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Steffen Mensching

Schermanns Augen

Roman

 

 

 

 

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

 

 

 

 

© Wallstein Verlag, Göttingen 2018

www.wallstein-verlag.de

Umschlaggestaltung: Stine Wiemann

ISBN (Print) 978-3-8353-3338-3

ISBN (E-Book, pdf) 978-3-8353-4289-7

ISBN (E-Book, epub) 978-3-8353-4290-3

Inhalt

I Schnee

II Blut

III Papier

IV Wasser

V Holz

VI Brot

VII Licht

VIII Feuer

Epilog

 

 

Für Lily Ruth Hull,

Silvia Schlenstedt,

Simone Barck

und Robert Cohen

 

 

Ich wusste nicht, daß Menschen sterben. Ich glaubte, die Großen würden wieder klein, wenn ich erwachsen wär.

Maria Osten Ballade der Kindheit

 

Der Mensch ist ein Wesen, das sich an alles gewöhnt; ich glaube, das ist die beste Definition für ihn.

Fjodor Dostojewski Aufzeichnungen
aus einem Totenhaus

 

Der Mensch denkt, aber der Nebenmensch lenkt. Er denkt nicht einmal so viel, daß er sich denken könnte, daß ein anderer denken könnte.

Karl Kraus Beim Wort genommen

 

Geht doch jeder Mensch sein Leben lang mit seiner gefesselten Bestie herum, die draußen an den Ketten zerrt oder daheim an den Stäben des Käfigs rüttelt.

Wilhelm Stekel Masken der Sexualität

 

Ein Mensch zu sein, heißt für jeden, seinen Anteil an der Komödie auf ein Minimum zu reduzieren.

André Malraux Rede auf dem Kongress
zur Verteidigung der Kultur 1935

 

Bildet der Mensch die Schrift, so bildet uns die Schrift wieder den Menschen ab.

Rafael Schermann Die Schrift lügt nicht

EPILOG

Rafael Schermann erreichte, aus Safranowka kommend, am 20. August 1941 die Sondersiedlung Fediakowo. Gemeinsam mit seiner Schwester Zofia wurde er am 7. September 1941 nach Perwouralsk entlassen, um von dort in die kasachische Steppe verschickt zu werden. Am 15. November 1942 verhaftete ihn das NKWD Akmolinsk, ein Jahr später, am 13. November 1943 erhielt er das Urteil: fünf Jahre Lagerhaft nach Paragraf 58-10 und Paragraf 58-11. Er starb als politischer Häftling, das genaue Todesdatum und der Ort sind unbekannt. Otto ging am Morgen des 21. August 1941 auf Transport. Er kam nach Jandricha, zum Bau der Eisenbahnbrücke über die Nördliche Dwina. Dort traf er nicht nur Sergej Pawlowitsch Nikulin wieder, sondern auch ein menschliches Wrack, in dem er kaum noch Max Beer alias Adolf Frenzel wiedererkannte. Der Kellner aus dem Adlon erlebte die Wende des Krieges im Jahr 1943 nicht mehr, er stürzte aus dreißig Meter Höhe in die Fluten der Dwina und ertrank. Nikulin arbeitete in einer anderen Brigade als Otto Haferkorn. Sie trafen sich in drei Jahren vier Mal beim Zählappell und kamen über wenige Worte nicht hinaus. Nach seiner Entlassung im Jahr 1952 ging Nikulin nicht nach Moskau zurück, sondern bekam eine Stellung als Betriebshandwerker in der 3. Staatlichen Zementfabrik in Kotlas, er heiratete erneut und starb 1963 bei einem selbst verschuldeten Motorradunfall. Lucien Vogel alias Woschel, der Verleger, den Otto in der Druckerei Iskra Revoljuzii im Jahr 1935 kennengelernt hatte – er präsentierte Rafael Schermann in seiner Zeitung VU der französischen Öffentlichkeit –, arbeitete in New York für die Vogue, kehrte 1945 aus dem amerikanischen Exil nach Paris zurück und starb dort am 7. Mai 1954 an einem Herzinfarkt. Marie-Claude Vaillant-Couturier, seine Tochter, ging in die Résistance, wurde von der Polizei Petains im Februar 1942 verhaftet und erst nach Auschwitz-Birkenau, im August 1944 nach Ravensbrück deportiert. Sie erlebte dort die Befreiung durch die Rote Armee und trat als Zeugin im Nürnberger Kriegsverbrecherprozess auf, blieb weiterhin politisch aktiv und überzeugtes Mitglied der Französischen Kommunistischen Partei, sie starb in Paris am 11. Dezember 1996. Eugene S. Bagger lebte bis 1940 in Pyla-sur-Mer, südwestlich von Bordeaux, nach der Besetzung Frankreichs durch die Deutschen floh er über Portugal nach Übersee, 1944 befand er sich in Nassau, Bahamas. Sein letzter nachgewiesener Zeitungsartikel datiert aus dem Jahr 1954, er starb vermutlich ein Jahr später in Surrey, südlich von London. Zofia Rosenstrauch, Schermanns Schwester, kehrte 1946 aus der Verbannung nach Polen zurück, reiste aber, da ihr ehemaliger Ehemann Hersch in Krakau 1940 an einem Herzschlag gestorben war und alle anderen Angehörigen von den Nazis ermordet wurden, nach Frankreich weiter. Ihre Versuche, die Bilder, Bronzen, Teppiche ihres Bruders aufzuspüren und zu restituieren, schlugen fehl. Zofia wohnte in Paris im Hotel Russie in der Rue des Batignolles und erreichte als Staatenlose am 2. Januar 1951 mit dem Dampfer Liberté die Vereinigten Staaten. Sie lebte in Brooklyn und starb in Queens im November 1966. Otto Schüssler, alias Oskar Fischer, alias Julián Suárez, blieb auch nach Trotzkis Ermordung in Mexiko. Über seine Rolle als Leibwächter und Sekretär hat er sich nie geäußert, er distanzierte sich später von seiner revolutionären Vergangenheit und starb 1982. Oskar Fischer, der Psychiater, der den Graphologen durch sein Buch Experimente mit Raphael Schermann im Jahr 1924 berühmt gemacht hatte, engagierte sich im Bund sozialistischer Ärzte und in der Union für Recht und Freiheit, er kam als Jude ins KZ Theresienstadt und starb dort am 28. Februar 1942, vermutlich an Herzversagen. Fischers Anteil an der Entdeckung der Alzheimer-Krankheit wurde nie gewürdigt. An den Neuropathologen erinnert keine Straße, kein Platz, weder in Österreich, Deutschland noch in seiner tschechischen Heimat. Dina Schreiber alias Valentina Adler, die Tochter des Wiener Individualpsychologen, starb am 6. Juli 1942 in einem Arbeitslager in Akmolinsk. Maria Osten wurde am 24. Juni 1941 in Moskau verhaftet, wenige Tage zuvor hatte sie noch Margarete Steffin, die todkranke Mitarbeiterin und Geliebte von Bertolt Brecht, am Krankenbett gepflegt und den Dichter mit telegrafischen Bulletins versorgt. Die Anklage lautete auf Spionage gegen die Sowjetunion im französischen und deutschen Auftrag. Ihre angeblichen Kontaktmänner in Frankreich hießen André Malraux und Lucien Vogel. Am 8. August 1942 wurde Maria Osten im NKWD-Gefängnis von Saratow erschossen. Über den Verbleib ihres Adoptivsohns José oder Jusik ist nichts Verlässliches bekannt. Gerüchten zufolge lebte er noch während der Jelzin-Ära als Taxifahrer in Moskau. Boris Jegorowitsch Spechow, alias Uspechin, wurde am 5. September 1941 aus Safranowka in ein südliches Lager bei Astrachan verschickt. Die Amnestie 1945 befreite ihn. Ende Februar 1953 wurde er bei einer Kneipenschlägerei in Nowosibirsk von rivalisierenden Ganoven mit einer Tischplatte erschlagen. Kolja Petrenkow, der Feldscher, behielt die Stellung bis zu seinem Tod im November 1943. Er infizierte sich an einem Typhus-Patienten und starb innerhalb weniger Tage in seinem eigenen Lazarett. Anastasia Lomaschenko wurde im Dezember 1941 aus Artek in ein Lager in der Nähe der Stadt Perm verlegt. Dort brachte sie am 12. Februar 1942 einen gesunden Jungen zur Welt, dem sie, zur Überraschung ihrer weiblichen Mithäftlinge, den ungewöhnlichen Vornamen Rafael gab. Nastja wurde nach der Amnestie 1945 aus der Haft entlassen und fand Arbeit als Köchin in einem Fleischverarbeitungswerk in Kiew, sie heiratete den zehn Jahre älteren Dreher Ilja Petrowitsch Golowkin, drei Jahre nach dem Tod ihres Mannes starb Nastja im Dezember 1973 an Unterleibskrebs. Ihr Sohn, Rafael Iljitsch Golowkin, erfuhr erst kurz vor dem Ableben seiner Mutter, dass Ilja Petrowitsch nicht sein leiblicher Vater war, er zog 1968 nach Ufa, wo er erst als Busfahrer und nach seiner Verrentung als Mitarbeiter eines privaten Wachdienstes arbeitete. Wenn er gefragt wurde, wieso er als Russe einen Vornamen trug, der sonst eher anderen Mitbürgern eigen sei, erzählte er, seine Mutter, die als politischer Häftling in verschiedene Lager verbracht worden sei, benannte ihn nach einem polnischen Arzt, der ihr zu ihrer Schwangerschaft verholfen habe. Tatsächlich hatte er Anastasia Golowkina gefragt, ob dieser Pole genauso blaue Augen gehabt hätte wie er? Nein, sagte sie, Schermanns Augen waren dunkelbraun, verschattet, wenn er einem ins Herz sah, angsteinflößend, bedrohlich. Blaue Augen habe sein Assistent gehabt, ein junger Deutscher. Über das Schicksal dieses Otto Haferkorn, so hieß der Mann, gab es widersprüchliche Auskünfte, erzählte die Mutter. Angeblich starb er beim Bau der Eisenbahnbrücke über die Dwina an Auszehrung, anderen Berichten zufolge kehrte er nach Stalins Tod in seine Geburtsstadt Berlin zurück. Jedenfalls habe dieser Deutsche, erfuhr Rafael Iljitsch Golowkin, blaue Augen gehabt, die seinen sehr ähnelten, aber im Februar 1942, als er geboren wurde, als die Wehrmacht vor Moskau stand, Leningrad hungerte und Stalingrad umkämpft war, habe sie ihn, sagte seine Mutter, das müsse jeder gute Mensch einsehen, unmöglich Otto nennen können.

