfen allerdings nicht verkennen, sagte Brewster, dass diese Männer uns die beste Regierung gaben, die die Welt je gekannt hat.

Das mag sein, sagte Sonia, aber es gereicht niemandem zur Ehre, wenn er zwar Freiheit für sich selbst wünscht, andere aber in Knechtschaft hält. Washington, Jefferson, Madison und all die anderen Sklavenhalter waren moralisch blind.

Brewster beeilte sich, zu Hitler zurückzukehren.

Vielleicht ist er gar nicht so schlecht, wie viele meinen, sagte er. Vielleicht ist er genau das, was die Deutschen brauchen. Jedenfalls ist er unser Verbündeter gegen Stalin. Mit Hitler können wir leben, die Kommunisten wollen aber die Welt beherrschen.

Sonia war klar, wie sinnlos eine Debatte über Hitler mit Brewster wäre, und fragte ihn deshalb nach den Puritanern, die Quäker hingerichtet hatten. Brewster erklärte, die Quäker seien doch hinreichend ermahnt worden und hätten sich ja wohl dafür entschieden, den Märtyrertod zu sterben.

Sie fragte ihn, warum die Puritaner nach dem Pequot-Krieg die männlichen Überlebenden getötet und die Frauen und Kinder nach Westindien in die Sklaverei verkauft hätten. Brewster erklärte, wir hätten nicht das Recht, Menschen, die vor dreihundert Jahren gelebt hatten, nach den Maßstäben der Gegenwart zu beurteilen.

Brewster schwante wohl bereits, dass Sonia ihn als nächstes nach den Hexenprozessen von Salem fragen würde. Er entschuldigte sich dafür, dass er sie so lange beansprucht habe, sagte, ihre Unterhaltung habe ihn wirklich gefreut, und lotste sie wieder zu mir.

Vierunddreißig Jahre später spürte ich Brewsters Tremor, als wäre es mein eigener. Er umfasste meine Hand mit seinen beiden wie einst die Sonias.

 

*

 

Ich war in den großen Lesesaal der Bibliothek in der 42. Straße gegangen und wollte mit Gedichten anfangen.

 

Wenn du nur einmal in würgendem Traum

Hinter dem Karren gingst, auf den wir ihn geworfen,

Die weißverdrehten Augen sähst, auf dem Gesicht den Schaum,

Sein hängendes Gesicht wie eines Teufels krank von Sündenschorfen,

Und hörtest du, wie ihm das Blut bei jedem Stoß

Gurgelnd aus schaumverstopften Lungen quillt,

Obszön wie Krebs und bitter wie ein fetter Kloß

Aus Rotz, wie Schwären auf reinen Zungen, die nichts mehr stillt:

Nie würdest du, Freund, Kindern eine Story

Von Krieg und Ruhm servieren und den Rest

Des alten Lügenworts: Dulce et decorum est

Pro patria mori.

 

Im August 1914 hatte Präsident Wilson uns versichert, der Krieg, der unerklärlicherweise in Europa ausgebrochen war, habe mit uns nichts zu tun. Er forderte uns dazu auf, in Denken und Tun neutral zu bleiben. Ich hatte ihm 1912 meine Stimme gegeben, als ich zum ersten Mal alt genug war, wählen zu dürfen, und ich war froh darüber. 1916 gab ich ihm noch einmal meine Stimme. Sein Wahlkampfslogan war: Er hielt uns aus dem Krieg heraus. Doch zuletzt stellte er sich selbst ein Bein. Die Lüge, mit der er den Eintritt Amerikas in einen Krieg rechtfertigte, der bereits seit zweieinhalb Jahren Menschenleben verschlang, lautete, es wäre ein Krieg, der die Welt demokratiefest mache.

