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Walter Schübler

Anton Kuh

Biographie

 

 

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet

diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;

detaillierte bibliografische Daten sind im Internet

über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

 

 

 

© Wallstein Verlag, Göttingen 2018

www.wallstein-verlag.de

Umschlaggestaltung: Susanne Gerhards, Düsseldorf,

© SG-Image unter Verwendung einer Karikatur von L. Unger, 1931.

ISBN (Print) 978-3-8353-3189-1

ISBN (E-Book, epub) 978-3-8353-4209-5

Inhalt

Vorbemerkung

Personsbeschreibung

»Eine wahre Wedekind-Tragödie« – Wie er wurde

1909 – 1917

»Sodbrennen im Artisten-Café« – Der Sprechsteller

1917 – 1919

»Polemische Lassos« – Der »apostolische Denunzius« K. Kraus

1919 – 1920

Reinstes Deutsch vs. beste Mehlspeis – Anton Kuhs »Prager Herkunft«

»Mit den Waffen von Otto Gross und Sigmund Freud ins jüdische Schlafzimmer« – »Juden und Deutsche«

Wie der Herr, so ’s G’scher – »Kraushysterische Peter Zapfels«

1921

Beim »Personal der Welt« – Etabliert

1921 – 1922

»Akustischer Kehraus einiger Nachmittage« – »Von Goethe abwärts«

»Die Druckerschwärze ist noch frisch« – »Börne, der Zeitgenosse«

1923 – 1924

»Der Rest ist Speiben« – Theater-Kritiker

1924 – 1925

»Eine Unternehmung wie jede andere« – »Die Stunde«

»An seinen Früchteln sollt ihr ihn erkennen« – »Der Affe Zarathustras«

1925 – 1926

»Wehe dem, der das letzte Wort hat« oder: Außer Spesen nichts gewesen – Prozeß K. Kraus vs. Anton Kuh

1926

»In jeder Beziehung die freieste Stadt der Welt« – Berlin

Eleve am Theater in der Josefstadt – Als Kritiker Gunn in »Fannys erstes Stück«

»Herzlich grüßt Anton Kuh!« – Trittbrettfahrer einer aktennotorischen Fehde

1926

Ethos und »Ethospetetos« – Anton Kuh vs. Karl Kraus

1926

In einem Gefühl »unterirdischen Corpsgeistes« – Bewerbung bei Maximilian Harden

1927

»Verpatzter Äther« – Im Radio

Tonfilmdrama »A conto« – Drehbuchautor

1928 – 1930

A. E. I. O. U.? – L. M. I. A.! – »Der unsterbliche Österreicher«

1930

»Wenn der Literat den Raufbold spielt …« – Anton Kuh vs. Arnolt Bronnen

Nestroy, verpreußt – Anton Kuhs »Lumpacivagabundus«-Bearbeitung

1931

Abbildungen

»Kuhrioses« – In der Anekdote

1931 – 1932

»Bis aufs psychologische Beuschel« – »Physiognomik« und Physiognomik

»Einen Knobel-Penez …« oder »Ein Bier für Herrn Kraus!«? – Das Geheimnis hinter dem roten Vorhang

1932 – 1933

»Weit? … Von wo?« – Der »Emigrant in Permanenz« im Exil

1933 – 1936

»Ein Klavier auf dem Wintergletscher?!« – »The Robber Symphony«

1936 – 1938

»Undesired expert« in den USA – New York, in Etappen

1938 – 1941

Anhang

Anmerkungen

Chronologie

Dank

Siglen und Abkürzungen

Quellen und Literatur

Bildnachweise

Personen- und Werkregister

 

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Veröffentlicht mit Unterstützung

des Austrian Science Fund (FWF),

Einzelprojektförderung P26346-G23

und Publikationsförderung PUB 540-G24

 

»Zu der unvergeßlich bunten, zum Teil leider schon verblichenen Menschenlandschaft, die der Sonnenuntergang der europäischen Kultur gerade noch bestrahlte, gehör[t] u. a. […] Anton Kuh –«[1]

Max Reinhardt

 

 

»Ulrich erinnerte sich einer ähnlichen Erfahrung aus seiner Militärzeit: Die Eskadron reitet in Zweierreihen, und man läßt ›Befehl weitersagen‹ üben, wobei ein leise gesprochener Befehl von Mann zu Mann weitergegeben wird; befiehlt man nun vorne ›Der Wachtmeister soll vorreiten‹, so kommt hinten heraus: ›Acht Reiter sollen sofort erschossen werden‹ oder so ähnlich. Auf die gleiche Weise entsteht auch Weltgeschichte.«[2]

Robert Musil

 

– Auf die gleiche Weise entstand auch das »Nachleben« Anton Kuhs.

Vorbemerkung

Dies Buch schmeckt, wo möglich, »nach den Quellen«.[1] Sie geben »den Augen und Sinnen sozusagen den Kammerton A«.[2] Der sprachliche Eigenwert des Quellenmaterials vermittelt eine Ahnung von der Zeit, aus der es stammt, von der »akustischen Atmosphäre«, in der Anton Kuh sich bewegte.

Auf den »O-Ton« zu setzen, wenn Kuh am Wort ist, lag umso näher: Ihn zu referieren ist nicht annähernd so unterhaltsam wie ihn zu zitieren.[a]

Die Exkurse sind Umwege, die die Ortskenntnis erhöhen.

Zur Methodik nur so viel: Die Kapitel »›Kuhrioses‹ – In der Anekdote« und »›Einen Knobel-Penez …‹ oder ›Ein Bier für Herrn Kraus!‹?« sind hier auch programmatisch. Gelegentlich lasse ich ohnehin ins Getriebe blicken – hoffend, daß dabei keine Verstimmung aufkommt.[3]

Dies Buch leistet auch die Rekonstruktion von Kuhs Hauptwerk: seiner Stegreif-Reden. Sie sind die Wegmarken.

 

 

 

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a      Den Nachweisen von Texten Anton Kuhs wird in eckigen Klammern die in den »Werken« (Göttingen 2016) dafür jeweils vergebene Nummer beigefügt; sie sind dort leichter zu finden als an den Erstdruckorten. Innerhalb von Zitaten aufgehobene Absätze werden mit einem Schrägstrich markiert.

Personsbeschreibung

Größe: 1.74. Statur: »gracil«[1]. Gesicht: länglich. Haare: schwarz. Augen: braun. Mund: »normal«. Nase: »normal«. Besondere Kennzeichen: keine.[2]

Hat einen »leicht trippelnden, zwar etwas hüftweichen und gezierten, aber durchaus flotten Gang«.[3]

Trägt seit seinem 19. Lebensjahr im linken Auge ein Monokel – Durchmesser: 42 Millimeter, minus 3,5 Dioptrien –, das sich nicht »preziösem Geckentum«[4] oder schmissigem Kommißgeist verdankt, sondern – ganz konkret – Alleinstellungsmerkmal ist und das nervöse Zwinkern des Auges nicht gänzlich verbergen kann.

