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Viivi Luik

Schattenspiel

 

Aus dem Estnischen von

Cornelius Hasselblatt

 

 

 

 

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Bibliografische Information

der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese

Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;

detaillierte bibliografische Daten sind im Internet

über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

 

Originalausgabe: Varjuteater

Eesti Keele Sihtasustus, Tallinn 2010

 

© Wallstein Verlag, Göttingen 2018

www.wallstein-verlag.de

Umschlaggestaltung: Stine Wiemann

ISBN (Print) 978-3-8353-3339-0

ISBN (E-Book, pdf) 978-3-8353-4291-0

ISBN (E-Book, epub) 978-3-8353-4292-7

Der Verlag dankt dem Eesti Kultuurkapital

für die finanzielle Unterstützung der Übersetzung

durch ein Traducta Stipendium.

Inhalt

Zuhause

Das Modell der Weltkugel

Der Mädchenstaat

Die dem Schaum entstiegene Venus

Fahrkarte für den Nachtzug

Die Hure Babylon

Die venezianische Maske

Der Gaukler

Reparatur der Gerippe

Warten auf Godot

Zum Leuchtturm

Der Empfang

Schattenspiel

 

 

 

Für JJ, der meine Heimstatt auf der Welt ist

 

 

 

Dort hinten lag Rom! Dort lag der noch rauchende und glühende Brandherd alter Kulturen, eingeschlossen in den Wurzelgeflechten des christlichen und abendländischen Mittelalters. Dort war noch lebende Antike in ihrer ganzen Herrlichkeit und Ruchlosigkeit.

Ich wundere mich immer über Menschen, die nach Rom reisen wie z. B. nach Paris oder nach London. Gewiß kann man das eine wie das andere ästhetisch genießen, aber wenn man von dem Geist, der hier gewaltet hat, auf Schritt und Tritt im Innersten betroffen ist, wenn ein Mauerrest hier und eine Säule dort mich mit einem soeben wiedererkannten Gesicht anblicken, dann ist das eine andere Sache. […]

Als ich 1949, bereits in meinem hohen Alter, das Versäumte nachholen wollte, erlitt ich eine Ohnmacht beim Einkauf der Fahrkarten. Danach wurde der Plan einer Romfahrt ein für allemal ad acta gelegt.

 

Carl Gustav Jung:

Erinnerungen, Träume, Gedanken.

Zuhause

Im Jahre 1949, als Carl Gustav Jung in die Ewige Stadt reisen wollte, beim Kauf der Fahrkarte ohnmächtig wurde und die Reisepläne ein für alle Mal begrub, begann eine andere Romreise.

Es geschah im Zusammenhang mit den Märzdeportationen, dass ich zum ersten Mal ein Bild von Rom, vom Kolosseum, sah. Andernfalls gäbe es keinerlei Grund, noch einmal diese alte, abgenutzte, zerkratzte und knisternde Deportationsplatte aufzulegen, wenn nicht genau dies der Beginn meines Weges nach Rom wäre.

Es war ein wertvolles und dickes Buch, das da auf dem Dielenboden eines estnischen Bauernhauses lag, aufgeschlagen bei einer Abbildung des Kolosseums in Rom. Die Bewohner waren gerade abgeholt worden, während die Söhne barfuß durch den Schneeregen in den Wald gerannt waren. Die hatten sie noch nicht erwischt. Die schmutzigen Stiefelspuren der Soldaten waren auf den sauberen Dielen noch gut zu sehen. Wie Striemen einer Peitsche. Sie fraßen sich für immer in die estnischen Fußböden ein. Im Fichtenwäldchen hinter dem Feld hatten Schnee und Regen das Blut eines Roten, der die Kugel bekommen hatte, noch nicht weggespült. Es soll gar nicht leicht gewesen sein, den Leichnam zu bestatten, der Boden sei tief gefroren gewesen und vereist.

Mich ging das nichts an. Das war nicht meine Sache. Ich war ein Kind und spielte mit den Sternen des Himmels. Mich interessierte das Bild in dem Buch mehr als Verwünschungen und Tränen. Vor dem Tod oder Sibirien hatte ich keine Angst.

In diesem Moment war für mich nur das Bild des Kolosseums wichtig. Ich wusste nicht, was das war, was für ein Bild das war. Aber das Bild verzauberte mich, ich konnte mich nicht von ihm losreißen. Der Herrgott auf seinem Thron mag gleichzeitig das ehemalige Kind und jene Person sehen, die hier sitzt und gerade eine Bilanz ihres Lebens zieht.

Dieser Dreijährigen lief die Nase, sie tropfte direkt ins Buch. Sie schämte sich und deckte den Fleck mit ihrer Hand ab, als wollte sie ihn vor unsichtbaren Zeugen verbergen. Dabei bestand keinerlei Grund, sich zu schämen. Außer dem Herrgott gab es dort keine weiteren Zeugen. Von ihm aber ist bekannt, dass Spucke und Schleim, Rotz und Tränen sein täglicher Anblick sind. Denn an den Herrgott wenden sich die Menschen wie an einen Arzt meist nur in ihrem größten Elend, wenn sie bitterlich weinen, heulen und triefen.

Großmutter beachtete mich nicht, sie schaute weder zu mir noch auf das dicke Buch, sie betete in der Grabeskälte des von Unglück erfüllten Zimmers ein Vaterunser für die Deportierten und verfluchte die Deporteure.

Zur gleichen Zeit schien in Rom die Sonne ins Kolosseum. Dessen Mauern waren an Gebete und Verwünschungen gewöhnt, sie waren von ihnen durchtränkt, und auch Großmutters Verfluchungen konnten sie nicht ins Wanken bringen.

Die alte heisere Stimme meiner Großmutter drang durch das Bild vom Kolosseum zu mir, sie erreichte mich eigentlich erst durch dieses Bild hindurch wie die Stimme der Weltgeschichte selbst.

Niemals mehr werde ich diese einsame alte Stimme hören. Sie ist vom Erdball verschwunden. Wer konnte ahnen, dass die Zeit so schnell verfliegen würde! Niemand glaubt das, niemals. Aber siehe da, draußen weht derselbe ewige Wind, der die Menschen wie trockene Blätter vor sich her treibt. Auch damals sang der Wind wie jetzt: »Lebwohl, mein Schatz. Der große Abgang steht bevor …«, aber wer hört das schon und schert sich darum, bevor die Reihe an einem selbst ist.

