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KONSTELLATIONEN

Gespräche zur Gegenwartsliteratur

Herausgegeben von
Monika Eden

 

 

 

 

 

WALLSTEIN VERLAG

Dieses Buch ist im Rahmen einer Förderung der Stiftung Niedersachsen für das 25-jährige Jubiläum des Literaturbüros Oldenburg entstanden.

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

 

© Wallstein Verlag, Göttingen 2018

www.wallstein-verlag.de

Umschlaggestaltung: Susanne Gerhards, Düsseldorf

 

ISBN (Print) 978-3-8353-3324-6

ISBN (E-Book, pdf) 978-3-8353-4277-4

ISBN (E-Book, epub) 978-3-8353-4278-1

Inhalt

 

 

 

Literatur und Wissenschaft im analogen Gespräch

Es geht nicht um die große Utopie im Schwimmbecken, man bleibt im Wasserglas
Annette Pehnt im Gespräch mit Hans Wedler und Matthias Bormuth

Wir Schriftsteller gehen Fragen nach. Die Antworten gibt der Leser
Matthias Politycki im Gespräch mit Christoph Auffarth und Matthias Bormuth

Ich habe auf Deutsch geschrieben, weil ich rauswollte aus diesen Zuschreibungen
Katja Petrowskaja im Gespräch mit Gerhard Lauer und Matthias Bormuth

Mich treibt eher die Erkenntnis um, dass von einem Menschen keine Spuren bleiben, die relevant sind
Saskia Hennig von Lange im Gespräch mit Tilman Allert und Monika Eden

Sobald ich klar werde, versiegt die Erzählung
Feridun Zaimoglu im Gespräch mit Matthias Bormuth und Monika Eden

Die Literatur ist ein ziemlich guter Fundus für Hilfe in schwierigen oder besser: in wichtigen Situationen
Verena Lueken im Gespräch mit Matthias Bormuth und Monika Eden

Ich habe den Roman auf einer Glanzfolie geschrieben, die mich radikal begeistert
Sibylle Lewitscharoff im Gespräch mit Sabine Doering und Matthias Bormuth

Wenn in einem Buch ein Licht aufscheint, in dem ich eine andere Beleuchtung der Welt sehe, zieht es mich sofort an
Michael Krüger im Gespräch mit Sieglinde Geisel und Matthias Bormuth

Beim Schreiben merkte ich, dass es immer dann uninteressant wurde, wenn Peter in eine Alltagslogik verfiel und reagierte, wie ich reagiert hätte
Ingo Schulze im Gespräch mit Christoph Türcke und Matthias Bormuth

Ich wollte dem Leser keine Möglichkeit geben, sich zu verstecken oder zu fliehen
Olga Grjasnowa im Gespräch mit Ina Jekeli und Matthias Bormuth

Dank

Literatur und Wissenschaft im analogen Gespräch

 

 

 

Viermal im Jahr führt die Reihe Konstellationen, die das Literaturbüro Oldenburg in Kooperation mit der Oldenburger Karl-Jaspers-Gesellschaft durchführt, Schriftsteller und Wissenschaftler verschiedener Disziplinen ins Gespräch. Das Format entwickelte ich mit Matthias Bormuth, dem Vorsitzenden der Jaspers-Gesellschaft, der an der Universität Oldenburg Vergleichende Ideengeschichte lehrt. Der Titel bezieht sich auf die sogenannte Konstellationsforschung, eine von Dieter Henrich entwickelte Forschungsmethode zur Untersuchung von Theorieentwicklungen und kreativen Impulsen, die aus dem Zusammenwirken verschiedener Denker in einem gemeinsamen Denkraum entstehen.

Auch Literaturbüro und Jaspers-Gesellschaft öffnen mit dem Format Konstellationen Denkräume, die Positionen verschiedener Experten aus Literatur und Wissenschaft zusammenführen, und spüren ihren wechselseitigen Einflüssen nach. Der auf Tweets in sozialen Netzwerken reduzierten Kommunikation einer digitalisierten Gesellschaft und der quotenorientierten medialen Aufbereitung von Zeitgeistthemen begegnet die Reihe mit der Qualität des analogen Gesprächs über aktuelle gesellschaftliche und wissenschaftliche Diskurse. Sie sind auch für Schriftsteller relevant und spiegeln sich mehr oder weniger explizit in Gegenwartsliteratur wider. Weil sie Zeitgenossenschaft abbildet.

 

Typisch für die Gespräche des Formats ist es, dass Schriftsteller und Wissenschaftler sich im moderierten Gespräch begegnen. Gemeinsam ist ihnen auch, dass sie im Programm des Literaturbüros als einmalige, flüchtige Kulturereignisse zwar keine kleine, aber doch nur eine begrenzte Zielgruppe erreichen. Deshalb liegen nun, im 25. Jahr des Bestehens der Einrichtung, ausgewählte Gespräche der Jahre 2014 bis 2017 erstmals in schriftlicher Form vor. Alle Veranstaltungen fanden im Oldenburger Musik- und Literaturhaus Wilhelm13 statt. Die meisten Gespräche wurden durch Matthias Bormuth moderiert, der es als Ideenhistoriker gewohnt ist, verschiedene Wissenschaften zu verknüpfen, um Fragen des menschlichen Selbstverständnisses besser verstehen zu können. In einigen Fällen war er als wissenschaftlicher Gesprächspartner für die eingeladenen Schriftstellerinnen und Schriftsteller unverzichtbar. Dann moderierte ich als Leiterin des Literaturbüros seinen Austausch mit unseren Gästen.

 

Zum Auftakt der Reihe sprach Annette Pehnt mit dem Facharzt für Psychotherapeutische Medizin Hans Wedler über ihr Buch Lexikon der Angst. Während der Professor für Psychosomatik die kurzen Prosatexte der Schriftstellerin als Fallstudien las und einigen ihrer Figuren dringend den Besuch beim Therapeuten empfahl, tat die Autorin sich schwer damit, die Ängste ihrer Figuren als krankhaft zu bezeichnen. Sie betonte, dass ihr Personal aus Kunstfiguren bestehe und dass sie als Schriftstellerin auf deren Extremzustände geradezu angewiesen sei. Einigkeit erzielten sie in der Feststellung, dass schon das Sprechen über die Angst angstmildernd wirken könne und man somit im besten Fall ein angstmilderndes Gespräch geführt habe.

