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DAVIDE ENIA

SCHIFFBRUCH
vor
LAMPEDUSA

 

 

Aus dem Italienischen von
Susanne Van Volxem und
Olaf Matthias Roth

 

Mit einem Nachwort von
Albert Ostermaier

 

 

 

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Die Übersetzung dieses Buches ist dank einer Förderung des italienischen Ministeriums für auswärtige Angelegenheiten und internationale Kooperation entstanden.

 

Questo libro è stato tradotto grazie ad un contributo del Ministero degli Affari Esteri e della Cooperazione Internazionale Italiano.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Bibliografische Information der

Deutschen Nationalbibliothek

 

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese

Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;

detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über

http://dnb.d-nb.de abrufbar.

 

© Wallstein Verlag, Göttingen 2019

www.wallstein-verlag.de

Umschlaggestaltung: Stine Wiemann

ISBN (Print) 978-3-8353-3438-0

ISBN (E-Book, pdf) 978-3-8353-4344-3

ISBN (E-Book, epub) 978-3-8353-4345-0

Inhalt

Schiffbruch vor Lampedusa

Am Ende Licht. Ein Nachwort von Albert Ostermaier

Auf Lampedusa sagte ein Fischer zu mir:

»Weißt du, was für Fische wir hier neuerdings wieder haben? Seebarsche.« Er zündete sich eine Zigarette an und verfiel in ein tiefes Schweigen. »Und weißt du, warum die Seebarsche zurückgekommen sind? Weißt du, wovon sie sich ernähren? Genau.«

Er drückte seine Zigarette aus und ging.

Es gab nichts, aber auch wirklich nichts hinzuzufügen.

Von Lampedusa sind mir die Schwielen an den Händen der Fischer in Erinnerung geblieben, ihre Berichte von den Toten, die sie bei jeder Fahrt aufs Meer hinaus mit dem Netz aus dem Wasser zogen – »Was soll das heißen: ›bei jeder Fahrt‹?« – »Bist wohl schwer von Begriff, was? Bei jeder Fahrt eben« –, ein paar rostige Kutter in der Sonne, vielleicht die letzten Zeugen jener historischen Ereignisse – Rost, Staub, Korrosion –, die Zweifel der Inselbewohner über den Sinn des Ganzen und das Wort »Anlandung«, das schon seit Jahren falsch verwendet wird, denn mittlerweile waren es regelrechte Bergungsmanöver, wenn die Boote in den Hafen geschleppt und die armen Teufel ins Aufnahmelager gebracht wurden und die Lampeduser ihnen ihre abgelegten Kleider überließen, als Akt der Barmherzigkeit, ohne viel Aufhebens, denn schließlich war es kalt und die Leute brauchten etwas Warmes zum Anziehen.

 

Es war so nebelig, dass man kaum etwas sehen konnte.

Die Horizontlinie zitterte.

Zum x-ten Mal staunte ich darüber, wie sehr Lampedusa seinen verunsicherten Gästen ihre Fremdheit vor Augen führen kann. Der Himmel so nah, dass er jeden Moment über dir einzustürzen scheint. Das Heulen des Windes an jeder Ecke. Allzeit blendendes Licht. Und überall das Meer, das unausweichliche, Quell der Freude und des Leids. Auf dieser Insel bist du ständig den vier Elementen ausgesetzt, nichts schützt dich davor. Es gibt keinen Zufluchtsort. Die Natur überwältigt dich, Licht und Wind dringen vor bis in dein Innerstes. Die absolute Wehrlosigkeit.

Es war ein sehr langer Tag.

Ich hörte meinen Vater rufen, während der Scirocco meine Gedanken durcheinanderwirbelte.

 

Ich hatte mich mit dem Taucher in der Wohnung eines Freundes verabredet.

Nur wir beide.

Der erste Eindruck: Was für ein Riese!

Zur Begrüßung sagte er:

»Keine Tonaufzeichnungen!«

Er hatte sich ans gegenüberliegende Tischende gesetzt, die Arme vor der Brust verschränkt.

Die ganze Zeit über blieb er in dieser Haltung sitzen.

»Über den 3. Oktober sage ich kein einziges Wort mehr«, fügte er hinzu.

Sein harscher Tonfall ließ keinen Platz für Fragen.

Die Stimme selbst war leise und unaufgeregt und bildete einen starken Kontrast zu seiner imposanten Statur. Manchmal schlichen sich in seinen Bericht, der vom Dialekt seiner Heimat gefärbt war – er stammte aus einem Bergdorf im Norden, wo man vom Meer lediglich den Hauch einer Ahnung hat –, Einsprengsel aus dem Sizilianischen ein, meinem Dialekt. Die zehn Jahre, die er aus beruflichen Gründen in Sizilien verbracht hatte, waren nicht ohne Spuren an ihm vorübergegangen. Für einen Moment bemächtigte sich die Sprache des Südens seines massigen Körpers und beherrschte ihn. Dann erschöpften sich seine Worte, und er starrte mich schweigend an, mit dem ganzen majestätischen Gestus der Alpen.

Er war eher durch Zufall Rettungstaucher geworden, ein Jobangebot, das ihm gleich nach dem Militärdienst zugeflogen war.

