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Maren Lorenz

Menschenzucht

Frühe Ideen und Strategien 1500-1870

 

 

 

 

WALLSTEIN VERLAG

Gedruckt mit Unterstützung der Gerda Henkel Stiftung, Düsseldorf

 

 

 

 

 

Die vorliegende Studie war nur möglich durch großzügige Unterstützung: ein einjähriges GHI/NEH-Fellowhip des Deutschen Historischen Instituts in Washington D.C. sowie ein zweijähriges Senior Fellowship der Gerda Henkel Stiftung, Düsseldorf.

 

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der

Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten

sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© Wallstein Verlag, Göttingen 2018

 

 

www.wallstein-verlag.de

Umschlaggestaltung: Marion Wiebel

Umschlagbild: Siehe Abbildung

ISBN (Print) 978-3-8353-3349-9

ISBN (E-Book, pdf) 978-3-8353-4301-6

ISBN (E-Book, epub) 978-3-8353-4302-3

Inhalt

Statt eines Vorwortes. Die Optimierung des Menschen – Historischer Traum und Alptraum

1   Menschenbild und Bevölkerungspolitik in der Frühen Neuzeit

Der Mensch als Träumer – Züchtungsutopien vor 1700

Von Menschen und»›Missgeburten«

Von weiblicher Imagination und männlicher Prävention

Physiognomik und die Furcht vor den ›Anderen‹

2   Der Staatskörper als Volkskörper – Das Alte Reich und die Sattelzeit

Zeugungsgebot und Zeugungsverbot als landesväterliche Fürsorge

Zuchterfolg vor Sittlichkeit?

Samenökonomie und Zeugungsgeschäft in Kameralismus und Eherecht

Die Medizinalpolizei – »Glückseligkeit« durch gesunde Zucht

Zwischen Heiratsverbot und Heiratszwang

Gesunde Wilde und kranke Zivilisation

Bevölkerungspolitik von unten – vom »Himmeln-Lassen« und der Pockenimpfung

Von »göttlicher Zulassung« und menschlichem Versagen

3   Die Medikalisierung der Gesellschaft – La grande nation malade

Demographie und Ökonomie – Angst vor dem Untergang

Menschenversuche

Rasse und Menschenzucht – Von der kolonialen »Métissage«

Vererbung und Erbkrankheiten – Die europäische Perspektive

4   Provokanter Pragmatismus in Großbritannien

Literatur darf alles – Menschen als Schlacht- und Zuchtvieh

The Malthusian Elephant in the Room

Bürgerliche Todesphantasien und christliche Humanität

5   Neue Menschen für die Neue Welt (USA)

Eliten für die junge Republik

Zwei Brüderpaare als Väter der Phrenologie

Intermarriage of the RacesMiscegnation

Phrenologie und Intermarriage of Relatives

Proto-eugenische Eheberatung als Antwort auf die Marriage Crises

Der Import der europäischen Angst vor (geistiger) Degeneration

Selective Breeding als göttlicher Auftrag

Der Hype um Barnums Baby Shows

6   Die Pflicht zur Selbstverpflichtung. Fortpflanzungsoptimierung in Ehe- und Sexualratgebern

Perfekte Ehen – Perfekte Kinder – Neue Eliten für Alteuropa

Perfekte Ehen – Perfekte Kinder – Neue Eliten für die USA

Menschenzucht ist Frauensache

Menschenzucht in ›Metropolis‹ – Ein sozialmedizinisches Projekt

7   Schlussbemerkung – Die Perfektionierung des Menschen. Von der Utopie zum Projekt

   

Anmerkungen

Abbildungen

Bibliographie

Personenindex

»[…] du werdest einmal der Kinderzeugung gedenken, wie sie es damit halten, und wie sie die Neugeborenen erziehen werden, und diese ganze Gemeinschaft der Weiber und Kinder, von der du sprichst; denn wir glauben, daß es viel, ja alles ausmacht für die Verfassung, ob es richtig geschieht oder nicht. […] Daß diese Weiber alle diesen Männern allen gemeinschaftlich seien und keine mit keinem besonders zusammenwohne, und daß ebenso die Kinder gemeinschaftlich seien und kein Vater sein Kind kenne noch ein Kind seinen Vater. […] So ist also klar, daß wir weiterhin nach Kräften möglichst heilige Hochzeiten einführen werden; heilig aber wären die nützlichsten […] Es müssen ja nach dem Zugegebenen die besten Männer den besten Weibern möglichst oft beiwohnen, und die schlechtesten Männer den schlechtesten Weibern möglichst selten, und die Kinder der einen muß man aufziehen, die der andern aber nicht, wenn die Herde möglichst vorzüglich sein soll; und alles dies muß geschehen, ohne daß es jemand außer den Regierenden selbst bemerkt […] Die Zahl der Vermählungen aber werden wir die Regierenden bestimmen lassen, damit sie möglichst die gleiche Zahl von Männern erhalten, indem sie auf Kriege und Krankheiten und alles Derartige Rücksicht nehmen, so daß uns der Staat womöglich weder zu groß noch zu klein werde. […] Und denjenigen unter den jungen Männern, die im Kriege oder sonstwo sich tüchtig erweisen, muß man unter andern Auszeichnungen und Preisen wohl auch die häufigere Erlaubnis, bei Weibern zu schlafen, erteilen, damit zugleich auch unter diesem Vorwand möglichst viele Kinder von solchen gezeugt werden. […] Die von den Tüchtigen dann werden sie, denke ich, nehmen und sie in eine bestimmte Anstalt bringen zu Wärterinnen, die in einem gewissen Teile der Stadt abgesondert wohnen; die von den Schlechteren aber, und wenn etwa von den andern eines gebrechlich zur Welt kommt, werden sie an einem geheimen und unbekannten Orte verbergen, wie sich’s geziemt. […] Wenn dann aber, denke ich, die Weiber und Männer über das Alter des Zeugens hinaus sind, so werden wir ihnen Freiheit lassen beizuwohnen, wem sie wollen, außer einer Tochter und Mutter und ihren Enkelinnen und den Töchtern ihrer Großmutter, und andererseits den Weibern jedem, außer einem Sohne und Vater und aufwärts und abwärts von diesen.«

Platon, Politeia / Der Staat, Fünftes Buch

 

 

 

 

Für Wally, in Dankbarkeit –
immer noch und immer wieder

        Statt eines Vorwortes

Die Optimierung des Menschen – Historischer Traum und Alptraum

Menschenzucht: Gedankenexperiment oder politisch-ökonomisches Projekt?

