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Margit Reiter

Die Ehemaligen

Der Nationalsozialismus und
die Anfänge der FPÖ

 

 

 

 

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Bibliografische Information der deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der

Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten

sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

 

 

 

 

© Wallstein Verlag, Göttingen 2019

www.wallstein-verlag.de

Umschlaggestaltung: Susanne Gerhards, Düsseldorf

Umschlagbild: Herbert Kraus spricht 1949 auf einer VdU-Wahlveranstaltung auf dem Rathausplatz, Wien © Votava/Imagno/picturedesk.com

 

ISBN (Print) 978-3-8353-3515-8

ISBN (E-Book, pdf) 978-3-8353-4379-5

ISBN (E-Book, epub) 978-3-8353-4380-1

Inhalt

Einleitung

Vergangenheitspolitischer Kontext in Österreich nach

Die Entnazifizierung

Ehemalige Nationalsozialisten nach dem »Zusammenbruch«

Das »Ehemaligen«-Milieu

Die »Ehemaligen«

Die Glasenbacher: Eine Gesinnungs- und Erinnerungsgemeinschaft

»Vater Langoth«: Lobbyist und Aktivist

Der Fürsprecher der »Ehemaligen«: Erzbischof Andreas Rohracher

Die Stiftung »Soziales Friedenswerk«

Erste politische Formierungsversuche

Die Verfassungstreue Vereinigung

Die Gründung des Verbandes der Unabhängigen (VdU)

Der Parteigründer Herbert Kraus: Vorkämpfer für die »Entrechteten«

Der Mitstreiter Viktor Reimann

Der VdU: Ein Sammelbecken für ehemalige Nationalsozialisten

Politische Ziele und Inhalte des VdU

Zwischen Konkurrenz und Kooperation: ÖVP und SPÖ

Der Wahlkampf des VdU 1949

Der VdU und der Nationalsozialismus: NS-Vorwurf und Abwehr

Personelle Kontinuitäten: Inklusion und Exklusion

Der VdU: Erfolge, Konflikte und Erosion

Der VdU im Parlament

Fritz Stüber: Antisemit und Provokateur

Helfried Pfeifer: Kämpfer gegen die Entnazifizierung

Krisen und Konflikte im VdU

Ein Zwischenhoch: Die Bundespräsidentenwahl von

Gescheiterte Bündnisse und Auflösungserscheinungen

Anton Reinthaller und der Nationalsozialismus

Eine NS-Karriere: Illegaler – NS-Minister – Landesbauernführer

Reinthaller vor dem Volksgericht

Nachträgliche Deutungen von Nationalsozialismus und Antisemitismus

Zwischen Kontinuität und Anpassung

Anton Reinthaller und die Anfänge der FPÖ

Reinthaller als politischer Hoffnungsträger

Neuformierung und Einigung des nationalen Lagers

Von der Freiheitspartei zur FPÖ: Verhandlungen und Machtkämpfe

Die Gründung der FPÖ: Letzte Hürden und Störmanöver

Die FPÖ – eine Partei von Rechtsextremen und NS-Führern?

Die FPÖ nach ihrer Gründung

Innerparteiliche Konflikte und Klärungen

Die Bundespräsidentenwahl 1957: Brückenschlag zur ÖVP

Der Tod des Parteigründers 1958

Der Nachfolger Friedrich Peter – ein Kurs- und Generationenwechsel?

Friedrich Peter und der Nationalsozialismus

NS-Kontinuitäten und Rechtsextremismus

Ideologie und politische Praxis der FPÖ

Neues Selbstbewusstsein und rechtsextreme Reorganisation

Die Wohlfahrtsvereinigung der Glasenbacher 1957

(Neo-)nazistische Manifestationen und die FPÖ

Ein Ausblick: Vergangenheit, die nicht vergeht

Antisemitismus nach der Shoah: Kontinuitäten und Transformationen

Streiflichter: Antisemitismus im »Ehemaligen«-Milieu

Feindbild »Emigrant«

Antisemitismus im Parlament: Der Kampf gegen die »Wiedergutmachung«

Antisemitismus als (interne) Diffamierungsstrategie

Ein Ausblick: Von Borodajkewycz zur »Liederbuch«-Affäre

Dank

Anmerkungen

Abkürzungen

Archive und Quellen

Literatur

Bildnachweis

Personenregister

Einleitung

Die Freiheitliche Partei Österreichs (FPÖ) wurde am 6./7. April 1956 offiziell gegründet. Sie ging aus dem Verband der Unabhängigen (VdU) hervor, der als Sammel- und Auffangbecken für ehemalige Nationalsozialisten und Nationalsozialistinnen fungierte und seit 1949 im Parlament vertreten war. Zeitgenössische Beobachter sprachen damals von einer Machtübernahme »durch einen kleinen Kreis von Rechtsextremisten und NS-Führern« und bewerteten die FPÖ somit als verkappte »neue Nazipartei«. Diese Zuschreibungen richteten sich nicht etwa gegen eine marginale rechtsextreme Gruppierung der Nachkriegszeit, sondern gegen eine der zentralen Parteien im österreichischen Parlament der Zweiten Republik, die bis heute die österreichische Innenpolitik maßgeblich prägt.

So bekannt es ist, dass in der FPÖ (wie schon in ihrer Vorgängerpartei, dem VdU) viele ehemalige Nationalsozialisten in führenden Positionen aktiv waren, so erstaunlich ist es, wie gering bislang das Wissen über die konkrete Entstehungsgeschichte dieser Partei ist. Die meisten Publikationen zur Geschichte des VdU und der frühen FPÖ stammen aus dem FPÖ-Umfeld und sind entsprechend affirmativ und apologetisch angelegt.[1] Diese Arbeiten geben zwar einen groben Einblick in die Parteigeschichte, personelle und ideologische Kontinuitäten zum Nationalsozialismus werden darin aber ausgeklammert oder stark verharmlost.[2] Sie sind daher ebenso kritisch zu hinterfragen wie die geschönten Darstellungen einiger damaliger politischer Akteure, auf denen das Bild vom VdU und der frühen FPÖ nach wie vor weitgehend basiert.[3] Während zur späteren FPÖ unter Jörg Haider bis zur Gegenwart eine Vielzahl von Publikationen vorliegt, gibt es bis heute keine quellenbasierte und umfassende Studie zur Vor- und Frühgeschichte der FPÖ.