I SCHNEE

Safranowka, ITL 47, genannt Artek II, war ein Nebenlager im Archangelsker Gebiet, hundertfünfzig Kilometer östlich von Kotlas, an der Bahntrasse nach Workuta gelegen. Bis 1935 ein verschlafenes Fünfzig-Seelen-Dorf, windschiefe Hütten und eine baufällige, als Getreidespeicher genutzte Kirche. Dann übernahm das NKWD die Siedlung. Fünf Jahre später lebten hier knapp tausend Häftlinge, Frauen und Männer. Schermann war jetzt einer von ihnen. Er wurde bei einem Halt auf freier Strecke aus dem Transport geholt. Zwei Sträflinge, die zum Beräumen der Gleise eingeteilt waren, schleppten den Ohnmächtigen in Begleitung eines Postens zum Schlitten des Depotverwalters Trufulski. Der lieferte ihn in der Krankenbaracke ab. Ein Greis. Obwohl erst sechsundsechzig. Nicht allein die unbegründete Verlegung, auch der Aufenthalt im Brygidki-Gefängnis, die Odyssee im Viehwagen, Lemberg, Kiew, Charkow, Gorki, Hunger, Durst und Kälte, die Arbeit im Sägewerk der Sondersiedlung Fediakowo hatten Spuren hinterlassen. Erschöpfungsschlaf. Schnarchen. Ein Spuckefaden hing aus seinem Mundwinkel in den Stoppelbart. Pritschen dicht an dicht. Neben dem Alten ein Deutscher, Häftlings-Nummer 80824, Otto Haferkorn, geboren am 3. Februar 1916 in Berlin-Lichtenberg, Patient wider Willen, der es geschafft hatte, mit dem Verdacht auf Pellagra, den Skorbut des Nordens, drei Tage lang die Arbeit im Forst zu schwänzen. Ein 10-Ender, verurteilt nach Paragraf 58 Absatz 6, 8 und 10. Spionage, Terror und konterrevolutionäre Agitation. Bei guter Führung käme er 1949 in Freiheit. Schummriges Licht fiel durch zwei winzige schneeverwehte Fenster. Die Petroleumlampe blakte. Im Kabuff des Feldschers Nikolai Petrowitsch Petrenkow hing eine Glühbirne von der Decke. Von dort drang Geklapper. Was werkelte der Kerl in seiner Mönchszelle herum? Wärmt sich vermutlich die Suppe auf, dachte der Deutsche. An Balanda, der salzlosen Suppe, herrschte bei ihm kein Mangel. Die Schwerkranken waren nicht mehr in der Lage, Nahrung zu fassen. Ihre Portionen bildeten Koljas Zusatzverpflegung. Der Gehilfe von Dr. Ginsburg war nach Verlegung des Arztes in die Gebietshauptstadt zum Leiter des Lazaretts ernannt worden. Ein neuer Doktor sollte ihn ablösen. Aber in den Transporten, die das Transitlager Kotlas erreichten, fand sich kein Mediziner, oder, was eher zutraf, andere Kommandanten setzten ihre Ansprüche durch und sicherten sich die begehrten Kader. Die Übergangslösung währte inzwischen ein halbes Jahr. Seitdem war Petrenkows Bäuchlein rund und runder geworden. Die Wanze lebt gefährlich, meinte Zederbaum, der Diplomat, passt der Quacksalber nicht auf, nehmen ihn seine Kameraden beim nächsten Fluchtversuch als Bytschok mit, als Kälbchen, das man sich ans Bein hängt, bis es für die Schlachtung reif ist. Je fetter, desto besser. Der Neuzugang keuchte. Vor dem Tod kriegt man immer schlecht Luft. Die Russen besaßen für die ungemütlichsten Augenblicke trostreiche Sprichwörter. Haferkorn filzte den Alten. Ohne große Hoffnung, in seinen Taschen Brauchbares zu finden. Der Mann war durch zu viele neugierige Hände gegangen. Trug einen zivilen Mantel, keine Häftlingskluft, der Kragen ehemals pelzbesetzt, Reste fühlte man am Revers, Auslandsware, für den russischen Winter zu dünn. Also war der Neue im Frühling oder Herbst verhaftet worden. In der Innentasche stieß Otto auf einen länglichen Gegenstand, den viele Insassen auch im sowjetischen Alltag nie besessen hatten, obwohl das Leben, wie Genosse Stalin verkündet hatte, schöner und fröhlicher geworden war, eine Zahnbürste. Echte Borsten. Der Holzgriff mit blassgoldener Gravur. Grand Hotel Šroubek, Praha. Botschaft aus einer anderen Welt. Der Deutsche zitterte. Gier und Neugier. Er vergaß jede Vorsicht und leerte die prall gefüllte Tasche über dem Herzen des Fremden: ein Portemonnaie (Leder, schwarz, mit Druckknopf), darin – unglaublich! – Geld, Rubel, ein 100-Złoty-Schein (bunter Lappen, Baum, Wanderer, Blondine mit Füllhorn), deutsche, französische, dänische Münzen (mit Loch und ohne), Visitenkarten, ein Etui mit Nickelbrille, das ellipsenförmige Glas gesprungen, Adressbuch aus Leder, Kopierstift, blau, mit abgebrochener Spitze. Im Einband eine Nähnadel mit weißem Faden. Nadeln waren verboten – und begehrt. Man konnte damit nicht nur Fufaikas und Hosen flicken, die Urki brauchten sie zum Tätowieren. Zeichnungen auf der Haut waren die Orden der Kriminellen. Zwischen den mit Namenslisten gefüllten Seiten der Kladde lagen gefaltete Zeitungsausschnitte. Ottos geschultes Auge kannte die Typen, Grotesk, Antiqua, ausländische Zeitungen, französisch, polnisch, englisch, ein Blatt ungarisch. Jeder Gegenstand eine Sensation. Der Deutsche hatte Druckerzeugnisse dieser Art seit einer gefühlten Ewigkeit – vierhundert Tage lang – nicht mehr in der Hand gehalten, der Besitz solcher Papierchen war schon im Zivilleben gefährlich, im Lager konnte es den Kopf kosten. Andererseits waren die Fetzen als Tauschmasse von unschätzbarem Wert: Brot, Tabak, Kascha bekam man dafür. Raucher zahlten gut. Als Otto die Beute unter der Pferdedecke versteckte, rührte sich der Greis, drehte den Kopf, öffnete die Augen. Otto hielt dem Blick stand. Würde alles leugnen. Gibt’s Mehlspeis? Haferkorn antwortete wie gewohnt Russisch. Was heißt das, Mehlspeis? Wieso spricht er deutsch? Der Unbekannte wiederholte den Satz, gähnte und schlief ein.

