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HolocaustZeugnisLiteratur

20 Werke wieder gelesen

 

Herausgegeben von

Markus Roth und

Sascha Feuchert

 

 

 

 

 

 

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Inhalt

Einleitung

FRANK BAJOHR
Wolfgang Langhoff: Die Moorsoldaten. 13 Monate Konzentrationslager. Unpolitischer Tatsachenbericht (1935)

SIGRID LÖFFLER
Marek Edelman: Das Ghetto kämpft. Warschau 1941-43 (1945)
Hanna Krall: Dem Herrgott zuvorkommen (1976)

JÖRG SKRIEBELEIT
Rudolf Kalmar: Zeit ohne Gnade (1946)

IRMELA VON DER LÜHE
Tadeusz Borowski: Bei uns in Auschwitz (1946)

WOLFGANG BENZ
Lina Haag: Eine Handvoll Staub (1947)

JENS-CHRISTIAN WAGNER
Robert Antelme: Das Menschengeschlecht (1947)

CHRISTIAN ADAM
Hans Scholz: Am grünen Strand der Spree (1955)

SVEN KRAMER
H. G. Adler: Eine Reise (1962)

FRANZISKA AUGSTEIN
Jorge Semprún: Die große Reise (1963)

MIRJAM WENZEL
Peter Weiss: Die Ermittlung (1965)

IRENE HEIDELBERGER-LEONARD
Jean Améry: Jenseits von Schuld und Sühne. Bewältigungsversuche eines Überwältigten (1966)

JIŘÍ HOLÝ – HANA NICHTBURGEROVÁ
Jurek Becker: Jakob der Lügner (1969)

SYBILLE STEINBACHER
Hermann Langbein: Menschen in Auschwitz (1972)

STEVE SEM-SANDBERG
Imre Kertész: Roman eines Schicksallosen (1975)

DAVID SAFIER
Art Spiegelman: MAUS. A Survivors Tale (1986/1991)

BARBARA DISTEL
Ruth Klüger: weiter leben. Eine Jugend (1992)

VOLKER ULLRICH
Victor Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933-1945 (1995)

STEPHAN BRAESE
Aharon Appelfeld: Geschichte eines Lebens (1999)

PIOTR M. A. CYWIŃSKI
Henryk Mandelbaum: Ich aus dem Krematorium Auschwitz (2009)

GERT SCOBEL
Boris Cyrulnik: Rette dich, das Leben ruft! (2012)

Danksagung

Autorinnen und Autoren

Anmerkungen

Einleitung

Die Germanistik ist (noch immer) eine klassische Buchwissenschaft; auch die Arbeitsstelle Holocaustliteratur an der Justus-Liebig-Universität Gießen beschäftigt sich vor allem mit Büchern. Da lag es nahe, zwanzig Jahre Arbeitsstelle Holocaustliteratur mit einem Buch zu feiern, wenngleich ein zwanzigster Geburtstag gewöhnlich keine Festschrift mit sich bringt. So ist es auch keine Festschrift im eigentlichen Sinne geworden, ebenso wenig soll der Band in eine institutionelle Nabelschau münden. Vielmehr bietet der Geburtstag nur Anlass und Ausgangspunkt, den Blick auf 85 Jahre Holocaustliteratur (und die literaturwissenschaftliche Beschäftigung mit ihr) zu richten, auf den Gegenstand unserer Arbeit.

Damit ist ein weiter Bogen von den ersten Berichten der aus den Lagern Geflohenen wie Hans Beimler oder den Fiktionalisierungen von Exilanten wie Ferdinand Bruckner oder Lion Feuchtwanger über Zeugnisberichte der Nachkriegszeit und Editionen von Tagebüchern und anderen Zeugnissen der Zeit bis hin zur Prosa der dritten und vierten Generation ›nach Auschwitz‹ geschlagen. Die Zahl dieser Werke, das deutet sich hier schon an, geht in die Tausende. Sie ist weder von darauf spezialisierten Einrichtungen wie der unsrigen noch gar von Einzelnen wirklich zu überblicken. Daher soll dieses Buch gar nicht erst den Versuch unternehmen, eine wie auch immer geartete Repräsentativität oder gar einen Kanon ›klassischer‹ Holocaustliteratur herzustellen. Welches Kriterium auch immer man hier anlegte, ein Band mit zwanzig Beiträgen müsste zwangsläufig eklatante Lücken aufweisen. So ist es auch mit diesem Buch.

Allen Beiträgerinnen und Beiträgern haben wir eine Auswahlliste mit Vorschlägen zugeschickt, aus der sie sich ein Werk aussuchen konnten. Aber auch Vorschläge jenseits dieser Liste waren willkommen und wurden gemacht. Herausgekommen ist die vorliegende, relativ bunte Mischung an Werken. Auffallen mögen hier vielleicht zunächst Leerstellen – weder Primo Levi noch Eli Wiesel, noch Anne Frank sind vertreten, auch Anna Seghers und weitere ›Klassiker‹ fehlen. Stattdessen finden sich Bücher von Boris Cyrulnik, Rudolf Kalmar oder Hans Scholz, die heute entweder weitgehend unbekannt sind oder aber nur wenigen zu einem Band über Holocaustliteratur eingefallen wären. Hier wollten die Herausgeber nicht ›korrigierend‹ eingreifen, schien doch eine solche Mischung reizvoll – zum einen ein mitunter recht persönlicher Blick auf weithin bekannte Werke, zum anderen mehr Aufmerksamkeit für jahrzehntelang vergessene oder weniger einschlägige Titel.

Eine solche zufällig entstandene Auswahl zeigt bei aller Vorsicht vor Überinterpretationen vielleicht doch eine Entwicklung an, die sich ein wenig von den ›Klassikern‹ ab- und bislang vernachlässigten oder lange in Vergessenheit geratenen Werken (wieder) zuwendet. Dies scheint ein Trend sowohl auf dem Buchmarkt der letzten Jahre als auch in den Geschichts- und Literaturwissenschaften zu sein. Eine ganze Reihe von Editionen ließe sich hier einordnen; und auch die Forschung widmete und widmet sich in jüngerer Zeit vermehrt solchen Publikationen.

In mancher Hinsicht schließt sich so momentan ein Kreis in der Entwicklung der Holocaustliteratur, indem eine ganze Reihe von Werken wieder zugänglich gemacht wird, die vor über 70 Jahren schon einmal publiziert, damals aber kaum rezipiert wurden. Dazwischen liegt ein langer Weg, der hier in groben Strichen nachgezeichnet werden soll.