Mauschelt klangreich exzessiv, um »das latente Jüdeln um [ihn] herum in ein eklatantes zu verwandeln«.[5] Gegen jede Konjunktur und inmitten eines virulenten Antisemitismus trägt er sein Judentum auch sprachlich zur Schau: Er mauschelt – Punktum! Spricht also ungeniert – ungeniert von der Diffamierungsabsicht, die mit diesem antisemitischen Kampfwort verbunden ist – und ohne distanzierende Anführungszeichen ein Deutsch mit stark jiddischem Akzent. Jede sprachliche Parodie hebt darauf ab: »Die Rolle des katholischen Priesters in ›Maria Stuart‹ spielt Anton Kuh. Do hätt’ sich kaum e Geeigneterer finden lossn!«[6] – »In dieser total verbocheten Welt, die das Strahlende in adäquat benebbichter Art in den Staub zu ziehen wie das Erhabene zu schwärzen liebt, sehne ich den Augenblick herbei, wo, von der Parteien Haß und Gunst verwirrt, das Bild meines, und wenn Sie zerspringen, Charakters schon endlich in der von Trotteln über dieselben und für dieselben gemachten Literaturgeschichte schwankte.«[7]

Trägt bestes englisches Tuch, auf Maß gearbeitet vom Nobelschneider Kniže.

Starker Raucher.

Bekennender Neurastheniker, einer jener Nervösen mithin, die als Phänomen der modernen, »beschleunigten«, überreizten Jahrhundertwende-Großstadtkultur beschrieben wurden.[8] Hält sich auf »die Nervosität als Witterungssprache zwischen den Menschen« durchaus etwas zugute, wenn er sie mit der »robuste[n] Geschlossenheit unnervöser Menschen« vergleicht.[9] Die Kehrseite dieses »unglückseligen Danaergeschenks« eines übersensiblen Temperaments: Die auf Permanenz gestellte Aufgekratztheit nagt an der Substanz. Kuraufenthalte schon in jungen Jahren können das Tempo, in dem die Kerze von beiden Enden abbrennt, nicht mindern.

Hegt seine Idiosynkrasien, namentlich jene gegen die »Feschität« in all ihren Erscheinungen:[10] gegen die schmissige Offiziersschneid; die Kreuzfidelität der Operette; die kecke, sich kühn wähnende Andersmeinung, die sich, genau besehen, nur triumphanter Unbildung schuldet; die fixfingerig »flotte« Schreibe, die schlicht oberflächlich ist; die glatte, ganz auf up-to-date gebürstete Versiertheit; die blickheischende Pose der Ungezwungenheit; den »Feschak«, der mit neckischen Accessoires »Charakter« und »Persönlichkeit« markiert und doch nicht kaschieren kann, daß er seicht ist.

Hotel-Jahresmieter seit seinem 17. Lebensjahr. – Häuslichkeit, »Heim« sind ihm Vorschein des Todes. Er ist geradezu manisch auf Achse. Unterwegs – ob zu Vorträgen oder privat –, hat er das »beruhigende« Gefühl, »Durchgangspassagier der Erde zu sein«.[11]

Bohemien, ostentativ. Das ist ihm keine Attitüde, die sich darin erschöpft, später aufzustehen als andere Leute, den restlichen Tag von drei, halb vier Uhr nachmittags bis Mitternacht im Kaffeehaus, dann in Bars zu verbringen, dem Alkoholgenuß zuzuneigen, seine Zechen aufschreiben zu lassen, seine Papiere in Unordnung zu haben, seine Haare unfrisiert zu tragen, Artikel nicht zu liefern, für die er schon Vorschuß kassiert hat, seine Liebschaften öffentlich zu erledigen.[12] Vielmehr besteht er darauf, über jene Fasson, die vom bürgerlich-behördlichen Gesetzbuch zugeschnitten wird, hinaus selig zu werden.[13] Nimmt sich die Freiheit, nach dem Wahlspruch »Quod licet bovi, non licet Jovi!«[14] zu leben, oder: Alles, was Gott verboten hat. Nachtschwärmer, dem der Morgen »kein Anfang ist, sondern ein Ausklang«, zu dem Begriffe wie Décadence, Eros, Geliebte, Aroma, Freude, Anarchismus gehören,[15] der »im Achtstundentag der Arbeit eine geringere Dotation des Erdenglücks und der Freiheit erblickt als in der Vierundzwanzigstundennacht der Liebe«.[16] Läßt keine Gelegenheit aus, das »Épater le bourgeois« geistlaunisch zu exerzieren. Immer wieder gelüstet’s ihn, »aus bösem proletarisch-ruppigem Trieb« die Auslagenfenster einzuschlagen, hinter denen sich wer oder was auch immer dem gutbürgerlichen Idyllenbedürfnis darbietet.

»Schmutzfink der Aufrichtigkeit«, ist er ein »geborene[r] Spielverderber«.[17] Bildung ist ihm kein zeitfernes Ornament, sondern »Instrument eines zeithellen Verstandes«.[18] Dem Zeremoniellen, dem Würde-Getue, der Attitüde der Wohlanständigkeit, dem Neid, der sich als Sittlichkeit drapiert[19], begegnet er in antibürgerlichem Affekt mit dem Götz-Zitat.

Als »physiologisch linksstehende[r] Mensch« ist er zwar gegen die Unfreiheit, aber für den Adel, soll heißen: »gegen das Privileg auf die reinen Hemden […], aber nicht gegen die reinen Hemden selbst«.[20] Und wenn er auch »ein Gymnasialbolschewik« war – »in der Religionsstunde Spartakussist« –, vor die Wahl gestellt »zwischen dem schlimmsten Seelenquäler, der den Katalog als Bakel schwingend wie ein Caracalla dastand, und [s]einem Nebenmann, der [ihm] mit zuckendem Kretinslächeln zuraunte: ›Uj jessas, der Profax!‹ – [er] lief zur Monarchie.«[21]

»Hamsunist«: Läßt sich vom Lebenswind treiben, »ohne nach moralischen Wertungen und Handlungen zu lechzen, aber doch immer mit der tiefen Freude am Wunder des Daseins«; genießt das Leben »wie eine paradiesische Wildnis […], voll Voraussetzungslosigkeit, aber nicht mit der Koketterie des Nichtstuers, mit ein bißchen Melancholie, aber ohne Pose«: ein »aristokratischer Landstreicher«.[22]

