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Florian Schubert

Antisemitismus
im
Fußball

Tradition und Tabubruch

 

 

 

 

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Gedruckt mit freundlicher Unterstützung

der Hans Böckler Stiftung,

der Stiftung Irene Bollag-Herzheimer

und der Stiftung Zeitlehren

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der

Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten

sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

 

 

 

© Wallstein Verlag, Göttingen 2019

www.wallstein-verlag.de

Umschlaggestaltung: Susanne Gerhards, Düsseldorf

Umschlagfoto: Gunnar Geertz

Lithografie: SchwabScantechnik, Göttingen

Zugl.: Berlin, Technische Universität, Diss., 2017, unter dem Titel »Antisemitismus im Fußball: Manifestation und Legitimation eines Tabubruchs«.

ISBN (Print) 978-3-8353-3420-5

ISBN (E-Book, pdf) 978-3-8353-4332-0

ISBN (E-Book, epub) 978-3-8353-4333-7

Inhalt

1. Einleitung

2. Fußball und Gesellschaft

2.1 Katharsis

2.2 Identitätsbildung und Vergemeinschaftung

2.3 Fußall als Ort für männliche Vergemeinschaftung

3. Antisemitismus in Deutschland: Forschungsstand

3.1 Definition von Antisemitismus

3.2 Kommunikationslatenz

3.3 Antisemitische Differenzkonstruktion

3.4 Intendierter – nicht intendierter Antisemitismus

3.5 Abwertung

3.6 Antisemitische Kommunikation unter Jugendlichen

4. Antisemitismus im Fußball: Forschungsstand

5. Methoden

5.1 Qualitative Sozialforschung

5.2 Transkription und Auswertung

6. Antisemitismus im Fußball: Historischer Überblick

6.1 Fußball und Antisemitismus in den 1980er Jahren in der Bundesrepublik

6.2 Antisemitismus im Fußball der DDR in den 1980er Jahren

6.3 Antisemitismus im Fußball der Bundesrepublik in den 1990er Jahren

6.4 Exkurs: Fanzines

6.5 Antisemitismus im Fußball der 2000er Jahre

6.6 Exkurs: Forendiskussion

7. Neonazis und Antisemitismus im Fußball

7.1 Fußballfans im Fokus von Neonazis

7.2 Weniger stark wahrnehmbar, nicht mehr präsent?

8. Ausdrucksformen von Antisemitismus im Fußball

8.1 Verbal artikulierter Antisemitismus

8.2 Visuell vermittelter Antisemitismus

8.3 Antisemitismus in Verbindung mit diskriminierenden Äußerungen

8.4 Antisemitismus gegen den politischen Gegner

8.5 Unterschiedliches Verhalten an verschiedenen Orten

8.6 Der antisemitische Bezug zum Nationalsozialismus

8.7 Der Verrat als antisemitische Konnotation im Fußball

9. Jüdische Vereine und Spieler in Deutschland

9.1 Jüdisch-israelische Spieler in den Bundesligen

9.2 Makkabi

9.3 Veränderungen im Antisemitismus gegen Makkabi

9.4 Spiele gegen Teams aus Israel

10. Umgang mit Antisemitismus im Fußball

10.1 Die Verbände

10.2 Der unterschiedliche Umgang von Vereinen mit Antisemitismus

10.3 Die Rolle der Schiedsrichter_innen

10.4 Polizei und Ordner

10.5 Fanprojekte

10.6 Umgang von Fans mit Antisemitismus

11. Legitimierung von Antisemitismus im Fußball

11.1 Antisemitismus als Tabubruch

11.2 Antisemitismus aus Vereins-Tradition

11.3 Antimoderne und struktureller Antisemitismus in Fußballfankulturen?

11.4 Alkoholkonsum als Begründung für antisemitisches Verhalten

11.5 Soziale Abgrenzung

12. Fazit

13. Literatur- und Quellenverzeichnis

13.1 Literatur

13.2 Internetdokumente

13.3 Satzungen / Verordnungen

13.4 Pressemitteilungen

13.5 Radiobeiträge

13.6 Videos

13.7 Archivgut

13.8 Selbsterhobenes Interviewmaterial

13.9 Periodika

Dank

Anmerkungen

1. Einleitung

Fußball ist ein gesellschaftliches und kulturelles Ereignis, ein Sport, der von Millionen Menschen in Deutschland gespielt und jedes Wochenende von noch mehr im Stadion oder am Bildschirm verfolgt wird. Das Stadion verkörpert für viele Menschen einen Ort, an dem sie ihren spontanen Gefühlserlebnissen freien Lauf lassen können.[1] Fußball dient aber auch der Produktion und der Inszenierung von Männlichkeit.[2] Im Stadion entstehen, in Abgrenzung zu gegnerischen Fangruppen,[3] für kurze Zeit (männliche) Vergemeinschaftungen[4] und identitätsstiftende Sinn- und Wertegemeinschaften.[5] Kennzeichen des modernen Fußballs ist eine Fan- und Kommunikationskultur der Provokation, Beschimpfung und Herabsetzung der zum Feind erklärten gegnerischen Fans.[6] Fans und Fangruppen grenzen sich systematisch, manifest oder latent, durch Abwertung und Diskriminierung von anderen, als fremd oder anders empfundenen Gruppen ab. Hier werden – bewusst und unbewusst – gesellschaftlich gesetzte Grenzen übertreten. Das Stadion nimmt somit eine Sonderstellung ein, denn hier scheint, in der Wahrnehmung der Fans, noch das erlaubt und möglich zu sein, was in der Gesellschaft nicht mehr akzeptiert, sondern sanktioniert würde.[7] Fußball ist ein Ort, an dem antimodernes Denken konserviert wird.[8] Dies zeigt sich in den hier präsentierten verschiedenen Diskriminierungsformen, besonders im Antisemitismus. Dass Zuschauer_innen beim Fußball ihren manifest oder latent vorhandenen rassistischen, sexistischen, nationalistischen und antisemitischen Haltungen und Überzeugungen freien Lauf lassen, diese Überzeugungen zum Bestandteil kommunikativer Aushandlungsprozesse machen und dies in ihren peer groups toleriert wird, ist ein von den Medien, Beobachter_innen, Wissenschaftler_innen und Fußballfans selbst häufig konstatiertes und kritisiertes Phänomen.[9]

