image

Israel-Studien
Kultur – Geschichte – Politik

 

Band 4

 

Herausgegeben von Michael Brenner,
Johannes Becke und Daniel Mahla

 

 

 

 

 

image

Itamar Rabinovich

Jitzchak Rabin

 

Als Frieden noch möglich schien

 

Eine Biographie

 

Aus dem Englischen von
Heide Lutosch

 

 

 

image

 

 

 

Jitzchak Rabin war kein Charismatiker, sondern ein logisch denkender, erfahrener Kapitän. Weder hatte er Ben-Gurions prophetisches Feuer, noch Levi Eshkols warmherzige Eleganz. Die umwerfende Schlichtheit einer Golda Meir fehlte ihm ebenso wie der populistische Schwung eines Menachem Begin. Nie gab es »Rabin, Rabin«-Sprechchöre, wenn er vor einer Menge stand. Als der umsichtige Ingenieur, der gewissenhafte Steuermann, der er war, verkörperte er den Geist des neuen Israels, eines Landes, das nicht nach Erlösung suchte, sondern nach Lösungen.

Amos Oz, 1996

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der

Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten

sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

 

 

© Wallstein Verlag, Göttingen 2019

www.wallstein-verlag.de

© der Originalausgabe: Itamar Rabinovich 2017

Erschienen bei Yale University Press (USA) unter dem Titel »Yitzhak Rabin. Soldier, Leader, Statesman«

Umschlaggestaltung: Susanne Gerhards, Düsseldorf,

unter Verwendung einer Fotografie aus dem Jahr 1975

© The National Photo Collection of Israel, GPO – Ya’acov Sa’ar

ISBN (Print) 978-3-8353-3452-6

ISBN (E-Book, pdf) 978-3-8353-4359-7

ISBN (E-Book, epub) 978-3-8353-4360-3

Inhalt

Michael Brenner
Zur deutschen Ausgabe

Vorwort

KAPITEL 1
Der Soldat: 1922–1948

KAPITEL 2
Von der Unabhängigkeit zum Sechstagekrieg: 1949–1967

KAPITEL 3
Botschafter in Washington: 1968–1973

KAPITEL 4
Erste Amtszeit: 1974–1977

KAPITEL 5
Fall und Aufstieg: 1977–1992

KAPITEL 6
Rabins Friedenspolitik: 1992–1995

KAPITEL 7
Politik, Hetze, Attentat: 1992–1995

Nachwort

Dank

Endnoten

Register

ZUR DEUTSCHEN AUSGABE
Michael Brenner

Der 4. November 1995 ist für alle Israelis, die diesen Tag erlebt haben, ebenso unvergesslich wie der 22. November 1963, der Tag der Ermordung John F. Kennedys, es für die Amerikaner einer bestimmten Alterskohorte ist, oder der 11. September 2001 für Menschen auf der ganzen Welt. Man erinnert sich, wo man im Moment der Ermordung Jitzchak Rabins war, wie man die Nachricht empfangen hat, und was sie für einen selbst bedeutete. Man spekuliert darüber, was wohl gewesen wäre, wenn an diesem Tag alles ganz anders gekommen wäre.

Das vorliegende Buch sucht keine Antworten auf hypothetische Fragestellungen. Es handelt nicht vom Tod, sondern vom Leben des zweifachen israelischen Ministerpräsidenten, der weit über Israel hinaus zum Symbol für Frieden und Verständigung geworden ist. Der Autor, Itamar Rabinovich, war einer der engsten Vertrauten von Rabin, er führte in dessen Auftrag die Friedensverhandlungen mit Syrien und war – wie Rabin selbst viele Jahre zuvor – israelischer Botschafter in den Vereinigten Staaten. Rabinovich ist aber auch ein angesehener Wissenschaftler, der Professor an der Universität Tel Aviv war und dort auch als Rektor wirkte. Diese Rabin-Biographie ist somit eine faszinierende Kombination aus quellengeleiteter Forschung und persönlicher Einsicht.

Jitzchak Rabin war weit mehr als ein Märtyrer für den Frieden. Der erste im Land Israel geborene Ministerpräsident des späteren Staates war zunächst ein Mann des Militärs. Er kämpfte bereits als junger Mann in führender Funktion im israelischen Unabhängigkeitskrieg, wurde später Generalstabschef der israelischen Streitkräfte und führte diese Armee während des Sechstagekrieges zu ihrem größten Triumph. Seine politische Karriere begann als israelischer Botschafter in den Vereinigten Staaten, später wurde er Verteidigungsminister. Rabin war auch der erste israelische Ministerpräsident, der im Jahre 1975 der Bundesrepublik Deutschland einen offiziellen Besuch abstattete. Dies war ein bewegender Moment für ihn, aber wohl noch mehr für seine Frau, die als Leah Schloßberg 1928 in Königsberg geboren worden war und mit ihrer Familie 1933 aus Deutschland fliehen musste.

Die folgenden Seiten beschreiben nicht nur den Soldaten und Politiker, sondern auch ausführlich den Menschen Jitzchak Rabin. Von vielen als scheu und spröde wahrgenommen, zeichnet Rabinovich, ohne zu idealisieren, das Bild eines geradlinigen und bescheidenen Mannes, der seine Rolle als Ehemann, Vater und auch als Großvater trotz aller Verpflichtungen ernst nahm, der auch entgegen politischer Interessen an seinen Prinzipien festhielt und der Freundschaften nicht für die eigene Karriere opferte.

Es ist zu begrüßen, dass dieses Buch nun auch dem deutschsprachigen Lesepublikum zur Verfügung steht. Mein Dank dafür gilt dem Wallstein Verlag, der das inzwischen auch in Deutschland etablierte Forschungsgebiet der Israel-Studien mit einer eigenen Reihe an die breitere Öffentlichkeit trägt.

VORWORT
Rabins Tod, Rabins Leben

Wenn ein Mensch stirbt, bedeutet das in den meisten Fällen lediglich, dass ein Leben zu Ende gegangen ist. Bei einem politisch motivierten Mord ist das anders. Ein solcher Tod erlangt eine ganz eigene Tragweite, er hat Konsequenzen. Das politische Attentat markiert nicht nur den Endpunkt im Leben eines Menschen, sondern auch den Anfangspunkt einer neuen Realität, die durch den Tod selbst geschaffen wurde. In der öffentlichen Erinnerung an den Gewaltakt wird der ermordete Anführer nicht selten zum Mythos. Auf sein Leben und sein Wirken fällt ein neues Licht.