Holocaustliteratur gibt es seit den ersten Tagen der nationalsozialistischen Herrschaft. Schon im Sommer 1933 erschienen die ersten Werke, die sich literarisch und in Form von Zeugnisliteratur mit der Verfolgungspolitik der Nationalsozialisten zunächst gegen politische Gegner und gegen Juden auseinandersetzten. Dabei wies die Holocaustliteratur bereits in dieser frühen Phase nahezu die gesamte Bandbreite auf, die sie heute noch hat – Erinnerungsberichte, Romane, Erzählungen, Gedichte, Dramen, dokumentarische Literatur und andere mehr erschienen seit 1933 in vielen Sprachen und Staaten der Welt. Vor allem berichteten und schrieben zunächst aus Deutschland entkommene und vertriebene Künstler sowie ehemalige KZ-Häftlinge, die geflohen oder entlassen worden waren. Dies waren neben bekannten Leuten wie Lion Feuchtwanger, Friedrich Wolf, Hans Beimler oder Ferdinand Bruckner auch weniger bekannte wie Max Abraham oder zahlreiche andere, die aus Sorge um ihre Angehörigen anonym berichteten. Aber auch Beobachter von außen schrieben über die Verbrechen des NS-Regimes, die sich schließlich in weiten Teilen vor den Augen der Weltöffentlichkeit abspielten. Oskar Singer zum Beispiel, der später selbst Opfer des Holocaust werden sollte, veröffentlichte 1935 in Prag das Drama Die Herren der Welt, in dem er die Ausgrenzung der Juden im benachbarten Deutschen Reich szenisch bearbeitete.[1]

So wie die gesamte Bandbreite und Vielfalt der Holocaustliteratur schon seit 1933 vorhanden war, so traf sie, wie in den folgenden Jahrzehnten auch immer wieder, bereits in den dreißiger Jahren auf Ablehnung, auf Überdruss sowie auf Zweifler und Leugner. So schreibt zum Beispiel ein unbekannter Rezensent in der Schweizer Zeitung Vaterland am 20. Dezember 1935 in einer Kritik zu Walter Hornungs Buch Dachau. Eine Chronik (Zürich 1935): »Wer die ›Moorsoldaten‹ gelesen hat, wird in diesem Buche nicht viel Neues finden. Man kann sich darum fragen, warum es erscheinen mußte – es gibt wahrlich genug Schilderungen aus deutschen Konzentrationslagern«[2]. Diese frühe Abwehrhaltung entwickelte sich zu einem Topos, der die Holocaustliteratur während der folgenden Jahrzehnte hartnäckig begleiten sollte, ohne jedoch Einfluss auf deren Entwicklung nehmen zu können.

Die Werke stießen freilich nicht nur auf Ablehnung. Im Gegenteil – es gab seit den ersten Wochen des NS-Regimes und seiner brutalen Verfolgungspraxis auch Initiativen, und schließlich auch Institutionen, um diese zu dokumentieren. Neben offiziellen Verlautbarungen des Regimes und Zeitungsausschnitten bildeten dabei die Berichte derjenigen Verfolgten, die auswandern durften oder aber illegal ins Ausland flohen, eine zentrale Grundlage.

Die wohl bekannteste und bis heute aktive Einrichtung ist die Wiener Library. Ins Leben gerufen hatte sie der deutsche Jude Alfred Wiener, der bereits vor 1933 die aufstrebenden Nationalsozialisten bekämpft hatte. Er floh 1933 in die Niederlande, wo er das Jewish Central Information Office gründete, das sofort mit der Sammlung von Material begann und für seine Verbreitung sorgte. 1939 zog Wiener mit seiner Institution nach London, wo das Umschlagfoto für diesen Band entstand und wo sie auch heute noch beheimatet ist.[3] Ein wichtiger Grundstock seiner Sammlungen waren und sind die Zeugnisse der Verfolgten, die weiterhin innerhalb und außerhalb des deutschen Herrschaftsbereichs entstanden.

Während des Kriegs ging zwar die Zahl der publizierten Werke signifikant zurück, allerdings entstanden in dieser Zeit Tausende, wenn nicht Zehntausende Zeugnisse. Hatten schon vor dem Krieg etliche Verfolgte Tagebuch geschrieben, stieg ihre Zahl nun sprunghaft an. In den Hunderten Gettos im besetzten Polen und im gesamten Ostmitteleuropa führten viele Tagebuch, legten Chroniken an[4], etablierte Schriftsteller unter den Gettobewohnern schrieben auch dort weiter Prosa oder dramatische Texte[5]; manch einer griff hier zum ersten Mal zum Stift und versuchte, seine Erfahrungen literarisch, etwa in Gedichtform, zu verarbeiten. Auch in den Lagern schrieben die Häftlinge, wenn auch dort die Bedingungen dafür sehr viel schwieriger waren. In dieser Zeit entstanden zentrale Werke der Holocaustliteratur wie die Tagebücher von Victor Klemperer, Anne Frank, Adam Czerniaków, Emanuel Ringelblum und vielen anderen mehr; Romane wie Das siebte Kreuz von Anna Seghers, Die Karwoche von Jerzy Andrzejewski oder Revolte der Heiligen von Ernst Sommer. Die Zahl der entstandenen Werke lässt sich nicht einmal annähernd beziffern; veröffentlicht wurden die wenigsten noch in jener Zeit. Das Gros kam erst Jahrzehnte später an die Öffentlichkeit, viele dieser Zeugnisse aber verschwanden, wie ihre Verfasser, für immer unter den Trümmern der Gettos, in den Lagern und anderswo.

Bis zum Kriegsende im Frühjahr 1945 erschienen, außerhalb Deutschlands freilich, immerhin über 110 selbstständige Werke der Holocaustliteratur auf Deutsch; für andere Sprachen liegen keine auch nur annähernd gesicherten Zahlen vor. Nach dem Krieg änderte sich die Situation grundlegend, da nun die noch lebenden Häftlinge aus den Konzentrationslagern befreit wurden und nunmehr unter alliierter Hoheit auch in Deutschland die Möglichkeit bestand, von den erlittenen Verfolgungen zu berichten. So wundert es nicht, dass über 350 deutschsprachige Werke alleine bis 1949 publiziert wurden, zu denen noch Tausende Berichte zu rechnen wären, die in den Zeitungen und Zeitschriften Nachkriegsdeutschlands abgedruckt wurden.