»Wir Rettungstaucher sind an den Tod gewöhnt. Von Anfang an wirst du damit konfrontiert, wie mit einer Tatsache. Am ersten Tag schon trichtern sie dir ein: ›Im Meer wird gestorben.‹ Und das stimmt. Ein Fehler beim Tauchen, egal wie winzig, und du bist tot. Und wenn du zu viel von dir verlangst, bist du auch tot. Der Tod ist dein ständiger Begleiter unter Wasser.«

Er war als Rescue Diver nach Lampedusa gekommen, als einer von denen, die sich bei Rettungseinsätzen in ihren orangefarbenen Taucheranzug zwängen und ins Meer stürzen.

Er beschrieb mir die Taucherausbildung, ihre Härte und Brutalität. Besonders ausführlich widmete er sich der rätselhaften Schönheit am Meeresgrund, wo kein Licht hin dringt und alles dunkel ist und still. Seit seiner Ankunft auf der Insel absolvierte er ein spezielles Trainingsprogramm, um für seine neue Aufgabe gewappnet zu sein.

Er sagte:

»Ich bin kein Linker, im Gegenteil, ich bin von der anderen Seite.«

Seine Familie, die erst der Monarchie nahestand, war später zu den Faschisten übergewechselt. Auch er fühlte sich dieser Ideologie verbunden.

Er fügte hinzu:

»Hier retten wir Leben. Auf See ist jedes Leben heilig. Wenn jemand Hilfe braucht, retten wir ihn. Hautfarbe, Rasse, Religion – völlig egal. Das ist das Gesetz des Meeres.«

Plötzlich fixierte er mich wieder mit seinem Blick.

Er war auch im Sitzen ein Riese.

»Und wenn du mitten auf dem Meer ein Kind rettest und es in deinen Armen hältst …«

Er fing an zu weinen, lautlos.

Seine Arme blieben über der Brust verschränkt.

Ich fragte mich, was er gesehen haben musste, was er erlebt hatte, mit wie viel Sterben dieser Riese vor mir konfrontiert worden war.

Nach einem langen Moment des Schweigens kehrten die Worte ins Zimmer zurück. Er sagte, diese Leute hätten ihr Land nicht verlassen sollen. Und dass die Flüchtlingspolitik in Italien ein Desaster sei, nichts als Missmanagement und Geldverschwendung. Dann kam er noch einmal auf seine anfänglichen Worte zurück:

»Auf See gibt es kein Abwägen von Alternativen, jedes Leben ist heilig. Und wer Hilfe braucht, dem wird geholfen. Basta.«

Dieser Satz war mehr als ein Mantra. Es war die reine Hingabe.

Die Worte kamen ihm nur langsam über die Lippen, als bewegten sie sich entlang eines Steilhangs in den Alpen.

»Je näher du den Booten kommst, umso gefährlicher wird es. Man muss höllisch aufpassen, dass man nicht plötzlich zwischendrin ist. Bei hohem Seegang passieren schnell Zusammenstöße – und zack! wirst du zerquetscht. Ein einziges Mal, bei Windstärke acht, habe ich wirklich mein Leben riskiert: Ich war im Wasser, hinter mir ein vollbesetztes Schlauchboot und vor mir unser Patrouillenboot, das von einer sieben Meter hohen Welle genau auf mich zu getrieben wurde. Mit einer Art Fallrückzieher, den nicht mal ich selbst mir zugetraut hätte, habe ich mich zur Seite geworfen. Die beiden Boote sind voll aufeinandergeprallt. Prompt gingen ein paar Leute über Bord, und ich bin natürlich sofort losgeschwommen, um sie zu retten. Später, als ich wieder an Land war, hatte ich immer noch das Patrouillenboot vor Augen, das genau auf mich zuraste. Ich bin minutenlang am Anleger sitzen geblieben, alleine, um damit klarzukommen, dass ich dem Tod in letzter Sekunde von der Schippe gesprungen bin.«

Er erklärte mir, dass die Einsatzkräfte bei jedem eingehenden Notruf eine andere Situation auf See vorfinden.

»Manchmal läuft alles total glatt, die Schiffbrüchigen verhalten sich ruhig, das Meer auch, und innerhalb von kürzester Zeit können wir sie an Bord holen. Manchmal sind sie aber so panisch und hibbelig, dass der Rettungskreuzer kurz vorm Kentern ist. Wir müssen dann erst mal alles daran setzen, sie zu beruhigen. Das hat oberste Priorität. Manchmal kommen wir auch just in dem Moment an, wenn ihr Boot gerade gekentert ist und sie überall im Wasser verteilt sind. Weil Afrikaner nur wenig Körperfett haben, gehen sie schneller unter als andere. Wir müssen also extrem fix sein. Es gibt keinen vorgeschriebenen Ablauf, man trifft seine Entscheidungen von Fall zu Fall. Wir können zum Beispiel mit einem Tau einen Kreis um eine Gruppe ziehen und sie auf diese Weise alle zusammen aus dem Wasser holen. Manchmal ist das Meer aber zu stürmisch, und sie gehen vor unseren Augen unter. In so einem Fall kannst du nur versuchen, so viele wie möglich zu erwischen.«

Wieder folgte eine lange, lange Pause. Sein Blick verharrte nicht mehr an der Wand hinter mir. Er ging weiter, bis zu einem Punkt im Mittelmeer, den er nicht vergessen konnte.