 

Kein Posten betrat die Sanitätsbaracke freiwillig. Aber Kosinzew wollte den Neuzugang sehen. Jetzt. Sofort. Die Staatsmacht persönlich. Mit blitzblanken Stiefeln. Kolja hüpfte um den Hauptmann herum. Eine räudige Krähe. Beugte den Kopf, flüsterte irgendwas in sein Ohr. Otto schnappte das Wort Simulant auf und fühlte sich augenblicklich ertappt. Die beiden Männer näherten sich der Pritsche. Der Häftling ist schwach, gebrechlich, aber nicht ernsthaft krank, plapperte der Sanitäter, wenn Sie mich fragen, Bürger Kommandant, ich weiß nicht, was er im Lazarett soll? Der Hauptmann antwortete mit Fistelstimme, scharf: Das zu beurteilen, sei er, Kolja, kaum der richtige Mann. Wenn der Transportführer so entschied, gab es Gründe. Zu Befehl. Selbstverständlich. Damit wir uns recht verstehen, Artek bietet ein Feld vielfältiger Aufgaben. Brigade 5 kann kaum erwarten, dich wieder zu begrüßen. Petrenkow duckte sich weg wie ein getretener Hund. Heute Abend will ich diesen Gefangenen ansprechbar vorfinden. Der Lagerleiter stieß mit der Stiefelspitze gegen die Tür und humpelte in die Kälte. Krüppel, verdammter. Petrenkow spuckte durch die Zahnlücke. Die Drohung hatte gesessen. Sollte er in die Fünfte zurückmüssen, wäre er geliefert. Er hatte sich aus dem Klub der Urki verabschiedet, als er ins Lazarett wechselte. Endgültig. Wer zur Administration überlief, wurde zur Nutte, ein Verräter oder Fioletnik, so genannt, weil Mützendeckel und Kragenspiegel der NKWD-Offiziere veilchenblau waren. Uspechin, der Pate, geboren als Boris Jegorowitsch Spechow, würde ihm höchstpersönlich einen Besenstiel in den Arsch schieben, so tief, dass er zum Maul wieder rauskam. Der Sanitäter brauchte einen Schluck. Im Medikamentenschrank wartete reiner Spiritus. Nicht der geringste Vorteil, den der Scheißposten bot. Was glotzt du, Pisser? Desinfektion. Otto war klug beraten, den Mund zu halten. Die Entscheidung, wer wie lange in der Krankenbaracke blieb, lag allein im Ermessen des Feldschers. Kolja sah zwar aus wie ein Depp und war mehr oder weniger Analphabet, aber in Artek herrschte er über Leben und Tod. Wenn Otto für gesund erklärt wurde, zog er morgen früh wieder in die Taiga. Weshalb er bleiben durfte, war ihm ohnehin ein Rätsel. Der Sanitäter benötigte eine Hilfskraft, weil er zu feige war, die infektiösen Fälle selbst zu versorgen, Burjew, den Esten und die sieche Lehrerin. Aber auch für dieses Himmelfahrtskommando fände er spielend Ersatz. Also, Schnauze halten, Schwäche zeigen. Nachdenken. Zum Beispiel darüber, warum sich der Hauptmann um den Gefangenen bemüht. Das stank doch. Und damit war nicht der Geruch in der Baracke gemeint: Schweiß, Pisse, Eiter, verdreckte Wäsche, Ofenrauch, durchnässte Strohsäcke. Mit Timofej Nikititsch Kosinzew war ein ungewöhnlicher Duft dazugekommen: Trojnoj Nummer 3. Richard Grewe, der Parteiorganisator der Deutschen Zentral-Zeitung, hatte das Parfüm ebenso verschwenderisch benutzt wie der Lagerleiter. Das Kölnisch Wasser erinnerte an den Geruch, der aus Schusterläden aufstieg. Allerdings musste in der Werkstatt zuvor ein Liter Lavendelöl verschüttet worden sein. Der Duft passte nicht in den Hohen Norden, zeigte aber allen Insassen in Artek an, wenn der Kommandant eine Inspektion unternommen hatte. Sein Besuch im Lazarett brach mit der Norm. Da war Vorsicht geboten. Kaum hatte sich Kolja in sein Refugium zurückgezogen, als der Deutsche die Schätze des Alten ergriff und unter der Decke seines Nachbarn zur Linken verstaute. Der Basmatsch, der dort schnaufend nach Atem rang, war bereits ein Fitil, ein Docht, sein Lebenslicht am Erlöschen. Nach der Diagnose des amtierenden Lazarett-Chefs litt der Kasache mindestens an fünf Krankheiten: Pellagra, Schneeblindheit, Ruhr, Erfrierungen, Lungenentzündung. Er starb so ausdauernd wie eine Katze. Ihn würde niemand durchsuchen. Fand man den Kram durch Zufall doch, konnte sich Otto zurücklehnen. Ihm war nichts nachzuweisen. Und wenn schon, Kameradendiebstahl war kein Delikt. Geklaut wurde überall und ständig. Die Urki, die sogenannten Volksfreunde, lebten von Raub und Hehlerei. Eiferten ihnen die Politischen nach, kehrten sie gewissermaßen zu ihren proletarischen Wurzeln zurück. Ein Erziehungserfolg. Diebe gehörten zum Volk. Volksfeinde, Leute wie Otto, wollten es vernichten.