Diese barbarischen, schmutzigen Stiefelabdrücke und die Blutlache im Fichtenwäldchen schienen aus dem Kolosseumbild herausgesprungen zu sein, wenngleich die Bildtafel in diesem dicken Buch mit seinem gelblichen Papier von einem Vorhang aus Seidenpapier beschützt wurde.

Lesen konnte ich noch nicht. Im Nachhinein kann man davon ausgehen, dass es ein italienisches Buch war, denn als ich Jahre später die Wörter »mezzo« und »palazzo« sah, erkannte ich sie sofort wieder. Ich hatte sie schon einmal gesehen.

Das zweite Mal, und dann schon nicht mehr auf einem Bild, sondern in Wirklichkeit, sah ich das Kolosseum im Oktober 1998, im Licht eines Blitzes. In einem rötlich drohenden Feuerschein. In einem Wolkenbruch. Tatsächlich war das Erste, was ich in Rom sah, ein Blitz. Möglicherweise hat jeder insgeheim seine eigene Vorstellung von Rom; ich habe mir die Ewige Stadt ein Leben lang in einem düsteren rötlichen Feuerschein vorgestellt, und nun ergab es sich so, dass ich sie genau in diesem Zustand zum ersten Mal erblickte.

Als ich an jenem dunklen Oktoberabend endlich in Rom eintraf, waren seit meinem ersten Blick auf das Kolosseum neunundvierzig Jahre vergangen. Was immer ich diese neunundvierzig Jahre getan habe, ich war unterwegs nach Rom.

Auch an jenem öden Novemberabend Ende der fünfziger Jahre war ich auf dem Weg nach Rom, als sich die Dämmerung wie graue Asche auf die leeren Felder, die verwilderten Äcker und die leer stehenden Bauernhöfe senkte, als der kalte gelbe Streifen des Sonnenuntergangs hinter den kahlen Bäumen traurig und einsam flackerte wie die Erinnerung eines Flüchtlings an seine verlorene Heimat, in die er niemals zurückkehren wird, weil, wie Karl Ristikivi es in einem Gedicht ausdrückte, »Wasser davor ist, Wasser und schaurige Felsen«.

Auch in der Traurigkeit dieser verlorenen und fernen Abendstunde war ich auf dem Weg nach Rom. Warum sonst nahm ich mir ein kariertes Heft und meinen Schulfüllfederhalter aus der Schublade und fing an, Jahreszahlen in das Heft zu schreiben?

Ich schrieb lange an ihnen, denn es waren viele. Ich wollte bis zum Jahr 2000 kommen, das zu jenem Zeitpunkt noch in unvorstellbarer und unermesslicher Ferne lag, gleichsam wie in einem anderen Sonnensystem. Man konnte nicht ins Jahr 2000 gelangen, ohne vorher die Jahreszahl 1998 geschrieben zu haben, das Jahr, in dem ich in Rom ankam … Diese Jahreszahl sagte mir nicht mehr als alle anderen in dieser Reihe.

Ich dachte in jener öden Dämmerstunde zum ersten Mal in meinem Leben an die Menschen, die den Gang meines Lebens bestimmten, und an die Orte, an denen mein Herz aus Liebe und Schmerz einmal verstummen würde. Einige der Menschen lebten bereits, andere waren noch nicht geboren.

Ich war auf geheimnisvolle Art und Weise durch mein Fleisch und Blut mit anderen Menschen in der weiten Welt verbunden. Mir schoss plötzlich durch den Kopf, dass irgendwo, bloß wusste ich nicht, wo, Häuser stehen mussten, in denen mein Leben und mein Schicksal sich erfüllen würden. Vielleicht sogar Häuser, die noch gar nicht entworfen waren, weil ihre Architekten und Erbauer möglicherweise noch gar nicht geboren waren. An ihrer Stelle war nur Leere.

Irgendwo dort hinter den Jahren befand sich auch meine Todesstunde, wie ein Bahnhof, ein dunkles Gebäude im Sternenlicht. Die Stunde, die jeder bei seiner Geburt mitbekommt. Und schon leuchteten über dem kahlen Wald die ersten Sterne auf.

Ich drückte meinen Brustkorb an die Tischkante. Mein Herz schlug, und es stand nicht in meiner Macht, es zu stoppen, bevor es nicht von selbst aufhörte. Draußen raschelte und rauschte es, ein Windstoß rührte an den schwarzen vertrockneten Blumenstängeln, die noch vor kurzem als hoch aufgeschossene Sommerblumen prunkten. Wenn man es nicht gewusst hätte, hätte man kaum glauben mögen, dass diese erbärmlichen Stängel vor zwei Monaten noch lebten und blühten und diesen Sommer mit allen anderen vergangenen und zukünftigen Sommern verbinden würden.

Schon wurde es dunkel im Zimmer, aber am Fenster konnte man die schwarz schimmernden Jahreszahlen noch sehen. Diese verhexten Jahreszahlen sahen untereinander geschrieben wie eine leichte Rechenaufgabe aus. Ich wusste nicht, wie man sie lösen konnte, aber die Lösung musste mich in die weite Welt führen. Das war mein brennender Wunsch dort in dem armseligen Zimmer, in dem es so rasch dunkel wurde, dass nicht einmal das Papier mehr schimmerte.

In diesem Moment waren diese Jahre genau so weit entfernt wie die Sterne, die mittlerweile am Himmel erschienen waren. Und gleichzeitig waren es ganz banale Zahlen, die mit blauer Tinte auf kariertem Papier in zwei krummen Spalten untereinander geschrieben waren. Ein Stück grobes, gelbliches Papier und ein bisschen billige Volksschultinte, weiter nichts.

Es war eine Welt aus einer Petroleumlampe, Erde und Holz, in der ich diese Ziffern, diese Jahreszahlen schrieb. Von dort musste man irgendwie, durch irgendeine Rechenoperation, vor den Computer hier gelangen. Aber noch niemand wusste, was ein Computer war. Dieser Gegenstand, dieses Phänomen und das Netz existierten noch nicht auf der Welt.

Diese erbärmlichen, mit Kinderhand geschriebenen Jahreszahlen waren mein einziger Anhaltspunkt auf der Erde, mein primitives Gerät für den Flug zwischen den Planeten.

In Rom auf der Lungotevere, am Tiberufer, raschelten hinter dem Samtvorhang des Abends sicherlich schon die trockenen bronzefarbenen Platanenblätter. Im Tiber spiegelten sich der Himmel und das Sternbild vom Ende der fünfziger Jahre. Und ich war noch nicht einmal in Tallinn gewesen!