Matthias Politycki und dessen Roman Samarkand Samarkand begegnete der Religionswissenschaftler Christoph Auffarth, der an der Universität in Bremen lehrt und die Buchreihe Religionen in der pluralen Welt betreut. Den Ausgangspunkt des Romans bildete eine Reise des Schriftstellers durch die damalige Sowjetunion im Jahr 1987. In den Tumulten, die er in den Gassen Samarkands erlebte, erkannte er die Vorboten künftiger Kriege. Daher ist das Szenario seines im Jahr 2027 spielenden Romans ein beginnender Dritter Weltkrieg mit neuen Großmächten, für den Glaube und Religion von entscheidender Bedeutung sind. Polityckis Held Kaufner möchte inmitten dieser archaischen Welt als bekennender Europäer an seiner Idee von Europa festhalten und ist bereit, für sie in einen Kampf zu ziehen, den er vermutlich nicht gewinnen kann. Religionswissenschaftler und Schriftsteller stimmten überein in ihrer Befürwortung jeder Form eines wohlverstandenen, also nicht fanatischen Glaubens.

Der Literaturwissenschaftler Gerhard Lauer, der sich mit den Konzepten und Funktionen des Generationenbegriffs in der Literatur beschäftigt, tauschte sich mit Katja Petrowskaja zu ihrem Buch Vielleicht Esther aus. Vor dem Hintergrund der Geschichte der osteuropäischen Juden erforscht es die Familiengeschichte der Autorin. Einen Schwerpunkt des Gesprächs bildete die Frage, was das besondere Potenzial der Literatur im Unterschied zur wissenschaftlichen Darstellung ausmache. Sie verfüge über das Vermögen, so Gerhard Lauer, bei ihren Lesern Bilder zu evozieren. Während die Geschichtswissenschaft zudem dem Anspruch folgen müsse, so genau wie möglich den Einzelfall zu rekonstruieren, könne die Poesie die mögliche Geschichte erzählen. Die Schriftstellerin sah durch diese Differenzierung die Ernsthaftigkeit ihrer Recherche relativiert, die von der Frage nach Verantwortung und Wahrhaftigkeit getrieben gewesen sei.

Saskia Hennig von Lange sprach mit dem Frankfurter Soziologen Tilman Allert, zu dessen Forschungsschwerpunkten die Familiensoziologie gehört, über ihren Roman Zurück zum Feuer. Neben dem sterbenden Boxer Max Schmeling lässt sie Inge und einen weiteren Max auftreten, die ihren Sohn verloren haben und, so Tilman Allert, mit der Frage konfrontiert würden, was ihre Identitäten definiere, nachdem sie durch den Tod des Sohnes aus der Zeit gefallen seien. Die existenzielle Situation, in welche die Schriftstellerin ihr Personal setze, veranlasse auch ihn als Leser, sich zu fragen, wer ein Mensch in der Zeit sei. Während der Soziologe jedoch überzeugt ist, dass wir uns über den Verlauf einer fremden Biografie immer ein Stück der eigenen Geschichte vergegenwärtigen können, befürchtet die Schriftstellerin, dass von einem Menschen keine relevanten Spuren bleiben. Mit dieser Erkenntnis muss auch ihr literarisches Personal umgehen.

Mit Feridun Zaimoglus Roman Siebentürmeviertel beschäftigten sich im gemeinsamen Gespräch der Schriftsteller und Matthias Bormuth, der Istanbul über seine dortigen Studien zum Kulturphilosophen Erich Auerbach seit Jahren besucht und kennt. Wolf, ein deutscher Junge, der am Beginn des Romans sechs Jahre alt ist, wächst dort 1939 in einem Umfeld auf, in dem Aberglauben, Volksgesänge und Gerüchte ihn prägen. Für einen Schriftsteller, so Zaimoglu, stelle die Volkssprache einen grandiosen Fundus dar, weil viele Überlieferungen und Alltagsrituale an sie gebunden seien. Dieser Welt des Siebentürmeviertels, in der sein Protagonist sich kämpfend behaupten muss, wird im zweiten Teil des Buches das moderne, reiche, aufgeklärte Istanbul gegenübergestellt, das Wolf als Schüler am Gymnasium erfährt. Er lernt als Junge aber nicht nur, im Kampf zu bestehen. Das Siebentürmeviertel lehrt ihn auch die magische Anschauung, die ihn schließlich zum Dichter werden lässt.

Auch bei der Veranstaltung mit Verena Lueken nahm Matthias Bormuth, der seit einem längeren Aufenthalt als Gastwissenschaftler mit New York und seinem kulturellen Leben enger vertraut ist, die Rolle des wissenschaftlichen Gegenparts ein. Im Mittelpunkt stand der Roman Alles zählt, dessen Protagonistin während eines Aufenthalts in New York eine Krebsdiagnose erhält. Bücher, Filme und Erinnerungen begleiten die Frau durch die Wochen der Therapie. Die Schriftstellerin und der Philosoph stellten im Gespräch übereinstimmend fest, dass die Literatur ein guter Fundus für Hilfe in wichtigen Lebenssituationen sei, weil sie zu einem Gegenüber werden könne. Mit einem eigenen Kanon, der ständigen Veränderungen unterworfen sei, mache man sich als Leser Texte relevant, zu denen man eine enge persönliche Beziehung aufbaue.