Das Bedürfnis des Menschen nach ›Verbesserung‹ seiner selbst und seiner Artgenossen ist uralt. Weltweit zeugen religiöse Normen davon, Bildungssysteme, aber auch das Gesundheitswesen und die ebenso uralte Schönheits- und Wellnessindustrie. Die Überzeugungen dessen, was die angestrebte Perfektion denn ausmache und ausmachen solle, wer darüber zu bestimmen habe und welche und wessen Ziele damit eigentlich verfolgt werden sollen, klaffen allerdings weit auseinander. Bislang existiert kein Überblick über das breite Spektrum vormoderner Überlegungen zur menschlichen Optimierung, die von literarischen Utopien über ökonomische Planspiele bis zu proto-eugenischen Medizinphantasien reichen. Entscheidend in diesem Zusammenhang ist die Frage nach Normalisierungsprozessen, die hier aber nicht als disziplinarische oder rechtliche Normsetzungen durch Kontrollinstanzen verstanden werden, sondern als die Verschiebung von Diskursgrenzen. Wer überschreitet wann aus welchen Motiven Tabugrenzen? Wie verschaffen sich die Akteure und Akteurinnen Gehör? Welche Argumente werden vorgebracht, um zeitgenössisch profitieren zu können? Wie wird von unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen darauf reagiert?

Dieses Buch will einen Beitrag zur Beantwortung solcher Fragen leisten und so – einmal mehr – auch auf die Zweischneidigkeit des Verhältnisses von Ethik und Wissenschaft aufmerksam machen, dabei aber auch die mehr oder weniger implizite Bedeutung partikulärer wirtschaftlicher und spezifischer Machtinteressen nicht aus dem Blick verlieren. Denn Wissenschaft und Medizin, auch und gerade deren theoretische Reflexion, finden ebenso wie das Rechtswesen immer in einem politisch-sozialen Raum statt, der ihre Diskurse steuert und ihre Ergebnisse medial gefiltert wieder in die Gesellschaft zurückgibt.[1]

Eine nur auf den ersten Blick banal erscheinende, diesem Buch zugrunde liegende These lautet, dass zu ihrer Zeit noch nicht mehrheitsfähige Diskurse doch langfristig und grenzüberschreitend durchaus ihre gesellschaftlichen Spuren hinterlassen. Abhängig davon, wer welche Behauptungen mit welchen Argumenten in den gesellschaftlichen Diskurs einbringt, werden gedankliche Grenzen und kollektive Wertvorstellungen verschoben. Das vorher nicht Denkbare wird sagbar; irgendwann fehlen vielleicht nur die passenden Rahmenbedingungen zur Umsetzung. Diese Prozesse der Normalisierung möchte ich in Bezug auf die menschliche Optimierung genauer betrachten.

Weniger fruchtbar erscheint mir hingegen die eigentlich naheliegende Frage, warum vor Ende des 19. Jahrhunderts nirgendwo ernsthaft versucht wurde, proto-eugenische Maßnahmen in großem Stil zu institutionalisieren. Hier bilden fraglos Prozesse der Nationalstaatsbildung in Europa, wie auch global, sowie die Intensivierung von bürokratischem Bevölkerungsmanagement zentrale Voraussetzungen. Entscheidend war hingegen sicher schlicht das Fehlen bestimmter technischer Entwicklungen im Bereich der medizinischen Diagnostik und Intervention.

Dabei steht die Fortpflanzung seit der Antike bis heute im Zentrum aller Optimierungsdiskurse. Denn Anzahl und Fähigkeiten der die jeweiligen Länder und Herrschaftsräume bevölkernden Menschen bilden Grundlage und Bedingungen für alle weiteren Gesellschaftskonstruktionen und vor allem für Krisendiskurse aller Art. Bevölkerungspolitik war und ist zu allen Zeiten und in allen Systemen mehr oder weniger explizit Teil akademischer Reflexion, aber eben auch von politischen Konzepten und Regierungshandeln. Was von den jeweiligen Gesellschaften dabei als adäquate Bevölkerungsgröße und insbesondere deren Qualität betrachtet wurde, lässt sich allerdings nicht an scheinbar unbestechlich harten Zahlen und Daten ablesen, sondern wurde und wird stets von jenen Interessengruppen definiert, die die jeweiligen Diskurse beherrschen. Je nach technischer Machbarkeit und normativen, d. h. religiösen und rechtlichen Rahmenbedingungen wird dabei in der Regel eine Kombination aus Zwang durch Drohung mit Sanktionen und Lenkung durch ein entsprechendes Umfeld und Anreize zum erwünschten Zeugungsverhalten angewendet.[2] Im Idealfall werden die erwünschten Normen von den Menschen so internalisiert, dass kein Zwang mehr ausgeübt werden muss.

Der französische Psychologe, Soziologe und Philosoph Michel Foucault bezeichnete dies schon vor vierzig Jahren als »gouvernementale Biopolitik« im Interesse der Staatsräson.[3] Darunter verstand er externe Techniken zur Formung eines »Gattungskörpers«, die Transformation von politischer Macht in ein Bündel von Techniken und Regeln, beherrscht von Fachleuten. »Biomacht« erreicht die Optimierung der Bevölkerung durch bürokratische Akte, durch Kategorisierung, hierarchische Klassifizierung, Gebote und Verbote, schließlich auch durch Selektion.[4] Möglich wird dieser Prozess nach Foucault nur durch die Verschleierung normativer Axiome, d. h. unüberprüfbarer Vorannahmen, und durch die Formierung einer sich rational gebenden Sprache der »Degeneration«.[5]

Das für den deutschen Sprachraum lange maßgebliche Zedlersche Lexikon nennt 1734 diesen Begriff als erstes und bezeichnet damit kurz und knapp ein »übel gerathen, aus dem Geschlecht oder Geschirr schlagen.«[6] Bereits hier fallen die beiden zentralen Aspekte der Vererbung und der Disziplinierung bzw. Zurichtung zusammen. Auch im Englischen findet sich der Begriff um die Mitte des 18. Jahrhunderts in verschiedenen Versionen und wird bereits umfassend mit Beispielen garniert. So werden in Johnson’s Dictionary of the English Language von 1755 »Degeneration« und »Degeneracy« synomym gebraucht, im moralischen Sinne als »fall« bzw. »deviation from the virtue of one’s ancestors« und als Verb »degenerate« sowie als Substantiv »Degeneratedness« auch im pflanzen-physiologischen Sinn, »to fall from its kind, to grow wild or base«. Für beide Bedeutungsfelder ist aber klar, dass das so Bezeichnete »unworthy« sei.[7] Im Französischen heißt es hingegen noch 1787, das Wort »dégéneration« im Sinne von geminderten »talents« werde selten benutzt.[8] Nur zehn Jahre später benennt es das Lexikon der Académie Française dann doch als einen minderwertigen Zustand für etwas, dessen »gute Zucht« außer Kontrolle geraten sei: »(État) de ce qui dégénère. La dégénération des plantes, des animaux, des races, des espèces.«[9]