Und doch wartete in Tallinn der August 1991 auf mich, um den man bei diesem langen Weg nach Rom nicht herumkommt. Über diesen August des Jahres einundneunzig ist in Estland viel gesprochen und geschrieben worden. Darüber gibt es so viele Gedanken und Meinungen, wie es Menschen gibt, die damals in Estland wohnten. Die Meinungen und Gedanken decken sich jedoch nicht. Manche merkten gar nicht, dass etwas passierte. Andere waren verzweifelt. Das ist deren Angelegenheit. Ich spreche davon, was ich durchmachte.

Ich war an diesen beiden Augusttagen alleine zu Hause. Zwei lange, zähe, gespenstische Tage in jener Zweizimmerwohnung eines Plattenbaus mit seinem schmutzigen und vollgepinkelten Fahrstuhl, in der ich glücklich gewesen war. Ich wusste damals nicht, dass das Leben immer ein Drahtseilakt war, ein Gang auf des Messers Schneide, und dass morgen schon vorbei sein konnte, was heute noch galt. Ich wusste noch nicht, dass die kleinen Alltäglichkeiten des Lebens, die man für so lästig hält und die man mit anderen teilt, dass gerade sie das Glück waren. Wäsche zusammenfalten, Brot und Kartoffeln nach Hause tragen, Tee kochen, Hemden und Taschentücher bügeln, das konnte das Glück sein. Ich verachtete diese Alltäglichkeiten noch aus tiefster Seele. Ich war damals noch nicht im Sommerhäuschen von Kaarina und Jaakko Kaurinkoski in den westfinnischen Schären gewesen und hatte noch nicht gehört, wie sie bei der Abreise der Gäste andächtig ein estnisches Lied anstimmten: »Unser Leben auf der Welt hier, auf der Welt hier, ist wie das des Vogels auf dem Zweig, das des Vogels auf dem Zweig …«

An jenen beiden Augustmorgen im Jahre einundneunzig verabschiedeten wir uns voneinander, ohne zu wissen, ob wir uns jemals im Leben wiedersehen würden. JJ ging auf den Domberg, um seine Pflicht zu erfüllen, denn er war Abgeordneter in eben jenem letzten Obersten Sowjet, der die Unabhängigkeit ausrief. Die Pflicht, die er zu erfüllen hatte, bestand an jenen beiden Tagen darin, kühlen Kopf zu bewahren und sich nicht vom Scheppern der Panzerketten und Handschellen beirren zu lassen. Darin, einen Staat und seine Selbstständigkeit zu bekommen, jene feste Burg, von der jahrzehntelang nur im Flüsterton gesprochen worden war, für die man in Bunkern und Schützengräben gestorben war, in Lagern und Gefängnissen oder wo immer man die Kugel eben gerade bekam, an der Wand des Schulhauses, im Salon, auf dem Kartoffelacker. Auf dem estnischen Roggenfeld öffnete sich plötzlich ein Abgrund, in den man hineinstürzte. Wer konnte all die Abstürzenden auffangen!

Die damaligen Lieder der Soldaten und Waldbrüder sind nicht nur ein Zeitvertreib für lange Autofahrten, sondern die Stimme von Niedergeschlagenheit, Hoffnung und Verzweiflung selbst.

Jeder weiß das, und die Mehrheit hat es vergessen.

Wenn die Geschichte, wie manche glauben, spiralförmig verläuft, dann standen wir im August 1991 wieder Auge in Auge mit dem Beginn der vierziger Jahre.

In eben diesem Sommer 1991 hörte ich mit eigenen Ohren, wie eine Verkäuferin einer anderen beichtete: »Ich konnte heute Nacht überhaupt nicht schlafen. Draußen dröhnte irgendeine Maschine, und wir horchten die ganze Zeit, ob die Panzer nicht kämen.« Woraufhin die andere antwortete: »Ja, wir haben nachts auch Angst. Bei jedem Donnern wacht man auf und denkt, jetzt sind die Panzer da.« Wenn diese Verkäuferinnen noch leben, werden sie sich noch an jene Nächte erinnern?

Auch ich hob nachts den Kopf vom Kissen und lauschte, ob die Panzer nicht kämen. Im Allgemeinen wurde darüber nicht gesprochen, man schämte sich, es sich einzugestehen oder anderen gegenüber zu zeigen, es war eine heimliche Angst, die man ständig überwinden musste. Diese Bereitschaft zu allem verband die Verkäuferin mit der Schriftstellerin und den Arzt mit dem Klempner wie ein Blutkreislauf, sie einte die Menschen vielleicht mehr zu einem Volk als alle vaterländischen Reden zusammen.

Die Tage im August 1991 waren milde und fühlten sich auf der Haut an wie Samtvorhänge. Was die Vorhänge verbargen, wusste man nicht. Es gab Bewegung hinter ihnen, aber die konnte man nicht sehen. Große weiße Sommerwolken zogen am Himmel vorüber, als würden auf der Welt Politik, Wirtschaft, Staatsbelange, Nachrichtendienste und geheime Rundschreiben nicht existieren.

Sogar die ungestümen, eiskalten Gewässer rund um Suomenlinna waren zahm und weich geworden und liebkosten die Schwimmer. Weder früher noch später bin ich jemals wieder von den Felsen von Suomenlinna ins tiefe, dunkle Wasser gesprungen. Aber im August 1991 badete ich dort, und dieses eine Mal reicht für ein ganzes Leben.

Am Nordostzipfel der Ostsee glich dieser Sommer des Jahres 1991 einem Wundverband, der von dunkler Angst, unvergossenem Blut und quälender Erwartung durchtränkt war. Als die Panzer endlich eintrafen, nahte gemeinsam mit ihrem unheilvollen Donnern auch die Lösung. In diesen beiden Umsturztagen teilte der estnische Rundfunk Verhaltensmaßregeln an das Volk aus, was zu tun sei, wenn der Oberste Sowjet und die Regierung ausgeschaltet und die notwendigen Personen liquidiert worden wären und im Radio der Feind das Wort führen würde.

Ich habe all diese Empfehlungen und Leitfäden mit eigenen Ohren im Radio gehört. Später wollte sich niemand mehr daran erinnern! Der Rundfunk empfahl die Verwendung von Codes und Decknamen in Telefongesprächen. Nicht empfohlen war, zu Hause zu übernachten. Es wurde aufgerufen zu zivilem Ungehorsam.