Als Gesprächspartnerin für Sibylle Lewitscharoff zu ihrem Roman Das Pfingstwunder war die Literaturwissenschaftlerin Sabine Doering gefragt, die auch evangelische Theologie studierte. Die Handlung entwickelt sich an einem philologischen Kongress zu Dante Alighieris Göttlicher Komödie. Die gemeinsame Lektüre der Commedia versetzt die Philologen in so große Begeisterung, dass sie schließlich das Wunder des Pfingstfestes am eigenen Leibe erfahren. Und die Begeisterung der Schriftstellerin für diesen Text ist so groß, dass sie im Zuge der Recherche zum Roman alle deutschen Dante-Übersetzungen in Augenschein nahm. Angesichts der Namensfindungen für einige niedere Teufel stimmte sie ein Lob der deutschen Sprache an, die eigene vulgäre oder umgangssprachliche Wörter für die Schreckenssensationen des Körpers finde. Noch größer ist ihre Hochachtung jedoch vor der poetischen Leistung Dantes, die Schönheit des Paradieses zu beschreiben, ohne in Kitsch abzugleiten.

Mit der Kulturjournalistin und Kritikerin Sieglinde Geisel, die das Online-Literaturmagazin tell als Anlaufstelle für Literatur im Internet entwickelte, sprach Michael Krüger über seinen Roman Das Irrenhaus. Wegen seines Protagonisten, der als Erbe in ein Mietshaus in München einzieht und dort in die Rolle des Vormieters – eines Schriftstellers – schlüpft, führt er direkt in den Literaturbetrieb. Deshalb ging es im Gespräch auch um grundlegende Fragen, die den Autor und Verleger und die Journalistin gleichermaßen beschäftigen: Was ist eigentlich der Antrieb des literarischen Schreibens? Warum lesen wir Literatur? Wer ist das Ich in einer Ich-Erzählung? Was sind die Beurteilungskriterien für Literatur? Der Austausch gipfelte in Michael Krügers Feststellung, Literatur sei etwas Schönes und Heiliges. Dem hatte auch die Kritikerin nichts mehr hinzuzufügen.

Den Philosophen Christoph Türcke, der unter dem Titel Mehr! eine Philosophie des Geldes veröffentlichte, machten wir mit Ingo Schulze und Peter Holtz, dem Helden dessen Schelmenromans, bekannt. Eine Konstellation, die sich als bestens angelegt erwies, denn Ingo Schulze äußerte schon früh im Gespräch, er habe das Geld in seinem Roman zur zweiten Hauptfigur machen wollen und das Buch Türckes daher mit großer Bewunderung gelesen. Auch wenn dieser der These des Schriftstellers, sein Held durchlaufe eine Entwicklung, nicht unbedingt folgen wollte, waren beide sich einig, dass Peter eigentlich mit allem recht habe, was er als naiver Schelm sage. Er neige jedoch dazu, Situationen komplett falsch einzuschätzen. Aus diesem Missverhältnis bezieht der Roman nicht nur seine Komik. Es ermöglicht dem Schriftsteller zudem, die vermeintlichen Selbstverständlichkeiten seiner Leser zu verunsichern.

Olga Grjasnowas Roman Gott ist nicht schüchtern führte sie mit der Soziologin Ina Jekeli zusammen, die in Amsterdam im klinischen Bereich tätig ist. Die Frauen stimmten schnell überein, dass die Diskussion um Heimat und nationale Identität schon lange obsolet sein sollte. Ausgehend von Amal und Hammoudi, den beiden jungen Syrern, deren durch den Krieg radikal veränderte Biografien im Roman erzählt werden, sprachen sie über sexuelle Gewalt als Machtinstrument in Kriegen, das Absterben der Liebesfähigkeit nach Erfahrungen der Folter und des Vertrauensmissbrauchs und über die angemessene literarische Sprache für die Darstellung von Krieg und Gewalt.

 

Die Bandbreite der fachlichen Disziplinen führte dazu, dass die Gespräche nicht literaturimmanent blieben. Literatur, das ergaben die von uns geschaffenen Konstellationen, kann auch den Anlass bieten zum Austausch über Existenzielles: über Ängste und den Machtmissbrauch in Beziehungen, über die radikale Vereinsamung, der Hinterbliebene nach einem Todesfall ausgesetzt sind, über Krankheit und Hoffnung und darüber, was Halt gibt und am Leben hält. Sie kann den Blick lenken auf die Identität stiftende Qualität von Volkssprachen und Dialekten. Sie vermag es, die Bedeutung von Religionen und deren Einfluss auf die Weltgeschichte in einem spannenden Abenteuerroman zu verhandeln. Sie führt uns das kapitalistische Geldsystem sowie dessen sozialistische Überwindungsversuche vor Augen und stellt dabei mit leichter Hand manches infrage, was uns bisher als selbstverständlich erschien. Und sie macht die anonymen Flüchtlinge aus der täglichen Berichterstattung der Nachrichtenformate zu mit Biografien ausgestatteten Individuen, indem sie an fiktionalen Lebensgeschichten darstellt, welche individuellen Gewalterfahrungen Menschen veranlassen, auf der Flucht ihr Leben zu riskieren. Wenn sie ihre eigenen Recherchemethoden zum Thema macht, kann Literatur mühelos Metaebenen erklimmen und fragen, was wir überhaupt wissen, durch Forschung in Erfahrung bringen oder mit dem Anspruch auf Wahrhaftigkeit rekonstruieren können. Und wenn sie eine Kritikerin und Journalistin mit einem Autor und Verleger zusammenführt, geraten generelle Fragestellungen des Literaturbetriebs in den Fokus.

 

Der Blick der Wissenschaftler, die als Gesprächspartner für die Schriftsteller eingeladen waren, führte thematisch tief in die Bücher hinein und ermöglichte den Autorinnen und Autoren neue Sichtweisen auf ihre Literatur. Alle Gespräche weisen zudem über die vorgestellten Bücher hinaus, denn die Autorinnen und Autoren geben auch Auskunft über ihr Selbstverständnis als Schriftsteller, ihre kreativen Schreibprozesse, ihre individuellen Poetiken. Zur Anthologie zusammengestellt ermöglichen sie Einblicke in die ästhetische Praxis von Gegenwartsautoren.