Diese Forschungslücke wird mit dem vorliegenden Buch gefüllt. Dazu ist ein Blick zurück auf die Situation von 1945 nötig. Viele überzeugte Nationalsozialisten und Nationalsozialistinnen haben das Kriegsende als »Zusammenbruch« erlebt. Wie bei jedem radikalen Regimewechsel mussten sich die ehemaligen Unterstützer und Träger des NS-Systems 1945 neu positionieren. Sie hatten die Option zwischen Beibehaltung ihrer ideologischen Überzeugungen einerseits und politischer Umorientierung andererseits. Welche Wahl haben sie nun getroffen? Sind sie ihrer Gesinnung treu geblieben oder haben sie sich – zumindest partiell – an die neuen demokratischen Gegebenheiten angepasst? Und vor allem: Wie haben sie sich politisch wieder organisiert und welche Netzwerke waren dabei wirksam?

Diesen grundlegenden Fragen werde ich am Beispiel Österreich nachgehen. Unmittelbar nach Kriegsende fielen viele ehemalige Nationalsozialisten unter die Maßnahmen der Entnazifizierung und waren zunächst vom politischen Prozess ausgeschlossen. Doch schon bald gab es erste Versuche, sich wieder (partei)politisch zu reorganisieren. Ein Teil von ihnen passte sich der neuen politischen Situation an und schloss sich den Großparteien ÖVP und SPÖ an. Die besonders »Gesinnungstreuen« unter ihnen grenzten sich jedoch von diesen vermeintlichen »Opportunisten« strikt ab und formierten sich zunächst im VdU und später in der FPÖ. Diese ehemaligen Nationalsozialisten, die auch nach 1945 ihren Überzeugungen mehr oder weniger treu geblieben sind, werden in Österreich allgemein als die »Ehemaligen« bezeichnet. Sie bewegten sich in einem gemeinsamen sozialen und politischen Milieu, das trotz aller Heterogenität über Jahrzehnte und Generationen hinweg eine unverbrüchliche Erfahrungs-, Gesinnungs- und Erinnerungsgemeinschaft darstellte. Der VdU und im noch größeren Ausmaß die FPÖ fungierten als die parteipolitischen Repräsentanten dieses »Ehemaligen«-Milieus.

Im Oktober 1949 war der Großteil der ehemaligen Nationalsozialisten und Nationalsozialistinnen erstmals wieder zu den Wahlen zugelassen. Der kurz zuvor gegründete VdU profilierte sich erfolgreich als Sprachrohr der »Entrechteten« und zog mit 16 Abgeordneten in das österreichische Parlament ein. In den folgenden Jahren gehörte der Kampf gegen die Entnazifizierung zu seiner politischen Hauptagenda. Zu Beginn der 1950er Jahre hatte sich ein politischer Paradigmenwechsel vollzogen: Der antifaschistische Geist der unmittelbaren Nachkriegszeit war längst verflogen, die NS-Frage rückte zusehends in den Hintergrund und die Entnazifizierung war weitgehend abgeschlossen. Der Verband der Unabhängigen hatte damit eines seiner Kernthemen verloren und es kam zu zahlreichen Krisen und Konflikten, die zu seiner sukzessiven Erosion führten. Außerdem waren die bis dahin noch nicht politisch aktiven »Belasteten« mittlerweile entnazifiziert und traten zunehmend selbstbewusst auf. Nationale Kreise unter der Führung von Anton Reinthaller opponierten gegen die als zu »liberal« erachtete VdU-Führung und gingen letztendlich siegreich aus den internen Machtkämpfen hervor. Mitte der 1950er Jahre hatte sich auch die außenpolitische Situation zu Gunsten der »Ehemaligen« entwickelt. Durch den Abzug der Alliierten nach dem Staatsvertrag vom Mai 1955 fiel die Kontrolle von außen weg und einer vollständigen Rehabilitierung der ehemaligen Nationalsozialisten stand nichts mehr im Wege. In dieser Zeit vollzog sich auch die Gründung der FPÖ.

Im Buch wird der langwierige politische Formierungsprozess vom VdU bis hin zu den Anfängen der FPÖ erstmals detailliert dargestellt und dabei unter anderem folgenden Fragen nachgegangen: Wie genau haben sich ehemalige Nationalsozialisten nach 1945 politisch reorganisiert, welche politischen Akteure (Akteurinnen gab es kaum[4]) waren daran beteiligt? Wer hatte im VdU und in der FPÖ Platz, wovon und von wem grenzte man sich ab? Welche ideologischen Inhalte vertraten diese Parteien und inwiefern lassen sich dabei personelle und ideologische Kontinuitäten zum Nationalsozialismus festmachen? Im Fokus des Interesses steht das Verhältnis von VdU und FPÖ zum Nationalsozialismus und damit einhergehende Fragen von Abgrenzung und Zuordnung, von Inklusion und Exklusion.

In diesem Zusammenhang werden einige der führenden Protagonisten kritisch beleuchtet. Die VdU-Gründer Herbert Kraus und Viktor Reimann, die sich als politische Vorkämpfer für die »entrechteten« Nationalsozialisten hervortaten, galten als NS-Gegner und als »liberal«, was sie bei näherer Betrachtung allerdings nur bedingt waren. Der zentrale politische Akteur im »Ehemaligen«-Milieu war aber Anton Reinthaller, der Gründer und erste Obmann der FPÖ. Mit seiner mustergültigen NS-Karriere vom illegalen Nationalsozialisten zum NS-Minister und Landesbauernführer verkörperte er einen bisher in der Forschung noch wenig beachteten, »spezifisch österreichischen« Tätertypus, der hier erstmals eingehend vorgestellt wird.[5] Reinthaller wurde nach 1945 zum politischen Hoffnungsträger und zur nationalen Galionsfigur im »Ehemaligen«-Milieu. Seine tragende Rolle bei der Einigung des nationalen Lagers und der Gründung der FPÖ kann nicht hoch genug eingeschätzt werden. Nachfolger Reinthallers wurde 1958 der junge Friedrich Peter, ein ehemaliges Mitglied einer berüchtigten SS-Einheit, dessen Verhältnis zum Nationalsozialismus und zu den »Ehemaligen« ebenfalls problematisch war.

An der politischen Formierung der »Ehemaligen« waren viele weitere Akteure aus dem nationalen Lager beteiligt, die sich im Umfeld des VdU und der FPÖ bewegten. Viele von ihnen engagierten sich in rechten und rechtsextremen Organisationen und mischten bei den Machtkämpfen im nationalen Lager und der Gründung der FPÖ eifrig mit. Zwischen der Freiheitlichen Partei und den verschiedenen rechten Vereinen, Veteranenverbänden und deutschnationalen Burschenschaften gab es zahlreiche Kontakte, Netzwerke und personelle und ideologische Verflechtungen, die im Grunde bis heute bestehen. Die Geschichte des VdU und der FPÖ ist somit nicht isoliert zu betrachten, sondern in das »Ehemaligen«-Milieu einzubinden, das hier erstmals näher vorgestellt wird.