Vor allem die Verfolgungsmaßnahmen der Nationalsozialisten gegen politische Gegner rückten zunächst in den Vordergrund, da diese vermehrt berichteten. Aber auch Zeugnisse über die Verfolgungs- und Mordpolitik gegen die europäischen Juden sowie originär literarische, fiktionale Bearbeitungen erschienen. Die Werke dieser Jahre zeichnen sich in besonderem Maße durch einen hohen Zeugnisdruck aus, der sich mitunter schon jahrelang aufgestaut hatte. Expressive Gewaltdarstellungen und drastische Schilderungen des erlittenen Leids gehen oft einher mit einem (daraus abgeleiteten) politischen Gestaltungsanspruch für die noch offene Entwicklung in Nachkriegsdeutschland.

Ihren ersten Höhepunkt erreichte die Holocaustliteratur bereits 1946; von da an ging die Zahl der produzierten Titel erst einmal kontinuierlich zurück. Im gleichen Maße verfestigte sich die Entscheidung über die politische Zukunft Nachkriegsdeutschlands. Das Interesse an Büchern über die jüngste Vergangenheit, wenn es denn in den vorangegangenen Jahren überhaupt bestanden hatte, ging rapide zurück. Eine Interimszeit ging zu Ende, die alten nationalsozialistischen Funktionseliten kehrten in großer Zahl zurück in die Verwaltungs- und Justizapparate, die Gesellschaft in Ost und West wollte nach vorne schauen und den Wiederaufbau vorantreiben. Überdies überlagerte und verdrängte ein anderer Diskurs zunehmend die Stimmen der Opfer, sah sich die Mehrheitsgesellschaft in den Besatzungszonen und später in beiden deutschen Teilstaaten doch selbst als Opfer – Opfer des Bombenkriegs, von Flucht und Vertreibung, von Hunger und mancher Ungerechtigkeit in den ersten Nachkriegsjahren.

So nimmt es nicht wunder, dass in den fünfziger Jahren nur sehr wenige Werke der Holocaustliteratur in der Bundesrepublik oder der DDR veröffentlicht wurden und wie beispielsweise Erich Maria Remarques KZ-Roman Der Funke Leben kaum Erfolg auf dem Buchmarkt hatten. Die meisten der in den Jahren zuvor publizierten Texte gerieten alsbald in Vergessenheit. Nur wenige – meist von den Darstellungskonventionen der Zeit abweichende – Berichte wie der Viktor Frankls blieben, wenn auch mit Unterbrechungen, erhältlich. Auch Bücher, die wie Else Berend-Rosenfelds Ich stand nicht allein die Entlastungssehnsucht der Gesellschaft bedienten[6] oder die wie Margarete Buber-Neumanns Als Gefangene bei Hitler und Stalin zum weiterhin dominierenden Antikommunismus passten, konnten sich etablieren.

Ende der fünfziger Jahre änderte sich dies zumindest in Westdeutschland langsam, da sich das gesellschaftliche Umfeld wandelte. Erste studentische Initiativen richteten den Blick auf die NS-Verbrechen und ihre fehlende Aufarbeitung in der Bundesrepublik, die Justiz schuf mit der Gründung der Zentralen Stelle in Ludwigsburg institutionelle Grundlagen für eine intensivere Ermittlungsarbeit, und manche Skandale um personelle Kontinuitäten schufen eine erhöhte Sensibilisierung. Über die medialen Umwege einer Verfilmung und einer Adaption für das Theater beginnt in dieser Zeit beispielsweise die Erfolgsgeschichte des bereits früher publizierten Tagebuchs von Anne Frank.[7] Auch Primo Levis Erinnerungsbericht Ist das ein Mensch? erscheint in dieser Zeit auf Deutsch und kann sich erfolgreich auf dem Markt behaupten. In der DDR erscheint 1958 Bruno Apitz‘ Nackt unter Wölfen, der dort in der Folgezeit zu dem Klassiker und größten Export-Schlager der DDR-Literatur wird.

Es ist insgesamt in erster Linie das Theater, das die Jahre des Beschweigens und der Marginalisierung der Holocaustliteratur zumindest für einige Jahre durchbricht.[8] Die Bühnenadaption des Tagebuchs von Anne Frank 1956 und Erwin Sylvanus’ Korczak und die Kinder leiteten gewissermaßen diese Wende ein, die in den sechziger Jahren vor allem mit Rolf Hochhuths Der Stellvertreter und Die Ermittlung von Peter Weiss verbunden wird, Letzteres mit gleichzeitigen Premieren in Ost und West. Begleitet wird diese Entwicklung von einer verstärkten Hinwendung zur nationalsozialistischen Vergangenheit und zu ihren Verbrechen beispielsweise im Fernsehen. Aber auch Zeugnistexte wie Das Tagebuch der Maria Rolnikaite (1966) oder Prosatexte erscheinen nun wieder vermehrt. Im Zuge einer Blütezeit von Übersetzungen polnischer Literatur erscheinen 1963 zum Beispiel mehrere Bände mit den Erzählungen von Tadeusz Borowski oder 1968 Zofia Nałkowskas Erzählungsband Medaillons, der 1956 bereits in Ost-Berlin publiziert worden war.

Ausgerechnet mit dem Kanzlerwechsel vom ehemaligen Parteigenossen Hans-Georg Kiesinger zum ehemaligen Flüchtling und Emigranten Willy Brandt setzte eine erneute Periode relativer Stille um die NS-Verbrechen ein. Während Brandt nach seiner Wahl verkündete, Hitler habe jetzt »endgültig den Krieg verloren«[9], weckte der Buchmarkt den gegenteiligen Eindruck. Hier sorgte die sogenannte Hitler-Welle für steigende Umsätze, begleitet von Langspielplatten mit ›Führer‹-Reden und Zeitschriften, die die NS-Diktatur mindestens verharmlosten.