»Zeitlebens ein Besitzloser«, und das »aus Überzeugung fast mehr als aus Zwang«[23], hat er, der gut verdient, ständig Schulden. Er schnorrt, hat aber mit der Zunft der kleinen Schnorrer nichts am Hut – er schnorrt stilvoll und in großem Stil, ist darin »Weltklasse«[24]. Er kennt eine Unmenge Leute aus den besten Kreisen, die er anpumpen kann – Rudolf Kommer, der Galerist und Kunsthändler Fritz Mondschein (nachmals Frederick Mont) und später dann Alexander Korda zählen zu seinen Mäzenen –, zudem besteuert er zahlungskräftige Zeitgenossen. Leo Perutz, den er in Salzburg einmal als »Geschäftsträger« zu Erich Maria Remarque schickt, um diesen um 400 Schilling anzupumpen, spielt Kuh den bösen Streich, nur 4 Schilling 20 zu fordern, was dessen Pläne dann gehörig über den Haufen wirft: eine Gemeinheit, die Kuh Perutz lange nachträgt.[25]

Ob im Kaffeehaus oder in teuren Restaurants: Er zahlt nie selbst, immer begleicht einer aus der Runde die Rechnung für ihn. Schließlich beschenkt er die Runde in verschwenderischem Maß durch seine Anwesenheit, »mit geistreichem Klatsch, mit Quintessenzen neuester Philosophien«.[26]

Exzedent. Das Ungestüme, Lodernde, Sichselbstverzehrende zeichnet nicht allein den Stegreif-Redner aus, Kuh lebt nach dem Wahlspruch, mit dem Walter Pater das Wesen des Künstlers beschreibt: »in die Minute des Daseins möglichst viel Pulsschläge zusammendrängen«[27] – exzessiv. Er würde die »Rolle des Exzedenten«, dem nichts Menschliches fremd ist, gegen keine andere tauschen wollen.[28] Wenn dabei auch nichts andres als Störung der Ruhe herauskäme, insistiert er: »Vive l’excès!«[29]

»Vor das Glück haben die Götter nicht den Schweiß gesetzt«, setzt er seiner Aperçu-Sammlung »Von Goethe abwärts« als Motto voran.[30] Hegt seine Abneigung gegen das »Problemateln«, gegen »Tanzproduktionen mit Weltanschauung«[31], gegen die »tiefbohrend-deutsche Ekstase, die sich mit dem Tatbestand der gottgefälligen Heiterkeit nicht zufriedengeben kann«[32].

Hat als Individualist eine »Scheu vor der Massenakustik, vor Aufzügen, Emblemen, Redensarten, vor allem aber vor dem donquichotisch-pathetischen ›Wir‹«[33].

Bekennender »Gegenteils-Fex«[a][34], ist er »ein Ausnahmsfall von renitentem Geist«[35], für den es »ein einziges argumentum ad rem« gibt: »das argumentum ad hominem«[36] – ganz nach dem Motto: »Nur nicht gleich sachlich werden! Es geht ja auch persönlich.«[37]

Provoziert gern, legt den Finger auf den wunden Punkt, ist goschert und »geschmacklos« und bis zuletzt programmatisch »taktlos«: »Wo das Wort ›taktlos‹ fällt, ist man bald im Bilde! Die den gelben Fleck noch innerlich, in ihrem subalternen, kulturübertünchten Herzen tragen, sind stets die geborenen Flüsterer und ›Pst!‹-Macher. Bekleiden sie aber gar den Hofratsrang, jene Würde also, wo das Buckerlmachen und Leisetreten nach oben sich mit dem Profoßenton nach unten verbinden darf, dann bekommt der ›Takt‹ einen Polizeicharakter.«[38]

Mit sich selbst verfährt er ebenfalls keineswegs zimperlich. Selbstironisch, macht er kein Gewese um sich. Daß er als Stegreif-Sprecher und damit Artist vom Zimmermädel seines Wiener Hotels auf eine Stufe mit deren Tante, der »Tätowierte[n] aus’n Wurstelprater«, gestellt wird, jener Riesendame, »deren ganzer Leib mit pikanten Bildern bemalt ist (›Konswärkä … lauter Konswärkä … Konswärkä an den Armen, Konswärkä an den Beinen, ja Konswärkä sogar auf dem Steiß …!‹ verhieß der Ausrufer)«[39], amüsiert ihn. Daß er immer und überall allesamt in Grund und Boden sprudelt, seinem Laster des Nicht-zu-Wort-kommen-Lassens, schreibt er’s schmunzelnd zu, daß er nach Jahren in

 

Paris noch kein einigermaßen akzeptables Französisch spricht. Und den billigen Scherz mit seinem Namen, »daß es für einen distinguierten Ausländer [in Paris] kein größeres Malheur gibt, als ›Kuh‹ zu heißen«, versagt er sich auch nicht.[40][b] Und wenn ihm der Ober des Café Central mitteilt, daß sein Hund während des Kuraufenthalts seines Herrchens täglich dessen Kaffeehausstunden gehalten habe, und auf die verdutzte Nachfrage »Und was tut er hier?« die Antwort erhält: »Na nix. Er bettelt die Leut’ an, setzt sich zu dem und zu dem«, schießt ihm durch den Kopf: »Meine Lebensweise!«[41] Und wenn er darüber schreibt, daß Peter Altenberg seine Unabhängigkeit an Nachtlokalmäzene verkaufte, kann er sich die nachdrückliche Nebenbemerkung »ein leiser Merks für den Schreiber dieser Zeilen!« nicht verkneifen.[42]

Eindrücke

»Fahrig und haltlos, sozusagen aus Grundsatz, sprudelte er grossartige Spracheinfaelle von sich, er wiederum kein beschaulicher Zecher, sondern ein passionierter Sich-Betaeuber, achtlos seiner Gesundheit wie der buergerlichen Sittsamkeit gegenueber. Er hatte etwas Meteorhaftes, jaeh Aufblitzendes und Verhuschendes, […] er loderte und verlosch in einem Rausch von Sprachironie, Schlagfertigkeit und Verstandesueberschaerfe.«[43]

 

»[D]ieses von Leidenschaften fast zerrissene Antlitz, von schwarzem lockigem Haar gleichsam überflammt […]; die Gestalt […] eines Tänzers: eine sprudelnde Beweglichkeit, Lebhaftigkeit, ein […] Sichausschleudern von Gestikulationen. […] Gesten […], wie wir sie von Bacchanten annehmen.«[44]

 

»Mittelgroß, schlank, beweglich, fahrig mit einem immer bleichen Gesicht, zwischen dessen riesenhaften Poren sich stets ein nervöses Zucken bewegte, mit auf und ab wippenden schweren Augensäcken, schnell auf- und zuklappenden Augenlidern, einem Mund mit gewaltigen Lippen, einer dunklen wilden Zigeunermähne, deren Locken er unablässig mit kurzen schnellen Bewegungen zurückwarf, einem zerklüfteten Gesicht voll Klugheit und Hinterhältigkeit, in dem ein übergroßes Einglas festgerammt klebte.«[45]

 

 

 

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a      Franz Jung sieht 1930 Anton Kuh, neben Franz Blei, unter den prospektiven Mitarbeitern seiner in Gründung befindlichen Monatsschrift »Gegner«, die »gegen die herrschende Ansicht in ihrem Stoffgebiet Prinzipielles zu sagen haben«, als Garanten für den programmatischen »geistigen Außenseiter-Standpunkt« des Periodikums (Franz Jung: Prospekt für den Inhalt der Zeitschrift. In: Briefe und Prospekte. Dokumente eines Lebenskonzeptes. Zusammengestellt und kommentiert von Sieglinde und Fritz Mierau. Herausgegeben von Lutz Schulenburg. Hamburg 1988 [= Franz Jung: Werke in Einzelausgaben, Bd. 11], S. 170-171).

b      Französisch und also »Küh« ausgesprochen, ist Kuh appositionslos schlicht der Arsch (»cul«) oder als »Cul de Paris« eine Modeschöpfung des Fin de siècle, »dazu bestimmt, dem Hinterteil der Damen […] graziös hervorgehobene Geltung zu verschaffen« (Friedrich Torberg: Die Tante Jolesch oder Der Untergang des Abendlandes in Anekdoten. München 1975 [= Gesammelte Werke in Einzelausgaben, Bd. VIII], S. 252).