Zur Entstehungsgeschichte der FPÖ kursieren einige Legenden und Deutungsmuster, die es kritisch zu hinterfragen gilt. So lässt sich etwa das Bild vom angeblich »liberalen« VdU im Gegensatz zur »nationalen« FPÖ nicht aufrechterhalten. Zum einen war das »liberale« Segment im VdU immer marginal und auch die internen Macht- und Richtungskämpfe lassen sich nicht ausschließlich als ein Kampf zwischen »liberal« versus »national« interpretieren. Zum anderen waren die personellen und ideologischen Überschneidungen zwischen den beiden Parteien größer als gemeinhin angenommen, sodass eine strikte Trennung nicht möglich ist.

Auch was die Integration von ehemaligen Nationalsozialisten betrifft, gilt es die Relationen zurechtzurücken. Es herrscht oft die Meinung vor, dass alle österreichischen Parteien gleichermaßen ehemalige Nationalsozialisten integriert hätten und die FPÖ somit kein Sonderfall sei. Diese Wahrnehmung wird von Seiten der FPÖ aus Eigeninteresse massiv unterstützt, greift aber zu kurz. Es stimmt, auch die Großparteien ÖVP und SPÖ haben massiv um die Stimmen von ehemaligen Nationalsozialisten geworben und viele von ihnen fanden dort ihre neue politische Heimat.[6] Allerdings sollte der kritische Blick auf die problematische Nachkriegsgeschichte der Großparteien nicht auf eine Nivellierung und Relativierung hinauslaufen. Bei der ÖVP und der SPÖ handelte es sich um große, historisch gewachsene Parteien mit einem klaren politischen Profil und einer traditionellen Wählerstruktur, in die nach 1945 auch Nationalsozialisten Platz fanden. In ihrem Fall kann man tatsächlich – wie umgangssprachlich üblich – von »braunen Flecken« sprechen. Nicht so im Fall von VdU und FPÖ. Sie waren von ihrem Selbstverständnis, ihrer Programmatik und von ihrer personellen Zusammensetzung her das parteipolitische Sammelbecken ehemaliger Nationalsozialisten schlechthin. Zu ihrer zentralen politischen Agenda zählte die Rehabilitierung der »Ehemaligen« und auch in ideologischer Hinsicht gab es nach wie vor Affinitäten zum Nationalsozialismus. Letztendlich ist es weniger eine quantitative als eine qualitative Frage, oder anders formuliert: Es geht nicht nur darum, wie viele, sondern vor allem auch: welche Nationalsozialisten sich im VdU und in der FPÖ politisch organisiert haben. Wie aufgezeigt wird, bestand gerade die FPÖ aus besonders »gesinnungstreuen« und »belasteten« Nationalsozialisten, die sich nie gänzlich von ihrer politischen Vergangenheit lösen wollten und konnten.

 

Die Quellenlage für das vorliegende Buch war insofern erschwert, da mir der Zugang zu den Parteiarchiven des VdU bzw. der FPÖ leider nicht gewährt wurde.[7] Nichtsdestotrotz kann ich mich auf eine breite Basis von Quellen stützen, die eine lückenlose Rekonstruktion der politischen Reorganisation der »Ehemaligen« in der FPÖ ermöglicht. Vor allem der bisher noch unbearbeitete Nachlass von Anton Reinthaller erwies sich als wahrer Glücksfund.[8] Auf seiner Basis lassen sich die Anfänge der FPÖ und die Rolle Reinthallers detailliert und anschaulich nachzeichnen. Die darin enthaltenen Korrespondenzen und persönlichen Aufzeichnungen ermöglichen einen ausgezeichneten Einblick in den Binnendiskurs der »Ehemaligen«. Auch weitere Nachlässe von politischen Akteuren, die zahlreichen zeitgenössischen Zeitungen im Umfeld von VdU und FPÖ, diverse Mitteilungsblätter von nationalen Vereinen sowie (autobiographische) Selbstzeugnisse der »Ehemaligen« und Erinnerungen von NS-Nachkommen erschließen das sonst nur schwer zugängliche »Ehemaligen«-Milieu. Der politische Außendiskurs wird unter anderem durch Redebeiträge von VdU- und FPÖ-Politikern im Parlament, die Parteiprogramme sowie die Parteipresse erfasst.

Diese verschiedenen Diskursebenen werden miteinander verknüpft und zueinander in Beziehung gesetzt. Meine Ausgangsthese war, dass im Binnenmilieu, das heißt im privaten, familiären und sozialen Umfeld, wo man sich unter Gleichgesinnten wähnte, vermutlich offener kommuniziert wurde als in der Öffentlichkeit, wo man sich mit Äußerungen über den Nationalsozialismus etwas mehr zurückhielt. Die sich durch das Buch ziehende Frage lautet daher: Gibt es eine Diskrepanz zwischen dem Binnen- und Außendiskurs der »Ehemaligen« und somit einen double speak? Und inwieweit sind dabei im Laufe der Zeit – gerade was das Sprechen über Nationalsozialismus und Antisemitismus betrifft – Anpassungs- und Transformationsprozesse festzustellen?

Nicht zuletzt fließt auch der kritische Gegendiskurs in die Betrachtung mit ein. Die Wahrnehmung der politischen Formierung der »Ehemaligen« in den zeitgenössischen Medien und der »Blick von außen« (z. B. durch die amerikanische Besatzungsmacht) erweisen sich als wichtiges Korrektiv der internen Narrative und geben zudem einen guten Einblick in die Debattenkultur der Nachkriegszeit. Denn von Beginn an waren der VdU und die FPÖ mit dem NS-Vorwurf konfrontiert – ein Vorwurf, den sie für gewöhnlich empört als »Verleumdung« von sich wiesen und durch die rhetorische Abgrenzung von einem nicht näher definierten »Extremismus« und eine Opfer-Täter-Umkehr zu entkräften versuchten.