Im Mai 1917 verabschiedete der Kongress den Selective Service Draft Act, wodurch alle Männer zwischen einundzwanzig und dreißig Jahren zum Wehrdienst einberufen werden konnten. Ich war damals neunundzwanzig und kein Pazifist, aber überzeugt davon, dass sich der Eintritt Amerikas in diesen europäischen Krieg nicht rechtfertigen ließ. Wir hatten unseren Warenverkehr mit den Bündnispartnern aufgestockt und ihnen Kredite gewährt. Dadurch hatten wir in ihren Sieg investiert. Die britische Blockade sollte die Deutschen aushungern und zur Unterwerfung zwingen. Man musste damit rechnen, dass die Deutschen den uneingeschränkten U-Boot-Krieg wieder aufnehmen würden. Wenn er die Amerikaner wirklich aus dem Krieg hätte heraushalten wollen, hätte Wilson den Kongress dazu bringen müssen, den Handel mit allen Kriegsteilnehmern und Reisen durch das Kriegsgebiet einzustellen. Das Zimmermann-Telegramm war, selbst wenn es authentisch war, als Grund für den Kriegseintritt lächerlich. Einige Amerikaner hatten sich wissentlich und überflüssigerweise in Gefahr gebracht. Das war kein legitimer casus belli.

Wilson jedoch machte sich daran, seinen Leichtsinn zu einer Grundsatzfrage aufzublasen.

Wir werden nicht den Weg der Unterwerfung wählen und zulassen, dass die heiligsten Rechte unserer Nation und unseres Volkes missachtet oder verletzt werden 

Das Unrecht, gegen das wir jetzt aufstehen, ist kein übliches Unrecht; es schneidet in die Wurzeln des menschlichen Lebens.

Senator George Norris hatte besser erfasst, worum es ging.

Wir ziehen unter dem Kommando des Goldes in den Krieg. Schon bald werden wir das Dollarzeichen in die amerikanische Flagge einfügen.

Mit seiner Erklärung, dass die Welt demokratiefest gemacht werden müsse, erkannte Wilson die Legitimität der französischen und der englischen Weltreiche widerspruchslos an, die, wie George Orwell später schrieb, im Wesentlichen nichts anderes als Instrumente zur Ausbeutung billiger farbiger Arbeitskraft waren.

Ich hatte ausgezeichnete Gründe, nicht kämpfen zu wollen. Zu diesen ausgezeichneten Gründen kam noch hinzu, dass mir meine große Angst bewusst war. In einem Krieg wurden Menschen grausam verstümmelt. Sie wurden blind. Ihr Leben endete, bevor sie es ganz gelebt hatten. Und wegen meiner großen Angst konnte ich mir nicht sicher sein, dass meine »ausgezeichneten Gründe« nicht eigentlich Rechtfertigungen waren.

Ich rechtete in talmudischer Weise mit mir selber. Nicht für eine Sache sterben zu wollen, an die man nicht glaubte, war nur vernünftig. Es gab Dinge, vor denen Menschen Angst haben sollten. Wenn große Gefahr drohte, war Weglaufen nicht schändlich.

Manchmal war ich überzeugend. Ich erwog, mich auf Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen zu berufen, was der Selective Service Draft Act von 1917 jedoch nur Quäkern, Mennoniten und Mitgliedern einer Brüderkirche zugestand. Juden hatten keine biblischen Texte, in denen gegen den Krieg Stellung bezogen wurde – ganz im Gegenteil. Ich erwog, aus dem Land zu fliehen: In dem Fall müsste ich aber meine Bücher und mein Stipendium drangeben, das Leben, für das ich mich entschieden hatte. Und da war noch etwas. Ich wollte kein Feigling sein. Der Gedanke, dass ich vielleicht einer wäre, beschämte mich tief. Dieser Krieg, so mein abschließendes Fazit, wurde ein Test.

Heute sieht man überall ein Plakat mit der, meint man, rein rhetorischen Aufforderung:

STELL DIR VOR, ES IST KRIEG UND KEINER GEHT HIN. Aber wenn Krieg ist, gehen die Leute immer hin.

Vielleicht wäre ich, wenn ich weiter Zwiesprache mit mir gehalten oder wenn ich jemanden zum Reden gehabt hätte, zu dem Schluss gelangt, dass es weniger schlimm war, ein Feigling zu sein als ein Mörder.