Antisemitisch konnotierten Schmähungen fällt in der Fan- und Kommunikationskultur dabei eine besondere Rolle zu. Antisemitische Stereotype gelten im Fußball als eine der ältesten gebräuchlichen Formen, um gegnerische Spieler, Schiedsrichter, Mannschaften oder Fans zu diskreditieren, zu diskriminieren und zu beschimpfen.[10] Es werden dabei sowohl nichtjüdische Personen oder Gruppen als Juden beschimpft und über die Kategorie »Jude« abgewertet als auch Juden antisemitisch diskriminiert. David Jünger verweist in diesem Zusammenhang auf die historischen Kontinuitäten. So hätte sich das Bild vom Sportler in Deutschland von der Kaiserzeit bis zum Ende des Nationalsozialismus am Amateursportler orientiert. Sport wurde als Möglichkeit zur Charakterfestigung verstanden, die der Gemeinschaft dienen sollte, nicht zum bloßen Selbstzweck. Dieses Verständnis grenzte sich von einem modernen Sportverständnis ab, in dem es dem Westen ein materialistisches Verhältnis zum Sport vorwarf und unterstellte, der Sport solle helfen, die Bevölkerung gegen die Feinde Deutschlands fit zu machen. »Die Feinde Deutschlands waren in dieser Diktion neben verschiedenen Nationen vor allem der antinationale Kosmopolitismus, der raffende Kapitalismus: die Juden.« Der professionelle Sport widersprach damit dem Bild von einer Volksgemeinschaft, da er das individuelle Profitstreben über die Gemeinschaft stellte.[11] »Entsprechend […] war auch der Diskurs über den Berufssport antisemitisch konnotiert.«[12] Nach 1945 wurde die antisemitisch personifizierte Verknüpfung von Antiprofessionalismus und Kommerzialisierungskritik mit Juden tabuisiert.[13] Antisemitismus im Fußball war damit aber nicht verschwunden.

Die vorliegende Studie untersucht antisemitisch konnotierte Handlungen und Schmähungen, wie sie im Umfeld von Fußballspielen auftreten, und beschreibt, wo und wie Antisemitismus im Fußball auftaucht und wie antisemitisches Verhalten hier bewertet und eingeordnet wird. Das Phänomen und Themenfeld Antisemitismus und dessen Funktion im Fußballumfeld ist bisher keiner systematischen wissenschaftlichen Analyse unterzogen worden. Ziel der Untersuchung ist es, einen differenzierten Blick auf die antisemitischen Verhaltensweisen von Fußballfans, aber auch auf die von Spielern und Vereinsverantwortlichen, zu entwickeln.

Die Analyse von Antisemitismus im Fußballumfeld wird von der Beobachtung flankiert, dass antisemitische Einstellungen innerhalb der deutschen Bevölkerung nach wie vor verbreitet sind.[14] Neuere Studien, unter anderem Wilhelm Heitmeyers »Deutsche Zustände«, die »Mitte-Studien« der Friedrich-Ebert-Stiftung sowie der Bericht des Unabhängigen Expertenkreises Antisemitismus, gehen davon aus, dass bis zu 20 Prozent der Bevölkerung antisemitisch eingestellt sind.[15] Lars Rensmann verwies Mitte der 2000er Jahre sogar darauf, dass Antisemitismus bei den heranwachsenden Generationen erstmals wieder ansteige.[16] Und der Expertenkreis Antisemitismus fasste 2011 zusammen, dass es zwar in den Jahren 2004 bis 2006 einen deutlichen Rückgang antisemitischer Einstellungen gegeben habe, seit 2007 /2008 aber »wiederum ein Anstieg zu beobachten [ist], der allerdings bisher nicht das Niveau von 2002 erreicht hat«.[17]

Wenn heute in Wissenschaft und Medien über Antisemitismus gesprochen wird, steht oft die Frage im Vordergrund, ob Antisemitismus – zumindest unter Jugendlichen – zunehme, weil beispielsweise die Sensibilität in den jungen Generationen gegenüber dem Holocaust schwinden würde, und zusätzlich die damit zusammenhängende Frage, welches Wissen über den Holocaust bei jungen Menschen generell vorhanden ist.[18] Der Antisemitismus in der Alltagskommunikation von Jugendlichen ist jedoch, darauf weist Barbara Schäuble hin, kaum erforscht.[19] In noch größerem Maße trifft dies auf die antisemitische Kommunikation und das antisemitische Verhalten von Fußballfans, gleich welchen Alters, zu. Wenn überhaupt, hat sich die Forschung mit gewalttätigem Verhalten von Fußballfans auseinandergesetzt und hier vor allem rechte und neonazistische Verhaltensweisen thematisiert.[20] Insgesamt kann aber auch für diesen Bereich festgehalten werden, dass es kaum wissenschaftlich abgesicherte Daten über die Verbreitung von diskriminierenden und rechten oder neonazistischen Vorfällen und Verhaltensweisen gibt.[21] Auf der Grundlage des vorhandenen Datenmaterials wird in der Forschung einerseits vermutet, es gebe seit einigen Jahren einen Rückgang rassistischer und xenophober Vorfälle in den Stadien der Bundesliga,[22] andererseits wird aber auch darauf hingewiesen, dass sich die Formen der Diskriminierungen und die Orte ihrer Verlautbarungen verschoben haben: Weg von rassistischen Diskriminierungen, hin zu anderen, gesellschaftlich tolerierteren Diskriminierungsformen wie Homophobie und Sexismus, bei gleichzeitiger Verlagerung der nicht mehr akzeptierten Diskriminierungen, wie Rassismus und Antisemitismus, in die unteren Ligen.[23]

Aus den hier knapp umrissenen Problemlagen zu Antisemitismus in der deutschen Gesellschaft im Allgemeinen und im Fußball im Besonderen ergeben sich für die vorliegende Untersuchung folgende Schwerpunkte und Leitfragen: Unabdinglich für eine differenzierte Betrachtung von Antisemitismus im Fußball ist zunächst, die gesamte Bandbreite der antisemitischen Gebrauchsweisen im Fußballumfeld zu ermitteln und darzustellen, in welchen Situationen sowie in welchen Kontexten die Aussagen oder Handlungen getätigt werden. Eine solche Datengrundlage fehlt bisher. Um diese Lücke zu schließen, habe ich zum einen qualitative Experteninterviews geführt und zusätzlich bereits vorhandenes Interviewmaterial ausgewertet. Zum anderen habe ich wissenschaftliche Arbeiten und Texte ausgewertet, die Antisemitismus, Diskriminierung und Fanverhalten im Fußball behandeln und analysieren. Von diesem Datenmaterial ausgehend, sollen die soziokulturellen Fundamente, Begründungen, Deutungsmöglichkeiten, Motive und die Funktionalität von antisemitischer Kommunikation und Stereotypen als Mittel der Beschimpfungs- und Abwertungskultur von Fußballfans untersucht werden. Ferner soll gefragt werden, in welchem Zusammenhang antisemitische Verhaltensweisen – verbale und physische – im Fußball mit anderen Diskriminierungsformen in der fußballtypischen Kommunikation stehen.