Eng verwoben ist das Bedeutungsfeld der Degeneration mit den noch zu entschlüsselnden Gesetzen der Vererbung und dem daran orientierten, auch im Deutschen doppeldeutigen Begriff der Zucht. Er kann ebenso generative Züchtung wie Formung durch äußere Eingriffe (Versorgung, Erziehung) bedeuten. Beide Sinngehalte existierten für das englische »breeding« lange parallel. Noch 1836 hieß es dazu im amerikanischen Johnson’s Dictionary nur knapp: »education, manners, nurture«.[10] Dabei fanden sich schon Mitte des 18. Jahrhunderts im damals maßgeblichen Dictionary of the English Language für »breed« als Verb und Substantiv gleich sieben verschiedene, mit berühmten Literaturzitaten aus früheren Jahrhunderten belegte, Definitionen. Gleich die erste bezog sich auf die hier gemeinte: »To procreate, to generate, to produce more of the species«. Der im frühen England vorherrschende Gebrauch als Erziehung und Aufzucht wurde dort erst an sechster Stelle genannt (und mit Shakespeare, Pope, Swift, Milton, Dryden und Locke untermauert): »To educate, to qualify by education.«[11] – »The breed« bedeutete auch 1755 hingegen bereits eindeutig »a cast, a kind, a subdivision of species«. In England gewann dieser Gebrauch dann bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts auf allen Gebieten immer mehr an Bedeutung. In der Anthropologie, der aufblühenden Garten- und Landschaftskunde (horticulture) und in der Tierzucht (husbandry) wurde der gezielt zu kontrollierende Faktor der Vererbung (im Gegensatz zu Umwelteinflüssen) immer stärker gewichtet.[12] So kann auch nicht überraschen, dass beide Bedeutungsfelder des englischen »breeding« einen nachhaltigen Einfluss auf den Export des englischen Denkens für die gezielte Besiedlungspolitik in den amerikanischen und australischen Kolonien ausübten.[13]

Durch diesen kleinen Ausflug in die Etymologie einiger im Folgenden ständig zitierten Begriffe wird klar, dass das Verhältnis von Staatsräson zu Moral und Rechtsordnung immer eines der Hierarchisierung von Prioritäten und Qualitäten ist. Priorisierungen, die nicht nur im Falle einer tyrannischen Herrschaft über die Wertigkeit von Leben, auch menschlichem entscheiden konnten. Der Sprachgebrauch schafft die unabdingbaren Voraussetzungen für das Handeln, indem er es zwangläufig vorab oder auch gelegentlich ex post, legitimieren muss. Wie Sean Quinlan richtig anmerkte, konstruiert das o. g. Foucaultsche Konzept der Biomacht jedoch eine monolithische Wirkmächtigkeit von Lobbygruppen, die in dieser Einheitlichkeit nirgendwo existierte. Es sind und waren stets unterschiedliche Interessen und Diskurse und schon gar nicht immer die politischen Eliten, die Definitionsmacht verkörperten und/oder ausübten.[14] Umso wichtiger erscheint es mir, die Genese und Synthese der unterschiedlichen Diskurse der jeweils Handelnden vor ihren historischen Kontexten einzuordnen und zu entschlüsseln.Jürgen Habermas wies für unsere modernen demokratischen Gesellschaften darauf hin, dass die Stabilität bestimmter Normen und Menschenbilder konkreten Forschungen und damit wissenschaftlichen Lernprozessen im Wege stünde. Der Vorwurf des Denkverbots, der Kritikern der heutigen embryonalen Genforschung gemacht wird, kehre somit die Beweislast um. Wer gegen bestimmten Normenwandel (hier in Bezug auf gentechnische Grundlagenforschung) sei, stehe dem Fortschritt, d. h. der individuellen wie der kollektiven Verbesserung, hemmend im Wege und müsse sich dafür rechtfertigen.[15] Ähnliche Phänomene gibt es auch in früheren Gesellschaften zu beobachten, in denen mit solchen Normverschiebungen etwa die »Glückseligkeit des Staates«, das »Überleben der Nation« oder auch die »nationale Gesundheit« garantiert werden sollten. Dazu gehörte zunächst einmal eine bewusste, zentral gesteuerte Form der Bevölkerungspolitik.

Voraussetzung für das ›Management‹ ihrer Bevölkerung, zur Verhinderung von Degeneration und im Interesse der Staatsräson ist und war für jede Regierung, zunächst einen möglichst detaillierten Kenntnisstand über die Zusammensetzung der eigenen Gesellschaft zu erhalten. Alter, Gesundheit, Geschlecht, Erwerbsfähigkeit, Berufstätigkeit, Verteilung im geographischen Raum waren und sind dabei notwendige Grundinformationen, nicht nur für die konkrete Planung von Infrastruktur und Versorgung, sondern auch für den Umgang mit zukünftigen demographischen und technischen Entwicklungen. Im Hintergrund all dieser Aspekte schwangen jedoch schon in der Antike immer ökonomische und v. a. militärisch-territoriale Fragen mit – wobei die Nutznießerschaft und die Verteilung des angestrebten Wohlstands von den diskursmächtigen Gruppen kaum jemals spezifiziert wurden und werden. Unübersehbar wird die Gewinnorientierung, wenn man zur Kenntnis nimmt, dass es gerade die frühneuzeitlichen britischen und französischen Kolonialsysteme in Nordamerika und Indien waren, die als erste moderne Bevölkerungsstatistiken entwickelten und tatsächlich gezielte ›Zuchtmaßnahmen‹ ergriffen.[16] Auch wenn 1753 die Einführung eines Zensus im Londoner Parlament noch heftig diskutiert wurde, weil die bloße Bevölkerungsgröße an sich noch als Erfolgsmaßstab galt, setzte sich die Anerkennung der Notwendigkeit einer Kontrolle der Quantität und zunehmend lauter gefordert, auch der Qualität der Landeskinder, bereits kurz nach Erscheinen des Essay on the Principle of Population (zunächst 1798 anonym) des englischen Nationalökonomen und Theologen Thomas Malthus (1766-1834) schnell europaweit durch.[17] Malthus war allerdings nicht der erste, der solche Gedanken formulierte, aber er war der mit der zeitgenössisch und langfristig größten Durchschlagskraft. Sein Untergangszenario von der unkontrollierten Bevölkerungsexplosion bei nicht schritthaltender Nahrungsversorgung erschien zu einem Zeitpunkt, an dem ein Zusammenhang von stetigem Bevölkerungswachstum und steigender Verelendung in den meisten Ländern Europas unter Ausblendung etwaiger Verteilungsungerechtigkeiten unübersehbar wurde. Die britische Insel mit ihren explodierenden Städten London und Dublin und das revolutionsgeschüttelte Frankreich mit seiner weiterhin darbenden Landbevölkerung gingen dabei um 1800 voran.