Im Fernsehen sah ich, wie am helllichten Tag eine Panzerkolonne durch Tallinn rollte. Solche Bilder hatte ich schon zur Genüge gesehen! Das waren Tallinn 1940 und Prag 1968.

Die Sonne strahlte grell, und ihr Licht schien grau, als würde sie ins Todesschattental scheinen. Das Leben war so schnell vorbei, so viel war unerledigt, so viel unausgesprochen geblieben, so viel Liebe war nicht gezeigt worden, und jetzt konnte es zu spät sein.

Das Telefon funktionierte. Sogar ein Anruf aus Schweden kam durch! Wir scherzten miteinander. Der Anrufer war Peeter, Peeter Puide, und er empfahl als eleganten Kontrast massenweise Taschentücher mit Monogrammen nach Sibirien mitzunehmen.

Am Abend dieses 20. August fand auf dem Freiheitsplatz (der damals Siegesplatz hieß) eine Versammlung statt, von der es hieß, dass die Gegner sie untersagt hätten. Man wusste nicht, ob während der Versammlung die Panzer aufkreuzen würden oder nicht. Ob sie die Menschen überrollen würden oder nicht. Wer zu der Versammlung ging, konnte nicht sicher sein, wieder nach Hause zurückzukehren. Tausende gingen hin. So viele, dass die Leute nicht auf den Freiheitsplatz passten, sondern auch auf den Hügeln um den Platz herum standen.

Das Tallinn, das ich an jenem Nachmittag sah, habe ich nie wieder gesehen. Auf den Straßen war plötzlich wie aus dem Nichts oder aus einer Totengruft eine neue Art Hausherr aufgetaucht. Sie trugen tatsächlich Schaftstiefel und hatten tatsächlich einen schwankenden Gang. Sie hatten tatsächlich rote Bänder an der Brust und tatsächlich Schirmmützen auf dem Kopf und eine Zigarette im Mundwinkel. Alle Beschreibungen vom Umsturz 1940 entsprachen tatsächlich der Wahrheit. Jetzt konnte man das mit eigenen Augen sehen. Das Volk sah an diesen aus dem Nichts oder der Totengruft aufgetauchten Männern vorbei. Vielleicht erinnert sich deswegen niemand mehr an ihr plötzliches Erscheinen.

In meiner Tasche hatte ich eine Waffe, ein Schweizer Taschenmesser, das unser Freund Heinz Stalder zum Zeichen der Freundschaft JJ vermacht hatte. In seinen Rand war mit großen, schiefen Buchstaben der Name »Heinz« eingeritzt, da es sich ursprünglich um Heinz’ Lieblingsmesser gehandelt hatte. So manche Holzpfeife hatte er damit geschnitzt, Schiffchen und Windharfen aus Kiefernrinde. Mit dem Messer hatte er Kerben in finnische Birkenrinde und in Schweizer Buchenholz geschnitzt. Dies Messer machte mir Mut, ich hielt es fest wie eine menschliche Hand.

Nun im Nachhinein ist bekannt, was geschah. Jetzt würde einem keiner mehr abnehmen, dass man in einer solchen Verfassung dorthin ging. Aber damals hatte das Leben eine seltsame Wendung genommen und sich in einen Traum verwandelt. Und im Traum ist bekanntlich alles möglich.

Den ganzen Weg von der Haltestelle beim Estonia-Theater bis zum Freiheitsplatz hielt ich dieses Messer fest wie eine menschliche Hand. Wir gingen Hand in Hand. Es waren übrigens auch andere zu sehen, die ihre Hand auf gleiche Weise kindlich und verzweifelt in die Tasche gesteckt hatten. Vielleicht ist es wahr, dass man Imperien niemals umstürzt, wenn man ihnen und ihren Armeen nicht mit dem Taschenmesser in der Hand entgegengeht.

Immer wenn ich die abgedroschenen Zeilen aus einem Soldatenlied höre, in denen es heißt »Ich reiche dir meine bewaffnete Hand«, ist es meine eigene Hand.

Ich war wirklich bereit, einem lebendigen Menschen, einem sowjetischen Soldaten, mein Messer ins Auge zu stechen, wenn es nötig sein sollte. Ich weiß, was für ein Gefühl das ist. Mein Fleisch, meine Knochen und Adern werden sich bis in ihre Todesstunde an diesen Entschluss erinnern.

Bekannte fielen einander auf der Straße um den Hals, ihre Augen füllten sich mit Tränen, und ihr Mund verzog sich. Ich sagte nichts, und niemand sprach mich an. Wir schauten einander nur an. Überall herrschte Grabesstille.

In dieser Grabesstille versammelte sich das Volk. Alle schauten einander an, als wäre es das letzte Mal. Als man anfing, »Unabhängigkeit für Estland!« zu skandieren, erhob sich ein scharfer Wind, und die alten Linden um die Johanniskirche herum rauschten dumpf.

Ich war auf dem Weg nach Rom, und das war kein Scherz.

Ich war auf dem Weg nach Rom auch an jenem Winterabend 1963, als ich sechzehnjährig und ohne Geld in einem dünnen Mantel, gegen den Wind und gegen den Abend, zum Bus und meinem Schicksal entgegen ging.

 

Wohin zieh’n wir nachts von hinnen,

in die Nacht und in das Wasser,

in die schwarzen Finsternisse,

in die glänzend’ Abendröte,

hin zum goldnen Mondenscheine?

Ob wir in den Graben sinken,

ob am Ufer wir verschwinden;

wer wird uns im Graben suchen,

oder an den Ufern schauen?

Gott wird uns im Graben suchen,

Maarja an den Ufern schauen.

(Estnische Volksdichtung)

 

Es war noch gar nicht so spät, aber es dämmerte schon und wurde immer dunkler. Die Wälder stöhnten, der Schnee stob, ich musste mich beeilen, denn Straßen und Wege gingen rasch in ihm unter. Bald reichte mir der Schnee bis zum Knie. Hinter den Wäldern und dem Dickicht lag die Stadt, Tallinn, wohl klein, grau und arm, aber doch brannten dort Lampen, und ein traurig-gelblicher Schein schimmerte in den Himmel, als hätten Wandersleute ein Lagerfeuer entfacht. Ich wusste nicht, dass die Stadt so klein war, und dass der Feuerschein dort nur ein Schatten und Bild von anderen, helleren Feuern war. An dem blassen Lagerfeuer wartete niemand auf mich, und doch war genau da mein Platz. Das hatte ich mir in den Kopf gesetzt, und dorthin eilte ich. Ich musste nur rechtzeitig den Sechs-Uhr-Bus erreichen.