Die politische Reorganisation der »Ehemaligen« vollzog sich zeitlich im »langen Nachkriegsjahrzehnt« von 1945 bis zu Beginn der 1960er Jahre. Diese Zeitperiode war zum einen eine Umbruchsphase, in der die ehemaligen Nationalsozialisten mit der Entnazifizierung konfrontiert waren und sich neu orientieren mussten. Sie war zum anderen aber auch eine wichtige Formierungsphase, in der sich bestimmte Narrative herausgebildet und verfestigt haben, die den späteren Diskurs im Umfeld der FPÖ über Jahrzehnte entscheidend prägten. Auch wenn der zeitliche Schwerpunkt des Buches auf den Anfängen der FPÖ liegt, so gibt es immer wieder auch kursorische Ausblicke auf die weitere Parteigeschichte bis zur Gegenwart. Dies gilt im besonderen Maße für die zentrale Frage nach ideologischen Kontinuitäten, aber auch möglichen Brüchen und Transformationen in der FPÖ. Diese werden in den letzten Kapiteln des Buches noch einmal am Beispiel ihres Verhältnisses zum Nationalsozialismus, Deutschnationalismus und Antisemitismus längsschnittartig beleuchtet und problematisiert.

Die Geschichte der frühen FPÖ und ihr Verhältnis zum Nationalsozialismus füllt nicht nur eine Forschungslücke der Zeitgeschichte, sondern ist auch von hoher politischer Aktualität. Diskussionen über die mangelnde Abgrenzung zum Nationalsozialismus und ihre personelle und ideologische Nähe zum Rechtsextremismus begleiten die FPÖ schon seit ihrer Gründung. Gerade in jüngster Zeit sind diese Debatten wieder neu entflammt. Anlass dafür bieten unter anderem die früheren Neonazi-Aktivitäten des langjährigen FPÖ-Obmann Heinz-Christian Strache, Enthüllungen über antisemitische Liedertexte in deutschnationalen Burschenschaften, in denen führende FPÖ-Politiker aktiv sind (»Liederbuch-Affäre«), der enorme Machtzuwachs der Burschenschaften in Partei und Öffentlichkeit sowie nachweisbare personelle und ideologische Verflechtungen mit einschlägigen Organisationen wie etwa der rechtsextremen Identitären Bewegung.

Nach ihrem Eintritt in die Regierung als Koalitionspartner der konservativen ÖVP Ende 2017 stand die FPÖ unter besonderer Beobachtung. Die aktuelle FPÖ-Führung grenzt(e) sich von Nationalsozialismus, Rechtsextremismus und Antisemitismus zwar rhetorisch ab, in der politischen Praxis kam und kommt es aber immer wieder zu unzähligen sogenannten »Einzelfällen«, die diese Distanzierungen ad absurdum führen. Nach der »Liederbuch-Affäre« Anfang 2018 wurde in der freiheitlichen Partei eine interne Arbeitsgruppe eingerichtet, die eine Aufarbeitung der Geschichte der FPÖ einleiten sollte. Diese sogenannte FPÖ-»Historikerkommission« stieß wegen ihrer Parteinähe, ihrer mangelnden Transparenz und selektiven Fragestellung in der Öffentlichkeit und Scientific Community auf scharfe Kritik.[9] Erste Ergebnisse wurden für den Herbst 2018 angekündigt, liegen bislang (Juli 2019) jedoch noch nicht vor. Im Mai 2019 schied die FPÖ aus der Regierung aus – Grund dafür war bezeichnenderweise nicht die viel kritisierte Nähe zum Rechtsextremismus, sondern ein »Skandalvideo«, das die Korruptionsbereitschaft des (mittlerweile zurückgetretenen) FPÖ-Obmanns Strache auf entlarvende Weise vor Augen führte. Dass damit die Diskussionen über die mangelhafte Abgrenzung zum Nationalsozialismus und zum Rechtsextremismus der FPÖ nicht beendet sind, ist zu vermuten.

Das vorliegende Buch über die »Ehemaligen« und die Anfänge der FPÖ versteht sich in erster Linie als ein historisches Buch, das aber auch aktuelle Fragen berührt. Es zeigt die Entstehungsgeschichte dieser Partei auf und liefert damit vielleicht auch Erklärungen für die spätere Entwicklung und die aktuelle Verfasstheit der FPÖ, so wie wir sie heute kennen. Der Leser/die Leserin wird möglicherweise strukturelle Ähnlichkeiten sowie personelle und ideologische Kontinuitäten entdecken, die die Wirksamkeit und Langlebigkeit rechten Gedankenguts über die Generationen hinweg anschaulich vor Augen führen. Dass viele Diskussionen, die bereits vor über 60 Jahren geführt wurden, immer noch Aktualität besitzen, zeigt, wie schwer es der FPÖ offenbar fällt, sich von ihrer belasteten Geschichte zu lösen.

Vergangenheitspolitischer Kontext
in Österreich nach 1945

Die Entnazifizierung

Das Jahr 1945 stand unter dem Zeichen des demokratischen Neuanfangs. Am 27. April 1945 – noch vor der Befreiung des KZ Mauthausen am 5. Mai und dem offiziellen Kriegsende am 8. Mai 1945 – gab die provisorische Regierung unter Staatskanzler Karl Renner die Unabhängigkeit Österreichs und die Gründung der Zweiten Republik bekannt. Das Selbstverständnis der Zweiten Republik basierte auf jenem Passus der Moskauer Deklaration von 1943, demzufolge Österreich im völkerrechtlichen Sinn als okkupierter Staat galt und somit als »erstes Opfer Hitlers« betrachtet wurde.[1] Ungeachtet der historischen Fakten wurden der originäre österreichische Beitrag zum Nationalsozialismus und die politischen und gesellschaftlichen Facetten der Mittäterschaft ausgeblendet. Der »Anschluss« von 1938 wurde als gewaltsame und erzwungene Eingliederung Österreichs in das Deutsche Reich gesehen und der Nationalsozialismus auf »die Deutschen« verlagert und somit externalisiert. Da die Selbstdarstellung als Opfer auch von den Alliierten unterstützt wurde, griff die österreichische politische Elite, aber auch die breite Bevölkerung, nur allzu gerne zu dieser politisch günstigen und moralisch entlastenden Formel. Somit konnte sich die sogenannte Opferthese hegemonial durchsetzen und wurde zum staatstragenden master narrativ der Zweiten Republik, das tief im kollektiven Gedächtnis verankert und über Jahrzehnte wirksam war.[2]