Die Französische Revolution hatte zudem deutlich gemacht, welches politische Risiko Aufstände depravierter Massen sogar für ein lang etabliertes politisches System haben konnten. Fein registriert wurde in Großbritannien, dass Malthus sein Augenmerk beim Problem des »overbreeding« primär auf die verelendeten Unterschichten richtete. Zwar forderte er in der erstmals unter seinem Namen erschienenen zweiten, umfassend überarbeiteten Fassung von 1803 grundlegende Sozialreformen im Erziehungs- und Gesundheitswesen der armen Massen, sogenannte nachwirkende »positive checks«. Ebenso deutlich sprach er aber davon, dass es auch »preventive checks« geben müsse. Explizit benannte er jedoch nur möglichst späte Heiraten. Verhütung und Abtreibung kamen für den frommen Christen explizit nicht infrage, Emigration stelle ebenfalls keine dauerhafte Lösung dar. Malthus’ ethisches Dilemma wird auch an den ständig überarbeiteten Neuauflagen (1806, 1807, 1817, 1826) und der intensiven, oft widersprüchlichen Auseinandersetzung mit der Frage nach dem Willen Gottes deutlich. Denn obwohl er Sozialreformen forderte, hielt er diese angesichts eines exponentiellen (»geometric«) Bevölkerungswachstums letztlich gar nicht für ausreichend.[18] Ohne Bedauern konstatierte er im Gegenteil, dass gerade in den prekären Unterschichten, Hunger und Epidemien am effizientesten, weil dezimierend wirken, gerade hier ethisch motivierte bessere Hygiene und Versorgung sogar kontraproduktive Effekte zeitigten. Malthus löste dieses Problem für sich, indem er solches Elend und Leid als Teil eines größeren göttlichen Heilsplans bezeichnete. Er war bis zu seinem Tod dezidierter Gegner des gerade neu reformierten Armenrechts und beurteilte Kinder explizit nur nach deren »value for society«. Denn durch die gemeindliche Versorgung würden nur Faulheit (»unproductive idleness«) und Abhängigkeit gefördert und die Menschen pflanzten sich ungehemmt weiter fort, so »clogging the great machine of society«.[19] Keine Marginalie ist es, an dieser Stelle zu betonen, dass der anglikanische Pfarrer Malthus 1805 gerade aufgrund seines Bestsellers als erster professioneller »Economist« an dem kleinen brandneuen englischen East India College engagiert wurde, um hier exklusiv leitende Kolonialbeamte für Indien auszubilden. Er blieb dort bis zu seinem Tod 1834, und seine Theorien bildeten die selbstverständliche Leitlinie der heimischen, aber auch der kolonialen demografischen britischen Politik der folgenden Jahrzehnte. Insbesondere die in Indien tätigen britischen Mediziner versuchten das Malthussche Modell konkret auf die indigenen Völker anzuwenden. Ein zentrales Thema war dabei neben der schwächenden Masturbation v. a. der Umgang mit »early marriage[s]«, den verbreiteten Kinderehen unter den Hindus.[20]

Doch auch in deutschen Landen bemühten sich insbesondere christlich-sozial motivierte Theologen und Philanthropen nach den Napoleonischen Kriegen (1797-1815) um den Ausbau des Sozialwesens und um »positive checks« mittels Sozialreformen. Theodor Fliedner (1800-1864), evangelischer Pfarrer und Begründer der Kaiserswerther Diakonie z. B., nannte als Motivation zur Gründung seiner ersten »Kleinkinderschule« 1835 die »Verwahrlosung, Verkrüppelung und Verwilderung eines großen Teils der Kinderwelt« durch die unvermeidliche Vernachlässigung der Kinder der Armen durch berufstätige Eltern und elende Lebensbedingungen.[21] Ausführlich beschrieb er aus eigener Anschauung, in welch desolatem Zustand (»welk und verkümmert«) viele Kinder existieren müssten, dass diese bei ausreichender Fürsorge aber häufig vollständig, seelisch, körperlich und moralisch gesunden und zu leistungsfähigen Arbeitern heranwachsen könnten. Auch Philanthropen wie Fliedner argumentierten selbstverständlich utilitaristisch, um sowohl potentielle Wohltäter als auch Regierende zur Mitwirkung an drängenden Sozialreformen zu bewegen. Sie erwogen allerdings keine selektiven Eingriffe oder gar Tötungen von schwachen und kranken Kindern – und wissenschaftslogisch von entscheidender Bedeutung – sie sahen noch nachträgliche Optimierungschancen. Angeborene Mängel ließen sich kompensieren. ›Natur‹ war hier kein zwangsläufiges Schicksal, ›Kultur‹ der entscheidende Schlüssel zur Bevölkerungsverbesserung.