 

Monika Eden

(Leiterin Literaturbüro Oldenburg)

Es geht nicht um die große Utopie
im Schwimmbecken, man bleibt im Wasserglas

Annette Pehnt im Gespräch
mit Hans Wedler und Matthias Bormuth

Annette Pehnt stellte ihr Buch Lexikon der Angst (Piper 2013) am 18. Februar 2014 vor. Es bietet kein Nachschlagewerk mit sachlichen Informationen, sondern eine Sammlung prägnant erzählter kürzester Kurzgeschichten über unsere kleinen und großen Alltagsängste. Die Figuren, die in Momentaufnahmen ihrer Angst vorgestellt werden, erhalten keine Biografien. Ihre Befindlichkeiten werden nicht ausformuliert. So erzählt Annette Pehnt von der Angst vor dem Autofahren oder dem sexuellen Versagen, vom Machtmissbrauch in Beziehungen und von der Einsamkeit. Und sie wirft die Frage auf, ob man sich mit seinen Ängsten anfreunden oder doch zumindest arrangieren kann, denn ein Ausweg wird selten geöffnet.

Als Gesprächspartner für die Schriftstellerin war Hans Wedler eingeladen, Professor für Psychosomatik und Facharzt für Psychotherapeutische Medizin. Bis 1994 war er Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Suizid-Prävention und bis 2004 ärztlicher Direktor der Klinik für Internistische Psychosomatik am Bürgerhospital Stuttgart. 2010 veröffentlichte er Untiefen. Erzählungen vom alltäglichen Scheitern, 2013 einen Aufsatz zur Suizidalität in der Literatur und zuletzt (2016) das Buch Suizid kontrovers – Wahrnehmungen in Medizin und Gesellschaft. Moderiert wurde ihr Gespräch von Matthias Bormuth.

 

MATTHIAS BORMUTH Mir kommen die Ehre und die Freude zu, die Schriftstellerin Annette Pehnt und Hans Wedler als Facharzt für Psychotherapeutische Medizin über das Buch Lexikon der Angst ins Gespräch bringen zu dürfen. Als ich es las, dachte ich, dass es auch Lexikon der Einsamkeit heißen könnte, denn verbunden mit dem Phänomen der Angst ist darin die Einsamkeit von großer Bedeutung. Beides sind Gefühle, die jeden modernen Menschen angehen. Annette Pehnts Lexikon der Angst ist zudem ein Buch, das gewissermaßen zwischen den Stühlen geschrieben ist. In ihren Geschichten geht es um Gesunde. Es geht um halbwegs Kranke. Und es geht um die Frage, wie normal wir Menschen noch sind. Wir erfahren von wahnhaften und psychosomatischen Reaktionen und auch von Vermeidungsreaktionen gegenüber dem Leben. Aber das Buch beinhaltet ebenso positive Elemente. Es geht auch um Sehnsüchte und Utopien des Menschen. Der Wunsch nach Erlösung ist gleichsam die Kehrseite der Angst. Annette Pehnts Buch besteht aus 46 kleinen Passagen, in denen das noch nicht Entdeckte eine große Rolle spielt. Das kann sich auf Orte beziehen, die man quasi per Google Earth entdeckt, aber auch auf Menschen, auf geliebte Menschen, oder auf fremde Menschen, vor denen man sich wiederum fürchtet. Annette Pehnts kurze Geschichten bieten uns ein Set von Ambivalenzen. In zwei gelesenen Passagen sollen nun einige dieser kurzen Fallstudien solcher Mittelstandsmenschen, wie ich sie nenne, vorgetragen werden. Dazwischen treten wir ins Gespräch. Frau Pehnt, Sie haben das Wort.

 

ANNETTE PEHNT Ja, so machen wir es, und ich halte mich bei der Auswahl der gelesenen Texte an die alphabetische Reihenfolge. Es geht in meinem Buch von A bis Z, und ich fange an mit einer kleinen Geschichte unter A. Sie heißt Ausgang.

 

[Lesung Annette Pehnts aus Lexikon der Angst, Piper 2013]

Die Stäbe sind dicht, die Türen gehen selten auf

MATTHIAS BORMUTH Vielen Dank für diese ersten Passagen, die uns Einblick in das Leben alltäglicher Menschen geben. Eine der Geschichten trägt den Titel Fort. Mir scheint, die Ambivalenz von Bleiben und Fortgehen ist ein Kernthema Ihres Schreibens. Es geht in dieser Geschichte um einen Menschen, der nicht fortkann, oder in der Geschichte Freigang um ein Kaninchen, dem die Flucht schließlich gelingt, wenn auch mit tragischem Ausgang. Was meinen Sie, wieweit sich ein Mensch in seiner Angst einrichten kann, ohne etwas zu ändern? Und wieweit muss er sich einrichten, wenn er nichts ändern kann?

 

ANNETTE PEHNT Es ist sicherlich das Kernthema all dieser Geschichten, dass sich darin Menschen – auf gar nicht außergewöhnliche Weise, sondern ganz alltäglich – entweder mit ihrer Angst anfreunden oder doch nur arrangieren. Die Ängste und Zustände, in die sie geraten, sind auch Gefängnisse. Die Stäbe sind dicht, die Türen gehen selten auf. Dass es kein Fortkommen gibt, berührt vermutlich meinen Blick auf unseren Zustand. Meine Figuren sind jedenfalls umstellt von vielen Befestigungen und Vorgaben, und dazu gehört auch die Angst. Wenn man sie dann tottritt, wie in der von Ihnen angesprochenen Geschichte das Kaninchen, kann sogar diese Tötung noch zu einer Befreiung werden.

 

HANS WEDLER Als ich die Geschichte Freigang las, in der dieses Kaninchen vorkommt, weckte das bei mir Assoziationen zu Paul Watzlawicks Buch Anleitung zum Unglücklichsein. Die Protagonistin Ihres kurzen Textes macht eigentlich alles, was zum Scheitern verurteilt ist. Sie hält das Tier nicht artgerecht, sondern versucht, Ausflüge mit ihm zu unternehmen. Deshalb ist es geradezu eine selbsterfüllende Prophezeiung, dass das Tier trotz aller Vorsicht schließlich ausgerechnet durch sie zu Tode kommt. Ob die versehentliche Tötung eine Befreiung darstellt, weiß ich nicht. Ich vermute auch eine Trauer dahinter. Und ich spüre eine Einsamkeit, die diese Figur zu überwinden und zu kompensieren sucht.