Das neue Österreich war als bewusste Antithese zur politischen Polarisierung der Ersten Republik und zum Nationalsozialismus gedacht. Die Abgrenzung vom Nationalsozialismus und das Bekenntnis zu Österreich und einer demokratischen Staatsordnung gehörten zu den Grundpfeilern der Zweiten Republik. Die ehemals verfeindeten politischen Gegner aus der Zeit vor 1938, von denen einige in NS-Konzentrationslagern gewesen waren, sollten über alle politischen Gräben hinweg (»Lagerstraßenmythos«) den demokratischen Wiederaufbau in Angriff nehmen. Demzufolge waren in der ersten provisorischen Regierung unter Führung des Sozialdemokraten Karl Renner Vertreter aller Parteien sowie drei Parteilose vertreten. Bei den ersten freien Wahlen am 25. November 1945 erhielt die ÖVP 85 Mandate, die SPÖ 75 Mandate und die KPÖ entgegen ihrer hohen Erwartungen nur vier Mandate. Es kam zur Bildung einer Konzentrationsregierung der drei Gründungsparteien, die bis zum Austritt der KPÖ 1947 bestand. Mit der darauffolgenden Großen Koalition war der Grundstein für eine jahrzehntelang gültige, auf Konsens und Zusammenarbeit ausgerichtete Politik der Zweiten Republik gelegt. Neben der Bewältigung von unmittelbar anfallenden innenpolitischen Problemen ging es der Regierung vor allem darum, sich gegenüber den vier Besatzungsmächten zu behaupten und möglichst vorteilhafte Ausgangspositionen für die Staatsvertragsverhandlungen der nächsten zehn Jahre zu schaffen.[3]

Wie nach jedem Ende einer politischen Diktatur, stellte sich 1945 auch in Österreich die Frage, wie mit den ehemaligen Machthabern und (Mit-)Tätern zu verfahren sei. Schon in den ersten Wochen der provisorischen Regierungstätigkeit wurden die gesetzlichen Grundlagen zur Entnazifizierung geschaffen: Das Verbotsgesetz vom 8. Mai 1945 (StGBl. Nr. 13/1945) sah die sofortige Auflösung der NSDAP, die Aufhebung aller NS-Gesetze, das Verbot künftiger NS-Propaganda und NS-Aktivitäten sowie die Entfernung der politischen NS-Eliten aus wichtigen Positionen in Staat und Wirtschaft vor. Das Kriegsverbrechergesetz (KVG) vom 26. Juni 1945 (StGBl. Nr. 32/1945) diente als Basis zur strafrechtlichen Ahndung von NS-Verbrechen.

Die Entnazifizierung in Österreich war kein einheitlicher Prozess, sondern es wurden in verschiedenen zeitlichen Phasen und verschiedenen Regionen (Besatzungszonen) unterschiedliche Prioritäten gesetzt.[4] Unmittelbar nach Kriegsende lag die Entnazifizierung noch hauptsächlich im Verantwortungsbereich der alliierten Siegermächte, die trotz unterschiedlicher Praxis ein einheitliches Ziel verfolgten: die Säuberung der wichtigen Positionen in Staat, Gesellschaft und Wirtschaft. Anders als in Deutschland übertrugen die Alliierten die Entnazifizierung bereits Anfang 1946 der österreichischen Regierung und zogen sich auf eine Kontrollfunktion zurück. Die Durchführung der Entnazifizierung lag damit weitgehend in österreichischen Händen, bedurfte aber immer der Zustimmung der Alliierten.

Das Verbotsgesetz sah die Registrierung aller eingeschriebenen NSDAP-Mitglieder vor, wobei insgesamt über eine halbe Million Menschen unter die Registrierungspflicht fielen und somit von der Entnazifizierung betroffen waren.[5] Allerdings bestand nach § 27 des Verbotsgesetzes die Möglichkeit, um Ausnahmen anzusuchen, von der auch ausgiebig Gebrauch gemacht wurde und die mithilfe von bereitwillig ausgestellten »Persilscheinen« der Parteien meist auch erfolgreich waren.[6] Diese Ausnahmeregelung und die Frage, wer sie bestimmte und für wen sie galt, war von Anfang an eine Kernfrage der Entnazifizierung. Als harten Kern des Nationalsozialismus in Österreich betrachtete man zunächst die »Illegalen«, d. h. all jene, die bereits vor 1938 der NSDAP oder einem ihrer Wehrverbände (SS, SA, NSKK, NSFK) angehört hatten. Diese rund 100.000 Personen hatten sich nach dem Verbotsgesetz des »Hochverrats« schuldig gemacht und sollten daher besonders hart bestraft werden. Den erst nach dem »Anschluss« 1938 beigetretenen Parteimitgliedern wurde zugebilligt, nicht aus ideologischer Überzeugung, sondern aus Opportunismus oder Angst gehandelt zu haben. Dass die Realität wesentlich komplexer aussah, liegt auf der Hand.

Als Entnazifizierungsmaßnahmen waren unter anderem gestaffelte finanzielle Sühneabgaben, Entlassungen und Berufsverbote vorgesehen, deren Ausmaß von den eigens dafür geschaffenen »Volksgerichten« festgelegt wurde. Eine folgenreiche Maßnahme war die Entziehung des aktiven und passiven Wahlrechts, die vor den ersten Wahlen im November 1945 heftig diskutiert wurde. Während SPÖ und KPÖ für die (befristete) Entziehung des Wahlrechts von allen registrierten ehemaligen Nationalsozialisten eintraten, wollte die ÖVP zunächst nur die »großen Nazis« von der Wahl ausschließen. Da eine derartige Unterscheidung in so kurzer Zeit nicht möglich war, stimmte die Volkspartei letztendlich zu.[7] Bei den Novemberwahlen 1945 war somit rund eine halbe Million ehemaliger Nationalsozialistinnen und Nationalsozialisten vom demokratischen Mitbestimmungsrecht ausgeschlossen.

Die sogenannte »Nazifrage« dominierte den öffentlichen und politischen Diskurs der ersten Nachkriegsjahre. Unmittelbar nach der Befreiung war man sich einig, dass die führenden NS-Funktionsträger und NS-Täter zur Rechenschaft gezogen und hart bestraft werden müssten. Weniger Einigkeit herrschte darüber, wer nun ein »wirklicher« Nationalsozialist gewesen war und wer nur als »Mitläufer« zu gelten hatte. Bundeskanzler Renner brachte das Grunddilemma der Entnazifizierung im Oktober 1945 folgendermaßen auf den Punkt: »Die Schwierigkeit besteht jedoch darin, die wirklich innerlichen Nationalsozialisten von denen zu unterschieden, die durch Widrigkeiten und Umstände des Lebens in diese Bewegung hineingeschlittert sind. Ja wenn es einen Röntgenapparat für Gesinnungen gäbe, dann wäre die Feststellung, wer ein wirklich überzeugter Nationalsozialist und wer ein wirklicher Gegner der Demokratie ist, leicht.«[8]