 

Des Deutschen mangelnde Neugier wurmte Kolja. Er wollte ausgefragt werden. Um dann die Antwort verweigern zu können. Otto wusste, zeigte er dem Sanitäter lange genug die kalte Schulter, würde der irgendwann von selbst lossprudeln. Zwar war er ein widerlicher 58er, Ungeziefer auf zwei Beinen, kapitalistischer Spion, andererseits der einzige Insasse der Baracke, mit dem man schwatzen, lästern, vor dem man aufschneiden konnte. Also, hör zu. Der Alte ist Pole und kommt, wie ich aus gut unterrichteter Quelle weiß, aus einem Speziallager im Solwytschegodsker Rayon, der Ort heißt Fediakowo, sechzig Kilometer flussabwärts, aber ursprünglich aus dem im Herbst befreiten Gebiet der Westukraine. Kolja plapperte die Verlautbarung der Nachrichten-Agentur TASS artig nach, kam sich dabei amtswichtig vor, zog die Augenbrauen nach oben. Ich weiß mehr, sollte das heißen. Ein Pole, na und? Die kamen zu Tausenden. Wie im Frühjahr die Zugvögel. Naturgewalt. Schicksal. Im Februar, als Otto an der Rampe Bahnschwellen auf Güterwagen verladen musste, hatten die ersten Transporte die Station passiert. Fracht für Workuta. Überfüllte Stolypin-Wagen. Armeeoffiziere niederer Ränge, Notare, Polizeibeamte, Richter. Vertreter eines ausgelöschten Staates. Heruntergekommene Existenzen. Von niemandem geschätzt. Nur ihre Kleider waren begehrt. Europäische Mode. Den Beamten folgte das Fußvolk, der Anhang in Sippenhaft, Kinder, Frauen mit apathischen, wachsbleichen Säuglingen, Greise, die nicht aussahen, als hätten sie noch eine weite Reise vor sich. Obwohl die Begleitmannschaft beim Halt die Gleise absicherte, gelang es Otto, Zederbaum und Nikulin, Schnee durch die Gitterfenster zu werfen. Surow, der Brigadier, scheuchte sie von den Wagen weg. Jeglicher Kontakt mit den Deportierten sei verboten. Sie schrien ihn an. Ob er das Elend schon vergessen habe? Nicht die Enge, der Gestank, die Hitze oder Kälte (je nachdem, wann man verschickt wurde) noch das erbärmliche Essen hatte die Reise in den Norden zur Tortur werden lassen. Das Schlimmste war der Durst. Tücher wurden durch die Gitter gedrückt, damit sie, im Fahrtwind flatternd, Regentropfen auffingen. Mit wie viel Einfallsreichtum bemühte man sich um dreckig-schwarze Eiszapfen, die am Waggondach wuchsen. Brachen sie ab, ohne dass man sie auffangen konnte, war die Verzweiflung groß. Gebildete Männer tranken ihren eigenen Urin und heulten wie Kinder, wenn ihnen die Pisse durch die Finger floss und im Stroh landete. Molodez. Prachtkerl. Der Feldscher tätschelte den schorfigen Schädel des Alten. Ein Glückspilz. Kippte um, gerade als der Leutnant die Waggons kontrollierte. Wenn die Strecke verweht war, rückten die Weiberbrigaden an und mussten das Gleis räumen. Der Zug stand abfahrbereit. Zeit für einen Zählappell. Die Gefangenen knieten vor den Viehwagen im Schnee. Die Eskorte ließ Wasser verteilen, die Abortkübel leeren, die Leichen auf die Böschung werfen. Kam die Frühlingssonne, taute der Boden, würde sie irgendwer beerdigen. Die Kolonnen, die in den Wald zogen, nahmen bei Schneefall den sicheren Weg über die Schwellen. Bei solcher Gelegenheit hatte Otto seinen Nebenmann, Sergej Pawlowitsch Nikulin, gefragt, was die Haufen auf dem Bahndamm verbargen. Deine Zukunft, hatte der Richter geantwortet. Der Pole würde genauso geendet haben, als namenloser Eisklotz, hätte man sich nicht seiner, aus welchen Gründen auch immer, erbarmt und ihn ins Lager gebracht. Trufulski, der Spediteur des Patienten, war ein freier Mann, trotzdem hatte er nicht auf eigene Faust gehandelt. Irgendwer musste eine Anweisung gegeben haben. Statt als Leichnam im Schnee lag der Alte nun, zugedeckt, schwer atmend, aber lebendig, in der für nordrussische Verhältnisse wohltemperierten Krankenbaracke. Der Sanitäter näherte sich Haferkorn. Rate mal, was auf ihn wartet? Vermutlich der Tod. Unter normalen Umständen hättest du recht, der Feldscher hob, von seiner Geschichte begeistert, die Stimme, aber das Gegenteil ist wahr. Er machte eine Kunstpause und holte das Leinensäckchen hervor, in dem er die Machorka verwahrte. Während er sich ein Rehbeinchen bastelte, eine krumme, aus Zeitungspapier gedrehte, mit Spucke verklebte Papirossa, verkündete er, jedes Wort betonend: Der Vogel darf nicht krepieren. Kniff dabei das linke Auge zusammen. Der Polacke hat Freunde. Otto zwang sich ein Grinsen ab. Es gehörte im Lager zu den Spielregeln, mit Neuigkeiten, die keiner prüfen konnte, zu prahlen. Seit wann besaßen die Pans Gönner? In der Hackordnung standen sie auf der untersten Stufe, sogar ihn, den Deutschen, behandelte man mit mehr Respekt. Nur ein Umstand verlieh Koljas Märchen eine gewisse Glaubwürdigkeit: Hauptmann Kosinzews Visite.