Nach Jitzchak Rabins Ermordung im Jahr 1995 suchte eine schockierte israelische Öffentlichkeit nach Zusammenhängen und Vergleichen. Abraham Lincolns Ermordung etwa wurde eindrücklich heraufbeschworen, indem man Walt Whitmans »O Captain! My Captain!« neu ins Hebräische übersetzte und eine eingängige Melodie dazu komponierte. Doch der Vergleich hinkte. Der Leichnam von Whitmans Captain befand sich auf einem Schiff, das im Hafen angekommen war. Lincoln hatte seine Mission erfüllt; seine Ermordung richtete sich gegen alles, was er erreicht hatte. Plausibler wäre mir der Vergleich mit den Bestrebungen französischer Rechtsradikaler und Algerienfranzosen erschienen, die versuchten, Charles de Gaulle zu ermorden, um den Friedensverhandlungen mit der Nationalen Befreiungsfront (FLN) ein Ende zu setzen.[1] Wäre einer der Mordversuche erfolgreich gewesen, hätte man wohl kaum eine Lösung für das Algerienproblem gefunden. Tatsächlich hatte sich Rabins Mörder Jigal Amir, ein fanatischer orthodoxer Jude aus einer jemenitischen Familie, von Jean-Marie Bastien-Thiry inspirieren lassen, dem französischen Offizier, der im Jahr 1963 für den versuchten Mordanschlag auf Charles de Gaulle hingerichtet wurde. Amir wähnte Parallelen zwischen der französischen Situation auf dem Höhepunkt der Algerienkrise und der schwierigen Lage in Israel in den frühen und mittleren 1990er Jahren. Für ihn war Rabin eine israelische Version von de Gaulle: ein ehemaliger Kriegsheld, der vom rechten Pfad abgekommen war und getötet werden musste, bevor er ein kostbares Stück des nationalen Territoriums preisgab.

Einen weiteren, äußerst aufschlussreichen Vergleich zog man zu der Ermordung von Präsident John F. Kennedy. Wie bei Kennedy hatte es unmittelbar vor dem Mordanschlag eine Hetzkampagne gegen Rabin gegeben, in der ihm Verrat und Schlimmeres vorgeworfen wurden. Bevor Kennedy am Schauplatz des Attentats, in Dallas, angekommen war, waren dort überall Handzettel mit Fotos des Präsidenten verteilt worden, auf denen stand, er werde »wegen Hochverrat gesucht«.[2] Ebenfalls vergleichbar war eine allgemeine Sehnsucht nach einer Art verlorenem Goldenen Zeitalter, die auf Kennedys Ermordung folgte – das Bild, das dabei entstand, erinnerte an Camelot, den sagenhaften Hof des mythischen Königs Artus. So schrieb der Schriftsteller Norman Mailer: »Eine Weile glaubten wir, das Land gehöre uns. Jetzt gehört es wieder ihnen.«[3] In der Zeit nach Rabins Ermordung sehnten sich die »Kerzenkinder« und viele seiner Anhänger nach einer Phase zurück, die man bald als das Goldene Zeitalter der israelischen Geschichte und Politik zu betrachten begann. Tausende junger Menschen hielten mit brennenden Kerzen in der Nähe von Rabins Haus und am Schauplatz des Attentats Wache. Seit mehr als zwanzig Jahren gibt es jedes Jahr am 4. November, dem Tag des Attentats, eine Kundgebung mit sehr vielen Teilnehmern. Ende 2015, als sich das Attentat zum zwanzigsten Mal jährte, wurde eine Welle der Rabin-Nostalgie spürbar, in der sich sowohl ein konkretes Verlustgefühl ausdrückte, als auch eine allgemeine Unzufriedenheit mit der aktuellen Führung des Landes und ihrer Unfähigkeit, mit dem alles beherrschenden Palästina-Problem umzugehen.

Darüber hinaus offenbarte Rabins Ermordung einen tiefen gesellschaftlichen Graben. Amir hatte einen Mann getötet, dessen Leben und Wirken der Inbegriff des israelischen Establishments war: Er hatte osteuropäische Wurzeln, war Protagonist in der Arbeiterbewegung, dem Palmach (der militärischen Eliteeinheit des vorstaatlichen Israels), in den Israelischen Verteidigungsstreitkräften und lebte im säkularen Norden von Tel Aviv. Die Jahre nach dem Mordanschlag waren durch eine Art Kulturkampf geprägt: Auf der einen Seite standen die Siedler, die radikale Rechte und ein Großteil der orthodoxen Gemeinschaft, auf der anderen Seite der säkulare, gemäßigte Teil der israelischen Öffentlichkeit. Es ging dabei nicht nur um den Friedensprozess, sondern auch um die grundsätzliche Ausrichtung des Landes. Genau wie im Fall Kennedys hatte die Ermordung Rabins auf diesen Kulturkampf in den kommenden Jahren dramatische Auswirkungen. Doch so folgenreich Rabins Ermordung war, sein Vermächtnis ist durch sein Leben geprägt – seine Entscheidungen und seine Taten – und nicht durch seinen Tod. Kennedys Wirkung und sein Erbe prägten sich in der Kubakrise aus, mit der Invasion in der Schweinebucht, aber auch mit seiner Berliner Rede, mit dem Weg in den Vietnamkrieg, auch durch sein Charisma. Lincolns Vermächtnis hingegen besteht darin, die Sklaverei abgeschafft und die Einheit des Landes wiederhergestellt zu haben. Er wurde für die Vereinigten Staaten zum Leitbild des starken Präsidenten. Rabins Erbe ist geprägt von der Friedenspolitik in seiner zweiten Amtszeit, von den wagemutigen Entscheidungen, die er in den Verhandlungsprozessen mit den Palästinensern und den Syrern traf, sowie von der besonderen Qualität seines Führungsstils.

Sein Leben ist die faszinierende Geschichte eines im Land geborenen Israelis, der in Israels vorstaatlichem Establishment aufwuchs und bereits die inzwischen vertrauten Stationen durchlief: Besuch einer der Arbeiterbewegung nahestehenden Schule, Landwirtschaftsschule, Palmach, Unabhängigkeitskrieg, militärische Laufbahn. Seine Talente, seine Beharrlichkeit – und das eine oder andere Quäntchen Glück – brachten ihn bis an die Spitze des Militärs und schließlich auf den Stuhl des Ministerpräsidenten. Es war dennoch kein glatter und leichter Aufstieg. Rabin besaß nicht das Charisma von Mosche Dajan oder Jigal Allon, die sich schon in jungen Jahren als Führungspersönlichkeiten zu erkennen gaben. Sein Aufstieg vollzog sich langsam, und zu einem wahren Anführer wurde er erst in den 1980er Jahren. Auf Rabins erster Amtszeit in den 1970er Jahren liegt ein kleiner Schatten, in dieser Zeit gelang es ihm nicht, die israelische Öffentlichkeit wirklich anzusprechen. Erst nach seiner beeindruckenden Leistung als Verteidigungsminister in den 1980er Jahren versetzte ihn die ihm eigene Mischung aus Autorität und Glaubwürdigkeit, die seinen Charakter prägte, in die Lage, aus dem politischen Nirwana zurückzukehren und noch einmal den Posten des Ministerpräsidenten zu erobern.