Die Geschichte mit dem Titel Fort, in der ein Mann auftritt, der nicht fortkann, weil er sich so sehr vor dem Autofahren fürchtet, lese ich als Geschichte einer Phobie. Es gibt von den Spinnenphobien bis hin zur Flugangst sehr viele Formen von Phobien. Das sind generell sehr gerichtete Ängste, die sich nicht auf das Leben insgesamt beziehen, sondern auf einen ganz bestimmten Gegenstand. Der Mann im Text hat eine Auto-Phobie. Sie stellen dar, dass er sich alles Mögliche ausmalt, was passieren könnte. Seine Phobie ist nicht störend, wenn er das Autofahren vermeiden kann, wenn er sich beschränkt und sich nicht zum Mitfahren verführen lässt, auch nicht durch eine reizvolle, erotische Versuchung wie das Mitfahrangebot seiner attraktiven Kollegin. Er kann mit dieser Angst leben. Derartige Ängste haben allerdings immer einen Hintergrund, den wir in seinem Fall nicht kennen. Wir wissen nicht, was ihn in diese Phobie hineingeführt hat.

 

ANNETTE PEHNT Ich möchte gar nicht in dieser Unbedingtheit hören, dass seine Angst vor dem Autofahren eine Phobie ist. Ich zeige den Mann in meiner Geschichte in der Logik seiner Angst, und ich finde jeden einzelnen seiner Vorbehalte so nachvollziehbar, dass mir seine Bedenken überhaupt nicht phobisch erscheinen, sondern eher vernünftig. Aber damit oute ich mich wahrscheinlich gerade auch als Auto-Phobikerin.

Mein Buch ist ausdrücklich kein Nachschlagewerk

HANS WEDLER Ich habe eine Frage an Sie, Frau Pehnt, zu der ersten Geschichte, die Sie vorgelesen haben. In der Geschichte sitzt eine Tochter mit ihrer Mutter in einem Teehaus an der Küste. Ich habe in der Geschichte eine große Aggression gespürt, die auf eine Beziehungsstörung zwischen Tochter und Mutter hinweist, über deren Ursachen wir nichts erfahren. Wo verorten Sie da die Angst? Ich habe bei der Lektüre des Textes nur Wut wahrgenommen.

 

ANNETTE PEHNT Mir gefällt es gut, dass man in den Geschichten nicht immer gleich eine offensichtliche Angst entdeckt oder eine klar zu benennende Phobie. Mein Buch ist ausdrücklich kein Nachschlagewerk, und ich kann Angst auch gar nicht begrifflich fassen. Vielleicht ist das für den Fachmann eher möglich. Ich betrachte das Phänomen der Angst eher wie eine Bienenwabe mit vielen angelagerten angstähnlichen Waben. Und diese Wabe der beiden Frauen gehört für mich auch dazu. Es geht in dem Text und zwischen seinen Figuren um einen Zustand des Machtmissbrauchs. Er verläuft sehr subtil, aber bei der Mutter, der alten Frau, führt er zu einer Fluchtreaktion. Eigentlich möchte sie fort, aber sie kommt nur bis zum Schrank mit dem Teegeschirr. Ihr Fluchtwunsch wird im Text nicht benannt, was durchaus typisch ist. Ich versuche in den Geschichten nicht, alle Befindlichkeiten der Figuren zu benennen oder gar zu erklären. Sie werden nie in ihrer Biografie gezeigt. Wir erfahren nicht, wie eine Angst zustande kommt, sondern sehen die Figuren nur in diesem einen Brennpunkt des Angstmoments. Das ist von mir so angelegt.

Von Hunden kenne ich den Begriff der Angst-Aggression

HANS WEDLER Das ist für mich das Reizvolle an Ihren Geschichten, dass man sie in Gedanken ergänzen und dabei vieles selbst erfinden kann, was vorher vielleicht gewesen ist und nachher noch geschehen wird. Die Geschichte, in der Mutter und Tochter auftreten, stößt mich genau wegen dieser Offenheit darauf, dass Angst und Wut oft die beiden Seiten einer Medaille sind. Wut und Angst hängen viel enger zusammen, als wir es gewöhnlich erleben. Das hat mit unseren Bedürfnissen nach Autonomie und gleichzeitiger Geborgenheit zu tun. Die Erfahrung von Autonomie verheißt Freiheit und macht gleichzeitig auch Angst, während die Geborgenheit eine Verpflichtung mit sich bringt und zu einer Einengung führt, die wiederum zur Wut führt und den Wunsch nach sich zieht, sich zu befreien. Dieser Kreislauf ist typisch für den Zusammenhang zwischen Wut und Angst. In Ihrer Geschichte liegt die Medaillenseite der Wut oben.

 

ANNETTE PEHNT Ich wusste nicht, dass man das so unmittelbar verkoppelt sehen kann. Von Hunden kenne ich den Begriff der Angst-Aggression, weil ängstliche Hunde oft aggressiv sind. Dass es bei Menschen auch so ist, ahne ich natürlich. In den Geschichten liegen diese Gefühle tatsächlich oft eng beieinander.

 

HAND WEDLER In Ihrem Buch sind noch andere Geschichten, die die Verbindung von Wut und Angst aufgreifen.

 

ANNETTE PEHNT Ja, genau. Danke, dass Sie diese Verbindung so deutlich herausgestellt haben!