Der Begriff des »Mitläufers«, der nicht nur in Österreich als Entlastungsbegriff der Entnazifizierung schlechthin fungierte, wurde zunehmend ausgeweitet und meist entlastend mit dem Topos von Zwang und Verführung in Verbindung gebracht. Die zentrale Streitfrage der Entnazifizierung war, wie man mit der großen Masse dieser vermeintlichen »Mitläufer« umgehen sollte. Trotz gewisser Nuancen im Detail versuchten sich alle Parteien als Verfechter einer baldigen Reintegration der »kleinen Nazis« zu profilieren. Am offensivsten agierte in dieser Hinsicht die ÖVP, die schon im Oktober 1945 für eine bedingungslose Amnestie all jener eintrat, »die unter Zwang und Terror der NSDAP als Mitglied beigetreten waren, ohne sich jemals nationalsozialistisches Gedankengut angeeignet zu haben.«[9] Diese nachsichtige Haltung brachte der ÖVP den Ruf ein, eine »Reinwaschungsanstalt« für ehemalige Nationalsozialisten zu sein.

Die Position der SPÖ in dieser Frage war etwas differenzierter und reichte von einer sehr unnachgiebigen bis hin zu einer gemäßigten, auf »Versöhnung« ausgerichteten Linie.[10] Ein Beispiel für eine sehr radikale Haltung, die vor allem im linken Parteiflügel der SPÖ anzutreffen war, stellte das sogenannte »Sibirien-Plakat« dar. Auf diesem umstrittenen Wahlplakat von 1945 wurde der Austausch von ehemaligen Nationalsozialisten mit österreichischen Kriegsgefangenen in sowjetischen Lagern in Sibirien gefordert, wobei sich die Partei aber später von dieser Forderung distanzierte.[11] Dieses Plakat nahm man den Sozialdemokraten in »Ehemaligen«-Kreisen sehr übel und wärmte es bei späteren Wahlkämpfen wieder auf.[12] Grundsätzlich verstand die SPÖ die Entnazifizierung als eine Art »Umerziehung« zur Demokratie nach der Prämisse: »Jeder, der der nationalsozialistischen Propaganda erlegen ist, hat politisch versagt und muß umlernen.«[13]

Am kompromisslosesten trat die KPÖ für eine umfassende Entnazifizierung ein und forderte in ihrem Sofortprogramm 1945 die »radikale Säuberung des Staates, der Wirtschaft und der Kultur von allen Überresten des Faschismus«.[14] Sie propagierte von Anfang an eine strenge Unterscheidung zwischen den »großen Nazibonzen«, für die sie Vergeltung und strengste Bestrafung forderte, und den »kleinen Nazis«, als deren Fürsprecherin auch sie auftrat. So beantragte die KPÖ im Juli 1949 im Nationalrat sogar die Vernichtung der Gauakten, um damit einen »Schlußstrich unter die Vergangenheit« zu ziehen.[15]

Bereits 1946 erarbeitete die österreichische Regierung ein Gesetz, das eine weitreichende Abmilderung der Entnazifizierung für die breite Masse der ehemaligen Nationalsozialisten vorsah, aber von den Alliierten abgelehnt wurde.[16] Nach einer eingeforderten Überarbeitung wurde am 6. Februar 1947 das Nationalsozialistengesetz (StGBl. Nr. 25/1947) erlassen, das zwischen sogenannten »Belasteten« und »Minderbelasteten« unterschied. Nun war nicht mehr der Zeitpunkt des Eintritts in die NSDAP, sondern die Position in der Parteihierarchie das entscheidende Kriterium der Einstufung. Als »belastet« galten demnach Funktionäre in höheren NS-Positionen, Angehörige der SS, unabhängig von ihrem Dienstgrad, sowie »Illegale« und Träger von bestimmten Auszeichnungen (Goldene Ehrenzeichen der NSDAP, Blutorden usw.). Zu den »Minderbelasteten« zählten alle NSDAP-Mitglieder, die keine spezielle Funktion ausgeübt hatten. Damit galten von den über 500.000 registrierten Nationalsozialisten und Nationalsozialistinnen nur noch rund 42.000 als »belastet«.

Dieses Gesetz wurde in der Öffentlichkeit als »Diktat« der Alliierten wahrgenommen, nicht zuletzt auch deshalb, weil sich die österreichische Regierung nachträglich davon distanzierte. Die »Ehemaligen« benutzten die allgemeine Empörung über das »Unrechtsgesetz« für ihre eigene politische Propaganda, und nicht zufällig beginnt genau zu dieser Zeit der publizistische Kampf von Herbert Kraus gegen die Entnazifizierung. Die Regierung versuchte, dem umstrittenen Gesetz durch diverse Verordnungen und Ausnahmeregelungen die Zähne zu ziehen. Da eine erwünschte Generalamnestie kaum Chancen hatte, von den Alliierten akzeptiert zu werden, beschloss man, schrittweise vorzugehen.[17] Im Frühjahr 1948 wurden eine Jugendamnestie und eine Minderbelastetenamnestie erlassen, die die vorzeitige Beendigung der Sühnefolgen für alle »minderbelasteten« Personen vorsah. Davon waren mehr als 90 Prozent der registrierten Nationalsozialisten betroffen und die Entnazifizierung damit als Massenphänomen beendet.[18] Außerdem wurde eine Spätheimkehreramnestie beschlossen, die alle nach dem April 1949 aus der Kriegsgefangenschaft heimgekehrten Personen vor Strafverfolgung verschonte. Dass sich darunter auch etliche Kriegsverbrecher befanden, war dabei kein Thema.

Weitere Amnestierungsvorstöße der Regierung, die von dem seit 1949 im Parlament vertretenen VdU massiv unterstützt und vorangetrieben wurden, waren aufgrund der Ablehnung der Alliierten nicht erfolgreich. Zu Beginn der 1950er Jahre liefen bei dem übrig gebliebenen harten Kern der »Belasteten« die Strafen ohnehin meist aus, der Rest wurde begnadigt oder spätestens nach Erreichung des Staatsvertrages vollständig amnestiert und rehabilitiert. Am 14. März 1957 war mit dem Gesetz über die NS-Amnestie (BGBl. Nr. 82/1957) der endgültige Schlussstrich unter die Entnazifizierung in Österreich gezogen.