»Wenn du drei Leute vor dir hast, die untergehen, und fünf Meter weiter ertrinkt eine Mutter mit ihrem Kind – was machst du dann? Wohin schwimmst du? Wen rettest du zuerst? Die drei direkt vor dir oder die Mutter mit dem Neugeborenen ein paar Meter weiter?«

Es war, als wäre die Zeit zurückgedreht und er befände sich wieder dort, in demselben gnadenlosen Dilemma.

Die Schreie der Vergangenheit waren nicht verhallt.

Er war ein Riese, der Taucher.

Er wirkte unverwüstlich.

Und doch musste er in seiner Seele ein Heiliger Sebastian sein, von fürchterlichen Zerreißproben gequält.

»Das Baby ist winzig, die Mutter selbst noch ein halbes Kind. Sie sind da, fünf Meter von mir entfernt. Und direkt vor mir gehen drei Mann gleichzeitig unter. Wen soll ich also retten? Zu wem soll ich hin? Was tun? Rechnen – das ist alles, was man in so einer Situation tun kann. Mathematik. Drei sind mehr als zwei. Drei Leben sind ein Leben mehr.«

Er hörte auf zu sprechen.

Draußen der Himmel war bedeckt, der Wind kam von Südost, das Meer wogte. Ich dachte darüber nach, dass ich bei jeder Begegnung hier auf der Insel, jedes verdammte Mal, das Gefühl hatte, mit einem Menschen zu sprechen, dessen Seele ein einziger Friedhof war.

* * *

Ich versuchte meinen Onkel Beppe zu erreichen, den Bruder meines Vaters. Wir telefonieren ziemlich häufig miteinander. Oft fragt er mich: »Warum ruft mein Bruder nie an?« Und ich antworte: »Er ruft nicht mal mich an, seinen ältesten Sohn. Beppuzzo, so ist er eben.«

Über eine Minute lang klingelte es ins Leere.

Ich drückte auf Aus, steckte mein Handy in die Tasche und ging zurück ins Haus.

Wir aßen Thunfisch mit eingelegten Zwiebeln und einem Salat aus Fenchel, Orangen und geräuchertem Hering.

Wir waren zu viert am Tisch: Paola, Melo, mein Vater und ich.

Wir waren in Cala Pisana, einer kleinen Bucht im Westen der Insel, bei Paola, einer befreundeten Anwältin, die nicht mehr praktiziert und seit Jahren schon auf Lampedusa wohnt, wo sie mit Melo, ihrem Lebensgefährten, ein Bed & Breakfast hat – mein übliches Domizil bei meinen Rechercheaufenthalten auf der Insel.

Ich erzählte von meinen Erlebnissen während dieses langen Tages und tauschte mich mit Paola darüber aus. Melo nickte ab und zu und gab kurze zustimmende Laute von sich, maximal ein einsilbiges Wort. Mein Vater schwieg die ganze Zeit. Er war der schweigsame Tischgast. In über vierzig Berufsjahren als Kardiologe hatte er eine beeindruckende Fähigkeit entwickelt, zuhören zu können. Allein durch seine ruhige Haltung und den fest auf sein Gegenüber gerichteten Blick lud er zum Reden ein.

Ich ließ die anderen an meinen Überlegungen teilhaben, dass das aktuelle Geschehen auf Lampedusa eine viel größere Dimension habe als das Drama um die Schiffbrüche und das Zählen der Überlebenden und der Toten.

»Das ist etwas Größeres als die bloße Tatsache, dass hier Millionen von Menschen die Wüste durchlaufen und mit dem Schlauchboot das Mittelmeer überquert haben. Dieser Haufen Felsen hier mitten im Meer ist zu einem Symbol geworden. Ein starkes Symbol, das aber nicht wirklich greifbar ist, wie die unterschiedliche Art der Berichterstattung zeigt: Einerseits gibt es Reportagen, Analysen und Dokumentarfilme und auf der anderen Seite fiktive Erzählungen, Spielfilme oder auch Biografien, postkoloniale Studien und ethnologische Forschungen. Der Begriff ›Lampedusa‹ ist ein Container-Wort geworden, das alles Mögliche enthält: Migration, Grenzzäune, Schiffbrüche, Solidarität, Tourismus, Feriensaison, Randlage, Wunder, Heldentum, Verzweiflung, Qual, Tod, Wiedergeburt, Befreiung – alle diese Bedeutungen in einem einzigen Wort, ein Sammelsurium, das weder richtig interpretiert werden kann, noch eine erkennbare Form hat.«

Papà hatte die ganze Zeit geschwiegen. Seine blauen Augen waren ein stiller Brunnen. Keine Wertung war in ihnen zu lesen.

Paola hatte sich Kaffee eingegossen.

»Lampedusa, ein Container-Wort«, sagte sie leise, mehr zu sich selbst als zu mir.

Sie gab Zucker in den Kaffee und setzte ihre Überlegungen fort.

»Stimmt, in einen Container kann man wirklich alles reinpacken.«

Ihre Stimme wurde zunehmend lauter, während ihre Sätze einen immer gehetzteren Duktus annahmen.