Meine Figuren machen das ganz still und heimlich mit sich aus

MATTHIAS BORMUTH In der Geschichte über den Machtmissbrauch zwischen Mutter und Tochter steht ein Satz, der mir im Gedächtnis geblieben ist: »Ich lass dich stehen.« Das sagt die Tochter zur Mutter. Die Aggression liegt hier bei der Tochter. Sie artikuliert sie, indem sie Einsamkeit androht. Die Angst, alleingelassen zu werden, liegt auf der Seite der Mutter. Es gibt auch zwei Geschichten, in denen alleinstehende Mütter ihre Söhne heranwachsen sehen. Diese Frauen spüren mit der zunehmenden Autonomie ihrer Kinder, dass sie überflüssig werden. Sie bekommen nicht mehr alles mit und scheiden aus dem Leben der Söhne aus. Hier sehe ich als zentrales Motiv die Einsamkeit und Angst als etwas damit Verbundenes, das, wie bei dem Beziehungsgeflecht von Mutter und Tochter, auch zu Aggressionen führen kann. Meine Vermutung ist, dass dies ein zutiefst modernes Phänomen ist. Wir modernen Menschen sind unerhört autonom und frei, aber die Kehrseite unserer Autonomie ist die Einsamkeit. Herr Wedler, wie ist die Angst davor zu bewältigen?

 

HANS WEDLER Die Geschichten mit den Müttern, die sich überflüssig fühlen, wenn die Kinder erwachsen werden, weisen darauf hin, dass sie Erwartungen an ihre Kinder haben. Sie gestatten ihnen nicht, sich selbst zu entfalten. Dahinter steckt vermutlich eine Erwartung, die vielleicht etwas mit ihren eigenen Geschichten zu tun hat. Vielleicht haben sie selber im Leben eine unbefriedigende Beziehung erfahren. Jedenfalls besteht eine Erwartungshaltung an die Kinder, die erfahrungsgemäß immer zur Katastrophe führt. Wenn Eltern Erwartungshaltungen an ihre Kinder haben, scheitern sie immer daran.

 

MATTHIAS BORMUTH Das schreibe ich mir auf!

 

ANNETTE PEHNT Aber meine Figuren machen das ganz still und heimlich mit sich aus. In diesen Geschichten ist alles in Angst getränkt, aber das wird den Kindern gegenüber nicht geäußert. Die Mütter in diesen Geschichten sitzen nur still zu Hause und hegen die schlimmsten Befürchtungen.

 

HANS WEDLER Glauben Sie wirklich, dass die Kinder das nicht mitbekommen?

 

ANNETTE PEHNT Das erzähle ich nicht, aber das muss man wahrscheinlich annehmen.

 

MATTHIAS BORMUTH Aber Sie erzählen an einer Stelle, wie eine Mutter sich wunderbar zurücknimmt und nichts verlauten lässt von ihrer Sehnsucht, sich zu melden.

 

ANNETTE PEHNT Ja, es platzt fast aus ihr heraus. Sie kann kaum die Lippen aufeinanderhalten. Aber sie schafft es. Sie hält die Lippen zusammen.

Die Angst stellt mir auch Bilder zur Verfügung

MATTHIAS BORMUTH Würden Sie Ihren Figuren raten, zum Arzt zu gehen?

 

ANNETTE PEHNT Dann hätte ich ja kein Material mehr. Ich kann nur wiederholen, was ich schon zu der Figur des Auto-Phobikers sagte: Ich tue mich wirklich schwer damit, die Ängste meiner Figuren als krankhaft zu bezeichnen. Wenn sie zum Arzt gingen, hieße das ja, dass sie etwas haben, was man im Zweifel heilen kann. Natürlich haben sie etwas. Wir haben alle etwas, allein schon, weil wir hier sitzen, mit ganz zerbrechlichen, sehr schnell alt werdenden Körpern. Weil wir demnächst alle sterben werden. Und das wissen die Figuren auch. Eine ganz wesentliche Angst in den Geschichten ist die Angst vor dem Kaputtgehen, vor dem Sterben. Damit kann man nicht zum Arzt gehen.

 

MATTHIAS BORMUTH Eine Frage an Herrn Wedler: Haben Sie solche Patienten?

 

HANS WEDLER Ja, natürlich. Und Phobien kann man behandeln. Man kann, wie ich schon sagte, aber auch mit ihnen leben. Phobien sind Ängste, die sich ganz gezielt auf eine Lebenssituation richten, beispielsweise auf den Kontakt mit Spinnen. Eine Spinnenphobie können Sie behandeln. Damit kann man einem Menschen das Leben erleichtern, weil er sich dann nicht ständig vor Spinnen fürchten muss. Das Gleiche gilt für die Auto-Phobie. Nach einer erfolgreichen Behandlung ist es wieder möglich, Auto zu fahren.

Frau Pehnt, Sie sagen, dass viele der Ängste, die Sie darstellen, eine Berechtigung haben. Natürlich ist das zutreffend! Wir leben alle gefährlich und es kann durchaus sein, dass wir in Gefahr geraten. Aber wir verfügen auch über Erfahrungswerte und wissen um Wahrscheinlichkeiten, mit denen gefährliche Dinge eintreffen. Auch wenn Sie mit dem ICE fahren, statt mit dem Auto, ist es bekanntermaßen nicht völlig ausgeschlossen, dass dabei ein Unglück geschieht.

 

ANNETTE PEHNT Das ist der faktische Blick, der mögliche Gefahren objektiv und nach statistischen Daten auswertet. In den Figuren ist aber – und da bin ich ihnen sehr nahe – die Logik der jeweiligen Angst viel überzeugender.

Herr Bormuth, ich möchte noch einmal auf Ihre Frage zurückkommen, ob ich mein literarisches Personal zum Arzt schicken würde. Vorne in das Buch habe ich einen Satz von Else Lasker-Schüler geschrieben. Ich zitiere: »Die Angst, die mich durchs Leben trieb, die lernt’ ich, da sie bei mir blieb, wie einen echten Freund zu lieben.« So eine Aussage ist vermutlich für einen Arzt nicht sehr plausibel, der Menschen erlebt, die von ihren Ängsten gelähmt sind, aber ich sehe in der Angst auch einen gewissen Reichtum. Das ist nicht zynisch gemeint, aber die Angst stellt mir auch Bilder zur Verfügung, Fantasien, die ich zum Beispiel künstlerisch umsetzen kann, die ich in Sprache fassen kann, oder in Klänge. Ob man Extremzustände immer abschleifen sollte, weiß ich nicht. Als Künstler brauchen wir sie jedenfalls.