»Eine wahre Wedekind-Tragödie« –
Wie er wurde

»Ein reines Wedekind-Drama« sei ihre Familie, klagt Auguste Kuh Ende 1919 Hermann Bahr ihr Leid.[1] – Welche Rolle verkörpert darin ihr Sohn Anton? Und wer sind die Dramatis personae?

Auguste Kuh, am 22. Januar 1855 in Prag als Tochter des Lederhändlers Baruch Perlsee und dessen Gattin Franziska geboren und seit 24. Dezember 1882 mit Emil Kuh verheiratet, 1885 Umzug nach Wien.

Georg Kuh, ältester (überlebender[2]) Sohn, Jahrgang 1888, studierter Jurist, geht als Bankbeamter Anfang 1914 in die USA, kann dort nicht Fuß fassen und kehrt Mitte 1917 nach Wien zurück.

Anton Kuh, am 12. Juli 1890 geboren, »über dessen ›geistige Manieren‹ man sich [zwar] hie und da in Wien beklagt hat«, aber in den späten 1910er Jahren die »einzige junge Elementarkraft unseres Journalismus«[3].

Margarethe »Grete« Kuh, am 1. September 1891 geboren, im Ersten Weltkrieg freiwillige Krankenpflegerin und ab 1917 »Private«[4].

Marianne »Mizzi« Kuh, geboren am 30. Januar 1894, Krankenschwester, laut Meldezettel: »Private«.[5]

Anna »Nina« Kuh, am 15. Oktober 1897 geboren, die am 20. Juni 1918 bei einer Vernehmung zu Protokoll gibt: »Schulbildung: Volks-, Bürger- u. Handelsschule«, »Beruf und Stellung im Berufe: Keinen«.[6]

Johann »Hans« Kuh, Jahrgang 1895, hat die Szene bereits verlassen, ist als Handelsschulabsolvent und nunmehriger »Kontorist« Anfang 1914 in die USA ausgewandert.

Auch nicht mehr im Spiel: der Vater, Emil Kuh, hinreißender Redner, schlagfertiger, geistreicher Causeur, begnadeter Parodist und Stimmenimitator, an dessen sprudelndem, kaustischem Witz man nur manchesmal »jenen Geist der Suite, den methodische Menschen mehr vorziehen als eine gewisse, an feste Ordnung nicht gebundene Genialität«, vermißt.[7] Ein Jugendfreund attestiert seinen Leitartikeln schmunzelnd den »romantische[n] Idealismus des väterlichen Achtundvierzigertums, [a] durch keine Zahlen- und Sachkenntnis gehemmt«.[8]

Nach dem frühen Tod des Familienerhalters, der am Pfingstsonntag 1912 im 57. Lebensjahr an »Schlagadernverkalkung«[9] verstirbt, scheinen die ohnehin permanent prekären Verhältnisse chronisch desolat geworden zu sein. Mögen die zahlreichen Prager und Wiener Honoratioren, Kollegen und Freunde, die dem langjährigen Redakteur des »Neuen Wiener Tagblatts« am 29. Mai 1912 in der israelitischen Abteilung des Wiener Zentralfriedhofs die letzte Ehre erweisen, für dessen Beliebtheit und Ansehen zeugen – Zählbares hinterläßt er, zeitlebens sorglos im Umgang mit Geld und Gesundheit, seiner Familie nicht.

Das familiale Wedekind-Drama, in dem – das nur nebenbei, aber nicht zu vergessen – Kinder mit ihren Eltern selbstverständlich per Sie verkehren, spielt in den Kulissen der Boheme. Auguste Kuh, von ihrer Tochter Grete als »unbürgerlich« und »alles eher, als was man Hausfrau nannte«, beschrieben, hat zwar keinen Beruf erlernt, ist aber hoch gebildet und verdient sich, »weil sie u. wir nie Geld hatten«, mit Latein-, Griechisch- und Französisch-Nachhilfeunterricht sowie Klavierstunden »manchmal [ein] paar Gulden«.[10] Sie bringt auch vereinzelt Artikel sowie Übersetzungen literarischer Texte aus dem Französischen in der »Prager Presse« und im »Prager Tagblatt« unter und gibt den zuständigen Redakteuren unverhohlen zu verstehen, daß ihr schon klar ist, daß die Bekanntheit ihres Sohnes Anton ihr dabei keineswegs Türen öffnet, sondern im Gegenteil beim Akquirieren von Aufträgen nur schadet, weil er mit allen anbindet.[11] Nicht bloß für Anton Kuh, auch für seine Schwestern und seine Mutter ist das Kaffeehaus »dauernder, selten verlassener Aufenthaltsort«.[12]

Klagen über »Existenzschwierigkeiten«, über »erfolgloses ›Schnorren‹«[13] – einige Schnorrbriefe sind überliefert[14] –, aktennotorische Zechprellerei, in der Sprache des »Zentralpolizeiblatts«: »betrügerische Kost- u. Quartierschulden«[15], Beschwerden über die wenig verläßliche Unterstützung seitens ihres Sohnes[16] und Mahnungen Dritter an die Adresse Anton Kuhs[17] konturieren den materiellen Hintergrund der konfliktträchtigen Konstellation.