»Und im ›Container Lampedusa‹ befindet sich tatsächlich alles und nichts. Denk an das Aufnahmezentrum, zu dem sie die Leute bringen. Weißt du noch? Du hast es gesehen, als du in dem Jahr nach dem Arabischen Frühling hier warst.«

Im Sommer 2012 hatte ich ein paar Kinder, die ich am Strand traf, gefragt, ob sie manchmal zum Aufnahmezentrum gehen würden. In meiner Fantasie war jener Ort, an dem alle in Lampedusa Gestrandeten untergebracht wurden, von höchster Anziehungskraft für sie. »Was sollen wir denn da?«, hatten die Kinder erwidert. Ich war völlig perplex. Bis zu dem Moment hatte ich geglaubt, diese fremde Präsenz würde eine ungeheure Neugier auslösen und Thema Nummer eins in den Gesprächen der Inselbewohner sein. Und auch die Kinder würden die Ereignisse in ihre Spiele und Abenteuer mit einbeziehen. Ein Quell der Epik sozusagen.

»Kommt ihr mit dorthin?«, hatte ich zaghaft gefragt, weil ich ihre Antwort schon ahnte.

»Im Leben nicht!«

Das Aufnahmezentrum interessierte sie nicht, hatte sie nie interessiert. Erst nachdem ich es dann selbst gesehen hatte, wurde mir klar, dass ich einen Riesenfehler gemacht hatte: Meine Erwartungshaltung den Kindern gegenüber war die an Erwachsene. Der Weg, der zum Aufnahmezentrum führte, war gesäumt von Geröll, Gestrüpp und halb verfallenen Häusern mit »Zu verkaufen«-Schildern. Das einzige Zeichen von Leben war das Zirpen der Zikaden. Ansonsten die reine Ödnis. Kein Wunder, dass die Kinder nie dort hingingen, da war nichts zum Spielen. Und wo nichts ist, sind auch keine Geheimnisse.

Das Aufnahmezentrum war auf dem Gelände einer ehemaligen Kaserne hochgezogen worden. Ein paar Wohnsilos, ein größerer asphaltierter Platz und ein Zaun drumherum. Alles in allem sah es wie ein Gefängnis aus.

»Hat sich in letzter Zeit beim Aufnahmezentrum was getan?«, fragte ich Paola.

»Der Name. Erst hieß es ›Flüchtlingsaufnahmezentrum‹, dann ›Identifizierungszentrum‹, und jetzt ist es ein ›Hot Spot‹ – was auch immer das bedeuten mag. Sie tauschen die Regierungen aus, ändern die Namen, aber von der Sache her bleibt alles gleich: Konzipiert ist es für 250 Personen, bei Bedarf können aber bis zu 381 Schlafplätze hergerichtet werden. Von zusätzlichen sanitären Anlagen oder selbst Betten keine Rede. 2011 haben sie über zweitausend Leute da reingepfercht, tagelang, ohne ihnen zu sagen, was mit ihnen passieren wird. Die Welt hat den Arabischen Frühling gefeiert und seine Akteure eingesperrt. Ist das alles, was wir zu bieten haben? Und weißt du, was dabei herauskommt, wenn man zu viele Leute in einen engen Raum sperrt? Genau, Wut. Aus Menschen werden Tiere. Und tatsächlich hat die Revolte nicht lange auf sich warten lassen: Matratzen wurden in Brand gesteckt, ein ganzer Seitenflügel ging in Flammen auf.«

Mein Vater lauschte ihren Worten mit unbewegter Miene. Trotz seiner fehlenden Reaktion war klar, dass er sich Gedanken machte. Melo kaute auf seiner Unterlippe, und Paola, die immer noch in ihre Espressotasse starrte, fuhr fort zu reden.

»Ein Aufnahmezentrum sollte, zumindest auf dem Papier, ein Ort der Zuflucht sein – oder nicht? In dem Zaun, der das Gelände umgibt, befindet sich ein Loch. Ich glaube, es stammt noch aus dem Jahr 2011, aber vielleicht war es auch schon vorher da. Jedenfalls ist es ein ziemlich großes Loch, das wie eine Art Ventil funktioniert und den Leuten erlaubt, das Aufnahmezentrum zu verlassen, sich draußen umzusehen und ins Dorf zu kommen, um per Internet Kontakt zu ihren Familien aufzunehmen – mithilfe der Dorfbewohner, versteht sich. Was willst du machen, wenn dich so ein junger Mann bittet, ihn mit seiner Mutter skypen zu lassen, um ihr zu sagen, dass er noch lebt: Den lässt du doch an deinen Computer!«

Sie rührte mit dem Löffel in der Espressotasse. Das klingelnde Geräusch von Edelstahl gegen Keramik untermalte ihre Worte wie eine Rhythmuslinie, die gebraucht wurde, um den Faden nicht zu verlieren, um Seele und Körper nicht den Schreien der Ertrinkenden zu überlassen.