Konkret soll folgenden Fragen nachgegangen werden: Wie findet Vergemeinschaftung mit Hilfe antisemitischer Abgrenzung statt und welche kollektiven Selbstbilder werden dafür unter Fußballfans konstruiert? Welche Eigenschaften und Verhaltensweisen werden den jeweiligen Gruppen zugeschrieben?[24] Welche Funktion hat die antisemitische Kommunikation im Fußball, wenn gegnerische Fangruppen, Spieler und Vereine mit der Zuschreibung »Jude« belegt werden, auch wenn sie keine Juden sind? Was macht die andere Fangruppe zur »Judengruppe«, was trennt die eigene Gruppe von der als »Judengruppe« bezeichneten? Des Weiteren soll ermittelt werden, wie das antisemitische Verhalten von Fußballanhängern eingeordnet werden kann. Gibt es eine Bedeutungsverschiebung im Sprachgebrauch beim Fußball hinsichtlich des Gebrauchs und der Bedeutung des Lexems »Jude«?[25] Ist eine Kommunikationslatenz auch im Fußball wirkmächtig gewesen? Übernimmt das Stadion hier eine Ventilfunktion oder kann es als Brennglas für gesellschaftliche Phänomene gesehen werden? Zusätzlich stellt sich die Frage, ob es hinsichtlich antisemitischer Verlautbarungen und Handlungen eine Schnittmenge und sich gegenseitig verstärkende Tendenzen zwischen den rechts[26] offenen und neonazistischen Fangruppen und den sich als unpolitisch bezeichnenden Fangruppen gibt. Welches sind hier mögliche Widersprüche oder Abgrenzungsformen?

2. Fußball und Gesellschaft

Fußball ist nach wie vor mit der Vorstellung verknüpft, es handle sich um einen Unterschichtensport. Tatsächlich hat es jedoch, insbesondere im Profibereich, während der letzten Jahrzehnte massive Veränderungen gegeben. Bis in die 1980er Jahre wurde Fußball in Deutschland von einem Publikum aus der Arbeiterschaft getragen.[1] Seit den 1990er Jahren hat sich Fußball, insbesondere der Profifußball, verändert. Fußball ist heute in viel stärkerem Maße kommerzialisiert, als dies noch in den 1980er Jahren der Fall war.[2] Er hat in Deutschland seitdem stark an gesellschaftlicher Akzeptanz gewonnen, und die Zusammensetzung der Zuschauer_innen sowie Fanszenen haben sich seit Mitte der 1990er Jahre stark verändert.[3] Merkmal dieser Entwicklung ist zunächst der massive Anstieg der Zuschauer_innenzahlen. In der Saison 2016 /17 verfolgten über 19 Millionen Zuschauer_innen die Spiele der ersten und zweiten Bundesliga live im Stadion.[4] Damit ist ein neuer Rekordwert erreicht worden. Die durchschnittliche Besucher_innenzahl in der ersten Liga lag zum zehnten Mal in Folge bei einem Wert von über 40.000 Gästen.[5] Der gestiegene Zuschauer_innenschnitt erstreckt sich auch auf die unteren Profiligen.[6]

Seit den 1990er Jahren werden durch die TV-rechtliche Vermarktung der Übertragungsrechte von Spielen jährlich große Geldsummen an die Bundesligavereine abgeführt. Im Zuge der größtmöglichen Vermarktung der Fußballspiele für Fernsehübertragungen wurde der Spieltag weiter gesplittet.[7] So wurde 1993 etwa vom Deutschen Sportfernsehen (DSF), das die Rechte an der zweiten Liga besaß, das »Montagabendspiel« eingeführt.[8] Zusätzlich kam, ab der Saison 2008 /09, mit der dritten Bundesliga eine weitere Profiliga hinzu. Erste Profiklubs veränderten ihre Vereinsstruktur, orientierten sich stärker an Unternehmensstrukturen und wurden zu Aktiengesellschaften. Der Verkauf und die Vermarktung der Teams und ihr Merchandising wurden massiv verstärkt; Profiklubs gleichen sich heute in ihrer Vereinsführung immer mehr großen Unternehmen an. In der Saison 2016 /2017 wurden im Profibereich der ersten beiden Bundesligen über vier Milliarden Euro umgesetzt[9] – die dreizehnte Umsatzsteigerung in Folge.[10] Um diesen Umsatz stetig zu steigern, sollte das Produkt und Ereignis Live-Fußballspiel gewinnbringender vermarktet werden. Ein Ziel von Fußballverbänden war und ist es, den Sport für breitere und vor allem auch finanzstärkere Bevölkerungsschichten zu öffnen. Dafür musste »der Fußball« von seinem gesellschaftlich negativ konnotierten Bild, insbesondere seiner Nähe zu Gewalt und Rassismus, befreit werden.[11] Denn erst damit schien es möglich, eine kontinuierlich steigende Profitrate aus dem Produkt Fußball zu erwirtschaften. Um dies zu erreichen, wurden im Zuge der Vorbereitung zur Weltmeisterschaft 2006 in Deutschland viele der alten maroden Stadien von Grund auf erneuert oder ersetzt.[12] Es wurden zahlreiche Vorkehrungen getroffen, um gewalttätige Auseinandersetzungen in den Stadien zu verhindern. Überwachungstechnologien (Crowd Control) haben seit den 1990er Jahren, durch die Nutzung durch die Polizei und die Installation durch die Vereine, vermehrt Einzug in die Stadien gehalten, die sich daraufhin, so Roman Horak, in Hochsicherheitstrakte und Orte der Kontrolle verwandelt hätten.[13] Georg Spitaler spricht gar vom »Testraum für neue Überwachungstechnologien«.[14] Vorläufiger Höhepunkt war die durch ein Papier der Deutschen Fußballliga (DFL) ausgelöste Debatte im Jahr 2012 um das »sichere Stadionerlebnis«.[15] Flankiert wurde diese Debatte durch eine auch von der Politik polarisierend geführte Diskussion um Gewalt in den Fußballstadien, die auf den Faktor »Angst« und die Gefahren beim Besuch von Fußballspielen setzte.[16]