Während dieser zweiten Amtszeit entwickelte sich Rabin vom politischen Anführer zum Staatsmann. Nun wurde seine Fähigkeit sichtbar, kühne historische Entscheidungen zu treffen, gegen den Strom zu schwimmen und die eigenen Leute auf seinem Weg mitzunehmen. Rabins Beliebtheit ist bis heute ungebrochen, und diese Tatsache birgt auch eine tiefere Botschaft für die heutige israelische Politik: Erfolgreiche Friedenspolitik ist möglich, wenn sie von einem glaubwürdigen Politiker aus der Mitte der Gesellschaft angeführt wird, der Erfahrungen aus dem Bereich der nationalen Sicherheit mitbringt und eine verängstigte israelische Öffentlichkeit davon überzeugen kann, sich auf Zugeständnisse und Risiken einzulassen, ohne die ein Weg zum Frieden unmöglich ist. In einem Land, das noch immer mit denselben grundsätzlichen Problemen zu kämpfen hat wie zu Lebzeiten Rabins, ist die Sehnsucht nach einer Führungspersönlichkeit von seinem Format und seinen Qualitäten immer wieder schmerzlich zu spüren.

KAPITEL 1
Der Soldat: 1922 – 1948

»Abgesehen von seiner Intelligenz und Schweigsamkeit schien er für einen Botschafterposten wenig geeignet zu sein. Wortkarg, scheu, nachdenklich und jeder oberflächlichen Konversation abgeneigt, war Rabin nicht der Mann, den man sich gewöhnlich als Diplomaten vorstellt. Menschen, die sich wiederholten, langweilten ihn, und das Gewöhnliche war ihm zuwider; es war Rabins Unglück, dass beides in Washington reichlich anzutreffen ist. Er hasste Zweideutigkeiten, die aus der Diplomatie nicht wegzudenken sind. […] [Doch] seine Integrität und sein analytischer Verstand, mit dem er immer den Kern der Dinge traf, waren beeindruckend.«[4] Diese subtile und treffende Charakterisierung Jitzchak Rabins stammt von Henry Kissinger, der in Washington zwischen 1969 und 1973 eng mit ihm zusammenarbeitete. Die beschriebenen Charakterzüge, die Rabin zu einem zwar untypischen, aber doch ausgesprochen erfolgreichen Botschafter machten, waren für eine politische Laufbahn noch viel weniger geeignet. Dennoch lässt sich Rabins Wandlung vom hölzernen Politiker zum imposanten Staatsmann mithilfe eben dieser Eigenschaften erklären.

Rabin wurde im Jahr 1922 als Kind von Rosa Cohen und Nehemia Rubichev (später Rabin) in Jerusalem geboren. Über seine Kindheit schrieb er: »Mein Weg wurde mir von den Persönlichkeiten meiner Eltern, unserem Zuhause und der Schule, die ich besuchte, vorgegeben. Alles schien auf ein Leben in der Landwirtschaft hinauszulaufen, auf ein Leben im Kibbuz. Wenn mir jemand während meiner Kindheit gesagt hätte, dass ich einmal zum Militär gehen würde, wäre mir das geradezu lächerlich erschienen.«[5] Rabins Eltern waren im russischen Kaiserreich geboren worden und hatten sich beide angesichts der brutalen zaristischen Herrschaft früh radikalisiert. Nach dem Ersten Weltkrieg kamen sie nach Palästina. Rosa, die die »rote Rosa« genannt wurde, war wohl das prägendere Elternteil. Ihre kraftvolle Persönlichkeit zeigt sich auf einem Foto, das sie auf einer Mai-Parade in Tel Aviv zeigt. Sie marschiert mit vorgestrecktem Kinn und strahlt eine enorme Entschlossenheit aus. Rosa war 1890 in Gomel, im heutigen Weißrussland, zur Welt gekommen, als Tochter des wohlhabenden orthodoxen Antizionisten Jitzchak Cohen, nach dem sie später ihren Sohn benannte. Schon in ganz jungen Jahren gab sie sich als willensstarke Individualistin zu erkennen – mit linken, sozialrevolutionären und antizionistischen Ansichten. Sie hielt Abstand zu organisierten Gruppen, weshalb sie sich weder den russischen Sozialrevolutionären noch dem linken antizionistischen Jüdischen Bund anschloss. Als Jugendliche besuchte sie eine russische polytechnische Oberschule – was absolut ungewöhnlich für ein junges Mädchen aus einer traditionellen jüdisch-orthodoxen Familie war. Die finanzielle Unterstützung ihres wohlhabenden Vaters anzunehmen weigerte sie sich standhaft, und am Sabbat stahl sie sich regelmäßig aus dem Haus, um auch an diesem Tag die Schule zu besuchen. Ihre politische Haltung drückte sich in einer für ihr Umfeld typischen Volksnähe aus, etwa in der tätigen Unterstützung für Arme und Bedürftige. Sie lebte unter russischen Arbeitern, von denen sie glühend verehrt wurde, und schlug Holz in den von ihrer Familie gepachteten Wäldern des russischen Großfürsten. Es war ein gefährliches Leben. Schnell geriet sie ins Fadenkreuz der zaristischen und später auch der kommunistischen Geheimpolizei, denn mit ihrer radikalen Haltung war sie von den nun herrschenden Verhältnissen unter dem kommunistischen Regime enttäuscht. Rosa arbeitete als Leiterin einer Produktionsstätte in der Nähe von St. Petersburg, die in eine Munitionsfabrik umgewandelt wurde. Als man sie im Jahr 1919 entließ, weil sie sich weigerte, der Partei beizutreten, organisierten die Arbeiter einen Streik. Inmitten politisch turbulenter Zeiten stand sie plötzlich völlig mittellos da, ohne Arbeit und als »gefährliche Person« gebrandmarkt.

Obwohl sie keine Zionistin war, entschloss sich Rosa, ihre Familie in Jerusalem zu besuchen, um herauszufinden, ob sie ihren Platz in Palästina finden könne. Auf Jiddisch schrieb sie an Berl Katzenelson, einen ranghohen Anführer der Arbeiterbewegung, den sie über familiäre Verbindungen kannte, und bat ihn um eine Einschätzung zu der Frage, ob »das Land Israel mein Problem lösen wird«. Es fiel ihr schwer, ihr vertrautes Leben hinter sich zu lassen, und sie bat um seine Einschätzung, ob sie in der neuen Umgebung zurechtkommen würde. Sie schrieb: »Wenn ich nach Israel gehe, muss ich alles hinter mir lassen, um ein neues Leben zu beginnen; es gibt dann kein Zurück mehr«.[6] Rosas Onkel Mordechai Ben Hillel HaCohen war mit seiner Familie bereits im Jahr 1903 nach Palästina ausgewandert und lebte in Jerusalem – bei ihm wollte sie zunächst wohnen. Im Dezember 1919 bestieg sie in Odessa die SS Ruslan, ein Schiff, das im zionistischen Narrativ später einen besonderen Platz einnehmen sollte. An Bord befand sich eine Gruppe von Auswanderern auf ihrem Weg nach Kinneret, einem Kibbuz am Ufer des Sees Genezareth.[7] Die SS Ruslan lief am 19. Dezember 1919 im Hafen von Jaffa ein.