Nach dem »Hingang« ihres »Herzenskindes« – Georg stirbt am 27. November 1919 an Blutvergiftung –, das nach der Rückkehr aus den USA in seiner neuen Karriere als Journalist – er publiziert unter dem anglisierten Vornamen »George« unter anderem im »Neuen Wiener Journal« – keinen Boden unter die Füße bekommt, obwohl Auguste Kuh sich für ihren von ihr verzärtelten, unleidlichen Ältesten bei Arthur Schnitzler und Hermann Bahr verwendet, klagt sie letzterem gegenüber: »Neid und Scheelsucht eines nur auf seine Geltung bedachten jüngeren Bruders« hätten Georg »von jedem Unternehmen ferngehalten«. Er sei in der Verbitterung gestorben, »von seinem Bruder, dem er echte Liebe und neidlosen Beifall gezollt, verächtlich beiseite geschoben worden zu sein.«[18] Ähnlich in einem Brief an Arthur Schnitzler: Georg sei von seinem Bruder »in seinem ganzen schriftstellerischen Bestreben fürchterlich unterdrückt« worden.[19]

Nicht als küchenpsychologische Erklärung von Anton Kuhs behaupteter »Scheelsucht«, sondern als einziges weiteres Zeugnis, das etwas Licht auf die Stellung der zwei Kuh-Brüder innerhalb der Familie wirft, hier die »Aussage« von deren ältester Schwester: Auguste Kuh habe Anton, mit seinem gewinnenden Charme von Kindesbeinen an Everybody’s Darling, dem älteren Bruder gegenüber von klein auf geradezu stiefmütterlich zurückgesetzt, weil sie ihn als Konkurrenz für den von ihr vergötterten »Erstgeborenen« betrachtete.[20]

Näher dran an Wedekind, aber auch kaum besser ausgeleuchtet ist die Rivalität der Kuh-Schwestern um Otto Gross, den charismatischen Verfechter umfassender Libertinage, dem »sexuelle Revolution, Hetärentum, Matriarchat, Polygamie, Orgie […] keine Gedankenspiele und keine spekulativen Felder [waren], sondern ein geistig-körperlicher Aktionsraum, in den er andere einbezog und den er mit anderen besiedelte«.[21] Stets mit von der Partie: Opium, Morphium, Kokain.

Mizzi lernt Gross vermutlich im Sommer 1914 kennen, als dieser sich nach seiner Entlassung aus der Landesirrenanstalt Troppau zur Nachbehandlung bei Wilhelm Stekel im Bad Ischler Sanatorium Wiener aufhält. Sie ist längerfristig mit ihm liiert, von 1914 bis zu seinem frühen Tod 1920, hat mit ihm eine Tochter, die am 23. November 1916 geborene Sophie.

Grete ist als Krankenpflegerin zur selben Zeit in Vinkovci, Slawonien (heute Kroatien), stationiert, da Gross dort als Assistenzarzt Dienst tut und seiner Ehefrau Frieda brieflich mitteilt, daß er seine neue Freundin heiraten wolle.[22]

Nina wird im Juni 1918 nach einer heftigen Auseinandersetzung mit Mizzi um Otto Gross von der Polizei einvernommen und gibt dort zu Protokoll, daß sie seit Sommer 1914, »von kurzen Unterbrechungen abgesehen«, mit Gross verkehre und zwischen ihnen ein »Liebesverhältnis« bestehe.[23]

Wiederum unter dem ausdrücklichen Vorbehalt, daß es nicht darum zu tun ist, »allen Findlingen in [m]einer Obhut ihre Väter nachzuweisen« – Siegfried Kracauer über die Neigung des Trivialbiographen, alle frühen Lebensabschnitte wenn schon nicht als Vorzeichen, so doch als »logische« Vorgeschichte zu sehen[24] –, im folgenden kursorisch die schulischen Beurteilungen Anton Kuhs, deren Gesamtqualifikation in etwa unter den Begriff »verhaltensoriginell« zu fassen wäre und damit auf den »Neurastheniker« vorauszuweisen scheint: Über die Volksschulzeit ist nicht mehr bekannt, als daß der Sechsjährige 1896/1897 eingeschult wurde: Alle Unterlagen vor 1900 wurden skartiert.[25] Der »Haupt-Katalog der Ia Classe vom Schuljahre 1900/01« des »k. k. Staatsgymnasiums im III. Bezirke Wiens« vermerkt zwar nicht eben berauschende »Leistungen in den einzelnen Unterrichtsgegenständen«: »Religionslehre: genügend / Lateinische Sprache: nicht genügend / Deutsche Sprache (als Unterrichtssprache): genügend / Geographie und Geschichte: genügend / Mathematik: genügend / Naturgeschichte: nicht genügend / Zeichnen: nicht genügend / Turnen: genügend / Kalligraphie: genügend« und unter »Äußere Form der schriftlichen Arbeiten«: »nicht empfehlend« – eine Beurteilung, die sich durch die ganze Gymnasialzeit hindurchzieht, nur fallweise gibt’s hier ein »minder empfehlend« –, aber immerhin unter »Sittliches Betragen« noch »befriedigend« und unter »Fleiß«: »ungleichmäßig«. Während sich unter den Benotungen der einzelnen Unterrichtsgegenstände in den Folgejahren kaum einmal ein »befriedigend« findet, geht’s mit der Beurteilung des Betragens ab dem zweiten Semester des Schuljahres 1903/1904 rapide bergab: Der »Haupt-Katalog der IV a Classe vom Schuljahre 1903/04«: »Sittliches Betragen: minder entsprechend wegen seines Benehmens beim Unterrichte u. seinen Mitschülern gegenüber«; »Haupt-Katalog der V. Classe vom Schuljahre 1904/05«: im ersten Semester »minder entsprechend wegen Unordnung und Unterrichtstörung«, im zweiten »entsprechend«; »Haupt-Katalog der VI. Classe vom Schuljahre 1905/06«: »Sittliches Betragen: minder entsprechend wegen fortgesetzter Störung des Unterrichts«. Auch die »Leistungen in den einzelnen Unterrichtsgegenständen« – »Religionslehre: nicht genügend / Lateinische Sprache: genügend / Griechische Sprache: nicht genügend / Deutsche Sprache (als Unterrichtssprache): nicht genügend / Geographie und Geschichte: nicht genügend / Mathematik: nicht genügend / Naturgeschichte: genügend / Turnen: nicht genügend / Stenographie: genügend« – dürften dazu beigetragen haben, daß Anton Kuh am 31. Mai von der Schule abgemeldet wird. Am »k. k. Erzherzog Rainer-Realgymnasium im II. Gemeindebezirke in Wien«, wo er im Schuljahr 1906/1907 in die fünfte Klasse einsteigt, sind die Noten nach dem ersten Semester nicht besser: »Sittliches Betragen: minder entsprechend wegen vielfacher Störung des Unterrichtes«. Kuh wird am 2. März 1907 »ordnungsgemäß« abgemeldet. Um einiges besser dann die Noten, die der »Klassen-Katalog der 6. Klasse vom Schuljahre 1906/07« des k. k. Staats-Obergymnasiums zu Krumau ausweist. Auch wird Kuhs »Sittliches Betragen« mit »entsprechend« beurteilt.