Das Kriegsverbrechergesetz von 1945 diente als strafrechtliche Ergänzung zur formalen Entnazifizierung und sah die Bestrafung von Kriegsverbrechen und Verbrechen an der sogenannten Heimatfront vor.[19] Unmittelbar nach der Befreiung wurden unter dem Eindruck des Ausmaßes der nationalsozialistischen Verbrechen viele Voruntersuchungen eingeleitet, Anklagen erhoben, Prozesse geführt und Urteile verhängt. Durch diese Prozesse und die damit einhergehende Berichterstattung waren die im Nationalsozialismus verübten NS-Verbrechen einer breiteren Öffentlichkeit durchaus bekannt. In über 13.600 Fällen (48,3 Prozent) kam es zu Schuldsprüchen, darunter 43 Todesurteile (30 Todesurteile davon wurden vollstreckt), sowie vielen langjährigen Haftstrafen, die allerdings oft wieder aufgehoben oder stark reduziert wurden.[20] Nach der Auflösung der Volkgerichte Ende 1955 waren Geschworenengerichte für die Rechtsprechung zuständig, was zu vielen Rechtsirrtümern und Fehlurteilen führte. Die zahlreichen Einstellungen von laufenden Verfahren und skandalösen Freisprüche von NS-Tätern (z. B. Franz Murer 1963) werden allgemein als beschämendes Kapitel der österreichischen Nachkriegs- und Justizgeschichte bewertet.[21]

Trotz des politischen Willens zu einer grundlegenden politischen »Säuberung« unmittelbar nach der Befreiung stellten sich diesem Vorhaben erhebliche Hemmnisse entgegen: Die Entnazifizierung wurde nicht nur von den Betroffenen selbst, sondern auch in breiten Teilen der Bevölkerung und in der Presse nicht als notwendiger demokratischer (Selbst-)Reinigungsprozess, sondern als »Strafe der Sieger« abgelehnt. Auch in der Politik herrschte die pragmatische Einsicht vor, dass man auf die Dauer nicht so viele Menschen aus dem demokratischen Prozess ausschließen konnte, sondern diese wieder für die Demokratie gewinnen müsse. Die Entnazifizierung sollte daher zeitlich begrenzt sein. Abgesehen davon bestand die grundsätzliche Schwierigkeit, ja vielleicht Unmöglichkeit, ideologische Überzeugungen und den Grad der NS-Involvierung anhand von rein formalistischen Kriterien festmachen zu können, noch dazu zum damaligen geringen Kenntnisstand. Schließlich wurden auch ökonomische Erfordernisse ins Treffen geführt, da man in vielen Bereichen Arbeits- und Fachkräfte zum Wiederaufbau benötigte und man sich »gezwungen« sah, dabei auch auf ehemalige Nationalsozialisten zurückzugreifen. Anstatt die geflüchteten und vertriebenen Juden und Jüdinnen zurückzuholen, wurden die ehemaligen Nationalsozialisten für »unersetzbar« erklärt und schon bald wieder in ihren alten Positionen eingesetzt. Die sukzessive Abschwächung der Entnazifizierung bis hin zu ihrem endgültigen Ende ist Ausdruck und Produkt dieser politischen und sozialpsychologischen Nachkriegssituation.

Die nachsichtige Politik gegenüber den ehemaligen Nationalsozialisten spiegelt auch die realen Machtverhältnisse in der Nachkriegszeit wider. Die sogenannte Kriegsgeneration (wozu vor allem die ehemaligen Wehrmachtsangehörigen gezählt wurden) war zahlenmäßig weitaus stärker als die verhältnismäßig geringe Zahl der Widerstandskämpfer und überlebenden NS-Opfer und dominierte daher zunehmend die österreichische Politik und Gesellschaft. Der sich gegen Ende der 1940er Jahre abzeichnende politische Paradigmenwechsel führte zu einer Aufwertung der ehemaligen Wehrmachtssoldaten und der entlasteten »Mitläufer« und einer gleichzeitigen Abwertung und Diffamierung der NS-Gegner und NS-Opfer. Dieser Paradigmenwechsel zeigte sich allein schon auf der symbolischen Ebene, wo die ehemaligen »Kriegshelden« in der Gedenkrhetorik und durch unzählige Kriegerdenkmäler heroisiert und die NS-Opfer und der antifaschistische Widerstand zunehmend marginalisiert wurden.[22] Diese eindeutige Akzentuierung hatte aber auch sehr konkrete, politische und materielle Konsequenzen. Zum einen erhielt die sogenannte Kriegsgeneration umfassende Unterstützung und Entschädigungen im Rahmen der Kriegsopferfürsorge, von denen auch ehemalige, teilweise schwer belastete Nationalsozialisten profitierten.[23] Und zum anderen setzte aus realpolitischen Gründen schon sehr bald ein Wettlauf der Parteien um das immense Wählerpotenzial der ehemaligen Nationalsozialisten (und ihrer Angehörigen) ein, der einer Ent-Nazifizierung im ursprünglichen Sinn des Wortes zuwiderlief.

Ehemalige Nationalsozialisten nach dem »Zusammenbruch«

Der Sieg der Alliierten und das Ende des Zweiten Weltkrieges bedeuteten das endgültige Ende des NS-Regimes. Der »Führer« Adolf Hitler hatte Selbstmord begangen, und ein Teil der NS-Elite wurde in Nürnberg vor Gericht gestellt und zum Tode oder zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt. Bei den prominentesten und mächtigsten Vertretern des NS-Staates handelte es sich durchgehend um ideologisch überzeugte »Alte Kämpfer« und oft auch in Verbrechen verstrickte NS-Täter. Die Österreicher Ernst Kaltenbrunner und Arthur Seyß-Inquart gehörten zu den Angeklagten beim Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess und wurden dort zum Tode verurteilt. Auch August Eigruber, Gauleiter von Oberdonau, wurde 1946 im Mauthausen-Hauptprozess von einem US-Militärgericht in Dachau wegen seiner Verantwortung für die Verbrechen im KZ Mauthausen zum Tode verurteilt und im Mai 1947 in Landsberg hingerichtet. Seine überlieferten letzten Worte vor der Hinrichtung lauteten: »Ich empfinde es als eine Ehre, von diesen, den brutalsten Siegern gehängt zu werden. Es lebe Deutschland.«[24] Der Gauleiter von Kärnten und Salzburg, Friedrich Rainer, kam nach seiner Flucht und Verhaftung durch die Briten nach Nürnberg, wo er als Zeuge aussagte. 1947 wurde er nach Jugoslawien ausgeliefert und dort wegen seiner brutalen Rolle im besetzten »Adriatischen Küstenland« von einem Militärgericht zum Tode verurteilt.[25]