Als Rosa in Jerusalem ankam, stellte ihr Cousin David HaCohen sie Mosche Schertok (später Scharet) vor, dem späteren Außenminister und Ministerpräsidenten von Israel. Scharet übergab Rosa einen Brief an seine Schwester, die im Kibbuz Kinneret lebte. In dem Brief bittet Scharet seine Schwester, sich der Neueinwanderin anzunehmen. Er beschreibt Rosa als »eine ›bedeutende‹ junge Frau, Ingenieurin, Sozialistin, aber keine Bolschewikin, wobei sie aber einige Jahre lang in einer Fabrik der Bolschewiki in der Nähe von Petrograd gearbeitet hat […]. Sie hat über Jahre keinen einzigen Juden zu Gesicht bekommen, was ihr nun ein wenig Sorge bereitet. Weil sie es nicht gewohnt ist, fürchtet sie sich vor dem Leben im Kollektiv. Sie ist sehr einsam. Im Haus der Cohens wäre sie fast erstickt – eines dieser sehr klugen russischen Mädchen aus dem gehobenen Bürgertum, die sämtliche Bande zu ihrer Familie und ihren sozialen Kreisen gekappt hat und es nicht mehr erträgt, unter ihnen zu leben.«[8]

Als Rosa in Palästina ankam, war sie keine Anhängerin der zionistischen Bewegung, aber nach und nach änderte sich dies. In Kinneret blieb sie nur kurz, bald zog sie wieder nach Jerusalem zu ihren Verwandten. Bei einem Aufstand der arabischen Bevölkerung im Jahr 1920 in der Altstadt von Jerusalem unterstützte Rosa die jüdischen Bewohner, sowohl als Krankenschwester als auch im Kampf – während der Pogrome in Russland hatte sie gelernt, sich zu verteidigen. Später zog sie nach Haifa, half bei der Organisierung von jüdischen Hafenarbeitern und verdiente ihren Lebensunterhalt in einem Laden, der ihren Verwandten gehörte.

Über das frühe Leben von Rabins Vater, Nehemia Rubichev, ist wenig bekannt. Nehemia wurde in einem kleinen Dorf nahe Kiew als Kind einer armen Familie geboren und schloss sich früh den revolutionären Aktivitäten gegen das zaristische Regime an. Um seiner drohenden Verhaftung zu entgehen, verließ er das Land in Richtung Amerika. Er arbeitete in St. Louis als Schneider und engagierte sich in der jüdischen Gewerkschaft. Im Jahr 1917 bemühte er sich um seine Aufnahme als Soldat in der von Ze’ev Jabotinsky organisierten »Jüdischen Legion«, um an der Seite der Briten in Palästina zu kämpfen. Im ersten Anlauf wurde er aus medizinischen Gründen abgelehnt, weil er eine Gehbehinderung hatte. Nehemia änderte kurzerhand seinen Namen in Rabin, versuchte es in einem anderen Büro noch einmal und hatte Erfolg. Er reiste nach Palästina und blieb. Im Jahr 1920 nahm Nehemiah, als frühes Mitglied einer Vorstufe der Haganah (der jüdischen Selbstverteidigungsorganisation im Mandatsgebiet Palästina) an der Verteidigung des jüdischen Viertels in der Jerusalemer Altstadt gegen arabische Aufständische teil. Dort lernte er Rosa kennen, die gerade als freiwillige Sanitäterin im Einsatz war. Nehemia wurde von den Briten inhaftiert, die zwar ebenfalls die arabischen Aufständischen bekämpften, aber wegen des unerlaubten Tragens von Waffen auch jüdische Kämpfer ins Gefängnis warfen. Rosa und Nehemiah heirateten im Jahr 1921 und ließen sich anschließend für kurze Zeit in Haifa nieder. Um bei der Geburt ihres Kindes in der Nähe ihrer Familie zu sein, zog Rosa nach Jerusalem. Dort wurde Jitzchak am 1. März 1922 geboren. Im Jahr 1923 ging die junge Familie nach Tel Aviv, wo Rosa in einer Bank arbeitete und Nehemia bei der Palestine Electric Company. Im Jahr 1924 kam ihre Tochter Rachel zur Welt.

Die Familie lebte bescheiden in verschiedenen Zweizimmerwohnungen, die von Rabins Freunden aus Kindertagen als äußerst spartanisch beschrieben wurden. Seine Eltern gingen neben der Arbeit vollkommen in ihren politischen Aktivitäten auf. Beide waren in der Haganah aktiv, Nehemiah engagierte sich in der Gewerkschaft, Rosa im Stadtrat von Tel Aviv und in zahlreichen Wohltätigkeitsorganisationen. Die Familie scheint Werte höher gehalten zu haben als Gefühle; die Kinder waren nicht selten sich selbst überlassen, und Jitzchak musste sich häufig um seine kleine Schwester kümmern. Doch der Freitagabend war für die Familie reserviert. In der kleinen, karg möblierten Wohnung fanden unzählige Treffen von Gewerkschaftern und Haganah-Mitgliedern statt, außerdem wurden immer wieder Gäste von außerhalb beherbergt. Rosa war äußerst aktiv, weithin bekannt und respektiert, aber sie weigerte sich, einer politischen Partei beizutreten oder ein öffentliches Amt zu bekleiden. Sie hatte ein Herzleiden, und die Kinder lebten in ständiger Angst, sie zu verlieren. Tatsächlich starb sie jung, im Jahr 1937, im Alter von nur 47 Jahren, Jitzchak war damals fünfzehn Jahre alt. Ihre Beerdigung war ein öffentliches Ereignis, an dem Tausende von Menschen teilnahmen, unter ihnen David Ben-Gurion, der Vorsitzende der Jewish Agency, der wichtigsten Organisation der jüdischen Gemeinschaft im vorstaatlichen Israel.