Mutter rannte durch Schnee und Wind hinter mir her. Sie griff mich am Mantelärmel, ihr Mund bewegte sich, aber sie sagte nichts, schaute mich nur an. Dieser eine Blick machte sie im Handumdrehen zur Mutter aller, die fortgehen. Ihre Gestalt hebt sich noch heute schwarz vom winterlichen Dämmerlicht ab, ihre Gestalt kommt mir so klein und so allein vor, dass sie bis zum Ende der Welt sichtbar ist. Ich ging weiter, nach Rom, ich glaubte an Wunder und Sterne, und verschwand im Schneegestöber, als hätte es mich dort nie gegeben.

Diesen Blick meiner Mutter sah ich am 20. August 1991 in den Augen von wildfremden Menschen, als wir in Totenstille einander anblickten.

 

Manchmal gab die Ewige Stadt in jenen Jahren doch ein Lebenszeichen von sich. Hin und wieder drang ein weißes Schiff durch den Eisernen Vorhang, mit dem Pirkko aus Helsinki eintraf, und sie erzählte jedes Mal aufs Neue von ihrem Rombesuch. Ihr waren dort Dinge widerfahren, die unbegreiflich und so verworren waren, als wären sie vor vielen hundert Jahren geschehen. In Rom hatte Pirkko einen versteinerten Fußabdruck von Jesus gesehen und in der Nähe davon ein Huhn, das hoch auf einen Baum geflogen war und dort wie ein Adler sitzen blieb. Woher das Huhn kam, war nicht ganz klar. Ferner gab es in Rom Lerchen, die lauthals gesungen haben, so dass man sofort verstand, dass sie dort schon immer so gesungen haben, selbst als die Legionen noch marschierten.

Auch hatte Pirkko in Rom kein Dach über dem Kopf bekommen. Offenbar waren Jesus’ Fußabdruck und dieses adlerartige Huhn schuld daran, denn die sah sie weit draußen vor der Stadt, auf der Via Appia Antica. Als sie dann abends wieder im dunklen Rom eintraf, irrte sie lange umher, bis sie auf dem Palatin ankam, wo sie keine Menschenseele mehr antraf, die sie nach dem Weg hätte fragen können. So warf sie sich auf den von der Sonne erwärmten Boden und schlief sofort ein wie in Mutters Schoß.

Roms Katzen waren in der Nacht über sie hinweg gelaufen. Große schwere Katzen waren es.

Jedes Mal, wenn Pirkko bei ihrer Rom-Odyssee bei der Stelle mit den Katzen ankam, senkte sie die Stimme und schaute zur Seite, und jedes Mal hatte ich das Gefühl, dass das noch nicht alles war, dass es da noch etwas gab, das unausgesprochen blieb. Vielleicht hörte Pirkko dort zwischen den Ruinen des Palatins Geflüster und Schritte oder sah ein Schattenspiel. Ein Schattenspiel und eine rote Flamme, und jedes Mal, wenn sie sich daran erinnerte, geriet sie aufs Neue in Verlegenheit. Die Katzen waren vielleicht gar nicht groß und schwer. Am Ende hatten sie nur ganz magere Körper, große Ohren und lange Pfoten mit scharfen Krallen, wie jene steinerne Katze des Pharaos, von der beinahe jeder einmal ein Bild gesehen hat.

Einmal fiel sogar ein Brief mit einer italienischen Briefmarke in unseren schäbigen Briefkasten. Der Umschlag war leicht, gelblich-weiß, aber was für edles Papier war es, aus dem er hergestellt war! Außerdem hatte er ein braunes knisterndes Futter! Solche Umschläge kannte man im sowjetischen Imperium nicht. Dem Poststempel war zu entnehmen, dass der Brief zwei Monate gebraucht hatte, um auf die andere Seite des Eisernen Vorhangs zu gelangen. Er war entsprechenden Ortes geöffnet und später nachlässig wieder zugeklebt worden. Auf dem eleganten Umschlag waren die groben Spuren von billigem Knochenleim zu sehen.

Der Brief war in der Nähe von Rom, in Frascati, aufgegeben worden.

Geschrieben hatte ihn ein gewisser Padre Vello Salo, von dem ich noch niemals gehört hatte, und wie sollte ich auch, wo doch die öffentliche Erwähnung seines Namens offiziell verboten war. Erst viel später erfuhr ich, dass meine Großmutter mir schon 1949, als ich das Bild vom Kolosseum sah, sehr wohl von einem Vello hätte erzählen können, er war der Sohn des Schuldirektors von Lalsi und auf fernen Schlachtfeldern verschollen. Großmutter hätte schon damals zu berichten gewusst, dass der Sohn des Schuldirektors von Lalsi sich für die Freiheit von Estland und Finnland in den Kampf gestürzt hatte. Auch Großmutter war keine Ausnahme. Auch sie hielt sich in verworrenen Zeiten an das Sprichwort der Alten: Reden ist Silber, Schweigen ist Gold.

Folglich wusste ich mein halbes Leben lang nicht, dass ich über unseren Hund Tommi mit Padre Vello verbunden war. Tommi war uns als Welpe in einem Kartoffelkorb aus Lalsi gebracht worden, vom Hof von den Verwandten des Schuldirektors. Mit solchen Hunden wie Tommi kannte sich der Schuldirektorsohn Vello aus!

Auf dem Weg nach Rom steht auch das Estnische Haus in New York, wo in einem Gespräch mit dem exil-estnischen Kunst- und Literaturkritiker Paul Reets im Frühjahr 1988 der Hund Tommi zur Sprache kam, denn Paul Reets konnte sich lebhaft an meine Beschreibung von Tommi in meinem Buch »Der siebte Friedensfrühling« erinnern. Als wir uns gerade angeregt über den Hund und seine behaarten Hinterbeine, die wie Reithosen aussahen, unterhielten, tauchte an unserem Tisch ein Exil-Este auf, der bekannt war für seine scharfe Abneigung gegen alles, was aus Sowjet-Estland kam. Er war schon ein wenig beschwipst und stellte keine besondere Schroffheit zur Schau, schwankte aber leicht, und nachdem er sich einen Moment gesammelt hatte, mischte er sich in unser Gespräch ein und erkundigte sich ausführlich danach, wer dieser Tommi denn sei.