Diese Kommerzialisierung und Umgestaltung des Profifußballs verlief nicht konfliktfrei.[17] Fans wurden nicht in die Planungen der Umgestaltung des Produkts Fußball einbezogen und hatten zum Teil andere Vorstellungen davon, was Fußball ist und sein soll.[18] Erst durch Initiativen aus den Fanszenen wurden einige Entwicklungen abgeschwächt oder verändert und die Fanszenen letztendlich stärker in Planungen einbezogen.[19] Aber auch heute noch wehren sich Teile der Fanszenen gegen die Kommerzialisierung, der sie die Schuld daran geben, dass sich das Verhältnis zwischen Fan auf der einen sowie dem Spieler und dem Verein auf der anderen Seite entfremde. Für den Fan werde durch die neueren Veränderungen das ursprüngliche Erlebnis Fußball beschnitten bzw. beseitigt.[20] Hier wird deutlich, dass das Produkt Profifußball in einem Spannungsverhältnis verschiedener Interessen steht.[21] Insgesamt kann festgehalten werden, dass Fußball seit den 1980er Jahren in der gesellschaftlichen Wahrnehmung stark an Bedeutung hinzugewonnen hat. Kaum ein Ereignis wird von mehr Menschen regelmäßig aufmerksam verfolgt[22] oder erfreut sich einer so großen Beliebtheit.[23] Profifußball hat sich zu einer der größten gesellschaftlichen Bühnen in Deutschland entwickelt.[24]

Dem gegenüber steht die Entwicklung im Amateurfußball. Die kommerziellen Entwicklungen haben den Amateurbereich kaum berührt, viele der Vereine kämpfen um ihr finanzielles Überleben. Wie Horak zeigt, hat sich, im Gegensatz zu den oberen Ligen, die Zusammensetzung der Anhänger_innenschaft im Amateurbereich in den letzten 20 bis 25 Jahren weniger stark verändert.[25] Eine Studie zum Zuschauer_innenverhalten beschreibt, wie sich rassistische und rechtsextreme Verhaltensweisen aus den oberen Ligen in die Amateurligen verlagert haben.[26] Die Gründe für diese Entwicklung werden von den Verfassern der Studie dem mangelnden Angebot pädagogischer Arbeit mit Fans, schwächeren Kontrollen durch Vereine und Polizei, dem geringeren Druck durch Medien und Öffentlichkeit, entsprechende Vorfälle an die Öffentlichkeit zu bringen, und einer unzureichenden finanziellen Ausstattung sowie mangelndem Engagement der Vereine zugeschrieben.[27] Ob die Verlagerung wirklich so stattgefunden hat, oder ob nicht eher mit der angenommenen Abnahme diskriminierender Verhaltensformen in den Bundesligen[28] die Sicht auf die Amateurligen frei geworden ist und Diskriminierungen dort seitdem stärker wahrgenommen werden, ist bisher nicht untersucht worden.[29]

Für das Thema Antisemitismus im Fußball sind die Unterschiede zwischen Amateur- und Profifußballligen und die kommerzielle Entwicklung der letzten Jahrzehnte von zentraler Bedeutung. Die Bedingungen für die Vereine und Zuschauer_innen in den Amateurligen unterscheiden sich sehr stark von denen der Bundesligen. Die finanziellen Möglichkeiten – zum Beispiel für die Fanbetreuung oder für Kampagnen gegen Antisemitismus – sind deutlich begrenzter als bei Profivereinen. Außerdem sind die mediale Präsenz und Aufmerksamkeit um einiges geringer als im Profifußball. Die Voraussetzungen für antisemitische Kommunikation und Handlungen gestalten sich vor diesem Hintergrund in den Amateur- und Profiligen unterschiedlich.

Was das Erlebnis Fußball ausmacht, ist umstritten. In der Literatur werden verschiedene soziologische Begriffe und Erklärungen genutzt, um Fußball und das, was im Fußball passiert, als ein besonderes bzw. spezielles außergesellschaftliches Ereignis innerhalb der Gesellschaft zu beschreiben. So könnten sich im Fußball »persönliche Ventile« öffnen,[30] eine »heiße Atmosphäre« erlebt[31] und der »emotionale Kick« erfahren werden.[32] Fußball biete eine »karnevaleske Sonderwelt«,[33] in der eine Rauscherfahrung erlebt werden könne.[34] Fußball habe außerdem die Funktion eines »Katalysators für Vergemeinschaftung«.[35] Er sei »Abbild«[36] oder »Spiegelbild«[37] der Gesellschaft, aber auch ein »Brennglas«,[38] in dem etwa »Antisemitismus und Sexismus […] wie durch eine Lupe an Schärfe gewinnen« könnten.[39] Fußball übernehme also die Rolle eines Seismographen für gesellschaftspolitische Entwicklungen.[40] Im Stadion begegneten wir damit ausschließlich Verhaltensweisen, die auch in der Gesellschaft im alltäglichen Leben so angetroffen werden könnten. Die fußballspezifischen Verhaltensweisen, vor allem die, die für Aufsehen sorgen, seien also gar nicht besonders, da sie ja genau so auch in der gesamten Gesellschaft praktiziert werden könnten. Dies nehme dem Fußball eigentlich seine Sonderrolle. Trotzdem sei das Fußballstadion als Raum markiert, »in dem andere Regeln gelten als in anderen gesellschaftlichen Sphären«.[41] Fußball ist also nicht nur Abbild der gesellschaftlichen Verhältnisse, wie Eva Kreisky zusammenfasst, »er erweist sich auch als höchst ausdrucksstarkes ›Realitätsmodell‹, ja als Seismograph gesellschaftlicher wie politischer Brüche und Transformationen«.[42] Passiert hier etwas, dann verweist dies auf ungelöste gesellschaftliche Probleme oder Problemfelder. Klaus Theweleit formuliert es noch weitgehender: »Regel: Wer mitbekommt, was sich im Fußball wann und wie verschiebt, ist über andere Gesellschaftsbereiche osmotisch informiert.«[43]

Ausgehend von Begriffen wie »Identität«,[44] »Vergemeinschaftung«,[45] »Katharsis«,[46] »Ehre« und »Männlichkeit«[47] versuchen soziologische Forschungen zu erklären, was das Besondere am Fußball im Vergleich zur Gesellschaft ist und warum diskriminierende Verhaltensweisen im Fußball verbreitet sind. Ich werde im Folgenden diese Begriffe vorstellen und im Hinblick auf ihre Brauchbarkeit für meine Analyse antisemitischer Verhaltensweisen im Fußballumfeld diskutieren.