Rabins Kindheit war typisch für einen Jungen, der inmitten der wichtigsten Fraktion der Arbeiterbewegung im Mandatsgebiet Palästina aufwuchs. Er besuchte eine der Arbeiterbewegung nahestehende Grundschule, war Teil der Jugendbewegung, wechselte auf die Landwirtschaftsschule eines Kibbuzes östlich von Tel Aviv und wurde schließlich von der Kadoorie Agricultural High School am Berg Tabor in Galiläa angenommen, die als eine der besten Schulen des Landes galt. Die Kadoorie-Schule – gestiftet von einer reichen Familie aus Hong Kong, die im Mandatsgebiet Palästina zwei Schulen gebaut hatte: eine für jüdische und eine für arabische Jungen – zeichnete sich durch ihren hohen akademischen Anspruch und ihren Ehrenkodex aus. Wenn die Schüler etwa eine Klassenarbeit schrieben, verließen die Lehrer den Raum – im Vertrauen darauf, dass niemand abschreiben würde. An diesem Ort blühte Rabin auf. Er war ein Spätentwickler, der in den ersten beiden Grundschuljahren noch Schwierigkeiten mit dem Lesen und Schreiben gehabt hatte. Als Eliezer Smoli an die Schule kam, ein Schriftsteller und inspirierender Lehrer, gab sich das Problem schnell. Doch es blieb typisch für Rabin, dass er etwas mehr Zeit benötigte: Auch in anderen Phasen seines Lebens kam der Durchbruch bei ihm spät. Mit Smolis Hilfe absolvierte Rabin die schwierige Aufnahmeprüfung für die Kadoori-Schule erfolgreich und war von da an ein hervorragender Schüler. Für seinen Schulabschluss erhielt er sogar eine Auszeichnung des britischen Hochkommissars. Eigentlich wollte Rabin anschließend mit einem Stipendium der Regierung in die Vereinigten Staaten gehen, um in Kalifornien Wasserbau zu studieren. Doch die Ereignisse in Palästina und der Ausbruch des Zweiten Weltkriegs machten seine Pläne zunichte. Das Sicherheitsproblem, mit dem sich die jüdische Gemeinschaft konfrontiert sah, wurde für Rabin während des Arabischen Aufstands in den Jahren 1936 bis 1939 zum ersten Mal greifbar. In dieser Zeit wurde er auch zum ersten Mal in den Umgang mit Waffen eingewiesen. Nach dem Schulabschluss nach Kalifornien zu gehen erschien ihm nun undenkbar. Stattdessen zog es Rabin in verschiedene Kibbuzim, wo er lebte und arbeitete, jedoch ohne einem von ihnen beizutreten. Rabin erwähnt diesen Sachverhalt sowohl in seinen Memoiren als auch in anderen Darstellungen seiner Kindheit und Jugend, erklärt ihn jedoch nicht weiter. Vielleicht hat ihn sein individualistischer Charakter am Ende davon abgehalten, einem Kollektiv beizutreten.

Die Sommerferien verbrachte er immer in Jerusalem, bei Mordechai Ben-Hillel HaCohen, dem Onkel seiner Mutter. Ben-Hillel war ein beeindruckender Mann, Schriftsteller, Intellektueller und erfolgreicher Unternehmer. Zu seiner näheren und entfernteren Familie gehörten einige der prominentesten Figuren der jüdischen Gemeinschaft im vorstaatlichen Israel, des Jischuw. Ben-Hillels Sohn David HaCohen lebte in Haifa und fungierte während des Zweiten Weltkriegs als Verbindungsmann des Jischuw zu den britischen Geheimdiensten. Eine seiner Töchter heiratete Arthur Ruppin, den Direktor des Wirtschaftsressorts der Jewish Agency. Ben-Hillel und seine Familie standen in Verbindung zu den Familien von Mosche Schertok, Elijahu Golomb und Dov Hoz, die zu den bekanntesten Führungspersönlichkeiten in dieser Zeit gehörten. Während seiner Aufenthalte bei seinem Großonkel kam Rabin mit einem Umfeld und einer Lebensweise in Berührung, die sich von allem, was er kannte, markant unterschied. Das Haus der HaCohens war großzügig und elegant eingerichtet. In krassem Kontrast zu den kleinen, spärlich möblierten Wohnungen der Rabins in Tel Aviv beherbergte es eine umfangreiche Bibliothek, die Rabin und sein Cousin Raphael Ruppin eines Sommers neu sortieren mussten. Mit seinem Cousin spielte Rabin sogar Tennis, ein in seiner proletarischen Welt in Tel Aviv vollkommen unbekannter Sport.

Während seines letzten Aufenthalts bei den Verwandten in Jerusalem schrieb Rabin der befreundeten Hanna Guri (Rivlin) einen aufschlussreichen Brief. Sie beide gehörten zu einer kleinen Gruppe von Schülern, die sich »Telem« genannt hatte. Sämtliche Mitglieder hatten in Tel Aviv und Givat HaSchloscha die Schule besucht und sich ein und derselben Jugendbewegung angeschlossen. Die Gruppe bildete eine enge Gemeinschaft; ihre Mitglieder diskutierten politische und persönliche Fragen mit der Ernsthaftigkeit und Offenheit, die für die Jugendbewegung dieser Zeit typisch waren. Rabins Brief an Guri zeigt, wie zwei seiner wichtigsten Charaktereigenschaften, nämlich seine Schüchternheit und seine Schweigsamkeit, zu dieser Zeit von ihm selbst eingeschätzt wurden. Am 6. August 1937 schrieb er: »Bin ich das einzige Mitglied von Telem, das still und zurückhaltend ist? Und wenn schon. Es entbindet mich jedenfalls nicht [von der Pflicht], mich mitzuteilen, wobei es durchaus Gründe gibt, die das verhindern … Wenn die Stillen unter uns ein Teil der Gesellschaft sein möchten, dann müssen sie ihre Gefühle ausdrücken, und wenn sie dies nicht schaffen, dann deshalb, weil die Gesellschaft sie am Sprechen hindert und ihnen bei jedem ihrer Versuche mit Geringschätzung begegnet … Vielleicht habe ich ja Minderwertigkeitsgefühle, weil ich nicht darauf vertraue, dass die Gruppe sich für mich interessiert.«[9]