 

MATTHIAS BORMUTH Sie meinen, Ihnen nutzt die Angst?

 

ANNETTE PEHNT Im Hinblick auf ihre literarische Verwertbarkeit: unbedingt! Aber Angst kann bestimmt auch ein Leiden sein. Damit werden Sie mehr zu tun haben, Herr Wedler.

 

HANS WEDLER Ich möchte noch einen anderen Aspekt ansprechen. Mir ist aufgefallen, dass in Ihren Geschichten die körperlichen Sensationen, die mit der Angst regelhaft verbunden sind, sehr wenig beschrieben werden. Bei dem Mann mit der Autofahr-Phobie treten sie auf. Er hat Schweißausbrüche, feuchte Hände, feuchte Füße. In den anderen Geschichten werden sie sehr zurückgenommen oder gar nicht thematisiert. Aber eigentlich ist Angst für uns gerade deshalb so belastend, weil sie zu vegetativen Äußerungen führt, zu Schweißausbrüchen, zum Zittern, zu Schwindel, zu Kopfschmerzen. Letztendlich führt die Angst im Extremfall zu einem unerträglichen Zustand, der tatsächlich abgestellt werden muss. Andernfalls kann der Gedanke aufkommen, damit nicht mehr leben zu können. Die Angst führt dann bis zur Panik, bis zu einer richtigen Panikstörung, die den Atem nimmt. Eine Angst ohne diese vegetativen Äußerungen fällt eher in die Kategorie der Befürchtung. Mit Befürchtungen können wir sehr wohl rational umgehen.

 

ANNETTE PEHNT Ja, da haben Sie vollkommen recht. Ich hatte schon angesprochen, dass für mich die ganze Bandbreite der möglichen Erscheinungsformen dazugehört. Ich arbeite nicht zu einem Begriff, sondern denke mir Geschichten aus, die auf einem Spielfeld stattfinden. Dieses Spielfeld ist umstellt von verschiedenen Befindlichkeiten, die sich in manchem vielleicht ähneln oder berühren. Die Angst ist dabei die extremste, vermutlich auch am meisten körperlich fundierte Empfindung. Daneben stehen Befürchtungen, steht das Unbehagen, stehen Erniedrigungen und die Furcht davor. Ich wollte aber keine Begriffsklärung geben, sondern vielmehr dieses ganze Areal erzählerisch ausloten. Dabei bleibt es unscharf. Das soll es aber auch sein.

Vielleicht genießt sie einfach nur die Macht der Autorschaft

MATTHIAS BORMUTH Zum Areal gehört in der Geschichte Druck der fremden Finger auch eine Frau, die beim Besuch einer Kosmetikerin in die Rolle einer Therapeutin schlüpft. Ich frage mich, ob ein Teil der Angstbewältigung durch das Einnehmen von Alltagsrollen erfolgt. So wie die Kosmetikerin in der Geschichte für die Frau eine Bedeutung erhält, weil sie sie körperlich pflegt, scheint auch die Pseudo-Therapeutin eine kathartische Position für die Kosmetikerin zu bekommen. Haben Sie das bewusst so angelegt, Frau Pehnt? Sind solche alltäglichen Rollenspiele zwischen Menschen für Sie eine Möglichkeit der Angstbewältigung?

 

ANNETTE PEHNT Nein, gar nicht. Für mich ist diese Therapeutin eher eine Geschichtenerzählerin. Sie ist diejenige, die sich für jede Begegnung eine neue Rolle erfindet und damit eigentlich die Autorin ihrer selbst ist. Das eröffnet ihr einen großen Spielraum, den sie mit viel Lustgewinn auch vollkommen einnimmt. Dann aber nutzt sie den ständigen Diskurs über unsere psychischen Befindlichkeiten – in diesem Fall über Angst –, um Macht zu erlangen. Ich glaube nicht, dass sie der Kosmetikerin in irgendeiner Form hilft. Sie inszeniert sich eher für ihren eigenen Machtgewinn. Das funktioniert so gut, weil wir alle sofort darauf anspringen, wenn jemand uns vermeintlich in die Seele schaut. Darauf warten wir doch alle!

 

MATTHIAS BORMUTH Ist das so?

 

ANNETTE PEHNT Ich kenne es jedenfalls als Mechanismus. Ich beobachte tatsächlich, dass überall über psychische Befindlichkeiten gesprochen wird. Auch bei Kosmetikerinnen. Vielleicht ist dort nicht gerade die tiefste Angst das Thema, aber über Befindlichkeiten erreicht man die Menschen, und das nutzt diese Geschichtenerzählerin. Sie will ihr Publikum erreichen, so wie ich auch.

 

HANS WEDLER Aber die Geschichtenerzählerin trauert darum, dass sie die Rolle nicht weiterführen kann. Ist es nicht auch eine Form der Angstabwehr, immer wieder eine neue Identität anzunehmen?

 

ANNETTE PEHNT Wenn man die Biografie dieser Frau erzählen würde, könnte es bestimmt damit zu tun haben, …

 

HANS WEDLER … dass sie ihre eigenen Ängste damit in Schach hält?

 

ANNETTE PEHNT Aber vielleicht auch nicht. Vielleicht genießt sie einfach nur die Macht der Autorschaft.

 

HANS WEDLER Vielleicht auch beides.

 

MATTHIAS BORMUTH Wir sprechen jetzt schon eine ganze Weile über Angst. Und es ist deutlich geworden, dass die Bandbreite der Erscheinungsformen, die man ihr zuordnen kann, sehr weit gefasst werden muss. Frau Pehnt sagte vor einer Weile, sie könne die Angst nicht begrifflich fassen. Aber Herr Wedler kann es. Gibt es aus Ihrer Profession eine kurze, prägnante Definition zum Begriff »Angst«?