 

Das Dogma des Nutzens einer großen, gesunden und damit optimal arbeitsfähigen Bevölkerung scheint gerade in Flächen- und Kolonialstaaten im Verlauf der Geschichte dominiert zu haben, doch beschäftigten sich bereits räumlich begrenzt agierende Stadtstaaten wie das antike Athen oder Sparta intensiv mit Bevölkerungsmanagement im Sinne einer zahlenmäßigen Begrenzung bei gleichzeitiger Optimierung.[22]

Dabei ist der Begriff der Bevölkerung bzw. sein lateinisches Pendant der population selbst ein Konstrukt und etablierte sich zeitversetzt erst im 17. Jahrhundert. Vorher wurde er nur als Gegenbegriff zur Entvölkerung bzw. depopulation verstanden und signalisierte damit ein politisches Handeln, nämlich das Ansiedeln im und Besiedeln von Raum, und fungierte nicht als abstrakter analytischer Begriff einer Zustandsbeschreibung.[23] Allen Nuancen der Verwendung gemein ist jedoch die Tendenz zur Normalisierung, d. h. Homogenisierung, zur Vereinheitlichung der Standards eines ›Volkskörpers‹ als Kollektiv.[24]

Davon unberührt bleibt, dass vor der Mitte des 20. Jahrhunderts in keinem Land der Welt wirkliche Gleichheit aller Einwohner vor dem Gesetz existierte. Seit der Antike waren im Gegenteil verschiedene Formen von Ständegesellschaften die Norm. Sklaven, Freigelassene, Fremde mit Wohnrecht, illegale Heimatlose, Leibeigene, Frauen, Kinder, bestimmte Berufsgruppen, Herrschaftseliten, ›fremde Völker‹ wurden rechtlich unterschieden. Ab Mitte des 18. Jahrhunderts kam die Hautfarbe als ein neues Kriterium für unterschiedliche Grade von Freiheit hinzu. Überall gab es ausdifferenzierte Hierarchien, die es schwer machten, pauschal von der Bevölkerung zu sprechen, außer, man betrachtete diese als kollektive ökonomische Ressource. Auch Malthus dachte selbstverständlich weiter in diesen ständischen Kategorien. Doch genau dieses Denken setzt zunächst das Primat einer – wie auch immer definierten – Ökonomisierung des Menschen voraus.

 

Die indische Anthropologin und Entwicklungssoziologin Shalini Randeria brachte aus dezidiert anti-eurozentristischer Perspektive diese Korrelation und den Konstruktivismus solcher Diskurse so auf den Punkt:[25]

»Die Kolonialmächte betrieben damals [im 19.Jh.] eine pronatalistische Politik, weil die Kolonien eine Quelle billiger Arbeitskräfte waren. Sie versuchten, die Fruchtbarkeit der Bevölkerung zu erhöhen, zum Beispiel mit der Einführung neuer Heiratsregeln in Indien. Stufte also der Westen die Kolonien zuerst als unterbevölkert ein, betrachtete er sie nach deren Unabhängigkeit als überbevölkert.«

Und in Bezug auf heute stellte sie scharfsinnig fest:

»Es kommt darauf an, wie und wozu man Zahlen interpretiert. Die Niederlande, eines der am dichtesten besiedelten Länder der Welt, gilt nicht als überbevölkert, genauso wenig die Schweiz, die auf Nahrungsmittelimporte angewiesen ist. Demgegenüber werden dünn besiedelte afrikanische Länder als überbevölkert angesehen, ebenso wie Indien, das seine Bevölkerung selbst ernähren kann.[26] Ich habe oft das Gefühl, in einer schizophrenen Welt zu leben: Während der indische Staat mit kostenlosen Sterilisationen Bevölkerungskontrolle betreibt, finanzieren in Europa die Krankenkassen künstliche Befruchtungen, und versuchen viele Länder, die Gebärfreude der einheimischen Bevölkerung zu stimulieren. Und die Migrationspolitik wird immer restriktiver.«

Seit der Mitte des 20. Jahrhunderts erfuhr weltweit der gesamte Bereich der pränatalen Diagnostik eine dramatische Veränderung, nicht nur in der Dimension der Debatten über erwünschte und unerwünschte Fortpflanzungsergebnisse, sondern auch über Zahl und Art der tatsächlichen Geburten. Neue technische Entwicklungen, zunächst der bildgebenden Verfahren wie des Ultraschalls, fanden – weil vielversprechende Geschäftsmodelle – sehr schnell Verbreitung und wurden zu selbstverständlichen diagnostischen Mitteln in verschiedenen Bereichen. Gerade im Bereich der Schwangerschaft hat dieses nichtinvasive, schmerzlose Sehen in den Körper wie das Röntgen Jahrzehnte zuvor, zu extrem schneller Akzeptanz in der Bevölkerung der Industriestaaten geführt, aber auch und gerade in rasant wachsenden Schwellenländern wie Indien und China.

Seit den Neunzigerjahren des 20. Jahrhunderts wird außerdem die Präimplantationsdiagnostik (PID) angewendet, bei der das Erbgut eines im Labor erzeugten Embryos unter anderem auf Trisomie 21, Cystische Fibrose (Mukoviszidose), Chorea Huntington, die Bluterkrankheiten Hämophilie A und B sowie Sichelzellanämie überprüft wird. Auch nach Geschlecht oder nach potentiellen Spendereigenschaften für engste Blutsverwandte (Stammzellen) kann so bereits im frühesten Zellstadium selektiert werden. Der Embryo wird dann je nach Ergebnis entweder in die Gebärmutter eingepflanzt oder vernichtet. Überschüssige gesunde Zellhaufen, auf Vorrat produziert, werden eingefroren, später entweder noch einmal für eine eigene Schwangerschaft verwendet, der Wissenschaft für weitere Forschungen zur Verfügung gestellt, anderen Paaren gespendet oder ebenfalls vernichtet.

In neuester Zeit wird mit der »Genschere« experimentiert. Das Verfahren CRISPR/Cas9 soll DNA-Sequenzen aus dem Erbgut trennen, die als defekt identifiziert werden. Im August 2017 wurde dies in den USA erstmals bereits im Moment der Zeugung getestet. Die dabei produzierten Embryonen, die zu nur bzw. immerhin Dreivierteln die defekte Sequenz nicht mehr aufwiesen, wurden danach vernichtet. Auch diese Form der Biomanipulation wird künftig von den ›Besitzern‹ Entscheidungen über die Zukunft einer potentiell menschlichen Entwicklung fordern, gerade weil damit möglicherweise ein erhöhtes Krebsrisiko verbunden sein wird.[27] Damit werden auch in diesem zentralen Bereich durch technischen Wandel, den wir als Gesellschaften schließlich bewusst und gezielt betreiben und fördern, Dimensionen von Gewissensentscheidungen erreicht, die von unseren Jahrtausende alten philosophischen und religiösen Modellen ebenso wenig erfasst werden, wie von den ohnehin löchrigen rechtlichen Normen. Doch zwangsläufig gleichzeitig werden diese Reproduktionstechniken von Auswahlprozessen begleitet, für die keine adäquat eindeutigen oder auch nur gesellschaftlich verhandelten Kriterien existieren. Nicht die Frage der Machbarkeit an sich wird noch hinterfragt, sondern allein die Grenzen der Zulässigkeit werden global sehr unterschiedlich gesetzlich geregelt und immer wieder umgeschrieben. Längst machen z. B. belgische oder US-Kliniken mit der möglichen Selektion des Geschlechts und dem genetischen Screening bei der In-vitro-Fertilisation offen Werbung und ziehen damit schon seit einigen Jahren immer mehr solvente internationale Kundschaft an.[28]

Weltweit werden selbst Leben und Tod, auch nur scheinbar faktisch klare Zustände, dabei aber letztlich ethische, juristisch auszubuchstabierende Dimensionen und eben keine biologisch klar begrenzbaren Definitionen, rechtlich unterschiedlich definiert. Die Verhandelbarkeit auch solch grundlegender Verfasstheiten wird besonders eindringlich an der Debatte um Hirntod versus Herztod deutlich.