»Glaub mir, Davide, es ist gut, dass das Loch da ist. Ohne diese Tür, diesen Fluchtweg, würden sie sich wirklich wie Tiere im Käfig fühlen. Du musst wissen, das Aufnahmezentrum wird von der Polizei überwacht, ohne offizielle Genehmigung hat niemand Zutritt. Nicht mal der Pfarrer. Die Fassade ist perfekt hergerichtet. Doch das Loch im Zaun, das gibt’s schon lange. Alle wissen das, und keiner ändert was daran. Zum Glück ändert keiner was daran! Ein perfektes Beispiel dafür, wie friedlich hier Not und Heuchelei, Solidarität und Bürokratie, gesunder Menschenverstand und Scheinheiligkeit nebeneinander existieren. Ein Hort der Gegensätze, wie er im Buche steht.«

Durch das offene Fenster war das Rauschen des Meeres zu hören, die kommenden und gehenden Wassermassen, das Wellenbrechen am Strand, ein endloses Vor und Zurück, bis in alle Ewigkeit. Melo, der am Kopf des Tisches saß, war endgültig verstummt, wie mein Vater. Auch Melo war ein wortkarger Typ, er sagte lediglich ein paar Sätze am Tag und die manchmal auch nur schleppend, denn Reden bedeutete Anstrengung, und Anstrengung war nicht sein Ding.

Paola trank ihren Espresso in kleinen Schlucken und begann erst wieder zu sprechen, als sie ausgetrunken hatte.

»Das ist Geschichte, was hier gerade passiert, Davide! Eine Epoche, die sehr komplex ist, lauter kleine Mosaiksteinchen, manche ähneln einander, andere überhaupt nicht, aber sie sind alle notwendig, um ein Bild entstehen zu lassen. Nein, warte, das stimmt nicht ganz: Die Geschichte passiert nicht erst im Moment. Seit über zwanzig Jahren läuft das schon so.«

Sie zündete sich eine Zigarette an, die dritte innerhalb einer halben Stunde.

»Wie du heute Morgen am eigenen Leib erfahren hast, versteht man sofort, wie so eine Anlandung funktioniert. Aber selbst wenn jemand das nie miterlebt: Was kümmert sich die Geschichte um deine, meine, unsere Wahrnehmung? Die Geschichte bestimmt den Lauf der Dinge, sie gestaltet die Zukunft, indem sie die Gegenwart strukturell verändert. Das ist etwas Unaufhaltsames. Diesmal schickt sie uns eben Menschen aus Fleisch und Blut, egal welchen Alters. Sie verlassen ihre Heimat, überqueren das Meer, landen in irgendeinem Hafen. Lampedusa ist keine Endstation, es ist nur eine Etappe auf ihrem Weg.«

Sie drückte ihre Zigarette aus, während Melo die letzten Schlucke Bier trank. Durch das offene Fenster drang lauwarme Herbstluft ins Zimmer, die nach Sand und Salzwasser roch.

 

Unmittelbar nach dem Arabischen Frühling hatte Lampedusa wahre Massenanstürme erlebt. Piera, eine Inselbewohnerin, hatte sich in der Rolle der Koordinatorin der Polizeieinsätze in Porto Nuovo wiedergefunden.

»Ich weiß es noch wie heute – eine völlig absurde Situation! Es waren so viele Leute am Hafen, dass man überhaupt nicht durchkam. Sie waren überall. Der Landungssteg war total überfüllt, ein Boot nach dem anderen fuhr ein. Geradezu eine Prozession! Die Menschen kamen zu Tausenden. Wir wollten helfen, aber natürlich waren wir nicht auf diese Massen eingestellt. Ein Carabiniere erklärte den Neuankömmlingen auf Französisch, sie sollten sich auf den kleinen Hügel zurückziehen, um Platz für die nächsten zu machen, während übers Meer weitere Boote herannahten, alle völlig überladen, und überhaupt keine Zeit blieb, die Leute gezielt irgendwo hinzuschicken, weil schon wieder Neue kamen. Keine Ahnung, zu wie viel Tausenden sie an dem Nachmittag waren, es war unmöglich, sie zu zählen, siebentausend, achttausend, neuntausend – es gibt keine gesicherten Zahlen. Wie hätte man sie auch zählen sollen? Es waren mehr, als Lampedusa Einwohner hat, so viel ist sicher. Die auf dem Hügel rannten gleich wieder runter zum Hafen, wenn sie auf den einfahrenden Booten ihre Liebsten erkannten – ihre Frauen, Männer oder Kinder –, um mit ihnen zusammenzusein. Ein absolutes Chaos! Die Polizei versuchte, die Leute voneinander zu trennen, und wir, die wir mittendrin waren, wurden von einer Seite zur anderen getrieben. Man hat überhaupt nichts mehr verstanden. Und vom Meer kamen immer mehr Boote, unzählige, eins nach dem anderen. Eine regelrechte Flotte! So etwas habe ich noch nicht erlebt: Da war ein Mann mit einem Falken auf dem Arm. Auf einem anderen Boot befand sich ein junger Tunesier, der sein Schaf mitgebracht hatte. Und was für ein Schaf! Eine Rasse, die ich noch nie gesehen habe, wirklich außergewöhnlich. Ein ganz dichtes, lockiges Fell. Bildhübsch. Am Ende haben wir das Schaf trotzdem geschlachtet. Es ging einfach nicht anders.«

