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Wunsch, Indianer zu werden

Versuche über einen Satz
von Franz Kafka

 

Herausgegeben von
Christoph König und
Glenn W. Most

 

 

 

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Christoph König, geb. 1956, Professor für deutsche Literatur an der Universität Osnabrück, 2019 Professeur invité an der École normale supérieure, Paris. Mitglied des internationalen PEN.

 

Glenn W. Most, geb. 1952, Professor für Griechische Philologie an der Scuola Normale Superiore in Pisa, regulärer Gastprofessor am Committee on Social Thought, University of Chicago.

 

 

 

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese

Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;

detaillierte bibliografische Daten sind im

Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

 

© Wallstein Verlag, Göttingen 2019

www.wallstein-verlag.de

 

Redaktion: Elisabeth Flucher

Umschlaggestaltung: WSV, Marion Wiebel, Göttingen

 

ISBN (Print) 978-3-8353-3401-4

ISBN (E-Book, pdf) 978-3-8353-4321-4

ISBN (E-Book, epub) 978-3-8353-4322-1

Inhalt

Vorbemerkung der Herausgeber

Franz Kafka
Wunsch, Indianer zu werden

Christoph König
Erkenntniskritik des Wünschens

Glenn W. Most
Anakoluthon

Peter-André Alt
Ritt ohne Grenzen

Christian Benne
Satzbau der inneren Wahrnehmung

Heinrich Detering
Mund auf leerer Bühne

Daniel Kehlmann
Die Zügel wegwerfen ohne Zügel

Dagmar Leupold
Versuch über eine vierte Gangart: Rückgängigkeit

Heinz Schlaffer
Von Karl May zu Franz Kafka

Anmerkungen

Vorbemerkung der Herausgeber

Franz Kafka schrieb seinen Satz ›Wunsch, Indianer zu werden‹ um 1911 und veröffentlichte ihn, als einen von neunzehn kurzen Prosatexten, Ende 1912 in seinem ersten Buch ›Betrachtung‹. Wir legen mit diesem Bändchen ein ernstes Spiel verschiedener und verschiedenartiger Lektüren vor, an dem sich Dichter, Literaturwissenschaftler und Philologen beteiligt haben.

Die Lektüren versuchen, jede auf ihre Weise, den Text als ein Rätsel zu verstehen und das Rätsel des Texts zu lösen, indem sie auf verschiedene Fragen antworten, die sie jeweils für die entscheidende halten: Ist der Satz grammatisch richtig oder fehlerhaft, und welche Rolle spielen Konjunktion, Tempus und Modus? Wie ist die Satzkonstruktion überhaupt zu lesen? Steht für Kafka die Wahrnehmung einer fliehenden Bewegung im Vordergrund, wie er sie in seiner Zeit auf der Rennbahn, im Kino oder in der Malerei sah? Ist eine zeitgenössische philosophische Analyse der Wahrnehmung der Probierstein? Geht es allgemeiner um die Realisierung eines Wunsches? Und wenn dem so ist, führt der Wunsch ins Leere, wird der Wunsch zurückgenommen (und wenn dann, auf eine Weise, dass die Spuren davon noch erkenntlich sind), oder geht es um den Übergang zu einer unbedingten und ballastfreien Bewegung des Daseins? Oder spricht der Text auf radikal dichterische Weise und schafft, was nur in Text und Stil kraft der Eigenlogik der Imagination möglich ist, sei es das Rasende selbst oder – konkreter – einen Kentauren? Wird überhaupt skeptisch analysiert, was es bedeutet, einen Wunsch zu hegen, und wie der Wunsch tatsächlich aussieht, durchläuft der Wunsch diesen Gang der Erkenntnis?

Der Ernst des Spiels liegt auf verschiedenen Feldern: Über Kafkas Schreib- und Denkweise wird ebenso verhandelt wie über die Priorität von Methoden. Soll Kafka weiterhin als ein Dichter des Scheiterns gelten oder gibt es hier eine genuin poetische Produktivität? Und welchen Zugang soll man im Verständnis wählen? Die folgenden Lektüren entscheiden sich unterschiedlich: So stehen die syntaktische Analyse neben der Darlegung des kulturhistorischen Kontexts, und neben der Form der poetischen Imagination die Wirkung auf den Leser.

Gern erinnern sich die beiden Herausgeber, wie sie den Gedanken für dieses Buch fassten: anlässlich einer Tagung an der University of Chicago über Eli Friedlanders philosophische Biographie Walter Benjamins (2012). Benjamins Lektüre von Kafkas Prosatext findet sich in seinem Kafkaessay aus dem Jahr 1934 – er wird nun selbst kommentiert, als Position in der Geschichte der Interpretationskonflikte, die wir hier enggeführt haben. Unser Dank gilt allen Beitragenden, die sich auf dieses Spiel gern einließen und dabei die von uns vorgeschlagenen Regeln bereitwillig akzeptierten, und dem Verlag, der uns mit Energie und Witz unterstützte.