1941 war das Jahr, in dem Rabin zum Palmach kam. Der Palmach, ein Akronym aus dem hebräischen Wort für »Einsatztruppen«, war in diesem Jahr gegründet worden, mit dem Ziel, eine stehende militärische Truppe zu erschaffen. Die Haganah verfügte zwar schon bald über eine kleine kämpfende Einheit, war aber keine ausschließlich militärische Organisation. Im Jahr 1941 zeichnete sich deutlich die Gefahr einer deutschen Invasion ab. Der deutsche Feldmarschall Erwin Rommel rückte in Nordafrika vor, und bevor er von Feldmarschall Bernhard Montgomery in El-Alamein besiegt wurde, schien es möglich, dass seine Truppen Ägypten überrennen und in Palästina einmarschieren würden. Die sechs Kompanien des Palmach würden Rommels Armee nicht aufhalten können, aber sie sollten deren Fortschreiten verlangsamen, während die jüdische Gemeinschaft versuchen würde, sich im Karmel-Gebirge zu verteidigen. Zu dieser Zeit kooperierten die Haganah und der Palmach eng mit den Briten. Als die britischen Streitkräfte sich im Juni 1941 darauf vorbereiteten, in Syrien und im Libanon einzumarschieren, die von den Truppen des französischen Vichy-Regimes gehalten wurden, stellte die Haganah Teams bereit, die ihnen mit Aufklärungs- und Sabotagediensten zur Seite stehen sollten. Rabin, der sich zu dieser Zeit im Kibbuz Ramat Jochanan aufhielt, wurde vom örtlichen Sicherheitschef gefragt, ob er bereit sei, sich für einen Einsatz zur Verfügung zu stellen. Rabin beantworte dies mit ja. Das Bewerbungsgespräch führte Mosche Dajan, damals einer der aufstrebenden Stars innerhalb der Haganah. Es war die erste Begegnung zwischen diesen beiden Männern, deren Wege sich noch oft auf folgenreiche Weise kreuzen sollten – häufiger im Schlechten als im Guten. In seinen Memoiren schrieb Rabin über dieses Bewerbungsgespräch: »Er fragte mich, mit welchen Waffen ich vertraut war. Ich sagte ihm, dass ich mit Revolvern, Gewehren und Handgranaten umgehen könne, mit schwereren oder anspruchsvolleren Waffen jedoch nicht. Es folgten noch ein paar weitere Fragen, dann brummte er trocken: ›Sie sind geeignet.‹«[10] Als Dajans Team sich am 7. Juni in den Libanon begab, um eine australische Einheit zu unterstützen, die den Befehl zur Invasion erhalten hatte, stieß Rabin dazu. Es war die Operation, in der Dajan sein Auge verlor: Während er durch sein Fernglas blickte, wurde er von einem französischen Scharfschützen getroffen und trug von da an jene Augenklappe, die später zu seinem Markenzeichen werden sollte. Als jüngstes Mitglied der Gruppe erhielt Rabin die Aufgabe, auf Telefonmasten zu klettern und Kabel zu durchtrennen; es war sein erstes Kampferlebnis. Im Anschluss trat er dem neu gegründeten Palmach bei.

Dort machte Rabin Karriere bis zum Stabsoffizier – und wurde de facto die rechte Hand von Jigal Allon, dem damaligen Befehlshaber des Palmach. Seit der Gründung des Palmach im Jahr 1941 hatte die jüdische Führung um den Fortbestand des Militärverbandes ringen müssen, und finanzielle Engpässe führten schließlich dazu, dass der Palmach unter die Fittiche der Kibbuz-Bewegung schlüpfte. Von besonderer Bedeutung war in diesem Zusammenhang der HaKibbuz HaMeuchad (Vereinigte Kibbuzbewegung), der mit der Fraktion B in Verbindung stand, die ihrerseits Teil der Mapai war, der führenden Partei der Arbeiterbewegung im vorstaatlichen Israel und in den frühen Jahren der israelischen Politik. Jitzchak Tabenkin, der Anführer der Fraktion B, galt als Rivale von Ben-Gurion, der zu dieser Zeit bereits der führende Kopf des Jischuw war. Ben-Gurion stand dem Palmach ablehnend gegenüber. Er glaubte, dass es, während der Zweite Weltkrieg andauerte, für die jüngere Generation der jüdischen Bevölkerung in Palästina das Beste sei, sich der auf dem europäischen Festland kämpfenden britischen Armee anzuschließen. Dies wäre in Ben-Gurions Augen ein wertvoller Beitrag zum Krieg gegen die Nazis gewesen und hätte es gleichzeitig Tausenden von jüdischen Männern ermöglicht, militärische Erfahrungen in einer modernen Armee zu sammeln. Darüber hinaus besaß Ben-Gurion, der nicht nur über einen politischen Instinkt, sondern auch über staatsmännisches Selbstverständnis verfügte, kein rechtes Vertrauen in die politische Ausrichtung des Palmach. Die Einheiten waren, wie erwähnt, hauptsächlich in Kibbuzim untergebracht, und die Soldaten mussten sich ihre Zeit zwischen der normalen Arbeit und dem militärischem Training einteilen. Nur so war es der finanzschwachen jüdischen Gemeinschaft möglich, eine stehende militärische Truppe zu unterhalten.

Man schickte Rabin zunächst auf den ersten Palmach-Lehrgang für Truppenkommandeure, der von Allon geleitet wurde, einem gutaussehenden, charismatischen Mann, der ein paar Jahre älter war als Rabin. In Kfar Tabor geboren, einer landwirtschaftlichen Siedlung am Fuße des Berg Tabor, war Allon ein Mitglied des Kibbuz Ginnossar am See Genezareth und, wie Rabin, ein Absolvent der Kadoorie-Schule. Die Beziehung zu ihm sollte für Rabin in seiner frühen Karriere sehr wichtig werden, denn es war Allon, der seinen schnellen Aufstieg in der Militärhierarchie beförderte. Er entdeckte Rabins Talente, unterstützte ihn und ernannte ihn später zu seinem Stabsoffizier und Stellvertreter. Im Jahr 1942 wurde Rabin zunächst Ausbilder, anschließend beförderte man ihn zum Zugführer. Ein anderer Zugführer aus dieser Zeit erinnerte sich viele Jahre später folgendermaßen an Rabin: »Er dachte eigenständig und außerhalb der vorgegebenen Muster, er stellte Fragen, dachte gründlich über die Dinge nach und sprach Themen an, mit denen sich nicht jeder beschäftigen mochte. Einflussreiche und bekannte Leute entließ er, oder machte sich über sie lustig, und er förderte Leute, die ihn verstanden und seinem Beispiel folgten. Aber alles in allem war er einfach ein ernsthafter junger Mann und ein ernsthafter Zugführer, der seine Arbeit machte und nicht im Geringsten als etwas Besonderes galt.«[11]

Im Jahr 1944 wurde die Struktur des Palmach von Kompanien auf Bataillone umgestellt. Rabin wurde zum Bataillonsausbilder befördert, was in der Praxis bedeutete, dass er als stellvertretender Kommandeur eines Bataillons fungierte. Im Jahr 1945 wurde er Leiter eines renommierten Lehrgangs für Truppenkommandeure. In dieser Position zeigten sich seine Talente erstmals deutlich. Sein profundes Verständnis für Kommandostrukturen und militärische Fragen und seine Begabung für das Unterrichten machten den Lehrgang für viele zu einem unvergesslichen Erlebnis, was wesentlich zu Rabins wachsender Reputation beitrug. Ein Absolvent erinnerte sich, dass dieser Kurs der beste militärische Lehrgang gewesen sei, den er im Laufe seiner Karriere besucht habe, einschließlich seiner Zeit an der etablierten École de guerre in Frankreich.