Ende des Jahrzehnts beendet ein mediales Großereignis dieses ›zweite Schweigen‹ über die NS-Verbrechen nachhaltig. Die Ausstrahlung der US-amerikanischen Miniserie Holocaust wirkt in Teilen der westdeutschen Gesellschaft wie ein Schock. Die Serie weckt ein breiteres Interesse am Holocaust, der im Laufe der nächsten Jahre durch den Mehrteiler überhaupt erst diese Bezeichnung bekommt. Freilich dreht nicht allein dieses Fernsehereignis das gesellschaftliche Bewusstsein in der Bundesrepublik. Bereits früher setzt beispielsweise im Rahmen der Geschichtswerkstättenbewegung eine Hinwendung zu den Verfolgungsgeschichten Einzelner ein. Überdies trifft Holocaust mit einer generationellen Entwicklung der Überlebenden zusammen. Diejenigen, die den Holocaust als junge Erwachsene erlebt haben, treten allmählich in den Ruhestand, verbunden mit der Zeit und dem Wunsch, sich nun der eigenen Geschichte (wieder) zuzuwenden.

Seit Ende der siebziger Jahre erscheint kontinuierlich eine Vielzahl von Zeugnisberichten. Auch während des Holocaust geführte Tagebücher und andere Texte finden nun Verlage und ein größeres Publikum. Dies beginnt in den achtziger Jahren mit ersten erfolgreichen Veröffentlichungen wie den Tagebüchern von Hertha Nathorff und Adam Czerniaków, findet seinen Höhepunkt aber einige Jahre später mit dem Tagebuch Victor Klemperers. Parallel dazu erhält das Zeugnis des Einzelnen auch in Film und Fernsehen enormes Gewicht, es beginnt dort – aber nicht nur dort – die Ära des Zeitzeugen.

Auch in Prosa, Lyrik und in Dramen wird der Holocaust wieder verstärkt Thema – sei es in der deutschen Literatur oder vermittels Übersetzungen. Seit den neunziger Jahren kommen in der Zeugnisliteratur vermehrt Werke von Überlebenden hinzu, die wie Ruth Klüger oder Michał Głowiński den Holocaust als Kinder erlebt haben und die nun ihrerseits langsam aus dem Berufsleben ausscheiden. Intensiver noch als bei früheren Generationen von Überlebenden treibt etliche von ihnen ein erhöhter Zeugnisdruck an, leben sie doch in dem Bewusstsein, die nun wirklich letzten lebenden Zeugen des Holocaust zu sein.

Diese Blütezeit der Zeugnisliteratur klingt seit einigen Jahren ab; Erinnerungsberichte über den Holocaust haben es auf dem Buchmarkt zunehmend schwer, sie erscheinen immer weniger und meist in Kleinstauflagen. Parallel zu diesem Abklingen jedoch wird durch zahlreiche Bücher die Stimme der sogenannten zweiten und inzwischen auch der dritten Generation vernehmbar. Die Kinder und Enkel der Opfer und Überlebenden beschäftigen sich darin in den unterschiedlichsten Formen mit den Geschichten ihrer Eltern oder Großeltern und deren Nachwirkungen. Diese Entwicklung setzt – man denke an Art Spiegelmans MAUS – bereits in den achtziger und neunziger Jahren ein, gewinnt im neuen Jahrtausend an Dynamik und ist längst nicht an ihr Ende gekommen.

Ein weiterer ›Trend‹ der vergangenen Jahre ist die Hinwendung zu frühen Zeugnissen der Holocaustliteratur und ihre ›Wiederentdeckung‹. Hier sind, teilweise mit großem Erfolg, in jüngerer Zeit zahlreiche Publikationen aus dem Exil oder den ersten Nachkriegsjahren wie Rudolf Kalmars Zeit ohne Gnade erneut veröffentlicht worden. Überdies richtet sich der Blick verstärkt auf bislang vernachlässigte Sprachräume. Übersetzungen aus dem Jiddischen zum Beispiel nehmen in den letzten Jahren zu und finden relativ große Beachtung, für die Mordechai Striglers literarisches Zeugnis über Majdanek exemplarisch stehen mag.

Dass die Entwicklung der Holocaustliteratur mit dem Ende der Zeitzeugenschaft und der Zeitgenossenschaft nicht an ihr Ende gekommen ist, zeigt sich in einer Vielzahl von literarischen Werken Nachgeborener ohne direkten familiären Bezug zum Holocaust. Zwar hat es solche Bücher von gänzlich Unbeteiligten schon von Beginn an gegeben, doch scheinen diese nun seit einigen Jahren signifikant zuzunehmen. Diese Werke sind derart vielfältig, dass sie sich kaum auf einen anderen Nenner bringen lassen. Es sind zum einen Texte, die sich eng an Dokumente und überlieferte Zeugnisse anlehnen, wie dies beispielsweise Steve Sem-Sandberg in seinem Roman Die Elenden von Lodz tut. Oder aber solche, die sich sehr viel mehr Freiheit nehmen wie Andrzej Barts Die Fliegenfängerfabrik und zahlreiche andere.

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Diese und andere Werke finden inzwischen intensive Beachtung in der Forschung. Lange Zeit jedoch hat sich die Literaturwissenschaft sehr schwer getan, sich mit solchen Texten überhaupt auseinanderzusetzen – und das vor allem im Land der Täter. Die Disziplin zog sich nach 1945 in Deutschland im Prinzip sofort ins Nichtpolitische zurück: Zu oft waren Fachvertreter dem Nationalsozialismus hinterhergelaufen, hatten das NS-System tatkräftig unterstützt oder sich vereinnahmen lassen, zu sehr war der Rest gleichgeschaltet und okkupiert worden, als dass jetzt außerliterarische Fragestellungen die Literaturwissenschaft ernsthaft und vor allem glaubwürdig hätten mitbestimmen können. Im Gegenteil: Die werkimmanente Interpretation wurde zur vorherrschenden Methode, die Aufmerksamkeit sollte nur dem – mit Wolfgang Kayser gesprochen – »sprachlichen Kunstwerk«[10] und seinen Wirkmechanismen gelten. Mit dem Etikett des »sprachlichen Kunstwerks« aber ist zugleich der Gegenstand dieser Nachkriegsliteraturwissenschaft beschrieben: Es ging eben um ›hohe‹, um ›schöne‹ Literatur, wie man damals vielleicht gesagt hätte. Damit bezog sich die Wissenschaft auf eine Literaturdefinition, die sich im 19. Jahrhundert herausgebildet hatte. ›Echte‹ Literatur unterschied sich demnach deutlich von Trivialliteratur bzw. von allen anderen Texten, die man einem weiteren Verständnis von Literatur zuordnen konnte, das im Prinzip alle mündlichen oder schriftlich fixierten Zeugnisse umfasst. Gegenstand der Literaturwissenschaft konnte und sollte aber nur jener relativ schmale Textkorpus werden, dem man eindeutig künstlerische Qualitäten zusprechen konnte.