Als Kind hatte ich gelernt, meine Sinne abzuschalten. Ich konnte den Lärm in unserer Straße und in unserem Haus ignorieren, den vor sich hin faulenden Müll überall und die stinkenden Aborte auf jeder Etage. Ich hatte auch gelernt, die Augen vor allem zu verschließen, was ich nicht sehen wollte: einen alten Mann, der sich im Rinnstein erleichterte; das wutverzerrte Gesicht eines Mannes, der seine Frau anschrie; einen Mann, der mit einem Stock auf ein Pferd einschlug. Wie mein Vater zog ich Bücher der Welt um mich herum vor.

In Frankreich war es nicht immer möglich, die Welt um mich herum zu ignorieren. Es war dort, wo ich zum ersten Mal den Tod sah. Ein Mann lag auf der Straße. Er hatte nur noch einen Fuß. Ansonsten sah er aus, als schliefe er. Wir marschierten ohne anzuhalten an ihm vorüber, und ich sah nicht hin. Ich gewöhnte mich bald an den Anblick von Toten, sogar von toten Pferden.

Man konnte sich manchmal schon vorsehen, aber wir wussten alle, dass das eigentlich keine Rolle spielte. Glück war das einzige, was einem das Leben rettete. Alle glaubten mehr an Glück als an alles andere.

Die Angst hat mich zwar nie verlassen, in die Hose gemacht hab ich mir aber nie. Und da ich so viel über den Krieg gelesen hatte, war nichts von dem, was ich sah, völlig unerwartet. Ich erfuhr auch, wie leicht es mir fiel, auf einen anderen Menschen zu schießen.

Einige meiner Kameraden konnten die Briefe nicht lesen, die sie bekamen, und auch keine beantworten. Diese Soldaten waren dankbar für meine Hilfe. Sie waren auch beeindruckt von meiner Fähigkeit, deutsche Gefangene zu befragen, ja die Gefangenen selbst beglückwünschten mich meist dazu, wie gut ich deutsch sprach. Einmal nahmen wir einen Juden aus Frankfurt gefangen. Ich stellte ihm die üblichen Fragen, und er gab mir die üblichen Antworten. Aus irgendeinem Grund kam es uns beiden nicht seltsam vor, dass ein deutscher Jude und ein amerikanischer Jude sich gegenseitig umbringen wollten, der eine im Namen Kaiser Wilhelms, der andere im Namen Präsident Wilsons.

In Belgien erzählte man uns, die Deutschen hätten Säuglinge umgebracht, indem sie die Schädel unter ihren Stiefeln zertreten hätten. Es hieß auch, sie massakrierten ganze Städte, töteten Männer, Frauen und Kinder, wie Josua es nach der Eroberung Jerichos getan hatte. Die Deutschen verfütterten die zermalmten Körper der Toten danach an die Schweine. Wir hörten auch, dass Gurkha- und Sikh-Einheiten, die auf unserer Seite standen, den Deutschen die Kehle durchschnitten und das Blut tranken, und dass die Senegalesen, die auf Seiten Frankreichs kämpften, Kannibalen waren. Nichts davon fiel uns schwer zu glauben.

Ich hatte gelernt, dass Angst zu haben nicht bedeutete, ein Feigling zu sein, doch als der Krieg schließlich endete, scherte ich mich nicht mehr darum, ob ich ein Feigling war oder nicht.

Wilson kam nach Paris und verhandelte über einen, wie er hoffte, dauerhaften Frieden. Ein neunundzwanzigjähriger Vietnamese, zu dem Zeitpunkt unter dem Namen Nguyen Ai Quoc bekannt, hatte ihn sprechen wollen. Er hatte eine Petition verfasst, die Freiheit und Demokratie für die französischen Kolonien in Indochina forderte. Wilsons »Demokratie« war jedoch wie Jeffersons »Gleichheit« – nicht für jeden gedacht. Nguyen Ai Quoc hatte ein Jahr in den Vereinigten Staaten gelebt. Er und Wilson hätten sich auf Englisch unterhalten können. Zwanzig Jahre später änderte Nguyen Ai Quoc seinen Namen noch einmal. Diesmal wählte er H`ô Chí Minh.