Die Fremden waren viel zahlreicher als die Einheimischen, mehr als zehntausend Zugereiste gegenüber fünftausend Inselbewohnern. Es waren Tage voller Angst und Neugier, voller Misstrauen und Barmherzigkeit, die Türen blieben verschlossen oder wurden geöffnet, um Pullover und Schuhe auszuteilen, Ladegeräte für Handys zu verleihen, Wassergläser zu reichen. Stühle zum Ausruhen wurden auf die Straße gestellt oder ein Platz am Esstisch angeboten, um gemeinsam eine Mahlzeit einzunehmen. Das waren Menschen aus Fleisch und Blut, die man da plötzlich vor Augen hatte, keine statistischen Werte mehr aus der Zeitung oder Zahlen, die der Nachrichtensprecher herunterleierte. Plastikplanen wurden besorgt, die vor dem strömenden Regen schützen sollten, und es wurde kiloweise Pasta ausgegeben, denn die Leute hatten seit Tagen nichts gegessen.

Sie waren völlig auf sich gestellt.

Im Jahr darauf heftete sich die Regierung das Etikett »Keine Anlandungen mehr in Lampedusa« wie eine Ehrenmedaille an die Brust.

»Das ist tatsächlich so«, hatte mir Paola in jenem Sommer 2012 bestätigt. »Kein Boot nimmt mehr Kurs auf Lampedusa. Nicht mal im Frühling wurden welche gesichtet. Und weißt du, warum? Die Boote werden abgefangen und nach Sizilien umgeleitet, wo sie fern der öffentlichen Aufmerksamkeit einlaufen. Von daher: ›Keine Anlandungen mehr in Lampedusa.‹ De facto die Wahrheit. Und dennoch – spürst du es? Die ganze Insel ist terrorisiert, alle haben sie Angst, die Presse ist überall, die Widersprüchlichkeiten häufen sich. Die Leute machen kaum noch den Mund auf, und wenn sie es doch tun, dann nur, um sich über konkrete Dinge zu beschweren, wie das Fehlen eines Krankenhauses zum Beispiel oder die Benzinpreise, die auf dem Festland längst nicht so hoch sind. Die Klagen sind durchaus bitter; oft genug heißt es, die ganze Aufmerksamkeit gilt denen, die übers Meer kommen, während die Probleme der Inselbewohner niemanden außer uns selbst interessieren.«

Die Urlaubssaison hatte gerade begonnen, der Tourismus als Wirtschaftsmotor musste wieder angekurbelt werden.

Hin und wieder schaute jemand hinüber zum Horizont.

»Früher oder später geht’s an unseren Stränden wieder los«, hatte einer der Fischer mir gesagt.

Diese Vorahnung, die alle Inselbewohner teilten, bewahrheitete sich ein Jahr später, am 3. Oktober 2013. Ein Alptraum war nichts dagegen. Kaum eine Seemeile vor der Inselküste ereignete sich das Schiffsunglück, hunderte von Leichen trieben im Wasser, Fernsehteams überfluteten die Insel, ganze Hallen standen voller Särge. Tatsächlich hatte sich nur oberflächlich etwas verändert. So wurden die Leichen, die sich in den Fischernetzen verfingen, einfach wieder zurück ins Meer geworfen, damit die Fischerei nicht verboten wurde. Die Meldungen von angeblichen Schiffsunglücken – »angeblich«, weil sie lediglich auf den Aussagen anderer Flüchtlinge beruhten, deren Boot nicht untergegangen war – bildeten nur Randnotizen in den Nachrichten. Umso besser, wenn es keine Leichen gab, wenn der Tod verbannt blieb an Orten, die man lieber nicht genau erkundete. Trotzdem wurde in den Monaten nach der Tragödie die Sahara weiterhin durchquert, es wurden die Rettungseinsätze der Küstenwache fortgesetzt, es wurden immer noch Frauen in libyschen Gefängnissen vergewaltigt und nach wie vor Kutter und Schlauchboote auf hoher See abgefangen oder von den Fluten verschlungen.

Der Lauf der Geschichte war keinesfalls gestoppt.

 

»Seit wann wohnt ihr schon in diesem Haus?«, fragte mein Vater Paola und Melo, um das Schweigen zu brechen, das sich im Zimmer ausgebreitet hatte.

Abrupt drehte ich mich zu ihm um. Ein Schauder lief mir über den Rücken. Auf den ersten Blick hatte sich seine Haltung nicht verändert; er saß noch immer mit verschränkten Armen und übereinandergeschlagenen Beinen auf seinem Stuhl, die Stirn glatt wie ein Kinderpopo. Doch unter dem Tisch konnte ich spüren, wie sein Fuß wippte; kaum merklich vibrierte sein Hosenbein auf Höhe des Knöchels, aber schon am Knie war das Beben nicht mehr festzustellen. Ich kannte diesen lautlosen Trommelwirbel gut, den sein Fuß da ausführte. Sehr gut sogar: Auch mein Fuß verselbstständigte sich gelegentlich auf diese Weise, nämlich immer dann, wenn mir eine Erkenntnis dämmerte.

Ich nahm dann sozusagen Anlauf.