Paul Reets antwortete mit einem gewissen feinsinnigen Lächeln: »Wie können Sie denn Tommi nicht kennen! Wer sonst soll Tommi kennen, wenn nicht Sie! Tommi ist ein sehr berühmter Freiheitskämpfer in der estnischen Heimat!«, worauf hin Herr Sowieso zufriedengestellt jedem ein Bier ausgab. So habe ich also auf meinem Weg nach Rom auch im Speiseraum des Estnischen Hauses in New York Station gemacht und in ganz ökumenischem Geiste ein Glas Bier auf das Wohl Tommis und aller exilestnischer und daheimgebliebener Freiheitskämpfer getrunken.

Zur Erläuterung sei gesagt, dass der Padre, als er mir den Brief schickte, in Frascati in der Nähe von Rom wohnte und Priester der dortigen Gemeinde war. Den Brief schickte er, weil er gerade eine Lyrikanthologie »Poeti Estoni« zusammenstellte, hinter der bis heute alle italienischen Estophilen her sind, und wenn sie ihrer habhaft geworden sind, studieren sie sie andächtig wie die Heilige Schrift. Padre Vello hatte einige Fragen zu meinen Gedichten, die er ausgewählt hatte.

Jahre später stand ich im blauen Glanz eines Frühlings in Frascati an einer hohen Steinbrüstung und schaute in die Ferne. Dort konnte man durch den goldfarbenen Nebel Rom erkennen. Aus der Ferne war besonders gut zu begreifen, wie unermesslich groß die Kuppel des Petersdoms ist. Dort thronte San Pietro persönlich, der Mittelpunkt der christlichen Welt.

Im selben Frascati, von wo aus man den Mittelpunkt der christlichen Welt sehen konnte, war damals der Brief an mich aufgegeben worden. Und es kamen weitere Briefe. Padre Vello wurde ein Freund fürs Leben. Kein anderer beschwor mich bei Abschieden und Trennungen wie er: »Lebwohl, stirb aufrecht, gib nicht auf!« Es war halb im Scherz gesagt, nach Art der Finnlandjungen, wie die estnischen Soldaten, die im Zweiten Weltkrieg in der finnischen Armee dienten, genannt wurden, aber es war ebenso ernsthaft wie die Frage, deren ewige Wiederholung das A und O seines Priesteramts war: »Sagst du dich los von Satan, und von all seinen Werken und all seinem Pomp?«

Damals aber führte die Reise eines Briefs über die Schreibtische des Geheimdienstes, dessen Vorgesetzter Gerüchten zufolge der Satan persönlich war, und diese Reise konnte manchmal viele Monate in Anspruch nehmen. Trotzdem fiel am Ende eine blasse, vertrocknete Glyzinienblüte aus dem Brief heraus, ein Blättchen oder ein Blümchen, ein Gruß von fernen Hügeln aus dem Land, das ich noch nie mit eigenen Augen gesehen hatte.

Padre Vello lud mich nach Frascati ein, worüber ich mich sehr wunderte, denn ich hatte noch nicht einmal im Traum daran gedacht, dass dieser Ort real existierte und man dorthin konnte.

Sowohl der Padre wie auch Pirkko, die Rom mit eigenen Augen gesehen und die Wärme seiner Erde mit ihrem Körper gespürt hatte, wurden selbstverständlich vom Geheimdienst beobachtet. Wie heute jedes Kind weiß, hatten die Wände damals Augen und Ohren. Entsprechenden Orts gab es bei Bedarf auch Listen und Einträge über unschuldige Blümchen und Blättchen, die aus Briefen herauspurzelten.

Padre Vello war gefährlich. So einer wurde nicht ohne weiteres durch den Eisernen Vorhang gelassen! Gott weiß, was er angerichtet hätte, wenn er nach Estland gekommen wäre! Vielleicht hätte er den Boden geküsst oder sich nach verschollenen Personen erkundigt! Oder später in einem feindlichen Sender erwähnt, dass er bei seinem Besuch in der Heimat keinen nackten König gesehen habe, sondern genau den gleichen Typen, den Bulgakow schon seinerzeit in »Hundeherz« beschrieben hat. Dieselbe widerliche, ruchlose und schamlose Kreatur, die in Menschengestalt handelte.

Die Stadt Rom, die man von Padre Vello aus in Frascati erblicken konnte, war für mich genauso weit entfernt wie das Rom zu Zeiten Kaiser Hadrians. Man konnte nicht einfach zum Schalter gehen und eine Fahrkarte nach Rom kaufen. Einen solchen Schalter gab es nicht.

Anfangs dachte ich, dass es sich hier um einen »technischen Fehler« handelte und dass das politische System der Hinderungsgrund war, der Eiserne Vorhang. Später, als es keinen Eisernen Vorhang mehr gab, kam ich gar nicht auf die Idee, dass man nach Rom reisen könnte, so wie man überall hinreisen konnte. Nach New York, das war möglich, aber nicht nach Rom. Dorthin führte einen entweder das Schicksal, oder man hatte überhaupt keinen Zugang.

Jene Zeilen von Carl Gustav Jung, die ich eingangs wiedergegeben habe, haben mir mehr als alles andere mein Verhältnis zu Rom verdeutlicht.

All die neunundvierzig Jahre, die ich auf dem Weg nach Rom war, sind in Rom Millionen und Abermillionen von Menschen gewesen, und bis heute fahren sie dorthin. Man fuhr zum Wochenende nach Rom und tut das bis heute. In Rom hielt sich Ingeborg Bachmann auf und schrieb dort die verrückten Geschichten vor ihrem Tode. In Rom war Max Frisch, und auch er ist nun tot. Nur sein »Homo faber« lebt, und auch dort finden sich einige Abschnitte zu Rom. Menschenmassen aus allen Winkeln der Welt sind in Rom gewesen und fahren bis heute dorthin. Ganze Massen von Verstorbenen mit Goethe an der Spitze sind seinerzeit in Rom flaniert. Auch Rilke war in Rom und sah dort einen Springbrunnen.

Mir kommt es vor, als wäre ich tatsächlich zu Fuß nach Rom gegangen, so wie es sich gehört, so wie man früher nach Rom ging. Durch Länder und Staaten, über Felder und Ebenen, durch Eis und Matsch, ein graues Bündelchen in der Hand. Wenn es Nacht wurde, fand sich immer ein Schlafplatz.

Wenn JJ nicht 1998 als Botschafter nach Italien entsandt worden wäre, wenn das Schicksal nicht diese Wendung genommen hätte, wäre ich niemals nach Rom gelangt, denn ich musste einen schwerwiegenden Grund haben, um nach Rom zu gehen. Einfach so als Tourist, zur Zerstreuung oder zur Teilnahme an einer Schriftstellertagung wäre ich niemals dorthin gefahren.