 

Christoph König • Glenn W. Most

Osnabrück • Florenz

September 2018

FRANZ KAFKA
Wunsch, Indianer zu werden

Wenn man doch ein Indianer wäre, gleich bereit, und auf dem rennenden Pferde, schief in der Luft, immer wieder kurz erzitterte über dem zitternden Boden, bis man die Sporen ließ, denn es gab keine Sporen, bis man die Zügel wegwarf, denn es gab keine Zügel, und kaum das Land vor sich als glatt gemähte Heide sah, schon ohne Pferdehals und Pferdekopf.[1]

CHRISTOPH KÖNIG
Erkenntniskritik des Wünschens

Kafkas Prosastück lautet:

 

Wenn man doch ein Indianer wäre, gleich bereit, und auf dem rennenden Pferde, schief in der Luft, immer wieder kurz erzitterte über dem zitternden Boden, bis man die Sporen ließ, denn es gab keine Sporen, bis man die Zügel wegwarf, denn es gab keine Zügel, und kaum das Land vor sich als glatt gemähte Heide sah, schon ohne Pferdehals und Pferdekopf.

 

Zwei Sätze treten syntaktisch auf, als verhielten sie sich zueinander komplementär. Der Punkt am Ende des Satzgefüges zwingt sie als einen Satz zusammen. Der erste Satzteil ist eingeleitet durch das ›Wenn‹, der zweite beginnt mit dem (zweimal wiederholten) ›bis‹. Der erste Satzteil bietet zwei syntaktische Möglichkeiten an: Man kann ihn sich vorstellen als einen Satz, der für sich besteht. In diesem Fall handelt es sich um die Formulierung eines Wunsches, im Sinn von: ›Wenn ich nur Indianer wäre!‹. Dann ist der übrige Text als Ausführung des Wunsches zu verstehen. Doch die zweite syntaktische Möglichkeit kommt dazwischen und man ist versucht, den ersten Satzteil als untergeordneten Satz zu lesen, der durch einen Hauptsatz fortgesetzt wird, eingeleitet mit ›dann‹. Diese Lektüre wird durch die Konjunktion ›bis‹ und durch das Komma, das die beiden Teilsätze als Elemente einer Satzverknüpfung aneinanderfügt, strukturell unterstützt, doch handelt es sich eben um eine andere Konjunktion: um ein ›bis‹ statt des zu erwartenden ›dann‹.

Die Syntax drängt sich, indem sie Schwierigkeiten aufwirft, in den Vordergrund. Hat man es mit einem grammatischen Fehler zu tun, mit einem Anakoluth, also der rhetorischen Form eines Verstoßes gegen die Grammatik? Etwa, um die Rastlosigkeit des Ritts analog zu zeichnen? Man erkennt sogleich die Versuchung, sich mit einem Hinweis auf einen grammatischen Fehler zu beruhigen. Sie besteht darin, die Semantik gegen die Syntax auszuspielen und – in diesem Fall – an der herkömmlichen (semantischen) Auffassung vom Indianer festzuhalten, der mit dem Pferd verschmelze und sich aller zivilisatorischen Hilfsmittel entledige, das Pferd zu bändigen. Mit anderen Worten: Man kann des Weiteren die Folgen des Wunsches und dessen Begründung hervorkehren, als führte Kafkas Satz die Realisierung des Wunsches vor. Hartmut Binder erkennt eine solche direkte, materiale Erfüllung: Gerade weil die Attribute der Zivilisation fortfallen, gehe der Wunsch in Erfüllung.[1] Es ist der Wunsch eines Karl May-Lesers, den auch Benjamins ›Kinderbild‹ nahelegt.[2] Auf der Grundlage dieser Leseweise entfalten sich die meisten Spekulationen. Geht man vom herkömmlichen Indianerbild als Telos des Texts aus, nimmt man den Anakoluth hin.

Davon unterscheidet sich der bewusste Umgang mit dem Anakoluth; man anerkennt dessen produktive, poetische Kraft in Kafkas Text, auf die man die semantischen Veränderungen im zweiten Satzteil zurückführt.[3] Umgekehrt kann man versuchen, an der grammatischen Richtigkeit der Stelle festzuhalten. Das lässt – wie ich nun zu zeigen versuche – eine neue syntaktische Möglichkeit erkennen, die eine semantische Veränderung nach sich zieht. Sie wäre als die neue Normalität des Texts zu würdigen.

bisanderen