Danach verliert sich die Spur der Gymnasialkarriere, die im Herbst 1911 mit einem mageren »mit Stimmenmehrheit zum Besuche einer Universität für reif erklärt« bei der Maturitätsprüfung am Krumauer Obergymnasium – zu der Kuh als Externer zugelassen worden ist – endet. Im »39. Jahresbericht des k. k. Staats-Obergymnasiums in Krumau«[26] wird im »Verzeichnis der approbierten Abiturienten im Schuljahre 1910/11« in der Rubrik »Gewählter Beruf« beim Externisten Anton Kuh angeführt: »Jus«. Ein reguläres Studium ist allerdings nicht nachzuweisen, weder an der Juridischen Fakultät in Wien oder Prag noch an irgendeiner anderen, auch wenn Kuh bei einer Einvernahme am 9. Januar 1926 angibt, er habe »2 Jahre Universität« absolviert,[27] und auch wenn er in Gastspiel-Verträgen als »Herr Dr. Anton Kuh« firmiert[28] und in Briefen als »Sehr verehrter Herr Dr. Kuh!« adressiert wird.[29] »Titel verleiht in Wien das Kaffeehaus«, mokiert sich Kuh, »Titel trägt man fürs Kaffeehaus. Ich erinnere mich eines der frühesten Backenstreiche, die mein Knabenantlitz für die Verhöhnung eines Mitmenschen trafen – es war ein Advokaturschreiber, der sich des Kellners und der abendlich umworbenen Dienstmädchen halber ›Doktor‹ nannte und dem ich, als er eines Tages ruhelos das große Billardbrett des Stammcafés umschritt, zugerufen hatte: ›Na, Herr Doktor – den ganzen Tag da umeinanderpromovieren?‹«[30]

Kuhs Hang zum Sarkasmus wird, einem weiteren autobiographischen Schnipsel zufolge, in der Schulzeit grundgelegt: »Das Gehör eines so unglücklichen Namensträgers [wird] frühzeitig zu jener Notwehr erzogen, die man als ›satirische Veranlagung‹ bezeichnet; denn es ist schon dem Knaben, der auf den Namen ›Kuh‹ hört, als hätte die Stupidität der ganzen Welt sein Ohr als Zielscheibe genommen. Er geht in die Schule und hört hinter seinem Rücken den Chor-Reim: / Die Kuh gibt Milch und Butta / Wir geben ihr das Futta … / Oder ein Kollege faßt ihn in plötzlicher Anwandlung von Tiefsinnigkeit beim Arm und fragt ihn: ›Kuh, warum machst du nicht Muh?‹ / Ich habe mich von Kindesbeinen an daran gewöhnt, diese Fragen ad absurdum zu führen, indem ich sie wörtlich nahm; also etwa der letzten Frage entgegnete: ›Ich weiß nicht, ich habe es schon versucht, es geht so schwer.‹ Doch man kann sich leicht vorstellen, wie einen die Gewöhnung an solche Humore frühzeitig zum Menschenkenner und -verächter erzieht.«[31]

Noch vor der Matura ein erster Stellungstermin, wie die Akten der Militäradministration festhalten, ein Bestand, mit dem sich zumindest eine der launigen Angaben des autobiographischen Texts »Wie ich wurde« fundieren läßt: »Der Krieg findet Kuh«, wie der’s dort formuliert, »in den vordersten Reihen des Hinterlandes«[32], genauer: ursprünglich »auf Kriegsdauer« als »Einjährig-Freiwilligen«[33] dem k. u. k. Infanterie-Regiment Nr. 84 zugeteilt – dem Regiment »Freiherr v. Bolfras, Wien-Umgebung. (Einer Art Provinz-Filiale der Deutschmeister.)«[34] –, und zwar der I. Ersatz-Kompanie, wo er am 21. Juni 1915 einrückt. (Im Juni 1911 und im September 1912 lautete der Befund der Stellungskommission noch: »Dzt. Unt[au]gl[ich], schwach, zu[rück]-stellen«; im April 1913: »Zum Waffendienst unt[au]glich, hochgrad[ige] allg. Körperschw[äche], waffenunfähig«.)[35] Er wird allerdings am 29. September 1915 für dienstuntauglich erklärt und am 26. Oktober 1915 für »invalid, waffenunfähig« und als »bürgerlich erwerbsfähig« per 30. September 1915 – und damit nach drei Monaten und zehn Tagen »anrechnungsfähiger Dienstzeit«, so die Superarbitrierungsliste – entlassen. Der »Konstatierungsbefund« des k. u. k. Garnisonsspitals Nr. 2 in Wien, wohin Kuh am 28. August 1915 »zur Konstat[ierung] seines Leidens« überstellt und am 4. September wieder entlassen wird, lautet auf »Ticker-Krankheit (maladie de tics)«.[36]

Auch wenn es scheint, als sei sein Berufsweg ohnehin familiär vorgezeichnet – Großvater David war Begründer und langjähriger Herausgeber des »Tagesboten aus Böhmen«, Vater Emil lange Jahre Zeitungsredakteur, zuletzt, von 1899 bis zu seinem Tod 1912, Leitartikler[37] des »Neuen Wiener Tagblatts« –, Anton Kuh empfindet die Schreiberei als mindere Art, seinen Lebensunterhalt zu verdienen: »Mein Jugendideal war: am Tag Nietzsches sämtliche Werke zu schreiben und am Abend einen Tirolerbuben aus Papiermaché auf meinen Knieen hutschen und ihn noch mal das schöne Liedchen singen zu lassen: Morgen-ro-hot, Morgen-ro-hot … Statt dessen bin ich auf der mittleren Linie geblieben und schreibe Feuilletons.«[38] – Gut, »[m]it achtzehn ist jeder von uns ein Genie, mit achtundzwanzig jeder ein Redakteur«[39] – so Anton Kuh über allzu hoch fliegende Ambitionen –, und immerhin hat er sich anfangs nicht weit von der »Hutschen« verdingt: beim Kabarett. [b]

Die »einzige junge Elementarkraft unseres Journalismus. Ein Ausnahmsfall von renitentem Geist«[40], wie Kuh Mitte 1918 von Berthold Viertel apostrophiert wird, hatte ein erkleckliches Maß an Renitenz nötig, um als solche auch anerkannt zu werden.[41] Das junge Talent wird zwar von Karl Tschuppik, 1910 bis 1917 Chefredakteur des »Prager Tagblatts«, protegiert, der stimmt allerdings dessen ätzenden Witz und hochgezwirbelte Schreibe redigierend gehörig herunter. Kuh fühlt sich zum »Schapsel« und »Tinterl« degradiert, wenn man ihm keine »Ausnahmsstellung« einräumt[42]. Er droht damit – vierfach und balkendick unterstrichen –, »keine Zeile mehr nach Prag« zu schicken, wenn man dort seine besten Sachen vermodern läßt[43], und verbittet sich’s Maximilian Schreier, dem Herausgeber des Wiener »Morgen«, gegenüber wutentbrannt, daß man ihn, der sich schließlich als Theaterreferent des »Prager Tagblatts« »hinlänglich bekannt gemacht« hat, für »Fleißaufgaben« und »Gelegenheits-Dienste« heranzieht und ihn beim »Morgen« offenbar nicht in der Rolle des »distinguierten Gastes, sondern [in der] des zur Anpassung erzogenen Tinterls« sieht und seine Texte durch redaktionelle Eingriffe platt macht.[44]