Im Alltag werden, auch mangels genügend Hintergrundwissens, diese Komplexitäten von den meisten Menschen gerne ausgeblendet. Die heute übliche Schwangerschaftsvorsorge wurde und wird zwar ausschließlich als Prävention zum Schutz der Gesundheit von Mutter und ungeborenem Kind öffentlich angepriesen, ist aber nolens volens Teil einer staatlichen Bevölkerungspolitik, mithin ein kollektiv beschwiegener Nebeneffekt angesichts steigender Gesundheitskosten. Denn nicht oder nur sehr bedingt arbeitsfähige Menschen, hier ressourcen- und betreuungsintensive Kinder, später Erwachsene, belasten ebenso die Kassen wie die stetig kostspieligere Behandlung und Versorgung der wachsenden Zahl an multimorbiden alten Patienten.[29]

Die Historikerin und Soziologin Barbara Duden hat für den Fortpflanzungsbereich schon vor 25 Jahren auf dieses moralische und ethische Dilemma aller Beteiligten hingewiesen, das sich heute auf den gesamten Bereich der Früherkennung, v. a. auch von Erbkrankheiten, erstreckt und mit dem Begriff der »Technologiefolgenabschätzung« zwar korrekt, aber in seinen emotionalen und sozialen Dimensionen nur unzureichend beschrieben wird.[30] Denn es sind im Falle der Fortpflanzung die potentiellen Eltern und im Falle der körperlichen Konsequenzen in der Regel letztlich die Frauen, denen eine Entscheidung über Leben und Tod mit all den daran hängenden Schuldzuweisungen und Schuldgefühlen, ganz unabhängig von der Richtung der Entscheidung, aufgezwungen wird. Erschwerend kommt im Falle des standardisierten Erst-Trimester-Screenings noch hinzu, dass gar keine klaren Diagnosen erstellt, sondern nur statistische Wahrscheinlichkeiten benannt werden, die eine Kette weiterer, ebenso unsicher basierter (mögliche erbliche Vorerkrankungen, Alter der Erzeuger, gewählte Testverfahren) Folgeentscheidungen nach sich ziehen. Diese Situation, die so vor einigen Jahrzehnten gar nicht möglich gewesen wäre, wird in ihrer Tendenz massiv von den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, den technischen wie ökonomischen Effizienzprinzipen bestimmt, letztlich aber doch in ihrer Verantwortung wieder individualisiert und ›re-privatisiert‹.

Die Pränataldiagnostik hat sich nach wie vor dem alten ethischen Problem um die Lebensdebatte und dessen (ob nun religiöser oder profaner) ›Heiligung‹ zu stellen: ob und wenn ja, inwieweit bereits der Embryo ein schützenswertes Wesen sei, dem Menschenwürde zukomme.[31] Dabei gibt es eben einerseits eine lange Tradition des Bemühens um menschliche Optimierung ›von oben‹ mit der Frage, wie mit den als suboptimal definierten Individuen umzugehen sei – wovon in diesem Buch hauptsächlich die Rede sein soll. Andererseits wächst mit zunehmender gesellschaftlicher Selbstverständlichkeit des Machbaren, der vorhin angesprochenen Normalisierung durch Grenzverschiebungen in Diskurs und Praxis, auch ein Markt bzw. die Nachfrage ›von unten‹. Beide Entwicklungen hängen eng zusammen, wie noch zu zeigen sein wird. Die Diskussionen um das gesellschaftlich Erwünschte und Zulässige dauern an und werden, je nach Priorisierung bestimmter Normen und Werte, aber v. a. auch bestimmter Axiome, nie endgültig zu beantworten sein. Schon das Thema Abtreibung fordert die jeweiligen Gesellschaftsnormen stets neu heraus. Seit der Antike und auch in Mittelalter und Früher Neuzeit wurde die Frage nach dem Beginn des Lebens immer wieder unterschiedlich beantwortet. Bis heute schwelt in der philosophisch-theologischen Debatte der grundsätzliche Streit zwischen den Verfechtern der »Sukzessivbeseelung« (nach Aristoteles lebt ein männlicher Embryo nach 40 Tagen, ein weiblicher erst nach 90, ein Verständnis, das sich auch im 3. Buch Mose 12, 1-5 findet) und jenen der »Simultanbeseelung« (gilt in den christlich-orthodoxen Kirchen bereits seit dem 7. Jahrhundert). Begann das Leben also mit der Zeugung oder erst mit der ersten Bewegung im Mutterleib, mithin dem Moment, in dem Gott offenbar der Leibesfrucht erst ihre Seele und somit Menschenwürde verlieh?[32] In der heutigen Diskussion gerne vergessen wird dabei, dass das römisch-katholische Kirchenrecht noch im 19. Jahrhundert zwischen beseeltem (animatus) und unbeseeltem (inanimatus) Fötus unterschied. Papst Innozenz XI. dekretierte unter Berufung auf neueste medizinische Erkenntnisse 1679 gar explizit:

»Es ist erlaubt, vor der Beseelung eines Fötus eine Abtreibung vorzunehmen, damit das Mädchen nicht, wenn es schwanger ertappt wird, getötet werde oder in schlechten Ruf komme. Es scheint wahrscheinlich, dass jeder Fötus (solange er in der Gebärmutter ist) einer vernunftbegabten Seele entbehrt und erst dann anfängt, eine solche zu haben, wenn er geboren wird; und folglich wird man sagen müssen, dass bei keiner Abtreibung ein Mord begangen wird.«[33]

Hier ging es allerdings nicht um menschliche Optimierungsstrategien, sondern um das andere große Thema einer normativ aufgeladenen Fortpflanzungsdebatte: um die Sittlichkeit von insbesondere weiblichem Sexualverhalten, das interkulturell weltweit vor dem Hintergrund patriarchaler Vorstellungen von Ehre, Ökonomie und Erbe sowie dadurch motivierten – in diesem Fall christlichen – ›Ehrenmorden‹ verhandelt wird.