Überzeugte Nationalsozialisten haben unterschiedlich auf den »Zusammenbruch« des »Dritten Reichs« reagiert. Vor allem hochrangige NS-Funktionäre sowie Angehörige der SS, SA oder Gestapo mussten davon ausgehen, dass sie bereits auf Fahndungslisten der Alliierten standen und nicht ungeschoren davonkommen würden. Besonders fanatische Nationalsozialisten entzogen sich ihrer Verantwortung durch Suizid, wobei sie oft auch ihre Familie mit in den Tod rissen. Der wohl prominenteste Fall eines solchen »erweiterten Selbstmordes« ist der des NS-Propagandaministers Joseph Goebbels, der in den letzten Kriegstagen gemeinsam mit seiner Frau seine sechs Kinder und dann sich selbst umgebracht hat. Unter den vielen NS-Tätern, die zu Kriegsende Suizid begingen, um nicht den feindlichen Siegern ausgeliefert zu sein, zählt auch der österreichische Kriegsverbrecher Odilo Globocnik. Der ehemalige Gauleiter von Wien und Verantwortliche für die Vernichtung der Juden im Generalgouvernement (»Aktion Reinhardt«) versuchte zunächst in seiner Kärntner Heimat unterzutauchen bzw. ins Ausland zu fliehen. Nach seiner Festnahme auf einer abgelegenen Alm in der Nähe des Weißensee durch britische Soldaten Ende Mai 1945 beging er mit einer Zyankalikapsel Selbstmord.[26] Vor allem in vielen ostösterreichischen Gemeinden (Niederösterreich, Wien, Burgenland) kam es zu zahlreichen Suiziden von lokalen NS-Funktionsträgern.[27] Prominente Fälle sind der Gauleiter von Niederdonau, Hugo Jury, oder der österreichische Schriftsteller Josef Weinheber. Neben Angst vor der Rache der anrückenden Sowjetarmee war es wohl auch politischer Fanatismus, der die Betroffenen zu diesem Schritt bewog. In vielen NS-Familien gab es sogar »Tötungsaufträge« der (abwesenden) Väter an ihre Ehefrauen, im Falle einer Niederlage sich und die gemeinsamen Kinder umzubringen, die jedoch nicht immer befolgt wurden. Die Kinder haben meist erst Jahre später davon erfahren und zeigten sich entsprechend schockiert über die politische Verblendung und Unmenschlichkeit ihrer bis dahin oft idealisierten Väter und Mütter.[28]

Viele führende Nationalsozialisten, darunter auch bekannte österreichische NS-Täter wie Adolf Eichmann, Franz Stangl, Adolf Brunner, versuchten – teilweise erfolgreich – sich der strafrechtlichen Verfolgung durch Untertauchen, Flucht ins Ausland und einen Identitätswechsel zu entziehen.[29] Manche von ihnen wurden zwar von den Alliierten gefasst und saßen in Internierungslagern, konnten aber später, sei es aus Unachtsamkeit der Bewacher oder mithilfe von Netzwerken ehemaliger Kameraden, entkommen. Dazu zählte unter anderem der KZ-Kommandant von Sobibor und Treblinka, Franz Stangl, der im Lager Marcus W. Orr in Salzburg (Glasenbach) einsaß, ohne dass seine wahre Identität bekannt war. Nach seiner Überstellung nach Linz gelang ihm 1948 die Flucht und er lebte bis zu seiner Verhaftung 1967 in Südamerika.[30] Der steirische Gauleiter Sigfried Uiberreither, der noch unmittelbar vor Kriegsende Durchhaltereden geschwungen hatte,[31] war nach seiner Verhaftung kurz im britischen Lager Wolfsberg interniert. Er flüchtete und lebte bis zu seinem Tod 1984 unbehelligt unter falschem Namen in Sindelfingen in Deutschland.[32] Auch der Tiroler Gauleiter Franz Hofer wurde im Mai 1945 von der US-Armee in Tirol verhaftet und interniert. Ihm gelang die Flucht nach Deutschland, wo er zunächst unter falschem Namen, ab 1954 aber unter seinem richtigen Namen bis zu seinem Tod 1975 lebte. In Österreich wurde er 1949 in Abwesenheit zum Tode verurteilt, weitere Bemühungen, ihn vor Gericht zu bringen, schlugen aber fehl. Nicht allen ist die Flucht gelungen, so etwa im Fall von Gerhard Bast, dem Linzer Gestapochef und Leiter einer Einsatzgruppe, der auf der bekannten Nazi-Fluchtroute an der österreichisch-italienischen Grenze vermutlich von einem Raubmörder getötet wurde. Sein Sohn, der bekannte österreichische Autor Martin Pollack, hat seine Geschichte später akribisch aufgearbeitet.[33]

Einige Gauleiter der »Ostmark« kamen nach 1945 vergleichsweise glimpflich davon. Der illegale Wiener Gauleiter und Generalkommissar für die Krim, Alfred Eduard Frauenfeld, wurde zunächst im Internierungslager Dachau festgehalten und sagte als Zeuge beim Nürnberger Prozess aus. Während er 1947 in Wien in Abwesenheit zu 15 Jahren Haft verurteilt wurde, hat man ihn in Deutschland entnazifiziert und er lebte bis zu seinem Tod 1977 unbehelligt in Hamburg.[34] Eine ähnliche Nachkriegsbiographie hatte sein Freund, der Salzburger Gauleiter Adolf Gustav Scheel, ein gebürtiger Deutscher, der sich im Mai 1945 den Amerikanern stellte und anschließend in mehreren Lagern interniert wurde. Nach einer Verurteilung 1948 und Entzug der ärztlichen Approbation wurde er – nach Interventionen unter anderem vom Salzburger Erzbischof Rohracher – schon kurz darauf vollkommen entlastet. Frauenfeld und Scheel erwiesen sich auch nach 1945 als unbelehrbare Nationalsozialisten und waren in extrem rechten Kreisen, unter anderem im »Naumann-Kreis« im Umfeld der FDP, politisch aktiv.[35] Tobias Portschy, 1938 »Landeshauptmann« vom Burgenland, später stellvertretender Gauleiter der Steiermark und Verfasser einer Denkschrift zur »Zigeunerfrage«, kam ebenfalls glimpflich davon. Er war von 1945-1947 im britischen Lager Wolfsberg interniert und wurde 1949 zu 15 Jahren schweren Kerkers verurteilt, aber bereits 1951 begnadigt.[36] Der in Burgenland lebende Tobias Portschy blieb ein gesinnungstreuer Nationalsozialist. Er war in »Ehemaligen«-Kreisen bestens vernetzt, von 1959 bis 1991 Mitglied der FPÖ und machte zeit seines Lebens aus seinen nationalsozialistischen und rassistischen Überzeugungen keinen Hehl.[37]