Wie andere Intellektuelle seines Jahrgangs kann auch Anton Kuh sich des prägenden Einflusses der wirkmächtigen Nietzsche-Mode um die Jahrhundertwende nicht entziehen. Wenn Friedrich Nietzsche im Vorwort zum »Zweiten Stück« der »Unzeitgemässen Betrachtungen«, zu »Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben«, programmatisch verlautbart, er arbeite »gegen die Zeit«,[45] vermeint man in einigen Selbstaussagen Kuhs einen Nachhall davon zu vernehmen. Nicht bloß beim Trapez-Akt des Stegreif-Sprechens ist ihm befeuernder Antrieb, daß er »grundsätzlich nur gegen« spricht[46], Kuh ist generell »Gegenteils«-Fex.[47]

»Sein« Nietzsche ist der »Umwerter aller Werte«, der Umstürzler und Rebell, der militant den herrschenden kulturellen Normen opponiert, der Anarchist und Amoralist, der – »Anti-Philosoph unter den Philosophen« – nicht mit verblasener Begrifflichkeit nach dem Wesen der Wahrheit sucht, sondern ganz konkret nach dem »Wesen des Glücks«[48], der unbefangen und respektlos seine Denkbahn schreitet, der »begann, die Dinge wieder von vorne anzusehen; ohne sich vor Fiktionen und geistigen Übereinkünften der Menschheit zu verbeugen«[49], der nicht fragt »Frei wovon?«, sondern »Frei – wozu?«.

Und Kuh nimmt Friedrich Nietzsche, nach dessen »Bildungsphilister« er seinen »Intelligenzplebejer« strickt, immer wieder gegen ebendenselben in Schutz, immer wieder auch gegen die Indienstnahme durch die antiintellektuellen, völkisch-nationalen und zumal nationalsozialistischen Proponenten eines trivialisierten »Übermenschen« und »Willens zur Macht«, die »ihren« Leibphilosophen zum Apologeten säbelrasselnder deutscher Machtpolitik verfälschen; ihn zum deutschen Patrioten umbügeln[50] und als »Philosophen der Macht« in die Montur des »Potsdam-Deutschen« stecken.

Die zweite intellektuell prägende Figur ist charismatischer Akteur im Kuhschen Familiendrama: In den Boheme- und Anarchisten-Zirkeln Münchens, Berlins, Asconas und Wiens als Prophet verehrt; hochbegabter und einst hochgeschätzter Schüler Sigmund Freuds, der, als er die Psychoanalyse gesellschaftskritisch wendet und damit politisiert, verstoßen wird; der, mit unüberhörbar nietzscheanischem Anklang, durch eine »Zurück-Umwertung aller Werte«, soll heißen eine Überwindung patriarchaler Herrschaft, zu einer »goldene[n] erste[n] Zeitperiode« paradiesischer Urform, egalitärer, matriarchaler Verhältnisse (zurück)zugelangen strebt;[51] zu einer Art mutterrechtlichen Kommunismus, »rein von Pflicht und Moral und Verantwortlichkeit, von wirtschaftlichen und rechtlichen, moralischen Verbindlichkeiten, von Macht und Unterwerfung; rein von Vertrag und Autorität, rein von Ehe und Prostitution«[52]: Otto Gross.

Als die »menschlich bedeutendste Figur, der [er] je begegnete«[53], bezeichnet Anton Kuh diesen Inbegriff des Rebellen, programmatisch unangepaßt und trotz massiver Anfeindung und Ablehnung konsequent und ohne Konzessionen seinen Weg gehend. »[E]inem einzigen genialen Psychoanalytiker« sei er in seinem Leben begegnet, einem, der »sein Leben zwischen Polizeistation, Sanatorium und Irrenhaus [verbrachte]. Das spricht für ihn. Seine Art Psychoanalyse war eben keineswegs etwas so Harmloses, Obrigkeitsbeliebtes, zum ›Vater leih’ mir die Scher‹-Spiel Taugliches, wie sie seit Freud die Jünger samt und sonders betreiben.« Also nicht »eine Art psychischer Klistierverabreichung«. »Sie war für ihn eine neue, revolutionäre Methode« zur »Auskurierung der Menschheit«, die nur über die Abschaffung von »mancherlei staatsgeheiligte[n] Institutionen« zu bewerkstelligen sei, »die der Gesundheit des Menschengeschlechts abträglich sind: […] Ehe, Moral, Virginität usw.«[54]

Der Vater dieses »Revolutionär[s] a genere« mit »seinem hackigen, wüst zerschnittenen Gesicht […], seinem kinderreinen Fanatismus, seinem marterbereiten Dozententum«[55], Hans Gross, seit 1905 Inhaber des Grazer Lehrstuhls für Kriminalistik und Kriminologe von Weltruf, läßt seine Beziehungen spielen und seinen Sohn, der bis 1908 in Graz als Privatdozent für Psychopathologie gelehrt hatte, im November 1913 in Berlin verhaften, unter Polizeibegleitung an die österreichische Grenze expedieren und mit der Diagnose »unheilbarer und gefährlicher Geisteskranker« in der Privat-Irrenanstalt Tulln bei Wien und späterhin in der Landesirrenanstalt Troppau, Schlesien, zwangsinternieren. Über eine Protestkampagne, die von expressionistischen Zeitschriften initiiert wird, gelangt die Affäre auch auf die Seiten der großen liberalen Zeitungen und in Form einer Anfrage im Landtag auch aufs politische Parkett. Die Zwangsinternierung Otto Gross’ muß im Juli 1914 aufgehoben werden, er bleibt aber unter Kuratel. Kurator: sein Vater – der die Entmündigung betrieben hatte.

Otto Gross stirbt, nachdem man ihn zwei Tage davor halb verhungert und erfroren und auf Entzug mit einer Lungenentzündung auf der Straße aufgelesen hatte, am 13. Feber 1920 in einem Sanatorium in Berlin-Pankow.