2.1 Katharsis

Dass Fußball eine Ventilfunktion besitzt, soll immer wieder erklären, weshalb im Fußball Dinge geschehen und Handlungen vollzogen werden, die in der Gesellschaft so nicht geschehen würden.[48] Offene rassistische, nationalistische und antisemitische Verhaltensweisen seien gesellschaftlich nicht mehr akzeptiert, weshalb »Fußball (wie Sport überhaupt) zum nützlichen Surrogat« werde.[49] Gemeint sind damit aber auch weitergehende grenzüberschreitende Handlungen, wie exzessiver Alkoholgenuss, also Taten, »die dem reibungslosen Funktionieren im Alltag geopfert werden müssen«,[50] bei denen regelmäßig Grenzen des Normalen übertreten werden würden. Diese Handlungen könnten mit jedem Besuch eines Fußballspiels wiederholt werden und würden dabei helfen, das unbefriedigende[51] gesellschaftliche Leben zu ertragen: »Das ungelebte Leben sucht im Stadion einen Ersatz.«[52] Der Gang ins Stadion stelle demnach einen Reinigungsgang, eine Katharsis, dar,[53] bei dem jede und jeder Einzelne sich von den Strapazen, angestauten Frustrationen und anderen Widrigkeiten des gesellschaftlichen Lebens reinwaschen bzw. lösen oder befreien könne.[54] Da dies aber unzureichend, da nicht nachhaltig und nur temporär, geschehe, müsse das Stadion immer wieder aufs Neue aufgesucht werden.[55] Dembowski beschreibt die Funktion von Fußball als Ort des Abreagierens noch differenzierter:

»Die kontinuierliche Beschäftigung mit dem Fußballsport bietet seinen Fans Platz für Rituale des Abreagierens – sei es durch überhöhten Jubel und Enttäuschung oder Diskriminierung und Gewalt. Aber auch Humor und Witz, Ironie und Kreativität prägen das Bild der Fankulturen.«[56]

Es gebe aber auch Zuschauer_innen, die sich an diesen skizzierten Gefühlsäußerungen nicht beteiligen wollen und einfach nur zum Zuschauen ins Stadion gehen würden.[57] An diesem Punkt wird eine Dichotomie deutlich, nämlich die zwischen dem Katharsis suchenden Fan, dem im Zweifelsfalle alles recht ist, was seiner inneren Reinigung dient (wie beispielsweise antisemitische Schmähungen), und dem, der wegen des Zuschauens gekommen ist, sich lieber unterhalten lassen möchte und kein Bedürfnis danach hat, sich beim Fußballbesuch gehen zu lassen.

2.2 Identitätsbildung und Vergemeinschaftung

Im Fußball entstehen Gemeinschaften,[58] die von der räumlichen und kommunikativen Situation in den jeweiligen Stadionbereichen, in denen sich die Fans aufhalten, beeinflusst werden. Auch das Umfeld eines Vereins prägt seine Mitglieder und Fans. Insbesondere Jugendliche testen ihre Handlungsmöglichkeiten und handeln anhand der gemachten Erfahrungen Identitäten aus.[59] Junge Männer finden ein Feld vor, auf dem sie männlich konnotierte rituelle Verhaltensweisen einstudieren können.[60] Ebenso üben junge Frauen in eben dieser patriarchal geprägten Umgebung Verhaltensweisen ein, ihren Platz zu erkämpfen.[61] Mittels provokativer Inszenierung wird die Abgrenzung von der bürgerlich legitimen Kultur hergestellt und ein Wir-Gefühl befördert.[62] Es geht um die Herstellung eines gemeinschaftlichen »Wir« gegenüber den Anderen,[63] Inklusion und Exklusion werden verhandelt,[64] aber auch der Status in der eigenen Gruppe mittels der Diskriminierung von Gegnern gefestigt.[65]

Für meine Untersuchung ist der Zusammenhang von Antisemitismus und Identitätsbildung interessant. Werden gegnerische Fangruppen als »Judengruppe« bezeichnet, um die eigene Gruppenidentität zu stärken? Fußballfans, und vor allem Fangruppen, neigen dazu, sich einem höheren Ziel, dem Verein, unterzuordnen. Der einzelne Fußballfan kann in der Masse untergehen und persönliche Belange ausblenden. Dabei lösen sich politische und persönliche Differenzen auf.[66] Sozialer Stand und Klasse können zumindest temporär aufgehoben werden, was wiederum den Fußball zu einer politischen Größe werden lässt.[67]

Der Nexus von Fußball und Politik wird an einem Beispiel deutlich. Politiker bezeugen, vor allem dann, wenn sie zu einem Fußballspiel gehen, ihre Verbundenheit mit Fans.[68] Sie kokettieren damit, der gleichen Fußball-Familie anzugehören, ein Teil des proletarischen männlichen Kollektivs zu sein.[69] Und sie zehren von ihren vermeintlich gemeinsam geteilten Erfahrungen als Fans: geteiltes Leid, geteilte Freude. »Am sozialen Ort des Stadions könne selbst apolitischen Männern durch die Anwesenheit der politischen Repräsentanten Politik durch die Hintertür in Erinnerung gerufen und vermittelt werden.«[70] Die Herstellung von Verbundenheit wird angestrebt und an das Zusammengehörigkeitsgefühl appelliert. Dies sei insbesondere bei Spielen von Nationalmannschaften möglich.[71] Für Theweleit gehören Fußball und Politik unweigerlich zusammen, es lasse sich sogar von dem einen auf das andere schließen: »Wer bloß Fußball kennt, diesen aber sehr gut, wird auch in anderen Bereichen der Gesellschaft nicht orientierungslos dastehen.«[72] Nach Kreisky lassen sich die Gemeinsamkeiten von Fußball und Politik anhand einer Freund-Feind-Dichotomie ableiten, die beiden zu Grunde liege.[73] Es trete eine umfassende Vergemeinschaftung auf, die ein männliches Kollektiv, einen Männerbund entstehen lasse.[74] Dieser Männerbund zeichne sich darüber hinaus in einer deutlichen Abgrenzung nach außen aus. »Wir gegen die anderen.« Dabei würden soziale Unterschiede unter der männlichen Vergemeinschaftung und in der Abgrenzung gegen die ausgeschlossenen Anderen an Bedeutung verlieren.[75] Nach Sabine Behn und Victoria Schwenzer ist ein Merkmal der Fußballkultur die Konstruktion eines Anderen und die binäre Aufteilung der Welt.[76] Das Andere, von dem man sich abgrenzt, könne sich auf verschiedene Zuschreibungen beziehen. Entweder auf die Sexualität (Homophobie), das Geschlecht (Frauen)[77] oder auf lokale, regionale und nationale Zuschreibungen. »Wir gegen die da oben« ist eine weitere Zuschreibung. Auch die Verwendung antisemitischer Stereotype lässt sich hier einordnen. Deutlich ist, dass Fußball für die eigenen Zwecke von verschiedener Seite politisch aufgeladen wird. Zusätzlich lässt sich die im Fußball verbreitete Abgrenzung und Abwertung zum gegnerischen Verein besonders klar und einfach durch politische Abwertung aufbauen. Mit Hilfe antisemitischer Verhaltensweisen kann der Gegensatz zum abgelehnten gegnerischen Verein dabei besonders deutlich und intensiv herausgestellt werden.