 

Noch bis vor wenigen Jahrzehnten waren dem Menschen in seinem Bestreben nach Perfektionierung des Körpers und des Geistes enge technische Grenzen gesetzt, weshalb die meisten nicht invasiven utopischen Entwürfe schlicht nicht realisiert werden konnten. Die mittlerweile immerhin in Ansätzen erforschte Geschichte staatlich-eugenischer Experimente und Programme vieler Industrieländer im 20. Jahrhundert, z. B. Skandinaviens, der Schweiz, Nordamerikas aber auch der Sowjetunion und Japans, zeichnet allerdings bis heute ein viel drastischeres Bild als den meisten Menschen bewusst sein dürfte. So ist immerhin bekannt geworden – und hat in verschiedenen Ländern seit den 1990er Jahren emotionale öffentliche Debatten und gesetzliche Änderungen bewirkt – dass es eben nicht die Nationalsozialisten waren, die als erste und einzige eugenische Programme entwickelt und auch umgesetzt hatten. Vielmehr haben im Zuge einer globalisierten eugenischen Bewegung seit Ende des 19. Jahrhunderts kaum zeitversetzte Wellen staatlicher Programme die Bevölkerungsprofile und das Normalitätsverständnis gerade auch demokratisch regierter Länder schleichend verändert.

Seit ihrer technisch vergleichsweise gefahrlosen Machbarkeit stellt insbesondere die Zwangssterilisation von körperlich und geistig Behinderten, sowie von sozial unerwünschten Personengruppen wie »Asozialen«, »Debilen«, ledigen, nach patriarchaler Logik also »unsittlichen« jungen Müttern sowie auch Alkoholkranken oder Verhaltensauffälligen aller Art und last but not least, ethnisch als minderwertig definierten Gruppen, bis teilweise weit in die 1980er Jahre hinein eine Selbstverständlichkeit dar.[34] Zu nennen wären hier wieder neben den USA v. a. Skandinavien und die Schweiz.[35] In der Alpenrepublik sterilisierte der Psychiater Auguste-Henri Forel (1848-1931) 1886 die erste Frau wegen einer »sexuellen Neurose« und dann aus dezidiert eugenischen Gründen in den nächsten 20 Jahren weitere Männer und Frauen.[36] Dort traf es auch viele der als »asozial« stigmatisierten »Verdingkinder« aus tatsächlich oder scheinbar problematischen sozialen Verhältnissen und die vagierende Gruppe der »Jenischen«. Aber auch in Australien[37], Kanada und den USA, mit ihren bald inferiorisierten indigenen Völkern, existierten bereits seit Anfang des 20. Jahrhunderts quasi autonom agierende staatliche und/oder kirchliche Institutionen, meist im Zusammenhang mit einem organisierten Fürsorge- und Zwangsinternatssystem. Aus dessen Fängen konnte sich kaum jemand befreien, der einmal als deviant stigmatisiert worden war.[38]

Obwohl der Eingriff bei Frauen physisch erheblich aufwendiger und kostspieliger war, trafen die Zwangsterilisationen aus religiös-normativen Gründen fast überall überwiegend Frauen und Mädchen. Berichte über das Fortdauern solcher Praktiken, mindestens mit staatlicher Tolerierung, wenn nicht gar im staatlichen Auftrag, zeigen noch heute in der Slowakei[39], Indien, China und anderen Ländern, dass dieses Thema keineswegs der Vergangenheit angehört – zumal in den mit Abstand bevölkerungsreichsten Ländern China und Indien, die Abtreibung weiblicher Föten weiterhin an der Tagesordnung ist.[40]

 

Gerade im von den Entwicklungen in Großbritannien stark beeinflussten Australien und den USA spielten schon Ende des 18. Jahrhunderts Fragen der Rasse und eine mehr oder weniger biologisierte Überlegenheit von »whiteness« eine zentrale Rolle für Identitäts- und »nation building«.[41] Für die französischen karibischen Kolonien entwarfen Verwaltungsmitglieder sogar bereits Ende des 18. Jahrhunderts konkrete Zuchtmodelle, allerdings weniger aus geschäftlichen, denn aus gesellschaftspolitischen Motiven.[42] In den USA wurde von den Plantagenbesitzern, angelehnt an die Nutztierzucht um die Mitte des 19. Jahrhunderts, vergeblich versucht, das »slave breeding« zu optimieren. So sollte nach dem Verbot des Sklavenimports von 1807 das Nachschubproblem gelöst und durch den Verkauf auch noch Gewinne erwirtschaftet werden. Sexualisierte Gewalt gegenüber Mädchen und Frauen war logischerweise Teil und Grundbedingung eines solchen Systems.[43] Ganz selbstverständlich praktizierten und forcierten auch liberale Aufklärer und Vordenker wie etwa Thomas Jefferson (1743-1826) als Politiker und Plantagenbesitzer diesen Versuch der Gewinnoptimierung.[44] Eine neue Studie führte gerade am Beispiel der jungen USA dramatisch vor, wie sehr durch den Sklavenstatus der größten Bevölkerungsgruppe, der Aufstieg und die ökonomische Macht der USA erst möglich wurden. Denn erst der explodierende Binnen-Sklavenhandel nach 1810 ermöglichte die US-Expansionen nach Mexico und Kuba sowie in weitere südamerikanische Staaten.[45] Indem gezielt gezeugte Menschen schon bei der Geburt als »human assets«, als kapitale Wette auf die Zukunft betrachtet wurden, zeigt sich, wie sehr nicht nur die allgemeine Bevölkerungspolitik, sondern gerade die konkrete Menschenzucht v. a. ein ökonomisch relevantes Thema darstellte. Dies lässt sich auch am Machtkampf zwischen den beiden Staaten Virginia (als Zentrum der Sklavenzucht) und South Carolina (als größter Sklavenimporteur, der als Verlierer des Machtkampfs um die Sklaverei als Ressource dann die Sezession betrieb) ablesen, bei dem Schwarze als billigste Arbeitskraft ausgebeutet, v. a. aber auch als Kreditsicherheiten eingesetzt wurden.[46] Die andere Seite der Medaille stellte der Versuch des »breeding out the colour« aufgrund der britischen weißen Überlegenheitsideologie dar. Dies galt sowohl für die Schwarzen in den jungen USA als auch für die Aborigines in den australischen Kolonien. Teil dieser Logik waren die seit Mitte des 18. Jahrhunderts von Deutschland und Frankreich ausgehenden, heiß diskutierten anthropologischen Theorien rund um die begrifflich noch nicht klar geschiedene Trias von »Rasse«, »Spezies« und »Art« im Zusammenhang mit ersten evolutionären Konzepten zur Vererbung. Dazu gehörte auch die Vorstellung, dass wie bei bestimmten Tieren, jene »mixed-bloods« mit den ungünstigsten Mischungsverhältnissen (»corrupt«, »degraded« und »ill-bred«) spätestens nach einigen Generationen selbst unfruchtbar würden.[47] Interessanterweise war die akademische Meinung über indigene »half-breeds« in den USA vielfach eine bessere, da diese durch missionarische Erziehung oft zu lokalen wirtschaftlichen Eliten aufstiegen, selbst Sklaven erwarben, stolz auf ihr teilweise »weißes Blut« waren und stammestraditionell motiviert, ihrerseits ebenfalls Wert auf strenge Heiratsregeln legten.[48]