Im Jahr 1945 befehligte Rabin seine erste groß angelegte Militäroperation. In den frühen Jahren hatten sich die Aktivitäten des Palmach auf die Zusammenarbeit mit den britischen Kräften zur Abwehr der drohenden deutschen Invasion beschränkt. Sobald diese Gefahr vorüber war, endete die Zusammenarbeit jäh. Die Briten wurden zu Rivalen, wenn nicht gar zu Feinden, und die Einsätze des Palmach richteten sich nun auch gegen sie. Ein zentraler Streitpunkt zwischen dem Jischuw und den britischen Autoritäten zu dieser Zeit war die illegale jüdische Einwanderung nach Palästina. Aus Sicht des Jischuw war die Vorstellung unerträglich, dass die Briten den Überlebenden des Holocausts die Einreise in das Mandatsgebiet verwehrten. Für die Briten wiederum war diese Politik eine logische Konsequenz aus ihrer Vermittlerrolle im Konflikt zwischen Juden und Arabern in Palästina. Illegale Einwanderer, die an Bord von Schiffen nach Palästina aufgegriffen wurden, brachte man umgehend in ein Lager nach Atlit, südlich von Haifa. Eines Tages befahl der Führungsstab der Haganah dem Palmach, das Lager zu stürmen und die Insassen zu befreien und rasch auf jüdische Dörfer zu verteilen. Geleitet wurde die Operation von Bataillonskommandeur Nahum Sarig, Rabin war einer seiner Stellvertreter. Die Operation verlief erfolgreich. Bei der darauf folgenden Mission wurden Rabin und seine Männer angewiesen, Eisenbahnschienen zu sprengen, auch diese Mission verlief erfolgreich. Sein dritter Einsatz sollte ein Angriff auf die britische Polizeistation in der Stadt Jenin werden, inzwischen war die Zusammenarbeit mit den Briten in offene Feindschaft umgeschlagen. Die ehemaligen Verbündeten im Krieg gegen Nazi-Deutschland betrachtete man jetzt als Unterstützer der palästinensischen Araber und als Hindernis auf dem Weg zu einem jüdischen Staat in Palästina. Doch Rabin verletzte sich bei einem Motorradunfall und konnte daraufhin mehrere Monate das Bett nicht verlassen. In dieser Zeit schrieb er häufig an seine Schwester Rachel, die in jungen Jahren dem Kibbuz Manarah an der libanesischen Grenze beigetreten war. Rabins Briefe spiegeln die Herzlichkeit in der Beziehung der Geschwister wider und offenbaren Rabins unbeschwerte, humorvolle Seite, die er jedoch nur im engsten Familien- und Freundeskreis zeigte, und die das genaue Gegenteil seiner in der Öffentlichkeit dominierenden, ernsten und schroffen Charaktereigenschaften war. So schrieb er am 17. Januar 1946: »Weil meine ›begrenzte‹ Zeit nun penibel aufgeteilt ist zwischen vollkommener und teilweiser Untätigkeit, habe ich es endlich geschafft, einen literarischen Text zu schreiben, der nun vor dir liegt. Zuerst muss ich aber ein paar Einzelheiten über den zentralen Gegenstand loswerden, will sagen, mein ruhmreiches Bein, das in Gips gehüllt ist – eine Kreation des ehrenwerten Dr. Pizer.« Ein weiterer Brief persifliert etwa den Stil der Bibel, ein anderer ist unterschrieben mit »dein hinkender Bruder«.

Am 29. Juni 1946, dem Tag, der als »Schwarzer Samstag« in die israelische Geschichte einging, verhafteten die britischen Autoritäten Hunderte von Haganah-Befehlshabern und Anführer des Jischuw und verbrachten sie in ein Internierungslager in Rafah im nördlichen Sinai. Rabin, der noch immer seinen Gips trug, gehörte zu den Verhafteten. Er verbrachte etliche Monate in britischem Gewahrsam, wo sein verletztes Bein weiterhin behandelt wurde. Der israelische Schriftsteller Nathan Schacham, selbst Palmach-Mitglied und ebenfalls einer der Internierten, war beeindruckt von Rabins ernsthafter Ausstrahlung und seiner natürlichen Autorität. Über seine erste Begegnung mit Rabin schrieb er:

Die Ehrfurcht, die er mir einflößte, als ich ihm das erste Mal begegnete, wurde nicht geringer, als wir uns später besser kennenlernten. Obwohl ich seinen flapsigen, manchmal unabsichtlich beleidigenden Ton genauso wenig mochte wie seine abwertende Gestik, die manchmal sogar noch verletzender war, und obwohl ich viele von seinen öffentlichen Äußerungen aus tiefstem Herzen ablehnte, schmälerte dies in all den Jahren meinen Respekt für ihn nicht. Seine Ehrlichkeit machte alle Fehler wett […]. Ich traf ihn das erste Mal im Internierungslager in Rafah […]. Ich stand gerade am Zaun, um mich mit einem hochrangigen Sicherheitsvertreter zu treffen, der in dem anderen Lager festgehalten wurde […]. Neben ihm humpelte ein junger Blondschopf mit Gipsbein einher […]. Ich fühlte mich unwohl unter dem stechenden Blick des jungen Fremden […]. Der strenge Blick dieses blonden jungen Mannes ließ mich sofort zur Sache kommen. Später sagte man mir, dass dieser Mann Jitzchak Rabin gewesen sei, ein junger Kommandeur, dem sein guter Ruf vorauseilte. Ich war kein naiver Junge aus dem Untergrund, dem berühmte Leute besonders imponiert hätten, aber von der Ernsthaftigkeit dieses blonden, blauäugigen Jungen war ich tief beeindruckt […]. Er sprach kein Wort, fixierte mich nur mit seinem kühlen Blick. – Direkt ins Gesicht sah er mir dabei nicht, er starrte an einen bestimmten Punkt, ungefähr auf den rechten Rand meines rechten Ohrs […]. Wie auch immer, während er auf diesen Punkt an meinem rechten Ohr starrte – was er übrigens immer tat, wenn er jemandem zuhörte, bis er zu dem Schluss kam, dass dieser Mensch nun genug geredet hatte und ihn sodann mit einem Blick fixierte, der genau das wortlos und unmissverständlich ausdrückte –, gelang es ihm, so kam es mir vor, in mir wie in einem offenen Buch zu lesen. Er entdeckte darin sofort jenen Leichtsinn, der verhinderte, dass wir Freunde werden konnten. Männer der Tat sind nicht befreundet mit Menschen aus dem Völkchen der Fantasie.[12]