 

HANS WEDLER Angst ist zunächst ein notwendiger Bestandteil jedes Menschen. Wir können ohne Angst gar nicht leben. Sie ist grundsätzlich ein Schutzmechanismus, so wie der Schmerz ein Schutzmechanismus ist. Wir wollen auch alle keinen Schmerz haben, aber wenn wir keinen Schmerz empfinden könnten, könnten wir nicht überleben. Genauso ist es mit der Angst. Es wird nur schwierig, wenn sie sich steigert, übersteigert, generalisiert. Wenn sie sich plötzlich gegen alles richtet, oder auf ein ganz bestimmtes Objekt. Und dann gibt es auch noch Ängste im Zusammenhang mit psychischen Erkrankungen. Reicht das?

 

MATTHIAS BORMUTH Ja, danke. Das ist hilfreich, um vieles von dem noch einmal einzuordnen, was in dem Gespräch schon angeklungen ist. Annette Pehnt würde jetzt wahrscheinlich sagen: Bei meinen Figuren ist die Angst noch im Bereich des notwendigen Schutzmechanismus. Sie sind überhaupt nicht therapiebedürftig, weil sie keine krankhafte Angst haben. Auf jeden Fall holen Sie damit die Angst wieder ein Stück weit aus der pathologischen Ecke heraus und mitten in unseren Alltag hinein. Und im Alltag spielen auch die Geschichten von Annette Pehnt. Es ist an der Zeit für neue Geschichten. Wollen Sie noch einmal lesen, Frau Pehnt?

 

ANNETTE PEHNT Inzwischen sind wir bei G wie Geschenke.

 

[Lesung Annette Pehnts aus Lexikon der Angst, Piper 2013]

Sie wollen meine Figuren unbedingt zurück auf die Spur setzen

MATTHIAS BORMUTH Auch mit den jetzt gelesenen Texten haben Sie eine ganze Palette von Möglichkeiten des Lebens gezeichnet. Sie reicht von dem jungen Mädchen in der zuletzt vorgestellten Geschichte bis zu den »veralltäglichten Paaren«, so möchte ich sie bezeichnen, die schon seit Jahren zusammenleben und sich anscheinend irgendwo zwischen der Gewöhnung und dem dringend gesuchten Außergewöhnlichen bewegen. Für mich sind diese Geschichten sehr eindrücklich, fast möchte ich sie als tragisch bezeichnen. Sind diese Figuren verantwortlich für ihre Situationen? Können sie etwas an ihnen ändern? Sollen sie zum Ehetherapeuten? Oder sieht so einfach die menschliche Realität aus?

 

ANNETTE PEHNT Sie wollen meine Figuren unbedingt zurück auf die Spur setzen, oder?

 

MATTHIAS BORMUTH Nein, ich frage, weil ich deren Erfahrungen bestürzend und tragisch finde.

 

ANNETTE PEHNT Aber das ist der Stoff, aus dem unser Alltag doch tatsächlich besteht! Aus kleinen Verzichten, aus Großzügigkeiten, aus Fantasien von Möglichkeiten, die sich uns immer wieder verschließen. Aus Spielereien. Aus Verlustgefühlen. Aus alldem besteht dieses ganze Gewebe, in dem wir uns so einverständlich bewegen. Der Begriff »tragisch« erscheint mir dafür zu groß gesetzt. Wenn Sie mit Tragik meinen, dass es keinen Ausweg gibt, egal in welche Richtung man geht, dann gebe ich Ihnen recht. Dann aber muss ich mich zu der Behauptung versteigen, dass unser Leben tatsächlich tragisch verläuft. Vielleicht kann man es aber doch auch weniger pathetisch ansehen. Oder was meinen Sie?

 

MATTHIAS BORMUTH Herr Wedler, helfen Sie uns!

 

HANS WEDLER Ihre Geschichte mit dem Titel Geschenke beschreibt eine eindeutige Beziehungsproblematik, ein unausgesprochenes Ausweichen vor sexuellem Kontakt in einer Beziehung. Ich finde es durchaus problematisch, dass dieses Ausweichen von den Figuren nicht angesprochen wird. Es wird Gründe dafür geben, dass die beiden in diese Beziehungskrise hineingeraten sind. Wir kennen diese Gründe aber nicht. Ich vermute, dass es so nicht mehr lange weitergehen wird, denn so kann man nicht lange miteinander leben.

 

ANNETTE PEHNT Doch, klar kann man das!

 

HANS WEDLER Ich möchte bezweifeln, dass man so über längere Zeit miteinander leben kann. Und bei der Geschichte mit dem Titel Springkraut hätte ich als Psychosomatiker den Verdacht, dass es die Angst vor sexuellem Versagen ist, die die beschriebene Erstarrung verursacht. Diese Angst scheint sich jedoch aufzulösen in der neuen Begegnung, die sich andeutet. Das wäre ein positiver Ausgang, der sich in den meisten Geschichten nicht öffnet.

In der Geschichte mit der Espressomaschine, sie steht unter dem Titel Tsunami in Ihrem Buch, entwickelt sich meiner Ansicht nach bei der Frau eine Depression. Sie kann sich nicht mehr freuen. Sie möchte ihrem Mann zwar etwas Gutes tun und ihm mit einer Kaffeemaschine ein riesiges Geschenk machen, aber sie merkt, dass sie sich über gar nichts mehr freuen kann. Das klingt für mich nach dem Beginn einer depressiven Entwicklung.

Ich habe keine Fallstudien geschrieben

ANNETTE PEHNT Meine Figuren werden jetzt plötzlich doch alle zu Patienten.

 

MATTHIAS BORMUTH Schützen Sie sie!

 

ANNETTE PEHNT Es gibt doch aber in jeder Beziehung den Moment der Bilanz, in dem man feststellen muss, dass die Frische der Eindrücke oder der Reiz der Erfahrung ermüdet ist oder sich abgelebt hat.

 

HANS WEDLER So sehr, dass sie sich nicht mehr freuen können?

 

ANNETTE PEHNT