Rivalität, Macht, Ehre: Der Konflikt zwischen Fangruppen

Neuere Forschungen haben herausgearbeitet, dass ritualisierte Rivalitäten,[78] die sich um Begriffe wie Macht und Ehre drehen, zentrale Kategorien sind, mit denen das Verhalten von Fußballfans analysiert und beschrieben werden kann. Hier wird die Meinung vertreten, man lebe als Fan für den Verein und die Fankultur und sei ständig für diese da.[79] Nur so könne man »echter Fan« werden. Peter Becker zeigt, dass es Begriffe wie Macht und Ehre sind, um die sich die Selbst- und Gruppenvergewisserung dreht.[80] Nur wer da mithalten könne, verdiene sich Achtung und Respekt, sei richtiger Fan.[81] Der Wertekodex werde in körperlichen und verbalen Angriffen verteidigt.[82] Die Auseinandersetzung werde immer wieder aufs Neue gesucht, bei einer Niederlage biete sich beim nächsten Aufeinandertreffen die Gelegenheit zur Rache und Revanche.[83] Letztendlich sei das Handeln vom Erwerb und der Verteidigung von Macht und Ehre bestimmt.[84] Durch die potentielle Unbeständigkeit von Macht und die Angreifbarkeit sowie die permanenten Möglichkeiten zur Kränkung der Ehre sehen sich das Individuum und die Gruppe samt Umfeld permanent im Zugzwang, ihre Ehre und Machtposition erneut herzustellen und zu bestätigen bzw. zu verteidigen.[85] Es entwickle sich ein Kreislauf oder Wettstreit,[86] in dem die Gruppe fast schon gezwungen sei, auf jede Provokation, Infragestellung oder Beleidigung adäquat, oder zumindest in gesteigerter Form, reagieren zu müssen.[87] Wenn nicht, laufe sie Gefahr, ihre Reputation zu verlieren.

Provokationen sind damit eine gezielte Infragestellung des von einer Fangruppe für sich adaptierten und in Anspruch genommenen Machtanspruchs. Wenn sich nun die angegriffene Fangruppe nicht adäquat verteidigt und den Angriff auf den eigenen Machtanspruch unwidersprochen hinnimmt bzw. sich nicht in der Lage sieht, ihn zu verteidigen, ist die Ehre der angegriffenen Fangemeinschaft in Frage gestellt und muss daher vor Untergrabung geschützt werden. Eine Provokation kann also nicht unbeantwortet bleiben: »Die Beantwortung der Provokation klärt die Macht- und Ehrfrage nicht endgültig, sondern im Gegenteil, sie wird als Gegenprovokation, die wiederum eine entsprechende Antwort erfordert, gedeutet. […] [Es] bleibt [also meist] immer noch eine Rechnung offen, bei deren Begleichung die Zinsen und Zinseszinsen mitverrechnet werden.«[88]

Es ist von immensem Vorteil für die Handlungsfähigkeit der Gruppe, wenn die Struktur homogen ist und die Trennlinien zum Gegner, aber auch zu anderen Fangruppen, eindeutig sind.

Dieses »In und Out«, die »Inklusion und Exklusion«, das dichotome »Freund- und Feindschema« ist eine wesentliche Grundvoraussetzung dafür, dass (männliche) Macht in der Kurve verteidigt, präsentiert und aufgebaut werden kann.[89] Frauen bzw. alles, was mit weiblich konnotiert wird, werden hierbei oftmals als störend empfunden.[90] »Die Stehkurven und das Stadionumfeld sind Reservate angehender Männer, deren Aktivitäten sich stets um die eng miteinander verknüpften Themen Macht und Ehre drehen.«[91] Im Umfeld eines am patriarchalen Ehrbegriff angelehnten Machtkampfes scheinen Frauen fehl am Platz zu sein. Insbesondere, wenn man sich vor Augen führt, welche Eigenschaften zur Verteidigung der Ehre und des Machtkampfs imaginiert werden: Mut, körperliche Wehrhaftigkeit, Kampfbereitschaft. Diese Attribute würden einem männlichen Rollenbild zugeschrieben, welches Frauen schon von Natur aus nicht mitbrächten:[92]

»Die grundsätzliche Ablehnung alles Weichen und Weiblichen bis hin zur Vernichtung dessen, was als unmännlich angesehen wird, verweist auf einen zentralen Aspekt des Bourdieuschen Konzepts der männlichen Herrschaft. Bourdieu arbeitet heraus, dass innerhalb der patriarchalen Gesellschaft Menschen von Ehre grundsätzlich nur Männer sein können, mit denen sich Männer messen können und müssen (Bourdieu 1997). Auf die Fußballkultur übertragen wird nachvollziehbar, warum der Rekurs auf die echte Männlichkeit identitätsstiftende Effekte bereithält. Das Messen mit den gegnerischen Fans funktioniert nur dann in einer für die Fußballfans befriedigenden Weise, wenn es sich auch um richtige Männer handelt. Die Herstellung richtiger Männer funktioniert innerhalb der herrschenden Geschlechterordnung über die zeitgleiche Konstruktion richtiger Weiblichkeit.«[93]

Der Konflikt um Macht und Ehre baut auf der patriarchalen Aufladung des Fußballs auf und verstärkt sowohl die Rivalität zum als auch die Ablehnung des gegnerischen Vereins. Und dies kann sich auch durch antisemitisches Verhalten im Fußball entladen.