Als ich im Oktober in Rom eintraf, war JJ schon einige Monate da. Traurige, verzweifelte Monate, die hauptsächlich darauf verwendet worden waren, in einer fremden und unbekannten Umgebung ein Dach über dem Kopf zu finden. In der Augusthitze von vierzig Grad war er durch Rom gestromert und hatte sich all die kümmerlichen möblierten Wohnungen angeschaut, die man für das bisschen Geld in Rom überhaupt bekommen konnte. Jedes Mal musste er ablehnen. Er hatte die Last des Lebens für mich mitgetragen, die ich den Ernst und das Gewicht dieser Last in dem Moment noch nicht bis ins letzte Detail begriffen hatte.

Ich berichtete ihm von Dingen, die nicht wichtig waren, aber über das, was wichtig gewesen wäre, verlor ich kein Sterbenswörtchen. Was ich wollte, tat ich nicht, und was ich nicht wollte, tat ich. Mir fehlten die Worte, mit denen du dem anderen signalisierst, dass du weißt, wie er sich fühlt. Was für ein Gefühl es ist, in sein eigenes Leben eingemauert zu sein und von innen gegen eine Mauer zu picken, während man gleichzeitig weiß, dass der andere dieselbe Mauer vor sich hat, gegen die er pickt. Jeder denkt, dass er der Einzige ist, der lebt, und dass die anderen nichts davon wissen.

Solange wir kein Dach über dem Kopf hatten, hatten wir auch keinen Ort, wo wir uns in Rom hätten treffen können.

Aber Wohnungssuche konnte nicht die Hauptbeschäftigung eines Botschafters sein. Die Hauptbeschäftigung musste in der Botschaft stattfinden, um die es jedoch nicht viel besser als um die Wohnung stand.

Von den Anfangsmonaten und der Einsamkeit in Rom hat mir JJ nicht sonderlich viel erzählt. Aber seine Haare sind in jenem Herbst in Rom grau geworden. Es war das geschehen, was mit einem Botschafter Estlands in der Welt geschieht. Er war mit sehr wenig Geld unter sehr reiche Leute geraten und musste den Eindruck hinterlassen, dass mit ihm alles zum Besten stehe. Dass der Tag schön ist und dass er keine Alltagssorgen kennt.

Denn in Italien ist nichts anstößiger, als seine Alltagssorgen zur Schau zu stellen. Das heißt, der estnische Staat musste durch seinen Botschafter zeigen, dass mit ihm alles in Ordnung war, dass er ein Staat wie jeder andere war. Dass der Tag des estnischen Staats schön war und dass der estnische Staat keine Alltagssorgen hatte. Der estnische Staat hatte in Rom nun die Gestalt von JJ angenommen und musste sich in Rom ein Dach über dem Kopf suchen.

Botschafter, die große und reiche Staaten vertreten, tragen Oberhemden, die von einem Dienstmädchen gebügelt wurden und die sie ein paar mal am Tage wechseln, weil es sich so gehört; sie trinken ihr Gläschen Wein zu Hause auf der Terrasse unter Palmen. Ihnen fehlt jegliches Interesse an diesen winzigen Staaten, und dieses Interesse geht den Italienern ebenfalls ab.

Wenn man in Italien reich ist, dann ist man so reich, wie man sich das in den nordischen Ländern kaum vorstellen kann. In Italien sind die Klassenunterschiede bis heute so groß, dass man sich davon nördlich der Alpen keine richtige Vorstellung machen kann. Nicht einmal die Finnen und Schweden können sich das vorstellen, wenngleich sie trotz aller Duzerei sehr genau dafür sorgen, dass die Klassenunterschiede deutlich erkennbar sind.

Solche Dinge sieht man als Außenstehender nicht, dazu muss man hinein gelangen. Hinein gelangt man in Rom aber bis heute so wie vor zweitausend Jahren: nur mithilfe von Herkunft, Position oder Geld.

Wir wussten noch nicht, was das im täglichen Leben bedeutete.

Vor Rom hatten wir eine Weile in der Schweiz verbracht und vier Jahre in Helsinki, ich selbst hatte außerdem ein Jahr in Berlin gewohnt. Nirgendwo konnte man so nachdrückliche und selbstbewusste, so unverdorbene Klassenunterschiede wie in Rom bemerken.

Für einen Römer sind bis heute alle Länder, die oberhalb der Grenzen des römischen Imperiums liegen, Länder der Barbaren, undeutliche Orte und Plätze, von denen man nichts weiter weiß, als dass es dort schneit, dass man Fett und Speck isst, nicht beten kann, keine Haare schneiden oder Anzüge nähen kann, unsachgemäß lebt. Dort kann man kein Essen zubereiten und weiß Schönheit nicht zu schätzen. Dort kennt man keine Spielfreude und weiß keine feine Intrige zu spinnen.

Es hat den Anschein, als würden die Menschen alles, was an Lichtscheuem in der Geschichte ihres Heimatlandes passiert ist, von Generation zu Generation weitertragen wie eine ansteckende Krankheit. Wenn bei einem Esten von Generation zu Generation die Angst weiterlebt, man könne für schuldig befunden, festgenommen und deportiert werden, so hat in römischen Gefilden zu allen Zeiten die Angst vorgeherrscht, seine Macht und sein Vermögen zu verlieren, und dass ein schreckliches Geheimnis ans Licht kommt. Dort ist leichtfertig und ohne viel Aufhebens Blut vergossen worden und wird es bis heute noch.

Dort im alten Herzen Europas, wo sich im Laufe des letzten Jahrhunderts augenscheinlich so viel verändert hat, hat sich überhaupt nichts verändert. Es ist ja kein großer Unterschied, ob man sich in einer Sänfte zur Versammlung tragen lässt oder mit einem Daimler dorthin rast, ob man jemanden mit dem Handy anruft oder einen Sklaven mit einer Botschaft schickt, wenn der Gegenstand der Versammlung Macht und Vermögen und die Wahrung des schrecklichen Geheimnisses ist.

In Rom sind die Gebäude voll mit alten Möbeln, mit altem Samt, mit alten dicken Staubschichten, grauem Ungeziefer und Tausendfüßlern, in Beinhäusern vergilbenden Knochen, die Mittagspause ist heilig und dauert drei, vier Stunden. In der Mittagszeit darf man niemanden anrufen oder besuchen, geboren werden oder sterben.