Im Nachlaß Anton Kuhs in den Beständen des Österreichischen Literaturarchivs findet sich ein fragmentarischer Durchschlag von Otto Gross’ Programmschrift »Die kommunistische Grundidee in der Paradiessymbolik«. Ansonsten umfaßt dieser sogenannte Splitternachlaß ein paar Dutzend Briefe und Briefentwürfe, zumeist aus dem Zeitraum 1915 bis 1920, darunter: der Brief eines aufgebrachten Lesers an Maximilian Schreier, den Herausgeber der Wiener Montagszeitung »Der Morgen«, dem zufolge Anton Kuh in seinen frühen Erwachsenenjahren ständiger Besucher der Freudenau – Galopprennbahn im Südosten Wiens und Treffpunkt der Hautevolee – gewesen sei und als Rennplatz-Habitué auch Wettaufträge besorgt habe, wobei er des öfteren Gelder, die ihm zu diesem Zweck anvertraut worden waren, mit der fadenscheinigen Ausrede unterschlagen habe, er hätte sich an der Wettmaschine geirrt[56]; Mahnungen – im Ton schwankend – des »Prager Tagblatts«, für die Pauschale, die er bezieht, gefälligst auch Texte im vereinbarten Umfang zu liefern,[57] oder die dezidierte Drohung, die regelmäßigen Überweisungen einzustellen, bevor er nicht den Vorschuß – der sich im Juni 1919 auf immerhin 900 Kronen beläuft – abgearbeitet hat;[58] briefliche Aufforderungen, er möge geliehenes Geld zurückgeben[59]; eine gerichtliche Ladung für den 21. November 1919 zur Verhandlung »Anton Kuh gegen Österreichische Aktiengesellschaft der Hotel- und Kuranstalten Abbazia« vor dem Bezirksgericht Landstraße, »betr. Kuraufenthalt im Sanatorium Tobelbad (von 6. bis 26. Juni 1919)«, konkret: einen offenen Betrag – für »Zimmermiete, Pension, Kurtaxe, ärztliche Untersuchung, Bäder- und Heilmittel, Medikamente, aussertourlich verabfolgte Speisen, Fahrmittel, Telefongebühren, Versicherungsbeiträge« – von K 2.089.44[60]; das mit »Wien, 17. November 5h20« datierte Protokoll einer Ehrenerklärung, »aufgenommen in der Ehrenangelegenheit der Herrn Oberleutnant Hauffe contra Anton Kuh«, dem zufolge Hauffe auf Kuhs Bemerkung hin, »er suche sich Freunde in intellektuelleren Kreisen, als es das Offizierkorps darstelle – ein Offizier sei für ihn nur eine ›Simplicissimus‹-Figur« –, Genugtuung mit Waffen verlangt habe und die »Vertreter des Herrn Oberleutnant Hauffe« erst auf die Erklärung des »Vertreters des Herrn Kuh, dass Herr Kuh in keiner Weise die Absicht hatte, dem Offizierskorps in beiden Fällen nahegetreten zu sein«, und er überdies »auf dem Standpunkt der Antiduell-Liga« stehe und daher die Genugtuung mit der Waffe verweigere, die Angelegenheit »für ritterlich erledigt« erklären;[61] ein Schreiben von »Hof- und Gerichts-Advokat Dr. R. Herzer«, in dem Kuh unter dem 4. Januar 1919 »In Sachen: Amon« mitgeteilt wird, daß Herzer von »Frl. Amon« angewiesen worden sei, die »wegen Durchführung der Eheschließung eingeleiteten Schritte nicht weiter fortzusetzen«.[62] Einen Monat davor hatte Bibiana Amon ihrem Verlobten auf Briefpapier des »Grand Hôtel, Wien« die Gründe für die Auflösung des Eheversprechens mitgeteilt. »Unsicher« und »lebensunklug«, wie sie nun einmal sei, blauäugig und naiv, könne sie nichts weniger ertragen als »ewige Ungewißheit, verursacht von einem Menschen, dessen Verantwortungsgefühl einfach nicht vorhanden« sei; könne sie niemand weniger brauchen als einen Menschen, der ihr »ohnehin schwer kämpfendes Dasein noch mehr belastet durch Verworrenheit, Un[n]atürlichkeit und Haltlosigkeit«.[63] Detaillierter geben Anton Kuhs handschriftliche »Zehn Bibiana-Gebote« Aufschluß über permanente Beanstandungen seitens Bibiana Amons, der »Strahlende[n], als Gretchen von Peter Altenberg entdeckt, aber nun schon zu [Anton Kuhs] Helena erblüht«[64]:

 

»1.) Ich soll nicht mit anderen Leuten über die Bez[iehung] zu B[ibiana] reden.

2.) Ich soll nicht lügen.

3.) Ich soll aesthetischer werden.

4.) Ich soll mir von einem Therapeuten einen Vortrag über das Wort ›Ethik‹ anhören.

5.) Ich soll jeden Tag umherhören, ob die Mama zu essen hat.

6.) Ich soll nachdenken Tag u. Nacht[,] wie ich es ermögliche, Hemmungen zu bekommen.

7.) Ich soll nicht vergessen[,] B[ibiana] zu respektieren.

8.) Ich soll meine schmutzigen Gedanken nicht meiner schönen [1 Wort unleserlich] [c] Freundin mitteilen, sondern sie verschlucken.

9. Ich soll ernstlich nachdenken, wie ich am besten der B[ibiana] im Leben weiterhelfen kann.

10.) Ich soll eingedenk meines tiefen Schuldbewußtseins beim Aufwachen u. vor dem Zu-Bett-Gehen mir mit allem Aufwand meiner Energie und Kraft 2 Tetschn (zusammen 4) geben.«[65]

 

Des weiteren im Nachlaß: eine Feldpostkorrespondenzkarte aus »Castellnuovo, Süd-Dalmatien«, die an »Herrn Anton Kuh, Wien III, Café Radetzky«, adressiert und, kaum leserlich, mit »WSDambron« unterzeichnet ist, laut Paul Elbogen ein überaus bemerkenswertes Exemplar aus der »Musterkollektion von prächtigen und häßlichen Giftgewächsen«, die »damals auf dem immer mehr verfaulenden Boden« Wiens wuchs: »Wolfgang Sylvain Dambron. Das Geschöpf war angeblich Statist gewesen. Es tauchte, goldblond, götterschön und nur leicht hermaphroditisch, eines Tages auf unserem nachmittäglichen ›Korso‹ auf der Kärntner Straße auf; gekleidet – war es wirklich 1913? – in einen violettgrauen Cutaway, violettgrauen Hut und Krawatte samt violettgrauen Schuhen. Er (oder es) lebte, wie man bald erfuhr, in einer teuren Pension, mit einem bekannten Kabarettier W. als Lebensgefährten; und mit Anton Kuh […] als Hofnarren und diplomatischem Beantworter zahlloser eindeutiger ›Liebesbriefe‹ von Dambrons Anbetern aller drei Geschlechter. Wovon lebten sie? Es ist schwer, es schwarz auf weiß auszudrücken und getrost nach Hause zu tragen: Unter vielen anderen standen eine russische Gräfin und – davon unabhängig – ihr Gatte mit den beiden Pensionsbewohnern in einem Zusammenhang, den man intim nennen darf. So bedrohte eben der reizvolle Wolfgang Sylvain den Grafen, sein weniger reizvoller, aber umso muskulöserer Freund die Gräfin, mit Verrat ihrer mutuellen Beziehungen.«[66]

Weiters ergeben die spärlichen Briefschaften, zusammengelesen, daß Anton Kuh in seinen frühen Zwanzigern in einer Clique im Café Radetzky und im Café Hungaria hinter dem Haupt-Zollamt verkehrt, bevor er Mitte 1916 ins »Central« (Herrengasse 14, Ecke Strauchgasse) und dort in den Altenberg-Kreis wechselt, »wo der abtrünnige Journalismus sein Dach [hat], der Empörungswille junger Theater- und Musikrezensenten«.[67][68][69][70][71][72]