2.3 Fußall als Ort für männliche Vergemeinschaftung

Dass Fußball eine ausgeprägte männliche Tradition hat, wird in sporthistorischen Forschungen immer wieder hervorgehoben. Als Argument dient hier der Verweis auf die enge Verbindung von Sport und militärischem Drill.[94] »Es ist kein Zufall, dass die Klassiker der Männlichkeitsforschung immer wieder auf die Bedeutung der im 19. Jahrhundert neuen körperlichen Praktiken des Sports für die Konstruktion moderner Männlichkeiten hingewiesen haben.«[95] Auf Fußball bezogen, vertritt Thorstein Veblen die Auffassung: »Er [der Fußball] soll nicht nur den Körper stählen, sondern angeblich auch einen männlichen Geist hervorbringen, und dies nicht nur beim Sportler selbst, sondern auch beim Zuschauer.«[96]

Das ursprüngliche Volksspiel Fußball entwickelte sich in der Industrialisierung des ausgehenden 19. Jahrhunderts zum Arbeitersport.[97] Zum Ersten Weltkrieg hin änderte sich, nach Kreisky, die soziale Zusammensetzung der Fußballspielenden und -zuschauer wieder. Zunehmend kamen alle sozialen Schichten der männlichen Bevölkerung ins Stadion. Das Spiel zog aufgrund seiner immer stärker werdenden Betonung des Kampfes vor allem Männer ins Stadion. Das Spiel und das dazugehörige Umfeld waren von nun an männlich.[98] Die Zusammensetzung der Fanszenen im Stadion beschrieb Horak schon in den 1990er Jahren für Österreich anhand dreier Kategorien von Stadionbesuchern: die urban-traditionale, die familial-kommunale sowie die medialisiert-modernisierte Figuration. Der urban-traditionale Typus sei meist bei Spielen des städtischen Amateurfußballs anzutreffen:

»Auffällig ist hier zu allererst der niedrige Anteil weiblicher Besucherinnen von nur 5 Prozent. Hier herrschte – noch? – das Regime reiner Männerkultur und zwar in einer lokal gebundenen Form. […] Der Bezirksverein erscheint so als Ort der Ausagierung lokaler männlicher Vorstadt-Identitäten.«[99]

Regionalität ist auch für die zweite Kategorie, die familial-kommunale Figuration, bezeichnend. Diese Figuration spiele vor allem auf den Spielplätzen des unterklassigen Fußballs im ländlichen Bereich eine Rolle:

»Anders als bei der urban-traditionellen Ausprägung vermittelt sich hier viel über ›kinship‹, also verwandtschaftliche Bindungen. Diese familiale Dimension offenbart sich auch durch den hohen Prozentsatz der weiblichen Besucherinnen (etwa 25 Prozent).«[100]

Hier wäre es interessant zu untersuchen, ob sich diese Zahlen auf Deutschland und andere fußballsoziologisch vergleichbare Länder übertragen lassen.

Die medialisiert-modernisierte Figuration wiederum entspricht der Veränderung in der Fanzusammensetzung, wie sie je nach Ort in unterschiedlicher Stärke und Geschwindigkeit seit etwa den 1990er Jahren zu beobachten ist.[101] Sie wird als Auftauchen von neuen Männlichkeitstypen und in der wahrnehmbaren Zunahme des Frauenanteils in den Stadien skizziert. Horak verortet diesen Typus vor allem auf der Ebene des professionellen Spitzenfußballs,[102] der in den jeweiligen Bundesligen gespielt wird. Dort gebe es, im Gegensatz zu den 1990er Jahren, wo sich »die Anwesenheit von Frauen in den Stadien der europäischen Erstdivisionäre […] auf einen durchschnittlichen Anteil von selten mehr als 12 und maximal 15 Prozent«[103] beschränkte, einen deutlichen Anstieg von Frauen als Zuschauerinnen in den Stadien. Diese Zunahme sei dabei nicht gleichmäßig im Stadion verteilt, sondern vollziehe sich insbesondere auf den Stehplatztribünen, wo Horak Zahlen von bis zu 39 Prozent ermittelt hat.[104] Almut Sülzle merkt an, dass auch die Anwesenheit von Frauen in großer Zahl nicht zur Abname der männlichen Grammatik führe.[105] Sie verweist vielmehr darauf, dass »der männliche Raum der Fankultur«,[106] trotz des für Stadionverhältnisse gar nicht so geringen Frauenanteils unter den Besucher_innen, weiter intakt bleibe und von Männern und Frauen gemeinsam hergestellt werde.[107]

Damit lässt sich erklären, warum der Fokus in der Forschung der letzten Jahre, trotz der Veränderungen in der Zusammensetzung in der Zuschauer_innenschaft, zur Erklärung und Analyse von Fanverhalten, weiterhin stark der Frage nach Konzepten von Männlichkeiten bzw. Konstruktionen von Männlichkeiten nachgeht.[108] Fußball gilt hier als einer der Orte in der Gesellschaft, an dem ein überholtes Bild von Männlichkeit konstruiert werden könne: »Um sich der Männlichkeit immer wieder zu vergewissern, bedarf es männlicher Räume (Bourdieu 1997). Das Fußballstadion ist ein solcher Ort: Hier wird der männliche Habitus konstruiert und vollendet.«[109] Fußball wird als männlicher Raum[110] beschrieben, als Ort männlicher Sozialisation. Die Fankultur folge einer männlichen Grammatik, die frauenfeindlich sei.[111] Hier würden männlich konnotierte Verhaltensformen eingeübt und verfestigt, weitertransportiert und verstärkt ins individuelle Selbstbild eingebaut. Fußball als Spektakel sei von Männern für Männer ausgerichtet,[112] eines der letzten Reservate verlässlicher Männlichkeit.[113] Im Fußball gebe es zuweilen noch die Möglichkeit, fern seines Lebens-, Liebes- und Arbeitsalltags männliche Identitäten zu zelebrieren, zu kultivieren und zu bestätigen. Fußball biete damit die Möglichkeit der (Re-)Konstruktion von Männlichkeit.[114] Das heißt jedoch nicht, dass dies überall und zu jeder Zeit möglich sei. Archaische Männlichkeitsbilder sind im Fußball nicht unhinterfragt und überall gültig, aber sie könnten in einer Hyper-Macho-Inszenierung zelebriert werden.[115]