 

Väterchen, Augen auf, es gibt was zwischen die Zähne. Petrenkow als netter Onkel. Nicht sein Rollenfach. Da habe er aber Schwein gehabt, meinte er, dass sie ihn hier, bei ihnen, ausgeladen hätten, Arzt sei er zwar keiner, habe aber eine solide medizinische Ausbildung, zehn Jahre Dienst im Sanitätsbataillon. Schwachsinn. Wer glaubte das? Der Alte hob das Kinn, fordernd. Übersetze! Otto dachte nicht dran. Was wollte der Kerl von ihm? Du kannst doch Deutsch. Er war zu lange Häftling, um sich von einem Gespenst foppen zu lassen. Ein Schlag, und die Jammergestalt stand nie wieder auf. Woher weiß er, dass ich Deutscher bin, dachte Haferkorn, wo er doch gerade erst eingeliefert wurde? Das Lager war klein, achthundert Männer, zweihundert Frauen. Eine echte sowjetische Großfamilie, sagte Michail Zederbaum, jeder weiß alles vom andern und wünscht ihm die Krätze an den Hals. Otto war der einzige Deutsche in Artek, die Hessen aus den Dörfern um Engels behaupteten zwar, welche zu sein, aber das Gewäsch, das sie redeten, hatte so viel mit Deutsch zu tun wie ein Furz mit einer Fanfare. Noch weniger das Plautdietsch der Mennoniten, die zu Schlitten Schlirre sagten, wer sollte das verstehen? Der Pole hatte kurze Wachphasen, gähnte, räkelte sich, fluchte, forderte Aufmerksamkeit, schlief wieder ein. Hör zu, Faschistschik, vergatterte ihn der Feldscher, wenn er das Maul aufmacht, ruf mich. Und zwar sofort. Otto nickte. Er hasste den Spitznamen, musste aber einräumen, dass er ihn schützte. Faschistschik, der kleine Faschist. Der Teufelspakt vom August 39 hatte, auch wenn es widersinnig war, seine Lage gebessert. Seitdem stand er unter Protektion. Keiner wagte, ihn zu schlagen nur seiner Herkunft wegen. Deutsche und Russen waren Verbündete, Partner im Kampf gegen den westlichen Imperialismus. An einem seiner besseren Tage hatte ihm Jelomanow, der Untersuchungsrichter in der Lubjanka, mit aufgesetztem Lächeln gratuliert. Der Reichsaußenminister würde heute im Kreml empfangen, da dürfe er während der Befragung sitzen. Tage später erfuhr Otto, durch einen Neuzugang in der Zelle, von Ribbentrops Audienz bei Stalin. Gerüchte über einen Freundschaftsvertrag machten die Runde. England und Frankreich seien schachmatt. Litwinow blieb verschwunden. Bewährte Kader im Narkomindel wurden aussortiert. Die Gemeinschaftszellen füllten sich bis an die Schmerzgrenze. Der September war so schneidend heiß, wie der Winter bitterkalt werden sollte. Ende Oktober ging Otto auf Transport. Die Welt versank hinter einem Schneevorhang. Beschlüsse, Gesetze, Manifeste, die in der Hauptstadt von Wissenschaftlern der Lomonossow-Universität, Verkäuferinnen im Staatlichen Warenhaus, den Mitarbeitern der Konfitürenfabrik Bolschewik, von Belegschaftsversammlungen, Einheiten der Roten Armee, Matrosen der Arbeiter-und-Bauern-Flotte, Wohngenossenschaften, von Traktoristen in Kolchosen und Melkern in Sowchosen begrüßt und ausgewertet wurden, spielten tausend Kilometer weiter nordöstlich keine Rolle mehr, es sei denn, sie hatten Auswirkungen auf die Löhnung der Wachen oder die Brotration der Gefangenen. Dreihundert Gramm waren das mindeste. Die Prawda erhielt der Lagerleiter mit zweitägiger Verspätung, das Exemplar war bereits von Semjon Schemjena, seinem Vorgesetzten in Kotlas, gelesen, zerknittert und gelegentlich befleckt worden. Den Seki, das Kurzwort stand für Gefangene, Sakljutschonnyje, reichte die Gerüchteküche. Zuzüglich der Propaganda, die am 1. Mai oder am 7. November aus den Lautsprechern dröhnte. Nach einem knappen Jahr in Safranowka hatte ihn Kosinzew in sein Büro kommandiert. Wenn der Genosse Molotow, wie man munkelt, nach Berlin fährt, Faschistschik, wirst du amnestiert, todsicher. Das war wenige Tage vor dem Revolutionsfeiertag gewesen. Seitdem nichts. Still ruhte der See. Otto war bereit, nach Deutschland zurückzukehren. Wenn die führenden Genossen mit den Nazis gemeinsame Sache machten, warum nicht auch die kleinen Leute? Anfangs, in den Wochen der Untersuchungshaft, hatte er den Pakt für ein Märchen gehalten, für den Trick eines Spitzels, die Fieberfantasie eines Durchgedrehten, der zu lange im Isolator gehockt hatte. Hitler, der Abschaum, ein Gefährte, Mitstreiter, Vertrauter Stalins? Jetzt, nach Monaten in Eis, Schneestürmen, Schlamm, in Mückenschwärmen, Gluthitze, bei Dauerregen im Wald, mit offenen Blasen an den Händen, Geschwüren in Kniebeugen, Achselhöhlen, im Schritt, mit losen Zähnen und wachsgelber Haut, verlaust und verwanzt, mit verschissener Wäsche, war Otto Haferkorn, Jungkommunist und Sohn eines klassenbewussten Arbeiters aus Berlin-Lichtenberg, derart vom Elend angefressen, dass er alles tun würde, um in ein warmes deutsches Konzentrationslager ausgeliefert zu werden. Im Traum lief er trotzdem jede Nacht durch Moskau, überquerte die Gorki-Straße, stand an der Linotype und setzte im Haus der Iskra Revoljuzii die Deutsche Zentral-Zeitung. Verschwitzt verließ er den Druckereibetrieb in der Filippowskigasse, nickte dem schwerhörigen Wassil, der an der Pforte saß, Sonnenblumenkerne kaute und die Schalen unter den Tisch spuckte, einen Abschiedsgruß zu, schob die Schiebermütze schräg auf den Scheitel und folgte einem weißen Sommerkleid.

 