Dieses »selective breeding«, wie bereits von Malthus angeregt, wird heute in erster Linie mit dem Begriff der Eugenik und dessen expliziter Ausformulierung durch Charles Darwins (1809-1882) Cousin Francis Galton (1822-1911) verbunden. Dessen Schrift Hereditary Talent and Character (1865) basierte explizit auf der Ableitung menschlicher Zucht von der Tierzucht, primär englischer Rennpferde und Jagdhunde (Bassets). In Abgrenzung zu Malthus und in Anlehnung an Darwins Vererbungstheorie bezeichnete er die verelendeten englischen und irischen Unterschichten als unrettbar degeneriert in ihrer »physical structure« und forderte außerdem das konsequente staatlich kontrollierte Auszüchten unerwünschter, kollektiv unterstellter Charaktereigenschaften (»mental qualities«) über mehrere Generationen hinweg, etwa die Neigung zu Trunksucht, Faulheit und hemmungsloser Sexualität. Zwangsheiraten der Besten und Heiratsverbote für die Schlechtesten »in stock« waren nur eine logische Konsequenz zur Bevölkerungsoptimierung und Elitenzucht und beileibe keine neue Idee (Hereditary Genius 1869). Die Ablehnung der Lamarckschen, aber auch teilweise noch Darwinschen Theorie von der Vererbung erworbener Eigenschaften durch »use« und »disuse« innerhalb einer Generation war ein anderer Teil der Galtonschen Philosophie und Logik.[49]

Darwin und Galtons Werkte stellen damit viel mehr als Malthus’ Essay eine bis heute öffentlich weitgehend noch immer nicht als solche wahrgenommene ethisch-moralische Wende dar. Insbesondere der durch Galton ausgelöste Dammbruch, in dem was nicht mehr nur denkbar, sondern nun öffentlich sagbar und bald auch politisch umsetzbar war, die von den englischen »Eugenic Societies« ab der Jahrhundertwende in alle Welt exportieren Modelle und (Zwangs-)Maßnahmen, lassen eugenisches Denken als eine Erfindung der Moderne, als logische Folge des industriellen und säkularisierten Kapitalismus erscheinen.[50] Auch und gerade am Beispiel der Modelle zu Bevölkerungspolitik durch selektive Menschenzucht lässt sich die Theorie des Mediziners und Wissenschaftsphilosophen Ludwik Fleck (1896-1961) zur Genese wissenschaftlicher Tatsachen wunderbar durchexerzieren:[51]

Voraussetzung für die Akzeptanz einer Tatsache als solche sind die »Denkkollektive« von Experten. Sie sind vor dem Hintergrund ihrer Zeitgenossenschaft an bestimmte »Denkstile« gebunden und entscheiden so über die Zulassung neuer Erkenntnisse zum Kanon. Nur innerhalb der Grenzen des eigenen Denkkollektivs und zwischen parallelen Kollektiven werden laut Fleck adaptive Varianten des Denkens zur Diskussion zugelassen. Wandel geschieht darum nur schrittweise, über »Denkstilergänzung, Denkstilerweiterung und Denkstilumwandlung«.

Befürworter solch spezifischer Formen der ›Familienpolitik‹ als Staatsprogramm fanden sich nämlich zu verschiedenen Zeiten auf durchaus unterschiedlichen Seiten des politischen und ideologischen Spektrums. So forderten Teile der internationalen Frauen- und auch der Arbeiterbewegung seit Ende des 19. Jahrhunderts staatliche Maßnahmen und den rechtlich legitimierten Eingriff in die Entscheidungsfreiheit und körperliche Integrität des Individuums.[52] Gemeinsames Motiv solch unterschiedlicher Interessengruppen war das Streben nach einer »besseren« und damit glücklicheren Gesellschaft. Unausgesprochener Teil dieses Glücks war selbstverständlich auch ökonomischer Wohlstand. Diesem höheren kollektiven Interesse hatte sich der/die Einzelne schlicht zu unterwerfen. Wie eine solche Gesellschaft genau aussehen und wer über ihre Ausgestaltung befinden sollte, darüber wurde meistens weniger offen diskutiert.

 

Dieser unhinterfragte Vorrang der Gemeinschaft vor dem Individuum – deren Interessen zuerst einmal als einheitlich und homogen konstruiert und behauptet werden müssen – stand schon im Zentrum des ersten uns bekannten und bereits damals sehr elaborierten Konzepts staatlich organisierter Menschenzucht mit eugenischen Aspekten. Der eingangs zitierte Platon beschrieb die Prioritäten seines Idealstaates zunächst explizit als militärische und herrschaftspolitische Belange. Er entwickelte seine Überlegungen bereits im 4. Jahrhundert vor Christus in seiner Politeia als eine Form der Staatsräson.[53] In diesem als Gesprächsammlung ausgearbeiteten politischen Konzept ließ Platon Sokrates im fiktiven Dialog mit seinem, Platons älterem Bruder, Glaukon das Modell eines ständisch geordneten, aber autokratisch geführten idealen Staates diskutieren. Die Bevölkerung dieser Politeia wäre, so wird unermüdlich postuliert, zum Besten, d. h. zur Glückseligkeit aller Staatsbewohner (Eudaimonie), indogermanischen Traditionen folgend in drei Stände mit unterschiedlichen Rechten und Pflichten gegliedert: den der Handwerker, Kaufleute und Bauern (Demiurgoi), den Stand der Soldaten bzw. »Wächter« (Phylakes) und den einer kleinen, aus dem Wächterstand rekrutierten vernunftbegabten Herrscherelite (Archontes»Besten mit den Besten«