Georg Spitaler geht davon aus, dass die im Fußball verbindenden Erfahrungswelten an die Gemeinschaftserfahrungen von klassischen Männerbünden erinnern. Das Fußballstadion und die Fußballräume (gemeint sind damit zum Beispiel Kneipen, in denen Fußballspiele im Fernsehen gemeinschaftlich verfolgt werden) werden hier auch als letzte Reservate jenseits von bürgerlicher Familie und Ehe beschrieben, wo Emotionen, seien sie nun positiv oder negativ, zugelassen, ja sogar erwünscht sind. Es könnten gemeinsame Emotionen sowie eine Körperlichkeit ausgelebt werden, die in der Öffentlichkeit einem Tabu unterlägen.[116] Im Fußball würden sich Männer mit anderen Männern zu Männergruppen zusammenschließen, um sich gegenseitig zu stärken. Dadurch würden männliche Lebenswelten und »der gewalttätige, hypermaskuline Habitus vieler Fußballfans«[117] als normales Verhalten und als vorherrschend wahrgenommen. Becker spricht von einer »Macho-Kultur«.[118] Dem folge ein Ausschluss von Frauen und damit auch ihrer Erfahrungen und Lebensrealitäten. Nach Sülzle gebe es hier eine männliche Vergemeinschaftung,[119] in der Männer männlichen Habitus spielerisch erlernen würden.[120] Laut Michael Klein wiederum geht es im Rahmen der männlichen Inszenierung im Stadion vor allem um Machtkonkurrenz. Insbesondere junge Männer würden diese Konkurrenz einstudieren, die in ihrer Identitätsentwicklung eine herausgehobene Funktion einnehme.[121] Auch nach Kreisky würden Fanszenen zu vergemeinschafteten männlichen Kollektiven, die ihre Abgrenzung zum Gegner körperlich sowie durch Kleidung samt Symbolen darstellen.[122] Michael Meuser erweitert dies auf das Fußballspiel, das neben dem »Geschehen auf den Rängen, ein ernstes Spiel ist, in dem Männlichkeit her- und dargestellt und ein Grundmuster männlicher Vergemeinschaftung eingeübt wird.«[123] Die Auseinandersetzung mit dem Gegner, sei sie nun lokal, regional oder international, orientiere sich dabei an kriegerischen Vorlagen. Namen wie »Brigade« oder »Legion« von Fangruppen verdeutlichten dieses Selbstbild. Die Verherrlichung des Kollektivs ziele dabei auf abstrakte Gebilde wie Verein, Nation und ein ominöses männliches Wir.[124]

Kreisky sieht einen weiteren Grund für die Männlichkeitskonstruktionen innerhalb von Fußballfanszenen in der seit Jahrzehnten starken symbolischen Koppelung der örtlichen Fanszenen an die jeweilige Arbeiterklasse.[125] In dieser habe es inzwischen aber durch die Veränderungen und Verschiebungen in der Arbeitswelt gravierende Veränderungen in Größe, Anzahl und gesellschaftlicher Präsenz und, damit einhergehend, Veränderungen in der Selbst-, Fremd- und Außenwahrnehmung gegeben. Nachgefragt würden mittlerweile andere Typen von männlichen Arbeitern. Die Gesellschaft habe sich weiterentwickelt und biete heute eine Vielzahl von (aus-)differenzierten Männlichkeitsbildern an. Diese Vielfalt und Komplexität werde als Bedrohung für den eigenen sozialen Status gesehen, weshalb man sich von ihnen abgrenze.[126] Dieses Abgrenzungsbedürfnis kann sich in diskriminierendem Verhalten äußern:

»Einerseits ›wir‹, die ›wirklichen Männer‹, andererseits ›sie‹ (die Spieler der gegnerischen Mannschaft, der Schiedsrichter, die Journalisten der Hauptstadt, die immer gegen uns sind), die als ›unmännlich‹ geschmäht werden, als Homosexuelle in der passiven Rolle, als betrogene Ehemänner, unterwürfige Schwächlinge, Spätentwickler, Söhne, die die Ehre ihrer Mutter nicht verteidigen können.«[127]

Die Auseinandersetzung sei sexualisiert und ziele darauf ab, das Gegenüber symbolisch zu marginalisieren.[128] Die Schmähungen hätten zum Ziel, dem Gegner den Status als Mann abzuerkennen und bedürften keines besonderen Anlasses.[129] Im Umfeld von Fußball würden so Diskriminierungsformen gelebt, zelebriert und präsentiert. Laut Becker, der sich wiederum auf Thomas Gehrmann bezieht, werde z. B. auch »Jude« mit Unmännlichkeit assoziiert.[130] Die Ablehnung wird nicht nur verbal geäußert, sondern ebenso in physische Angriffe umgesetzt. Das Stadion als Raum bietet hervorragende Voraussetzungen für die Auseinandersetzung. Die auch räumlich vorgenommene Segregation in Heim- und Auswärtsfans zwingt dem Besucher des Stadions förmlich die Kategorisierung in Wir und die Anderen bzw. in Freund und Feind auf. Eine Niederlage der Mannschaft auf dem Spielfeld kann wiederum durch den Sieg der Fans auf körperlicher Ebene gemindert bzw. aufgehoben werden:

»Den erklärten Feinden die Vereinsembleme, Fahnen, Kutten oder Schals wegnehmen sind unmittelbare Anlässe – die Niederlage auf dem Spielfeld, Fouls mit Verletzungsfolge, unterstellte Benachteiligungen durch den Schiedsrichter, eine noch ›offene Rechnung‹ vom letzten [Aufeinander-]Treffen hingegen sind mittelbare Anlässe bzw. Herausforderungen, die den Provozierten in Handlungszwang bringen, will er nicht symbolisches Kapital und konkrete Machtposition einbüßen. Das überindividuelle Zwangssystem der männlichen Fanehre läßt hier keine Entscheidungsoffenheit, es sei denn, man akzeptiert die öffentliche Bloßstellung und dem damit verbundenen Status des ›Lutschers‹ oder des ›Kuttenkindes‹.«[131]

Neben der beschriebenen patriarchalen Aufladung des Fußballs und dem Kampf um Macht und Ehre steigert die männliche Vergemeinschaftung, in der abwertenden und diskriminierenden Abgrenzung zu dem Anderen, die Konstruktion eines männlichen Wir im Fußball. Es herrscht das Bild vor, soziale Klassen würden mit dem Eintritt ins Stadion oder den Verein an Gültigkeit verlieren bzw. ihre Wirkmächtigkeit für die Zeit des Spiels einbüßen.[132] Über allem schwebt, nach Kreisky, eine vergemeinschaftende Männlichkeitsideologie.[133] Dieses männlich-romantisierte Bild vom »sozialen Ort Stadion«[134] könne durch die Veränderungen in der Zusammensetzung der Fanszene bedroht sein.[135] Das Stadion wird demgegenüber als Reservat für Männlichkeit beschrieben, als ein letztes Refugium mit Modernisierungsrückstand, in dem die Dekonstruktion von echter Männlichkeit noch nicht um sich gegriffen habe.[136] Nach Kreisky verändert sich die Zusammensetzung der Zuschauer_innen in dem Maße, wie sich auch Männlichkeitsbilder in der Gesellschaft verändern: »Kraftstrotzende Männer werden in der neoliberalen Arbeitswelt immer seltener gebraucht, statt ihrer sind in der neuen agonalen Berufswelt smarte und clevere, in Fitness-Studios gestylte Finanz- und Business-Männer gefragt. Sport erzeugt jene Körper und Mentalitäten, die in dieser schönen neuen Berufswelt als unerlässliche Qualifikation eingefordert werden.«[137] Die hegemoniale Männlichkeit der Arbeitswelt[138][139][140]