Diese Abschottung der Literaturwissenschaft hatte gleichwohl bedeutsame Folgen für jene Texte über den Holocaust, die nach 1945 – wie beschrieben – zu Hunderten entstanden bzw. veröffentlicht wurden. Da sie in den seltensten Fällen künstlerischen Ansprüchen genügen wollten oder konnten und alleine schon einen Gegenstand behandelten, der in mehrfacher Hinsicht als nicht literaturwürdig galt, gerieten sie den Literaturwissenschaftlern schlichtweg nicht in den Blick. Auch an Debatten, wie sie etwa im Nachbarland Polen stattfanden, beteiligten sich die deutschen Literaturwissenschaften nicht. Dort wurde nämlich schon unmittelbar nach Kriegsende intensiv diskutiert, wie die Literatur allgemein auf die Präzedenzlosigkeit der Ereignisse reagieren könnte. Ergebnis dieser Auseinandersetzung, die in den ersten polnischen Literaturzeitschriften nach 1945 geführt und maßgeblich durch bedeutende Literaturwissenschaftler wie Kazimierz Wyka inspiriert wurde, war die ›authentische‹ oder ›dokumentarische‹ Prosa, die das aus der polnischen Romantik überlieferte Paradigma, wie traumatische Erfahrungen in Literatur zu verwandeln seien, von Grund auf umformulierte. In Deutschland sollten solche Debatten erst rund zwanzig Jahre später im Zuge der Auseinandersetzungen um das dokumentarische Theater geführt werden. Dagegen bot die bundesdeutsche Literaturwissenschaft jenen Positionen mehr oder weniger eine Echokammer, die eher ein Schweigen nicht nur der Literatur nahelegten. 1951 hatte Theodor W. Adorno in Kulturkritik und Gesellschaft geschrieben: »[N]ach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch, und das frißt auch die Erkenntnis an, die ausspricht, warum es unmöglich ward, heute Gedichte zu schreiben.«[11] Auch wenn Adorno 1966 – also ganze 15 Jahre später – in der Negativen Dialektik sein Urteil etwas revidierte und dann formulierte: »Das perennierende Leiden hat soviel Recht auf Ausdruck wie der Gemarterte zu brüllen; darum mag falsch gewesen sein, nach Auschwitz ließe sich kein Gedicht mehr schreiben«[12], ignorierte auch diese Position, dass Lyrik in Auschwitz, dass Gedichte während des Holocaust eine enorme Rolle für die Gemarterten gespielt hatten. Wir wissen von Primo Levi, dass es in Auschwitz Rhapsoden gab, die in den Barracken gegen eine kleine Entlohnung Gedichte und Gesänge vortrugen, wir wissen, dass etwa auch Krystyna Żywulska ihren Mitgefangenen Gedichte über das Lagerelend vortrug, und wir wissen von Ruth Klüger, dass ihr die Lyrik das Leben in Auschwitz buchstäblich rettete. Klügers nachgereichter Einspruch gegen Adornos Formulierung fiel in weiter leben denn auch besonders vehement aus:

»So gut reden hab ich wie die anderen, Adorno vorweg, ich meine die Experten in Sachen Ethik, Literatur und Wirklichkeit, die fordern, man möge über, von und nach Auschwitz keine Gedichte schreiben. Die Forderung muß von solchen stammen, die die gebundene Sprache entbehren können, weil sie diese nie gebraucht, verwendet haben, um sich seelisch über Wasser zu halten. Statt zu dichten möge man sich nur informieren, heißt es, also Dokumente lesen und ansehen – und das gefaßten, wenn auch betroffenen Mutes. Und was sollen sich Leser oder Betrachter solcher Dokumente dabei denken? Gedichte sind eine bestimmte Art von Kritik am Leben und könnten ihnen beim Verstehen helfen. Warum sollen sie das nicht dürfen? Und was ist das überhaupt für ein Dürfen und Sollen? Ein moralisches, ein religiöses? Welchen Interessen dient es? Wer mischt sich hier ein?«[13]

Es sollte lange dauern, bis sich die (deutsche) Literaturwissenschaft ernsthaft der Holocaustliteratur zuwendete. Dafür bedurfte es vor allem zweier großer Entwicklungen: Zum einen setzte sich in den Literaturwissenschaften nach und nach ein erweiterter Literatur- und Textbegriff durch, d. h., es gerieten nun auch Texte und Textsorten in den Blick, die dezidiert nicht zur schönen Literatur gerechnet und dennoch zum Gegenstand philologischer Untersuchungen werden konnten, zum anderen änderten sich die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen deutlich. Es ist wohl unbestreitbar, dass vor allem zwei Prozesse dazu führten, dass sich in den sechziger Jahren die Diskursstruktur nachhaltig änderte und letztlich auch zur dann von den 68ern vehement geforderten ›Vergangenheitsbewältigung‹ beitrugen. Gemeint sind natürlich der Jerusalemer Eichmann-Prozess von 1961 und die Frankfurter Auschwitz-Prozesse von 1963 bis 1965. Die Gerichtsverhandlungen fanden – wie oben bereits beschrieben – auch in der Literatur ihren Niederschlag, womit intensive und weiter reichende Debatten ausgelöst wurden, an denen sich nun auch Vertreter der bundesdeutschen Literaturwissenschaft beteiligten. Gerade um die Darstellbarkeit von Auschwitz drehten sich diese Auseinandersetzungen. Um es ein wenig zuzuspitzen: Wiederum drehte sich auch die literaturwissenschaftliche Diskussion in Deutschland um Tabus und ihre vermeintliche Durchbrechung (wie schon in der Adorno-Debatte), wieder wurde ein avancierter Streit um Kunst und Nicht-Kunst geführt. Für die Texte derer, die selbst aus der Hölle entkommen waren und die mit ihren Berichten, Gedichten, Erzählungen Zeugnis ablegen wollten, änderte sich erst einmal wenig. Sie kamen in der literaturwissenschaftlichen Auseinandersetzung so gut wie nicht vor, schon gar nicht wurden sie als eine Literatur sui generis betrachtet. Aber immerhin: Gesellschaft, Literatur und Literaturwissenschaft hatten sich in den sechziger Jahren für das Thema Auschwitz endlich grundsätzlicher geöffnet.

