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Sergio Raimondi

 

Probleme beim Schreiben
   einer Ode an den
      Pazifischen Ozean

 

Aus dem Spanischen von Timo Berger

 

Problemas de escribir
   una oda al
      océano Pacífico

 

BERLINER REDE
ZUR POESIE 2019

 

Wallstein Verlag

 

Herausgegeben von

Matthias Kniep und

Thomas Wohlfahrt

 

 

Die Berliner Rede zur Poesie wurde am 16. 6. 2019 im Rahmen des 20. poesiefestival berlin gehalten, veranstaltet vom Haus für Poesie.

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Kunyu Wanguo Quantu, japanische Fassung aus der Kano-Sammlung der Universtitätsbibliothek Tōhoku

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

 

© Wallstein Verlag, Göttingen 2019

www.wallstein-verlag.de

Einbandkonzept: studio stg, Berlin

 

ISBN (Print) 978-3-8353-3446-5

ISBN (E-Book, pdf) 978-3-8353-4356-6

ISBN (E-Book, epub) 978-3-8353-4357-3

Inhalt

Probleme beim Schreiben einer Ode an den Pazifischen Ozean

Problemas de escribir una oda al océano Pacífico

Kurzbiografien

Anmerkungen

 

 

 

 

Auf einer Weltkarte an der Wand lassen sich die DART-Bojen lokalisieren, die die Pegelveränderungen durch einen vorbeirasenden Tsunami übermitteln, das Midway-Atoll, wo die Laysanalbatrosse brüten, und sogar die Route eines Containerschiffs vom zentralen Osten des asiatischen Kontinents in den Nordwesten des amerikanischen Kontinents oder umgekehrt. Den eigentlichen Ozean zu lokalisieren, fällt schwerer, denn alle bekannten Darstellungen zeigen ihn in zwei Hälften geteilt und an die Ränder dieser vollkommen rechteckigen Welt verbannt. Wie kann man ihn in seiner Gesamtheit erfassen? Vielleicht ist eine Überprüfung der Instrumente angebracht, die wir benutzen, um etwas auf planetarer Ebene zu betrachten: Ein Globus böte sich möglicherweise an. Dreht man ihn nur ein wenig, erscheint eine riesige Ausdehnung; die Erde ist auf einmal vollständig von Wasser bedeckt, als verfügte sie bereits über ein Bild für eine kommende Zeit. Weltkarte und Globus haben den Vorteil, dass sie auf die Geschichte der Moderne verweisen und damit jeglicher Effekt von Unmittelbarkeit vermieden wird; doch die beiden Gegenstände werden heutzutage nicht mehr gebraucht. Man kann einfach Google Earth starten, einen im Raum schwebenden Kreis vorfinden, der Teil des Sonnensystems in einer von sehr vielen Galaxien ist, und ihn mit dem Cursor bewegen, um sich dem Ozean so lange zu nähern, bis man den Meeresboden sieht, mit der Andesitlinie und den vulkanischen Bergen unter der Wasseroberfläche, den zahlreichen Inseln, die hier und dort auftauchen, und dem Feuerring, dieses Band beständiger und faktisch nie völlig vorhersehbarer seismischer Aktivitäten; tektonische Platten, die an die Entstehung und den Zerfall eines Riesenkontinents erinnern, der einst von einer unterschiedslosen flüssigen Fläche umgeben war.

 