Wer zu nachlässig, geschwächt oder zu dumm war, auf seine sieben Sachen aufzupassen – glücklich, wer sieben Sachen sein Eigentum nennen konnte –, hatte das Nachsehen. Am Abend legten sich die Männer in voller Montur auf die Pritschen. Damit bekämpfte man weniger die Kälte, die Holzfäller kehrten meist in klitschnassen Lumpen von der Arbeit zurück, sondern wollte verhindern, dass einem das Hab und Gut, das man am Leib trug, buchstäblich unter dem Arsch weggestohlen wurde. Nachts, sagten die Urki, ist die beste Zeit, um im Trocknen zu angeln. War der Verlust eines Löffels noch zu verschmerzen – man schnitzte sich im Wald, wo man an Werkzeug herankam, einen neuen –, konnte ein verschwundener Essnapf den Hungertod bedeuten. Niemand würde einem seinen leihen. Ersatz aus dem Depot erhielt man erst nach umständlichen Anträgen, deren Bearbeitung, wenn sie erfolgte, Wochen brauchte. Obwohl wässrig und fleischlos, bildete Balanda den Grundstock der Verpflegung. Das schlimmste, kaum ertragbare Verhängnis war, wenn ein Gefangener, durch Fahrlässigkeit oder Diebstahl, etwas verlor, das ihn an sein ziviles Vorleben erinnerte, einen Kamm, eine Pfeife, die Fotografie seiner Frau oder Kinder oder ein geliebtes, behütetes Buch. Vielleicht traf den Polen der Schlag? Dann käme er, dachte Otto, in keine Erklärungsnot. Er selbst besaß nur noch einen Gegenstand, den er am Morgen des 18. Juli 1939 bei sich gehabt hatte: ein handgroßer Zettel, Karomuster, vierfach gefaltet: Besuch mich, wenn Du Zeit hast und Mumm. Maria, Hotel Metropol, Zimmer 558. Die Nachricht hatte er – während der Fahrt im Gefängniswagen – nicht in den Schuhen versteckt. Anders als das Foto seiner Eltern, das er dort zu verbergen suchte, wurde der Zettel nicht entdeckt. Vielleicht würde er auch das Foto noch besitzen, wenn er es nicht hätte hineinschmuggeln wollen. Was wäre, wenn. Die Litanei aller Gefangenen. Wie oft hatte Otto sich in den letzten fünfzehn Monaten gefragt, ob sie ihn auch geholt hätten, wenn er krank oder zu feige gewesen wäre, um Marias Einladung Folge zu leisten. Zehn Jahre für ein Rendezvous? Ein teurer Spaß. In Safranowka galt für ihn wie für alle 10-Ender Schreibverbot. Würde er ihr geschrieben haben, wenn er gedurft hätte? War sie noch frei? Man verschwand eben mal so. Spurlos. Falls man nach viertausend Tagen zurückkam, würde man sehen, was vom alten Leben übrig war. Nichts, meinte Zederbaum, mach dir keine Illusionen, alles wird weg sein, Frau, Kinder, Freunde, deine Katze, die Bibliothek, Tagebücher, deine Orden und Zigarettenspitzen, sogar die Erinnerungen. Ausgelöscht. Trübe Gedanken. Otto verdrängte sie. Er lag im Lazarett. Immerhin. Die anderen zogen in diesem Augenblick los, bei eisigem Nordwind, Brigaden zu zwanzig Mann, Äxte und Sägen geschultert, begleitet von einem mürrischen Posten mit Karabiner, der am Kolonnenende lief und vor allem die Axtträger im Blick behielt, die an der Spitze zu marschieren hatten. Wer unaufgefordert aus der Rotte ausbrach, wurde angerufen. Einmal. Erst ein Schuss in die Luft, dann, gezielt, auf den Körper. Manche Wachen gönnten sich auch den Spaß, die Regel von rechts nach links zu lesen, indem sie erst auf den Flüchtling schossen und den obligaten Warnschuss in den Äther nachlieferten. Otto hatte es erlebt. Aus der Kehle des Alten kam ein Pfeifen, heiser, animalisch, ekelhaft. Stirb doch, dachte Otto. Hast du’s hinter dir. Hier ist der beste Ort, um die Fliege zu machen. Die erste Regel des Lazaretts hieß Teilnahmslosigkeit. Entweder war man zu geschwächt, um irgendetwas außerhalb des eigenen Schmerzes wahrzunehmen, oder man gab vor, todkrank zu sein, und musste sich vor nichts mehr hüten als vor Mitleid. Kranke waren selbstsüchtig. Durst, sagte der Pole auf Deutsch, gib mir zu trinken. Was denkt er, wer er ist? Das ist kein Hotel und er kein Zimmerkellner. Flink wie ein Geist kam Kolja zurück. Aus dem Blechnapf in seiner Hand stieg Dampf. Halte den Kopf, wurde der Deutsche aufgefordert. Während der Feldscher zu seinem Verschlag zurückeilte, nippte er an dem Getränk. Tee, kein Wasser. Gib! Die linke Hand des Alten traf Ottos Oberschenkel. Scheusal, soll ich dir die Brühe ins Gesicht kippen? Der Sanitäter drängte ihn zur Seite, stopfte dem Polen Brotkrümel ins Maul. Ich habe auch Durst, maulte der Deutsche.

 

Der Greis kratzte sich den Bart und forderte seine Habe zurück. Otto, empört: Keine Ahnung, wovon Sie reden. Blass wird er wie ein Thorner Ziegel. Der Fremde grinste aus dem hohlwangigen Gesicht. Junge, um mich zu neppen, musst du früher aufstehen. Ein Disput in Deutsch. Otto hatte seine Muttersprache seit dem verhängnisvollen Julimorgen kaum benutzt. Er wusste noch, was sie zum Abschied gesagt, geflüstert hatten, um das Kind nicht zu wecken. Wann?, hatte Maria gefragt. Heute Abend. Dass er die kommende Nacht, statt bei ihr und Jusik, in einer mit achtzig Männern belegten Gemeinschaftszelle im Hotel Lubjanka verbringen sollte, ahnte er nicht. Wo bin ich?, fragte der Pole. Safranowka, Rayon Lena, Archangelsker Gebiet, in der Nähe der Komi-Republik. Ist meine Schwester, Zofia Rosenstrauch, auch hier? Nicht im Lazarett. Vielleicht in den Weiberbaracken. Keine Ahnung, ich bin auch nur Sträfling. Affenkraut, Jachimowicz, die Großfamilie Hamersfeld? All die anderen? Zelinski, Wajchandler, Gorowic, Wallach? Otto kannte niemanden, der so hieß. Kriminelle? Unsinn, gebildete Leute, Stefan Zelinski, Mathematiker an der Lemberger Universität, Wojchech Mościcki, Notar aus Drohobytsch, und Solomon Wallach, Krakauer Kunsthändler, der wie er in letzter Minute aus der Stadt geflohen war, Richtung Osten. Seh ich wie ein Verbrecher aus? Wir sind Vertriebene. Sechshundert Personen allein in Fediakowo. Einige Ukrainer, in erster Linie Polen, viele jüdische Familien, die Bechers, die Boks, Jakub und Rucola Finzer mit ihrem Baby, das im Eisenbahnwaggon zur Welt kam. Ein halbes Jahr, meinte der Alte, hätte er mit Zofia in der Siedlung gelebt, bis man ihn gestern, oder vorgestern?, welchen Wochentag haben wir heute?, eine Frage, auf die Otto keine Antwort wusste, aus dem Sägewerk holte, wo er, auf Grund seines Alters, zu Hilfsarbeiten eingeteilt war: geschnittene Bretter zu Paketen à zehn Stück mit Draht verschnüren. Ein Wachposten brachte ihn zum Gleis, dort stand ein Güterzug unter Dampf, der Transportführer prüfte die Papiere und schubste ihn in den Waggon, der mit Fischfässern beladen war. Ab ging die Fahrt. Auf die Frage, wohin man ihn brachte, erhielt er, nachdem er sie mehrmals gestellt hatte, die gelangweilte Antwort, das werde er früh genug erfahren. Der Zug hielt häufig, stand endlose Stunden auf freier Strecke. Wie lange ist er unterwegs gewesen? Der Neuankömmling hatte keine Ahnung. Irgendwann war er eingeschlafen oder ohnmächtig geworden. Kolja brachte eine zweite Wolldecke und drängte den Alten, sich wieder hinzulegen. Er müsse zu Kräften kommen, solle sich nicht aufregen. Alles wird gut. Andere Polen? Reicht einer nicht? Er solle drei Kreuze machen. Seinem Wohltäter danken. Bis zum nächsten Transitlager hätte er es in seinem Zustand nie geschafft. Es hieß nicht umsonst, Gott fährt nicht weiter, in Kotlas steigt er aus. Was für eine Krankheit? Böser Katarrh, leichte Lungenentzündung, wie man’s nahm, aber, keine Sorge, heilbar, in Safranowka wäre alles besser, keine Arbeit unter Tage, gemäßigtes Klima, das Lazarett gut geführt. Petrenkow hatte Kreide gefressen, aber der Pole war nicht blöd und beklagte sich weiter. Meine Landsleute, meine Landsleute. Kolja gab ihm eine Injektion in den Hintern. Durch die Hose. Bislang hatte Otto geglaubt, das einzige medizinische Instrument, das der Feldscher besaß, wäre sein Fieberthermometer. Der Alte schlief sofort. Hast du ihn umgebracht? Halt’s Maul, Faschist. Der Neueingang verdiente Respekt. In welcher Währung erkaufte er sich die Sonderbehandlung? Ein paar Gramm Brot oder Tabak dürften kaum genügen für einen Schonplatz in der Sanitätsbaracke. Bestimmt opferte er seine letzte Zahnkrone. Ein kostbares Beißerchen für eine schmerzfreie Stunde. Ein Usbeke aus der Schreinerei löste die Füllungen mit dem Schraubenzieher. Wer noch Metall im Mund trug, wandte sich an ihn. Seit der frühere Lagerarzt auf Etappe gegangen war, blühte das Geschäft des Schäfers. Für ein bescheidenes Honorar – Hirsebrei oder Suppe – machte er kleinere Operationen, schnitt Furunkel auf und zog Zähne. Besser von einem Schäfer behandelt werden als von einem Schaf, kommentierte Zederbaum die Lage. Nicht wenige hätten dem Usbeken die Leitung des Lazaretts zugetraut, aber Kolja saß am längeren Hebel. Ein Idiot, aber waschechter Russe. Niemals würde Kosinzew einem Basmatsch, so hießen die Mohammedaner im Lagerjargon, ganz egal ob Viehtreiber oder Akademieprofessor, ein wichtiges Kommando anvertrauen. Sowieso war die Gesundheit der Häftlinge nebensächlich. Volkskommissar Berija sorgte täglich für Ersatz. Beschwerden waren nicht zu befürchten. Wer in der Sanitätsbaracke landete, hatte die Kraft zur Auflehnung verloren. Und bei wem, in Gottes Namen, sollte derjenige, der sich zu einem Protest aufraffte, Meldung machen? Wenn er aufwacht, rief Kolja Petrenkow, sieh zu, dass er nicht abhaut. Timofej Nikititsch will mich sprechen. Vertraulich, versteht sich. Die Barackentür war kaum geschlossen, als sich Otto am Kabuff des Sanitäters zu schaffen machte, doch hatte der seinen Verschlag in Voraussicht verriegelt. Unverrichteter Dinge kehrte der Deutsche zur Pritsche zurück. Der Kasache röchelte. Als würde Luft aus einem Reifen entweichen. Otto beugte sich über ihn. Auch das noch. Sein Versteck war gestorben. Die Augenlider feucht. Hatte er sein Schicksal beweint? Otto drehte ihn auf die Seite. Die Brieftasche und das Adressbuch waren unter seinen Arsch gerutscht. Der Körper noch warm. Niemand wird erfahren, dachte Otto, wie er gestorben ist. Wie war sein Name? Marat, Murad, so was. Solange er lebte, war ihm der Kerl egal gewesen, jetzt, wo er zu schniefen aufgehört hatte, tat er ihm leid. Ein ziemlich allgemeines Mitleid, es betraf, wenn man es recht bedachte, eher ihn selbst.