Doch es sollten noch weitere eineinhalb Jahrzehnte vergehen, bis die Literaturwissenschaft – auch als Reaktion auf den Boom der Memoirenliteratur in den achtziger Jahren – die Holocaustliteratur als Gegenstand für sich entdeckte. Entscheidende Impulse für diese thematische Erweiterung in den Philologien kamen dabei aus den USA. Bezeichnenderweise war es mit Susan Cernyak-Spatz eine Auschwitz-Überlebende, die als eine der Ersten über dieses Genre promoviert wurde. In ihrer 1973 fertiggestellten Dissertation, die erst 1985 in Buchform publiziert wurde, verstand die Wissenschaftlerin unter ›Holocaust Literature‹ zwar nur fiktionale Werke über den Holocaust – etwa Anna Seghers Roman Das siebte Kreuz oder Bruno Apitz’ Nackt unter Wölfen –, doch ist ihre Arbeit in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert und folgenreich: Zum einen legte Cernyak-Spatz ihrer Arbeit implizit ein sehr weites Verständnis der Metapher ›Holocaust‹ zugrunde: Wie selbstverständlich verstand sie darunter nicht ›nur‹ die Verfolgung und Ermordung der Juden, sondern sie rechnete auch die Gewaltmaßnahmen gegen politische Gegner und andere dazu. Darüber hinaus nutzte sie die Bezeichnung ›Holocaustliteratur‹ einigermaßen selbsterklärend, wenngleich sie einem eher engen Verständnis von Literatur verpflichtet blieb, indem sie nur fiktionale Texte dazuzählte und damit Zeugnisliteratur weitestgehend ausklammerte. Dennoch ist dieser Beitrag in seiner Bedeutung kaum zu überschätzen: Cernyak-Spatz gehörte zu den Ersten, die einen literaturwissenschaftlichen Diskurs zur Holocaustliteratur eröffneten. Ihre Autorität als Überlebende, die in den siebziger Jahren bei ihrer eigentlichen Promotion noch kaum eine Rolle gespielt haben dürfte, verlieh der Buchpublikation in den achtzigern, die wir auch – wie bereits bemerkt – als den Beginn des ›Zeitalters der Zeitzeugen‹ ansehen können, aber doch erhebliches Gewicht. 1989 erschien sogar eine zweite, verbesserte Auflage des Buches, was auch deutlich macht, dass es eine ziemliche Wirkung entfaltete.

Gleichwohl legte diese Arbeit – und einige andere ebenso – implizit auch offen, wo die Probleme lagen: Vor allem die in wenigen Strichen entworfene Begründung dessen, was Holocaustliteratur eigentlich ist, konnte nicht wirklich überzeugen. Das aber war keine Kleinigkeit: Zwar war sozusagen das Diskursfeld in der Literaturwissenschaft eröffnet, langfristig hing aber eine Institutionalisierung der Beschäftigung mit diesem Forschungsgegenstand maßgeblich davon ab, dass er schärfer umrissen werden würde. Es muss daher nicht erstaunen, dass es gerade in diesen ersten Jahren einer literaturwissenschaftlichen Beschäftigung genau darum ging: zu sagen, was man unter Holocaustliteratur verstehen konnte – und fast genauso oft: Was man nun nicht darunter verstanden wissen wollte. So notwendig diese Debatten waren, so abstrus muten sie heute aus dem Rückblick mitunter auch an: Denn sehr schnell wird aus den verschiedenen deskriptiven Versuchen der Wissenschaftler auch ein präskriptives Fordern und Zurückweisen von Literatur.

Eine einflussreiche Stimme in dieser frühen Phase einer universitären Auseinandersetzung mit Holocaustliteratur in den USA wurde Alvin H. Rosenfeld. Der 1938 geborene Professor für Jewish Studies legte 1988 seine Studie A Double Dying vor, die auf seine 1980 eingereichte Dissertation zurückging und erst über zehn Jahre später unter dem Titel Ein Mund voll Schweigen auch ins Deutsche übersetzt wurde. Rosenfeld nimmt darin eine klare Setzung vor: »Genauso wie die Holocaustliteratur eine Vielfalt von Sprachen umfaßt, hat sie auch in alle nur möglichen Gattungen Eingang gefunden. Romane und Kurzgeschichten befassen sich mit diesem Gegenstand, Gedichte und Theaterstücke, expositorische Prosa-Gattungen wie Memoiren, Tagebücher und Aufzeichnungen, philosophische Essays und Auslegungen in der Tradition der Midraschim, Parabeln, Balladen und Lieder. Diese Literatur hat keine neuen Textformen hervorgebracht, aber sie hat alle vorgefundenen, von ihr besetzten literarischen Genres im höchsten Maße kompliziert, und es sieht so aus, als sei sie im Begriff, diese Formen aufzulösen, um einen neuen, angemesseneren Maßstab ausfindig zu machen, etwas radikal Böses und die Skala menschlicher Reaktionsweisen aufzuzeichnen.«[14]

Wichtig ist, dass Rosenfeld darauf besteht, dass die Holocaustliteratur keine eigene Gattung sei, sondern in allen möglichen Gattungen Veränderungen hervorgerufen habe. Der Zivilisationsbruch hat sich somit in die Gattungen eingeschrieben, ihr Wesen nachhaltig verändert.

Doch Rosenfelds Leistung besteht eigentlich in etwas anderem. Dieter Lamping hat das auf den Punkt gebracht: »Rosenfeld bringt der Holocaustliteratur gleichfalls mehr als ein bloßes ästhetisches Interesse entgegen. Zwar stellt er […] auch die Frage, welche Veränderung literarische Form durch den Holocaust erfahren hat. Eine der leitenden Fragen des Buches gilt aber, nicht weniger grundsätzlich, dem Wissen, das diese Literatur voraussetzt, und dem, das sie vermittelt. Rosenfeld erörtert deshalb neben der unabweisbaren Problematik von Dichtung nach Auschwitz und über Auschwitz […] auch die Korruption der deutschen Sprache durch den Holocaust oder den Beitrag der Holocaustliteratur zur Geschichtsschreibung. Insofern ist es nicht verwunderlich, daß eines seiner Ziele erklärtermaßen darin besteht, ›den Holocaust durch die Literatur, die er hervorgebracht hat, begreifbarer zu machen‹.«[15]