 

*

 

Ich notierte mir viele Gedichte auf 5 × 8-Karteikarten, sogar eines von Ezra Pound, gerade veröffentlicht, in dem er wie Wilfred Owen einen höhnischen Kommentar zu Horaz gab.

 

Manche starben, »pro patria«,

  nicht »dulce«, nicht »et decor«

schritten bis an die Augen hinan in der Hölle,

glaubten die Lügen der Greise, kehrten dann heim

ohne Glauben, heim zu der Lüge,

heim zu vielfachem Trug,

zu alten Lügen, neuer Niedertracht;

Wucher steinalt und versteint

und Lügner von Amts wegen.

 

Es war schon damals kein Geheimnis, was Pound mit »Wucher« sagen wollte. Später behauptete er, die Juden seien für die Entstehung von Wirtschaftskrisen und den Ausbruch von Kriegen verantwortlich.

 

*

 

Nach vielen in Stille verbrachten Stunden konnte ich den Lärm der Autos und der Busse auf der Fifth Avenue nicht überhören. Vor lauter Menschen auf der Straße war der Bürgersteig nicht zu sehen. Die Leute gingen so schnell, dass man nicht gewagt hätte, stehenzubleiben und sich die Schnürsenkel zu binden. An der südwestlichen Kreuzung zur 42. Straße überquerte eine Frau, die trotz des bewölkten Himmels eine Sonnenbrille trug, die Straße jedoch nicht mit allen anderen. Die Frau hielt einen weißen Stock in der Hand, wie ich ihn in Frankreich oft gesehen hatte.

 

*

 

Wäre ich in Bels aufgewachsen, hätte mein Vater für mich, sobald ich vierzehn geworden war, eine Ehe mit einem sogar noch jüngeren Mädchen aus einer ebenso orthodoxen Familie arrangiert. Mich zu meiner Frau zu legen wäre ebenso Teil meines Lebens geworden wie das Schacharis, das Mincha und das Maariv zu sprechen.

Brewster lag falsch, wenn er meinte, ich wüsste nicht zu schätzen, welche Möglichkeiten Amerika Millionen geboten hatte.

In einem Witz geht ein Jude, soeben vom Schiff gestiegen, an seinem ersten Schabbes in Amerika auf der Lower East Side spazieren. Auf einer Parkbank sieht er einen Mann, der eine jiddische Zeitung liest. Der Mann hat aber keinen Hut auf, er hat auch keinen Bart und raucht eine Zigarette. Am nächsten Tag schreibt der Jude einen Brief nach Hause. Liebe Mama, Amerika ist ein wunderbares Land. Sogar die Gojim können Jiddisch.

In Amerika, hatten die Rabbis gemahnt, lief ein Jude Gefahr, seine Jiddischkeit zu verlieren. Pogrom wiederum war das eine russische Wort, das jeder Jude verstand. Anders als der Mann auf der Parkbank war mein Vater jedoch entschlossen, Jude zu bleiben, sogar in Amerika.

 

Höre, Israel, der Herr ist unser Gott, der Herr allein. Und du sollst den Herrn, deinen Gott, von ganzem Herzen lieben, aus ganzer Seele und mit ganzer Kraft. Und diese Worte, die ich dir heute gebiete, sollst du dir zu Herzen nehmen und sollst sie deinen Kindern einschärfen und davon reden, wenn du zu Hause sitzt und wenn du auf der Straße gehst, wenn du dich schlafen legst und wenn du aufstehst. Und du sollst sie binden zum Zeichen um dein Handgelenk, und sie sollen dir ein Merkzeichen zwischen den Augen sein, und du sollst sie auf die Türpfosten deines Hauses und an deine Tore schreiben.

 

Für meinen Vater änderte sich daran nichts, auch wenn er jetzt an der Lower East Side wohnte. Er legte jeden Morgen die Tefillin an, an unserem Türpfosten war eine Mesusa angebracht, und er gab seinem Sohn unermüdlich weiter Anleitung.