Je weiter die Erkenntnis voranschritt, umso schneller wurde der Trommelwirbel.

Ich sah meinen Vater an.

Waren wir einander so ähnlich, er und ich?

Sprachen unsere Körper eine und dieselbe Sprache?

Vielleicht spürte auch er, wenn die Angst ihn überkam, wie sein Atem sich zwischen den Rippen verfing.

Paola hatte sich ihre vierte Zigarette angezündet und setzte zu einer Antwort an.

»Das älteste Zeugnis von diesem Haus ist ein Foto von 1957, auf dem es genauso aussieht wie heute: eine alte Eisfabrik, die außer Betrieb ist. Das Foto hat mein Vater gemacht, in der Zeit, als er sich in Cala Pisana verliebte. Papà ist durch Zufall auf Lampedusa gelandet, denn eigentlich hatte er sich unsterblich in einen Ort in Libyen verliebt, wo er in der Nähe der Ausgrabungsstätte Sabrata arbeitete. Er redete ständig von dem wunderschönen Strand mit den Palmen, die bis runter zum Meer reichten, und wollte unbedingt ein Haus dort kaufen. Seine Freunde rieten ihm sofort davon ab: ›Kauf bloß nichts in Libyen, die politischen Verhältnisse sind zu instabil, es gibt keinerlei Sicherheit, du riskierst, dass alles verstaatlicht wird, dann bist du enteignet. Noch dazu setzt du dich und deine Familie unkalkulierbaren Risiken aus. Geh lieber nach Lampedusa, wenn dir diese Vegetation so gut gefällt.‹«

Keine Ahnung, warum ich Paola noch nie nach ihrer Familie gefragt hatte.

Es passiert oft, dass man, statt das Naheliegende zu sehen, in der Ferne nach Erkenntnis sucht.

Paola nahm einen Zug von ihrer Zigarette und fuhr fort.

»Damals wusste mein Vater nicht einmal, dass Lampedusa zu Italien gehört, die Insel war ihm völlig unbekannt. Jedenfalls fuhr er hin und verliebte sich Hals über Kopf. Am 8. März 1966, im Rahmen einer Zwangsversteigerung, kaufte mein Vater das ehemalige Fabrikgelände, ein Jahr vor meiner Geburt. Seit diesem ersten Foto von 1957 bis zum Kaufjahr, also über neun Jahre lang, war er immer wieder auf die Insel zurückgekehrt, manchmal alleine, manchmal zusammen mit meiner Mutter. Dieses Haus hier ist tatsächlich das erste, das ein Fremder auf Lampedusa errichtet hat. Die Bauarbeiten wurden 1973 beendet. Seitdem wohnen wir hier, allerdings waren wir in den Jahren davor auch immer wieder hier – Papà, Mama, mein Bruder und ich. Wir haben in Fischerhäusern übernachtet oder in einem der wenigen Hotels, die es damals gab. Wir kannten schon die ganze Insel wie unsere Westentasche, bevor wir zum ersten Mal in unserem eigenen Haus geschlafen haben.«

Melo drehte sich eine Zigarette, die er jedoch nicht anzündete, sondern auf der Tischkante liegen ließ. Der Teil mit dem Filter schwebte in der Luft, der mit dem Tabak lag auf dem Tisch. Mein Vater wippte weiter mit dem Fuß, im selben Rhythmus wie zuvor.

Paola, die mit dem Rücken zum Meer saß, nahm ihre Erzählung wieder auf.

»Im Sommer gingen wir abends ins Dorf, die Erwachsenen tranken Wein in irgendeiner Kneipe, während mein Bruder und ich auf der Straße mit den Steinen spielten, die wir uns von der Baustelle in der Via Roma geholt hatten. Der Schotter lag überall herum, die Straßen waren nicht asphaltiert, also bauten wir auch unser Haus aus diesen schwarzen Steinen. Es entstand praktisch aus der Insel heraus. Den Sommer verbrachten wir fast ausschließlich mit den anderen Kindern zusammen, alles Lampeduser, denn während die Erwachsenen lieber an den Strand von Guitgia gingen, waren wir Kinder immer in Cala Pisana. Oder bei den Felsen von Testa del Polpo, direkt gegenüber von unserem Haus. Aus dieser Zeit kenne ich einen meiner besten Freunde, Simone, weil wir immer zusammen vom Felsen gesprungen sind.«

Simone war ein fester Bestandteil im Leben von Paola und Melo. Sie hatten unglaublich viel Zeit miteinander verbracht.