 

Der Pritsche des Kasachen Murad Nurghaliew, Häftlings-Nummer 42948, näherten sich zwei Träger, Volksfreunde aus Galanskows Brigade, Gesindel, aber von der arbeitswilligen Sorte. Sozialno-opasnyje elementy. Einige SOEs zogen morgens in den Wald, andere verrichteten Innendienste, beliebte Funktionen, weil man dabei immer etwas abstauben konnte. Sie zogen der Leiche die Schuhe aus, primitive Stiefel, Schaffell, ein Stück LKW-Reifen als Sohle. Brauchbar. Dann wurden die Taschen des Toten gewendet. Vielleicht fand man Brot? Oder ein Messer. Die Asiaten machten Werkzeuge aus dem letzten Dreck, aus Blech, Knochen, sogar Stein. Dieser besaß nichts mehr, ein Freigeist. Man schnürte eine Marke um den Knöchel des rechten Fußes. Der Kabeldraht zerschnitt die Haut. Blut trat aus, aber der Körper gab keinen Laut von sich. Auf dem Holzstück stand neben dem Namen die Häftlings-Nummer. Ordnung muss sein. Die Leichenträger arbeiteten zügig, wälzten den Kasachen auf ihre aus Brettern gezimmerte Trage. Obwohl er nicht schwer war, keuchten sie. Er kam zu den anderen Leichen. An die Schuppenwand hinter der Badestube. Dort warteten die Toten, gestapelt und tiefgefroren, auf ihre Beerdigung im Frühjahr. Mindestens noch drei Monate. Dass sie irgendwann in die Erde gelegt wurden, war ein Fortschritt. In den ersten Jahren hatte man die Verstorbenen, wie Nikulin berichtete, während der Wintermonate, von November bis Ende April, auf andere Weise entsorgt. Man schenkte sich das Graben und schlug ein Loch ins Eis der Wytschegda. Die Körper verschwanden lautlos. Erst als in Kotlas, wo der gelbe Strom in die Nördliche Dwina mündet, Leichen angeschwemmt wurden und bei der Bevölkerung Fragen aufwarfen, die niemand beantworten wollte, ließ man von der Praxis ab. Die Totenträger verließen das Lazarett. Schnee wehte in die Diele, den schwalbennestähnlichen Barackeneingang. Otto griff zur Selbsthilfe und schloss die Tür. Der Innendienst war seine Aufgabe, die Station unterbelegt. Nur acht Kranke, mit ihm und dem Neuzugang zehn. Kolja nahm die Anweisung der Lagerleitung ernst. Zu viele Drückeberger, zu viele Ausfälle. Krank war nur, wer nicht mehr ohne fremde Hilfe stehen konnte. Warum, fragte sich Otto, machte man bei ihm eine Ausnahme? Abgesondert in der Ecke vegetierte ein stinkendes Bündel. Burjew, Pawel Antonitsch, der Metallurg aus Rostow, hatte in seinem Betrieb Winkeleisen geklaut, für die Verschönerung seiner Datscha. Weil man ihm nur Diebstahl statt Sabotage anhängte, kam er mit fünf Jahren davon. Als Gelegenheitsdieb bewegte er sich in der Lagerhierarchie zwischen den Fronten, weder Fisch noch Fleisch, kein Urka, kein Politischer. Asoziales Element. Für die Volksfeinde ein mieser Krimineller, für die Urki eine lächerliche Gestalt, Kleinbürger ohne Kodex, Mumm oder Geschichte. Kein Blatnoi, kein Initiierter. Hätte er den Absprung gewagt, beispielsweise einen 58er erschlagen, wäre er wie ein Tier über eine Frau hergefallen, in der Latrine oder im Bad, hätte er, um an Tabak zu kommen, einen Mitgefangenen erdrosselt und sich also einen Namen gemacht, hätte er hier Freunde, Kumpels, wäre ihm der Wald erspart geblieben, hätte er Frau und Kinder wiedersehen können, aber so, ein hoffnungsloser Fall, jemand, um den es einem nicht leidtun musste, ein Mann, der sein Leben verspielte, weil ihm die Veranda seines Holzhauses wichtiger war als seine Familie, ein Schwanzlutscher. Burjew hatte Ruhr. Der Sanitäter weigerte sich, ihn sauber zu machen. Neben ihm starrte ein Este, blond, bleich, kurzatmig, den ganzen Tag an die Decke, hatte sich beim Verladen der Stämme drei Finger der rechten Hand zerquetscht. Bestarbeiter, Stachanow-Mann, Udarnik oder Peredowik, als Krüppel ein Toter auf Abruf. Daneben Petja und Fedja Rudenko, die um die Wette husteten. Von ihnen hielt man sich besser fern. Tbc. Oder, noch schlimmer, Typhus. Angeblich Kleinrussen, sahen aus wie Vater und Sohn, waren aber Geschwister. Bis Mitte des Sommers hatten sie wie Otto in der zwölften Brigade geschuftet, als Duo beim Holzschnitt. Kräftige Kerle. Jetzt Dochodjagi. Dochte. Scheißefresser. Zederbaum nannte sie nur Bobtschinski und Dobtschinski. Er hatte Otto die Geschichte vom Revisor erzählt. Dummheit, sagte er, genieße in Russland traditionell gesellschaftliche Anerkennung. Man glaubt, Idioten verfügen über einen geheimen Zugang zu Gott oder Weisheit. Fedja war drei Jahre jünger als sein Bruder, sah aber zehn Jahre älter aus. Kolja Petrenkow wollte Otto zu einer Wette überreden, wer von beiden zuerst stirbt, Petja oder Fedja. Er setzte eine Tagesration auf Bobtschinski. Otto weigerte sich. Der Asiate, der neben den Geschwistern lag, schlief nie. Wann immer Otto ihm einen Blick zuwarf, traf er auf offene Augen. Über seine Herkunft gab es widersprüchliche Informationen. Irgendeine Südrepublik. Turkmenistan oder Aserbaidschan? Er radebrechte bettelarmes Russisch. Nur das Nötigste: Brot, Suppe, Durst. Akim, behauptete der Sanitäter, war sein Name. Diagnose: Dysenterie. Otto wusch ihn mit Schneewasser. Er stank wie Aas. Eine einzige Frau befand sich in der Baracke. Lydia Sergejewna Grushkina, Lehrerin aus Lipezk. Ihr Mann, Direktor einer Düngemittelfabrik, war 1934 erschossen worden, sie bekam acht Jahre wegen Zersetzung und Beihilfe zur Industriespionage aufgebrummt, die beiden Söhne verschwanden in Erziehungsheimen. Seit vier Jahren war die Mutter ohne Nachricht von ihnen. Eiterpusteln, groß wie 5-Kopeken-Stücke, blühten auf ihrer Stirn. Der Kopf kahl. Geschlechtslose Hexe. Das Frauenlager besaß kein eigenes Lazarett. Obwohl Männer und Weiber strikt getrennt wurden, machte man beim Sterben eine Ausnahme. Übergriffe wurden nicht befürchtet. Der Fortpflanzungstrieb existierte nur in der Erinnerung, die weiblichen Häftlinge waren so kaputt oder ansteckend, dass kein männlicher Gast die Gelegenheit ausgenutzt hätte. Was hier liegt, fickt keiner mehr, dozierte Kolja. Neben Lydia Sergejewna verdämmerten zwei Greise, die Otto nicht kannte.