Damit gerieten der Literaturwissenschaft erstmals und nachhaltig auch die Texte derer in den Blick, die als Zeugen über ihre eigenen Erlebnisse geschrieben hatten. Sie standen nun gleichrangig neben Texten der ›schönen‹ Literatur, waren ihnen sogar in mancherlei Hinsicht – so Rosenfeld – überlegen. Denn Rosenfeld beschrieb in seinem Werk nicht nur, was für ihn Holocaustliteratur ist, sondern auch, was für ihn nicht zu dieser Gruppe von Texten gehörte. Ausklammern wollte er Werke, »die aus einem nicht authentischen Umgang mit dem Holocaust erwachsen«[16]. Darunter verstand Rosenfeld eine wie immer geartete literarische Inszenierung des Holocaust zur Erreichung anderer Zwecke. Ein Paradebeispiel für ihn ist in dieser Hinsicht ausgerechnet Peter Weiss’ Drama über den Frankfurter Auschwitz-Prozess, Die Ermittlung. Das Stück, das eine deutlich antikapitalistische Lesart des Holocaust präsentiert, ist für Rosenfeld nicht wirklich am Holocaust (und vor allem an seinen Opfern) interessiert, sondern nutzt die Ereignisse, um die Kapitalismuskritik zu transportieren.

So verständlich Rosenfelds Anliegen ist, die ›Ausbeutung des Grauens‹ zu unterbinden und damit die Zeugnisliteratur in ihrem Wert zu stärken, so schwierig wird es, dafür überprüfbare Kriterien festzulegen. Dies erhellt u. a. aus seiner eigenen Begründung, wie man die illegitimen und unauthentischen Texte, die nach Rosenfeld nicht zur Holocaustliteratur gehören (sollen), identifizieren kann: »Das schlägt sich meistens in einer gewissen Unangemessenheit des Ausdrucks nieder, die Sprache wirkt entweder aufgeblasen oder leer. Im ersten Fall bewirkt die Inanspruchnahme des Holocaust-Vokabulars durch die Kunst eine Herabsetzung des Terrors in den Lagern, indem er ungerechtfertigterweise generalisiert oder universalisiert wird, im zweiten Fall entsteht der Eindruck einer starken Überstrapazierung, Historie geht in Hysterie über.«[17] Unangemessenheit, das wird hier klar, liegt im Auge des Betrachters, das Kriterium ist hoch subjektiv, eigentlich ist es ein moralisches Urteil. Das macht die Sache nicht einfacher: Denn wie geht man mit Texten um, die dem einen oder anderen als unangemessen erscheinen und die aber von Überlebenden stammen? Straft man sie mit Nichtbeachtung? Wer hat ernsthaft die Autorität, über Angemessenheit und Unangemessenheit zu entscheiden? Gerade bei Weiss etwa haben wir gesehen, dass das Stück folgenreich war – für die Literatur, aber auch für die gesellschaftliche Auseinandersetzung mit dem Holocaust.

Rosenfelds Verdienst liegt aber eindeutig darin begründet, dass er erstmals auch Zeugnisliteratur betrachtete und in ihrer doppelten Funktion verstand: als Texte, die tatsächlich Ereignisse bezeugen konnten, die sonst kein Mensch gesehen hatte, und als Literatur in einem weiteren Sinne. Dass er dabei dezidiert davon ausging, dass die Holocaustliteratur keine eigene Gattung bzw. kein eigenes Genre darstellte, obwohl er sie ja als Textkorpus sui generis beschrieb, und dass er an den Rändern seiner Definition zu moralischen Urteilen griff, machte ganz offensichtlich weitere Definitionen und Versuche notwendig.

In Deutschland indes blieben die Untersuchungen von Cernyak-Spatz und Rosenfeld zunächst ohne größere Resonanz. Die Literaturwissenschaft hatte sich zwar auch hierzulande – wie beschrieben – prinzipiell der Auseinandersetzung mit Auschwitz geöffnet und verfügte auch über einen weiteren Literaturbegriff, doch verblieben die wenigen Untersuchungen, die sich dem Thema widmen, vor allem bei Höhenkamm-Phänomenen. Wenn also der deutschen Literaturwissenschaft Texte zum/über den Holocaust in den Blick gerieten, dann waren es vor allem solche, die in Zusammenhang mit anderen komplexen ästhetischen Fragen standen. Ein Beispiel dafür ist Paul Celans Dichtung, die »in die Asche von Auschwitz geschrieben« (Ernst Fischer) war. Celans hermetischer Lyrik, die noch bei der Gruppe 47 gnadenlos durchgefallen war, widmeten sich in den achtziger Jahren bereits einige Studien intensiv. Doch nach wie vor kamen andere Texte von Zeugen und Opfern, die nicht hochliterarischen Ansprüchen genügten, so gut wie nicht vor.

Für die Literaturwissenschaft in Deutschland zeichnete sich im Hinblick auf eine breitere Auseinandersetzung mit Holocaustliteratur dann in den neunziger Jahren die eigentliche Wende ab. Gleich zwei wissenschaftliche Werke erschienen, die den Diskurs nachhaltig beeinflussten, dazu kam noch mit Ruth Klügers weiter leben der wohl wichtigste deutschsprachige Text einer Überlebenden, der fast sofort auch seinen Siegeszug durch die germanistischen Seminare in Deutschland begann. Für diesen Erfolg des Textes auch bei Germanisten dürfte es keine unerhebliche Rolle gespielt haben, dass Klüger in ihrem Werk dezidiert als Literaturwissenschaftlerin, Dichterin und Überlebende sprach.

1992 erschien die fundamentale Studie von James E. Young Beschreiben des Holocaust erstmals auf Deutsch, die allerdings bereits 1983 als Dissertation entstanden und 1988 unter dem Titel Writing and Rewriting the Holocaust auf Englisch publiziert worden war.