Am Ende des Jahres 1946 wurde Rabin nach fünfmonatiger Haft aus Rafah entlassen, nachdem die Briten ihre Strategie geändert und beschlossen hatten, die Phase der Auseinandersetzung mit der Führungsriege des Jischuw zu beenden. Rabin wurde zum Kommandeur des zweiten Bataillons des Palmach ernannt, der im Zuge der Vorbereitungen des Jischuw auf den als unvermeidlich betrachteten Zusammenstoß mit den palästinensischen Arabern und den arabischen Staaten gerade aufgestockt wurde. Ben-Gurion selbst hatte für die Jewish Agency ein Sicherheitsressort geschaffen und war damit de facto Verteidigungsminister des Jischuw. Schon seit Jahren stand für ihn außer Zweifel, dass die Errichtung eines jüdischen Staates in Palästina zu einem Krieg mit den Palästinensern führen würde, mit Unterstützung der arabischen Staaten. Um auf einen solchen Krieg vorbereitet zu sein, baute er das Sicherheitsressort auf, und nach und nach nahmen die Planungen Form an. Dies verschärfte jedoch die Spannungen zwischen der Führung des Palmach und den Offizieren, die in der britischen Armee gedient hatten. Für den Palmach stand von jeher der individuelle Kämpfer und seine Spontaneität im Vordergrund, während man in der Tradition der jüdischen Brigade innerhalb der britischen Armee stets Wert auf eine gut durchdachte strategische Planung gelegt hatte. Ben-Gurion stand der britischen Tradition näher. Er hielt nicht viel von den militärischen Fähigkeiten des Palmach und betrachtete die Verbindungen des Verbands zu seinen Rivalen aus den Arbeiter- und Kibbuzbewegungen mit Skepis. Diese unterschiedlichen Einschätzungen blieben während des 1948er-Krieges und auch noch danach dominierend. Bis in die frühen 1950er Jahre hinein ließ Ben-Gurion keine Gelegenheit aus, Offiziere zu befördern, die aus der britischen Armee oder anderen regulären Streitkräften kamen, und im Gegenzug die Beförderungen von Palmach-Offizieren zu verzögern. Erst viel später, in den 1960er Jahren, übernahmen die verbliebenen Palmach-Offiziere in den Israelischen Verteidigungsstreitkräften eine Führungsrolle.

Rabin blieb nicht lange Bataillonskommandeur. Allon, der viel auf Rabins militärisch-strategische Fähigkeiten und seine Kompetenzen als Ausbilder hielt, holte ihn ins Hauptquartier des Palmach, wo er ihn später zu seinem Stabsoffizier und Stellvertreter machte. Der erste Befehlshaber des Palmach war eigentlich der deutlich ältere Jitzchak Sadeh gewesen, eine beeindruckende Persönlichkeit mit Erfahrungen in der russischen Armee. Die politische Führung bevorzugte jedoch Allon als Befehlshaber des Palmach und degradierte Sadeh zum Feldkommandeur. Rabins wichtigste Aufgabe im Palmach-Hauptquartier zwischen Ende 1947 und Anfang 1948 bestand darin, die Konvois mit zivilen und militärischen Versorgungsgütern zu organisieren, die sich von der Küstenebene hinauf nach Jerusalem und in andere belagerte jüdische Zentren und Dörfer über die gewundenen Straßen der Berge von Judäa schlängelten. Dieser Aufgabenbereich blieb in Rabins Verantwortung, bis er später zum Kommandeur der Harel-Brigade des Palmach ernannt wurde. Die Konvois abzusichern, bedeutete nicht nur, sie zu verteidigen, sondern auch, nach Möglichkeit die Felder und Dörfer auf dem Weg nach Jerusalem einzunehmen. Mehrfach wurde Rabins Brigade auch nach Jerusalem geschickt, damit sie sich an den Kämpfen um die Stadt beteiligte.

Israels Unabhängigkeitskrieg war ein Wendepunkt in Rabins politischer Karriere und prägte sein Leben nachhaltig. Es war dieser Krieg, der ihn von einem Palmach-Offizier mittleren Rangs zu einem der bekanntesten Befehlshaber der Israelischen Verteidigungsstreitkräfte machte. Rabin war an einigen der schwierigsten und wichtigsten Feldzüge des Krieges beteiligt und ging reich an militärischer und politischer Erfahrung aus ihnen hervor. Die Kämpfe in Jerusalem selbst und besonders auf der Straße nach Jerusalem, wo seine Brigade schwere Verluste erlitt, hinterließen bei dem jungen Offizier einen tiefen und bleibenden Eindruck.

Der Unabhängigkeitskrieg dauerte über ein Jahr und war verlustreich. Der Jischuw verlor ein Prozent seiner Bevölkerung: 6000 Menschen von 600.000, und insbesondere zu Beginn des Frühjahrs 1948 schien es sogar, als würde die jüdische Seite den Krieg verlieren. Offiziell brach der Bürgerkrieg in Palästina nach der Proklamation des UN-Teilungsplans am 29. November 1947 aus, doch die gewaltsamen Auseinandersetzungen hatten schon früher begonnen. Die Phase des Krieges vor der Unabhängigkeitserklärung Israels, die zwischen jüdischen und arabischen paramilitärischen Truppen ausgetragen wurde, dauerte von November 1947 bis zum 15. Mai 1948. In dieser ersten Phase griffen palästinensische Milizen und arabische Freiwillige isolierte jüdische Siedlungen an und verübten aus dem Hinterhalt Angriffe auf jüdische Verkehrswege. Besondere Anstrengungen wurden darauf verwendet, den Zugang nach Jerusalem zu blockieren. Der UN-Teilungsplan hatte für Jerusalem eine internationale Verwaltung vorgesehen, aber beide Seiten verwandten viel Mühe darauf, sich die Kontrolle über die Stadt zu sichern. Völlig zu Recht gingen sie davon aus, dass der Schlüssel zur Zukunft des Landes in Jerusalem läge. Für die Palästinenser war es relativ einfach, die Straße nach Jerusalem zu blockieren, denn die Hügel über dem ausgetrockneten Flussbett, durch das die gewundene Straße führte, wurden von ihnen kontrolliert. Eine der größten Herausforderungen, mit denen sich die politische und militärische Führung des Jischuw konfrontiert sah, bestand darin, Verstärkung und Versorgungsgüter in die belagerte Stadt zu bekommen, und es war, wie schon erwähnt, Rabins Aufgabe, im Hauptquartier des Palmach die entsprechenden Konvois zu organisieren. Am 15. April 1948 wurde Rabin dann zum Kommandeur der neu aufgestellten Harel-Brigade ernannt (die allerdings keine vollständige Brigade war, da sie nur aus zwei statt aus drei Bataillonen bestand). Im Laufe der folgenden Monate waren Rabin und seine Männer in einige der heftigsten Schlachten des Krieges involviert.

Diese militärisch anspruchsvollen und riskanten Aufträge hatten viel mit der Besonderheit dieses Kriegs zu tun, allerdings ebenso mit den politischen Manövern innerhalb des Militärs. Eine nicht unwesentliche Herausforderung bestand nämlich darin, mit schwierigen Führungspersönlichkeiten und Querelen innerhalb und außerhalb der militärischen Ränge umzugehen. Bei diversen Gelegenheiten in diesen aufreibenden Wochen fragte sich Rabin, wie klug die Befehle eigentlich waren, die ihm erteilt wurden.

Einer der beiden Kommandeure in Rabins Batallion, Josef (Josef’le) Tabenkin – Sohn von Jitzchak Tabenkin, dem Leiter von HaKibbuz HaMeuchad und Achdut HaAvoda (einer der politischen Fraktionen der Arbeiterbewegung), der auch einer der Anführer der Kibbuz-Bewegung war – fühlte sich Rabin überlegen und weigerte sich, dessen Autorität anzuerkennen.[13]