 

Der Alte schlief mit offenem Mund. Otto begutachtete sein Gebiss. Keine Lücke. Der Fremde hatte bessere Zeiten erlebt, sich einen Zahnarzt leisten können. Armer Kerl. Die Reichen waren das Hungern nicht gewöhnt. Wer wie er aus einfachen Verhältnissen kam, hielt die Diät bei Wasser und Brot länger durch. In Artek wurde, auf Anweisung Kosinzews, die Tagesration geteilt, zur Hälfte früh und abends ausgegeben. Dadurch sollte verhindert werden, dass Häftlinge ihren ganzen Brotvorrat auf einen Schlag verschlangen. Was Diebstähle, Schlägereien und unlautere Tauschgeschäfte zur Folge hatte. Nicht wenige Urki priesen die Lager-Küche in höchsten Tönen. Zwar schmeckte Iwan der Fraß auch nicht, aber wenigstens hatte er ihn regelmäßig in der Schüssel. Laffen wie der hier, ein Bourgeois, Aristokrat oder Intelligenzler, an Kartoffeln und Fleisch gewöhnt, schluckten die salzlose Balanda nur mit Ekel. Dass der Pole besonders krank oder heruntergekommen wirkte, konnte Otto nicht finden. Der Mann atmete schwer, aber regelmäßig. Nicht mal Husten. Seine Hände waren durchblutet, ein Gesicht ohne Narben. Kein Krimineller. Wäre er ein Urka, würde ihm irgendwas fehlen, ein Finger, eine Fingerkuppe, ein Teil des Ohrs. Ein Frischling, einer, den es gerade erwischt hatte. War er dafür nicht zu alt? Oder war er klug genug gewesen, seine Verbrechen am ersten Tag zu gestehen? Andere, Dümmere, Otto zum Beispiel, gönnten sich das ganze Programm, das die Verhör-Spezialisten vom NKWD im Angebot hatten, Schläge, Beleidigungen, Scheinhinrichtungen, Schlaf- und Essensentzug, stundenlanges Stehen ohne Kleider, Dunkelhaft, um irgendwann alle Anklagepunkte mit zitternder Hand und im Glücksgefühl, die Quälerei abzukürzen, zu gestehen und mit ihrer Unterschrift zu bestätigen: Konterrevolutionäre Tätigkeit, Spionage, antisowjetische Propaganda, Devisenschmuggel, faschistische Wühlarbeit. Vor fünfzehn Monaten, als Otto in der Zelle in der Lubjanka gelegen oder, besser gesagt, zu liegen versucht hatte, denn die Blutergüsse, Schwellungen im Leistenbereich, Striemen auf dem Rücken schmerzten wie die Hölle, war ihm ein schrecklicher Gedanke gekommen. Wenn er das Protokoll unterschrieb und sich bezichtigte, ein Spion Hitlers zu sein, obwohl er wusste, dass dies ein Hirngespinst war, eine Verleumdung oder ein Irrtum, konnten nicht auch andere Verfemte, die Volksfeinde Pjatakow, Radek, Bucharin und Konsorten, ihre Aussagen nur gemacht haben, um die Folter abzukürzen, ein mildes Urteil zu erschleichen oder wenigstens die erlösende Kugel? Wäre das die Wahrheit, müsste am Ende alles falsch sein. Das ganze Land. Nur Theater. So kaputt, das zu glauben, war er noch nicht. Im Augenblick der Schwäche lauerte Verrat. Zweifel an der Schuld der Verurteilten kannte er nicht, solange er ein freier Mann war. Wie auch? Die Prozesse 36 /37 waren doch öffentlich. Ausländische Journalisten saßen als Beobachter im Säulensaal des Gewerkschaftshauses. Für die Zentral-Zeitung berichtete die Chefredakteurin Julia Annenkowa. Sie fiel später in Ungnade, weil sie mit dem Volksfeind Gamarnik in wilder Ehe lebte, einem Komplizen des Verräters Tuchatschewski. Angeblich hatte auch sie gestanden. Alle hatten gestanden. Der Gedanke verfolgte Otto wie eine Furie.

 

Ilustrowany Kuryer CodziennyBriefPismoPolish Sherlock Gives Science New ProblemThe Los Angeles TimesProfessor of PsychiatryVURafael Schermann, Berlin-Charlottenburg, Bleibtreustr. 38 /39 Fernsprechanschluss J 1 Bismarck 1329