In diesen Gefilden entsteht der Eindruck, als wären all die Alessis und Armanis, dieses ein wenig neuere Modedesign des alten Europa, lediglich als Gegengewicht zum aufdringlichen Druck der alten Zeiten entstanden, so wie Kriege neuartige Waffen hervorbringen können.

In Rom bekommt die abgedroschene Phrase Adel verpflichtet plötzlich eine harte und praktische Bedeutung. Wenn man sich in Rom preiswerte Kleidung kauft, sieht das jeder, denn alles wird nach Stand verkauft. Wer nicht an einer guten Adresse wohnt, wird an seiner Kleidung erkannt. Und an der Art und Weise, wie er seine Kleidung trägt. Standesgemäße Dinge (dazu zählt alles von Schulen und Tennisklubs bis zu den Socken) sind in Rom so teuer, damit nicht jeder an sie herankommt. Nicht hineinkommt.

Als ich an jenem Oktoberabend auf dem Wiener Flughafen am Flugsteig für die Maschine nach Rom hockte und auf den Aufruf meines Flugs wartete, wusste ich noch nicht, wohin ich gelangen würde. Ich wusste nicht, dass ich schon ein paar Stunden später das Kolosseum sehen würde.

Im Licht des Blitzes verblassten alle anderen Lichtquellen. Die Dunkelheit zerriss wie das schwarze Seidenpapier vor der Bildtafel, wie der Tempelvorhang, der Schein des Blitzes war grell und wild, genau wie vor zweitausend Jahren.

Das Kolosseum war kleiner, als ich dachte. Während dieses einen Moments, als der Blitz es erleuchtete, konnte man die dichte Dunkelheit unter seinen Bögen sehen. Ich wusste noch nicht, dass das Kolosseum ein Hexenring war, dem die alte Zeit nicht entrinnen konnte. Man kann sie da drinnen beinahe mit bloßem Auge erkennen. Wenn man von innen hinausschaut, sieht man nicht Autos, Flugzeuge und Mädchen in Jeans, sondern sich selbst bewegende Wagen, eiserne Vögel und Menschen von einem anderen Planeten. Im Kolosseum kommt es einem vor, als würde sich die Gegenwart unerbittlich nähern, als wäre sie schon damals, vor zweitausend Jahren, vorhanden gewesen, und als würde der heutige Tag über die damaligen Menschen schmunzeln, so wie manch künftiger Tag schon jetzt über uns schmunzelt.

Das war nur ein erster Blick aus dem Autofenster, durch Wasser und Feuer, spät am Abend. Man kann diesen Eindruck so oft man will beschreiben, doch immer bleibt das Gefühl nach, dass das Einfachste und Wichtigste ungesagt blieb.

Ja, in meiner Vorstellung herrschte in Rom immer dunkle Nacht, die erleuchtet wurde von einem roten Feuerschein, dem Licht von Fackeln oder Feuersbrünsten. Und genau so erblickte ich es tatsächlich beim ersten Mal.

Ich wusste nicht, wo ich war. Ich hatte vor der Abreise absichtlich nicht den Stadtplan von Rom studiert und auch keine Reiseführer über die Stadt gelesen. Die Wörter Il centro storico sagten mir nichts. Oder etwas anderes, als sie mir hätten sagen sollen. Doch hatte ich vor meiner Reise die folgenden Zeilen gelesen, in denen Juvenal sich über Rom beklagte: »Selbst in der trostlosesten Höhle lebt man besser als hier, in diesem wilden Hauptstadtgetümmel mit all seinen tausend Gefahren, den einstürzenden Häusern und Feuersbrünsten … Eine schlechte Wohnung ist teuer, eine dürftige Mahlzeit ist teuer, und ach wie teuer ist es, einen Sklaven zu unterhalten. Der Lärm lässt dich nicht schlafen, alle um dich herum sind krank. Die Krankheit kommt von dem schweren Essen, das auf den Magen drückt. Nachts und tagsüber donnern schwere Wagen durch die schmalen Gassen, aus denen man Schimpf und Verwünschungen hört.«

Im Jahr 156 dagegen lobt jemand anders Rom über den grünen Klee: »Überall Stadien, Springbrunnen, Marmorpaläste, Tempel, Werkstätten, Schulen … alle Arten von Schauspielen und Wettkämpfen ohne Ende.«

Ich war nach Hause gekommen.

Dort auf dem fremden Flughafen erwartete mich ein Mensch, der mein Zuhause war.

Es lohnt sich nicht zu fragen, mit welchem Preis er die Wohnungssuche bezahlt hatte. Ja, in diesen zwei Monaten war er grau geworden.

Unser Unterschlupf befand sich in der Via dei Coronari. Dort hatte dieses Haus schon viele hundert Jahre vor meiner Geburt gestanden, und vielleicht bleibt es auch noch viele hundert Jahre stehen, natürlich nur für den Fall, dass die Vorhersagen, denen zufolge in Rom kein Stein auf dem anderen bleibt, sich nicht so bald erfüllen. Dieses Haus stand in der Via dei Coronari auch im März des Jahres neunundvierzig, während der großen Deportation, als ich das Bild vom Kolosseum sah, und es steht heute noch dort. Gerade jetzt, in diesem Moment, steht es dort.

Wahrscheinlich ist jeder, der einmal in der Altstadt von Rom gewesen ist, wenigstens einmal an diesem Haus vorbeigegangen.

Die Via dei Coronari ist eine uralte Pilgerstraße, die durch die Altstadt zum Vatikan führt. Eine schmale, alte, dunkle Gasse, in der sich einige der teuersten Antiquitätengeschäfte und Antiquariate Europas befinden.

In der Via dei Coronari werden Art déco-Stühle und Tische, Vasen und Skulpturen aus der Zeit des Duce angeboten. Dort kann man ein venezianisches Glas finden, das viele Male teurer ist als in Venedig, seine Hand über einen Kelim gleiten lassen, Marmortische betätscheln und sein Spiegelbild in gut erhaltenen Jugendstilspiegeln erblicken. Dort findet man Saphire und Diamanten, Korallen und Alabaster.

Bei meiner Ankunft blieb das alles dank der undurchdringlichen Dunkelheit und des dichten Regens vor meinen Augen verborgen.

Die Straße war mit kohlrabenschwarzen Steinen gepflastert und glänzte im Regen finster wie der Styx. Später erfuhr ich, dass die gesamte pechschwarze Pflasterung der römischen Altstadt aus Basalt besteht, erkalteter Lava, und bis heute erinnert mich das an Feuer und Asche.