Man sollte diese Weltkarte aber nicht voreilig verwerfen, die den Atlantik als senkrechte, den Blick ordnende Achse darstellt, mit dem Mittelmeer auf der rechten Seite als Verbreitungszentrum. Genau dort auf jener Achse ist ein westliches Narrativ verortet, das sich in zwei Schritten erzählen lässt; in zwei Schritten und drei Volumen Wasser: vom Mittelmeer zum Atlantik und vom Atlantik zum Pazifik. So einfach? Die Bewegung ist linear und eindeutig, aber sie bietet eine Chance: schnell die longue durée des Kapitalismus zu erahnen. Sehen Sie; wenn man den Finger hier und da aufstützt, kann man den genuesischen Zyklus mit seiner Bewegung nach Amerika aufzeigen, den niederländischen Zyklus mit der Gründung der ersten Wertpapierbörse in Amsterdam und Unternehmen wie der Ostindien-Kompanie, den britischen Zyklus mit London als Finanzzentrum und der Produktion von Eisen und Maschinen nach der Industriellen Revolution und schließlich den – zumindest bis jetzt andauernden – nordamerikanischen Zyklus, der sich nach dem Zweiten Weltkrieg mit einem militärisch-industriellen Komplex von bis dahin unbekannten Ausmaßen konsolidierte. Das ist es: mehr als fünf Jahrhunderte in einem Satz. In jeder Bewegung stecken Akkumulationen, Expansionen, die Vergrößerung des Finanzkreislaufs und Kämpfe um eine neue Vorherrschaft. In jedem Zyklus kommt es zu Spannungen, Störungen und Irrwegen. Aber alle erzählen eine schrittweise und fortgesetzte Eroberung: von Rohstoffen, Territorien, Sprachen, Kulturen, Vorstellungswelten und sogar von Episoden im tiefsten Schlaf. Sie erzählen außerdem, wie die Volumen der Meere und der Ozeane durch eine immer größere Zahl von Seewegen miteinander verbunden wurden.

 

Befindet sich die Poesie – glücklicherweise von all dem unberührt – am Rand dieser Geschichte? Oder geht es in jedem Fall darum, zu sehen, wie sich Produktionsprozesse – gleichwohl ihre spezifischen Unterschiede berücksichtigend – mit den unterschiedlichen Arten des Gedichtaufbaus verwoben sind, Primärrohstoffe mit Analogien, die großen Arbeiterstreiks mit einem Enjambement und die Erkundung der Meere und Ozeane mit der Entdeckung eines Rhythmus? Einmal hatte ich einen Traum. Eine Grafik mit den Wirtschaftszyklen von der Industriellen Revolution bis zur Gegenwart erschien mir mit ihren Phasen des Aufkommens, Wachsens und Schrumpfens. In einer merkwürdigen Abfolge zogen die Hauptrohstoffe an mir vorbei: zuerst Baumwolle, dann Kohle, dann Stahl, Erdöl und schließlich Silizium. Ich sah die Veränderungen an den Maschinen und an den Motoren dieser Maschinen. Und ich sah, wie zeitgleich mit diesen Bildern Wörter auftauchten, oder Syntagmen, oder … Doch erst als ich »›Beauty is truth, truth beauty.‹ – that is all«[1] sah, bemerkte ich, dass es sich um Verse handelte. Jener jambische Fünfheber von John Keats drehte sich und entfernte sich von der Drehung der Spindel einer Spinnmaschine, ein weiterer von William Carlos Williams wurde danach Silbe für Silbe auf einem Fließband montiert, das nicht richtig funktionierte, und am Ende tauchte eine Welle auf. Sie schwoll immer mehr an und hielt in der Höhe inne, kurz davor, über mich hereinzubrechen: Sie war ganz aus Sprache gemacht! Da wachte ich auf. Es war so, als ob die Produktionsprozesse alles überdecken würden und die Sprache heute selbst die vorrangige Materie wäre. Ich glaube, es gelang mir erst, mich zu beruhigen, als mir einige Tage später auffiel, dass die Welle aus Versen von Ashbery bestanden hatte. Eigentlich beruhigte mich die Erinnerung an einen Vers im Besonderen; er lautete: »One idea is enough to organize a life and project it«.[2]

 

Beim Schreiben einer Ode an den Pazifischen Ozean würde eine Bibliothek wenig weiterhelfen, in der Gedichtbände und Bücher über Geschichte, Philosophie, Linguistik oder Ökonomie voneinander getrennt stünden; vielmehr wären eklektische Regale notwendig, in denen die Divina Commedia an Il lungo XX secolo von Giovanni Arrighi lehnen würde, in denen der kurze Band, in dem Marx sich fragt: »Wo bleibt […] Jupiter gegen den Blitzableiter […]?«[3] neben Trasumanare e organizzare von Pasolini stünde, ein Essay von Ezequiel Martínez Estrada über das Leben in der argentinischen Pampa neben The Cantos von Ezra Pound, Ernest Mandel / Marianne Moore, Fredric Jameson / José Carlos Mariátegui, Pedro Henríquez Ureña und die ersten Seiten von Michel Foucaults L’Archéologie du savoir, Erich Auerbach in der Nähe von Kondratjew, E. P. Thompson und Leónidas Lamborghini, Gramsci und Escrito en Cuba