Ich konnte das Hebräisch, in dem Gott zum Volk der Juden gesprochen hatte, viel früher lesen als Bei Adams Fall sündigten wir all’ in McGuffeys Eclectic Reader. Doch als ich älter wurde, machte mir manches, was ich in der hebräischen Bibel las, sehr zu schaffen. Gott befiehlt Abraham, seinen Sohn Isaak, seinen einzigen Sohn, wie es in der Thora heißt, obwohl Ishmael ebenfalls sein Sohn war, ins Land Morija zu bringen und ihn dort zu opfern. Und Abraham stellt das nicht in Frage. Er fragt nicht, warum er einem Gott, der so ein Opfer von ihm verlangt, gehorchen soll. Es ist aber, stellt sich heraus, nur ein Trick, nur ein Spiel, das Gott spielt. Und weil er fraglos bereit war, seinen Sohn zu töten, wurde Abraham als Stammvater des hebräischen Volkes ausersehen.

Zu schaffen machte es mir auch, als ich las, dass ein Mann, der am Schabbes Holz gesammelt hatte, zum Tode durch Steinigen verurteilt wurde. Nach Abraham und Isaak hatte ich meinen Vater nicht fragen wollen, doch nach dem Mann fragte ich ihn.

Er hatte willentlich gesündigt, sagte er. Der Mann verdiente zu sterben.

Im Dewarim wurden ungehorsame Söhne ebenfalls zum Tod durch Steinigen verurteilt. Auch wenn diese Strafe durch talmudische Auslegung de facto nicht durchsetzbar war, blieb ich weiter ein gehorsamer Sohn bis zu einem Morgen im Jahre 1904, als ich zu früher Stunde aus unserer Wohnung in der Christie Street floh und nur die englische Sprache mitnahm. Ich hatte mir sogar die Pejes abgeschnitten.

An diesem Morgen ging ich immer weiter, bis ich zu einem großen Park kam. Ich hatte so großen Hunger, dass ich ein im Gras liegendes Stück Brot aß. In einer Mülltonne fand ich einen halben Apfel und in der Nähe eines Baums ein paar Erdnüsse. Den Rest des Tages verbrachte ich mit der Suche nach etwas Essbarem. Nachts legte ich mich auf eine Bank. In meinem Traum sah ich eine riesige Mülltonne, die direkt vor unserem Haus stand. Ich mühte mich mit dem Deckel ab, weil ich hoffte, etwas zu essen zu finden, aber es lagen nur hebräische Bücher darin.

Drei Tage lebte ich in dem Park, ständig auf der Suche nach etwas Essbarem. Ich fand auch immer etwas, aber nie genug. Zum ersten Mal in meinem Leben brauchte ich Geld.

Nördlich des Parks lag Harlem, damals ein anständiger Vorort, in dem hauptsächlich Deutsche lebten. Auf einem Schild stand: Keine Juden und keine Hunde.

Meine Sachen stanken inzwischen. Ich sah Kleidung, die auf einer Wäscheleine trocknete, brauchte jedoch viele Minuten, ehe ich mich zum Stehlen überwinden konnte. Ich wartete, bis niemand zu sehen war, und riss die Wäscheklammern von einer Hose und einem Hemd.

In meiner gestohlenen Kleidung fragte ich einen alten Mann, der vor einem Warenhaus den Bürgersteig fegte, ob er wisse, wo ich eine Arbeit finden könne. Der Mann sagte etwas, aber sein Akzent war so stark, dass ich ihn nicht verstand. Ich sprach ihn auf Jiddisch an, und er lächelte.

Er nahm meinen Arm und führte mich zu einem Seiteneingang.

Geh ruhig hinein, sagte er, du wirst nicht gefressen.

Drinnen gab es viele Türen. Ich überlegte noch, an welche ich klopfen sollte, als eine aufging und ein Mann herauskam, der wie unser Schuldirektor angezogen war.

Wie alt bist du?, sagte er.

Sechzehn, sagte ich.

Bist du bereit, ein ehrliches Tagwerk zu tun?

Ja, Sir, antwortete ich, wie Miss Callahan es uns beigebracht hatte.

Warte hier, sagte er.

Als er wiederkam, drückte er mir ein Sandwich in die Hand, eingewickelt in Wachspapier.

Iss das erst mal, sagte er.