Simone selbst hatte mir ihr Verhältnis folgendermaßen beschrieben:

»Für mich war Paola am Anfang Paolo. Und zwar nicht, weil sie irgendwie männlich wirkte, sondern weil sie alle unsere Jungensspiele mitmachte. Wir sprangen kopfüber von den Felsen runter, sie stürzte sich kopfüber hinterher. Wir kabbelten, rauften und schubsten uns, und sie war mittendrin. Ich habe erst kapiert, dass sie ein Mädchen ist, als sie mit ungefähr zehn Jahren anfing, weibliche Formen zu entwickeln. Unsere Freundschaft besteht schon ein Leben lang. Ich weiß noch, als Melo und sie gerade ein Paar geworden waren und ich die beiden zum ersten Mal in Palermo besuchte: Melo hat so was wie ›Was will der denn hier?‹ gesagt. Für mich war er fast wie ein Eindringling, so eng und intensiv war die Freundschaft zwischen Paola und mir.«

Simone hatte mir auch von den Initiationsriten der Kinder auf Lampedusa erzählt. Eines dieser Rituale fand immer in Cala Pisana statt und bestand aus einem Kopfsprung vom Testa del Polpo. Das Alter der Adepten: sechs Jahre. Die Höhe des Felsens: gut sieben Meter. Die zweite Mutprobe fand am Strand von Guitgia statt. Dort musste man tauchen. In der rechten Hälfte der Bucht befindet sich eine Algenbank, die mit Poseidon-Gras bewachsen ist und zu der man hinschwimmen musste, die ganze Strecke unter Wasser. Wer die Algenbank ohne aufzutauchen erreichte, galt als »groß«. Ungefähr mit neun Jahren fingen die Kinder an, es zu versuchen. Die Entfernung vom Ufer bis zur Algenbank liegt bei etwa sechzig Metern.

»Die Kinder von Lampedusa sind keine Kinder, sondern Fische«, hatte Simone lachend gesagt.

Was in seinem Fall sogar stimmt: Er ist Berufstaucher geworden. In den letzten Sommern hat er Paola und Melo so gut wie nie gesehen. Als Tauchlehrer war er ständig mit dem Motorboot unterwegs, jeden Morgen und jeden Nachmittag. Doch obwohl sie sich nicht so häufig sahen, wie sie gewollt hätten, war Simone im Haus meiner Freunde spürbar präsent und immer wieder Gegenstand von Erzählungen.

Paola nahm einen langen Zug von ihrer Zigarette und stieß fast schon aufreizend langsam den Rauch aus. Dann sprach sie weiter.

»1993 ging mein Vater in Rente und verlegte seinen Wohnsitz ganz nach Lampedusa, auch offiziell. Sein Leben lief auf diese Weise ab: Im Sommer empfing er seine Freunde hier, im Winter machte er das Haus dicht und reiste quer durch Italien, von einem Freund zum anderen. Triest, Madonna di Campiglio, Cinque Terre. Mein Vater starb im August 2002, nach langer Krankheit. Ich war die ganze Zeit bei ihm in Palermo. Im September sind Melo und ich dann zusammen auf die Insel zurückgekehrt. Unser Plan war, nach Lampedusa zu ziehen und ein Bed & Breakfast aufzumachen, um Geld zu verdienen. Ich hatte überhaupt keine Lust mehr auf meinen Job als Anwältin in Palermo. Direkt nach unserer Ankunft – ich weiß es noch wie heute – sind wir zur Bar dell’Amicizia frühstücken gegangen. Und wer empfing uns da? Mein alter Freund Simone. Er hatte zwei junge Pärchen im Schlepptau und fragte uns als Allererstes: ›Hört mal, die Jungs und Mädels hier suchen einen Schlafplatz. Wollt ihr sie nicht mit zu euch nehmen?‹ Melo und ich willigten ein. Das war unser erstes B & B-Erlebnis, Simone sei Dank. Wir haben pro Nacht und Zimmer 10 000 Lire verlangt. Das Haus war allerdings ziemlich abgewohnt, als wir ankamen. Nach diesem Sommer kehrten wir erst wieder an Weihnachten zurück. Ganz nach Lampedusa zu ziehen hätte bedeutet, alles andere zurückzulassen. Wir haben tagelang hin und her überlegt. Dann passierte eines schönen Morgens Folgendes – und ich schwöre dir, die Geschichte ist wahr: Ich saß auf dem Klo und dachte: Ich möchte endlich eine Entscheidung treffen, aber ich brauche ein Zeichen, irgendetwas, das mir sagt: ›Zieh nach Lampedusa!‹ Und plötzlich löste sich die Handbrause vom Bidet und ein Schwall Wasser durchnässte mich bis auf die Knochen. Ich triefte nur so. Ich hatte nicht mal genug Zeit, nach Melo zu rufen, weil der Strahl so heftig war. Okay, das war also das ersehnte Zeichen, dachte ich, das Haus sprach zu mir und sagte: ›Komm nach Lampedusa und bring mich wieder in Schuss, ich bin eine einzige Baustelle.‹ Triefnass verließ ich also das Badezimmer und sagte zu Melo: ›Hör zu, die Handbrause vom Bidet ist kaputt, wir ziehen nach Lampedusa.‹ Ich bin alleine nach Palermo zurückgekehrt, während Melo hier blieb, um das Haus zu renovieren.«

Als er seinen Namen hörte, konnte Melo nicht anders, als auch seine Version der Geschichte zum Besten zu geben. Er nahm ein paar tiefe Atemzüge, als wollte er seine Batterien aufladen. Für manche Palermitaner scheint Sprechen eine solche Anstrengung zu bedeuten, dass sie sich erst mal in Fahrt bringen müssen: Lungen füllen, Brustkorb weiten, Atemwege lockern. Dann fing Melo an zu erzählen, so leise, dass wir ihn kaum verstehen konnten, aber immerhin gab er sich Mühe, nicht zu nuscheln.