Youngs Begriff der Holocaustliteratur unterscheidet sich zunächst dadurch von Rosenfelds und Cernyak-Spatz’ Arbeiten, dass er einen wesentlich weiteren Literatur- bzw. Textbegriff zugrundelegt. Dieser umfasst »alle Arten von Texten […], das heißt literarische und graphische Darstellungen ebenso wie Erinnerungen.«[18] Anders als Rosenfeld und Cernyak-Spatz verwendet Young großen Raum für seine Bestimmung des Literarischen und die daraus resultierenden Konsequenzen für seinen Begriff von Holocaustliteratur. Am Anfang von Youngs Studien »stand die Erkenntnis, dass wir, die Nachgeborenen des Holocaust, die Ereignisse jener Zeit allein durch das erfahren können, was uns in dieser oder jener Form davon überliefert ist«[19]. Folglich ist es die Form der Überlieferung, die Art und Weise, wie die Ereignisse von der Literatur dargestellt werden, die im Mittelpunkt seiner Untersuchungen stehen. Doch verharrt Young nicht bei diesem Problem alleine, vielmehr interessieren ihn die Folgen, die diese Form der Überlieferung hat: und zwar sowohl für die Opfer dieser Zeit als auch für die Überlebenden und Nachgeborenen im Hinblick auf ein Verständnis der Welt nach dem Holocaust. Er führt aus: »Denn wie der Begriff, den sich Mörder und Opfer von den Ereignissen gemacht haben, ihr Handeln beeinflußt hat, so ergeben sich meines Erachtens unsere Reaktionen auf die uns umgebende Welt ganz unmittelbar aus unserem Verständnis der Ereignisse und aus der Art und Weise, wie wir diese erinnern.«[20] ›Interpretation‹ wird damit gleich auf mehreren Ebenen zu einem Schlüsselwort in Youngs Studie: Er versteht grundsätzlich alle Texte, die über den Holocaust reden, als (bewusste und unbewusste) Interpretationen der Ereignisse durch den Schreiber. Young sieht in diesen Texten – gerade auch in den Memoiren und Tagebüchern von Betroffenen – eine »historische Exegese«[21]. Durch eine sorgfältige Interpretation könne der Leser bzw. Rezipient seinerseits »das Verhältnis von Ursache und Wirkung, die Art und Weise, wie im Verlauf der Ereignisse diese selbst und ihre Interpretationen einander wechselseitig durchdringen«[22], herausarbeiten und tiefer verstehen und erkennen, »in welcher Weise die Holocaustliteratur die Ereignisse nachträglich in einem bestimmten Licht reflektiert, ihnen bestimmte Bedeutungen unterlegt und uns zu diesen Bedeutungen hinführt.«[23] Young misst in seiner Studie somit v. a. den »hermeneutische[n] Aktivitäten bei der Texterzeugung« großes Gewicht bei. Den Ausgang seiner Überlegungen bildet die Überzeugung, Realität sei mit den Mitteln der Sprache nicht abzubilden, sondern immer nur zu interpretieren. Um seinen Standpunkt – wiederum gerade im Hinblick auf die Zeugnisse von Holocaust-Opfern – zu verdeutlichen, zitiert er in diesem Zusammenhang Robert Scholes: »Der Realismus ist tot, weil die Realität [selbst] nicht wiederzugeben ist. Alles Schreiben, alle Komposition ist Konstruktion. Wir imitieren die Welt nicht, wir konstruieren Versionen von ihr. Es gibt keine Mimesis, nur Poesis. Keine Wiedergabe. Nur Konstruktion.«[24] Die Problematik für die Analyse besonders der Texte von Überlebenden bzw. Opfern des Holocaust scheint klar: Gerade die dokumentarische Qualität ihrer Werke, gerade die unmittelbare Wiedergabe der Fakten liegt vielen Schreibern am Herzen bzw. ist die eigentliche Antriebskraft, überhaupt Texte zu produzieren. Die Beteuerung der Authentizität des Geschilderten ist daher nachgerade ein Topos dieser Literatur. Doch Young will mit seiner Analyse diesen Anspruch nicht einfach nur zurückweisen, sondern – freilich auf andere Weise als beabsichtigt – auch anerkennen. Er will »diese Literatur von Zielstellungen […] [entlasten], die sie unmöglich erfüllen kann.«[25] Seine Analysen entsprechen daher eher weitgehend der »im Konstruktivismus verankerte[n] Aufwertung der konstruierenden Aktivität des Subjekts«[26], wie Ansgar Nünning es formulierte. Den Zeugnissen der Betroffenen kommt bei dieser Tätigkeit für Young somit eine besondere Rolle zu: Sie sind nach diesem Verständnis die Ersten, die mit ihren Werken die Ereignisse interpretieren und metaphorisieren und damit die nachfolgenden Interpretationen und Beschreibungen präfigurieren – (nur) in diesem Sinne sind diese Schriften für Young ›authentische Zeugnisse‹.

Es ist deutlich, dass Youngs dem Konstruktivismus verpflichteter Holocaustliteraturbegriff damit auch fiktionale Werke einschließt. Denn: Sie »spiegeln sowohl ein spezifisches Verständnis der Ereignisse als auch die konkreten historischen Details wider. […] Historisches und Phantastisches durchdringen einander […], was Einblicke in die Ereignisse eröffnet und zugleich ein Verständnis dieser Ereignisse erzeugt.«[27] Auch bei fiktionalen Werken werden nach diesem konstruktivistischen Verständnis mittels der Sprache immer nur Wirklichkeitsmodelle erzeugt – ganz gleich, wie sehr der Autor seine Nähe zum historischen Geschehen behauptet.

Die prinzipielle Setzung Youngs, literarische Texte über den Holocaust prinzipiell als subjektabhängige Interpretationen zu verstehen, versetzte der literaturwissenschaftlichen Diskussion in Deutschland einen deutlichen Schub. Dazu trug freilich noch ein zweiter Text bei, der bezeichnenderweise erneut von einem Überlebenden stammte: Samuel ›Sem‹ Dresden legte ihn 1992 auf Niederländisch und 1997 in deutscher Übersetzung unter dem Titel Holocaust und Literatur vor. Dresden, 1914 in Amsterdam geboren, musste zwischen 1943 und 1945 mehr als eineinhalb Jahre im Durchgangslager Westerbork leben, ehe er befreit wurde. Seine Eltern überlebten den Holocaust nicht: Von alldem teilte Dresden in seinem Werk, das er bescheiden einen Essay nannte, nichts mit. Ganz offensichtlich wollte der Philologe nicht mit der Autorität eines Überlebenden sprechen, wohl aber mit der eines anerkannten und viel gelesenen Literaturwissenschaftlers.

Dresdens große Leistung ist die enorme Zugewandtheit und Aufmerksamkeit, mit der er die Texte der Holocaustliteratur liest und bespricht. Er plädiert nachdrücklich dafür, die Tagebücher, Chroniken, Berichte, Gedichte, Memoiren der Überlebenden gleichberechtigt neben fiktionale Werke zu stellen, auch neben jene von Nachgeborenen. Damit reagierte Dresden auch auf eine Entwicklung, die sich weltweit seit einigen Jahren abgezeichnet hatte: Immer stärker nämlich wurden die Zeugnisse der Überlebenden in den Fokus auch von Gedenkritualen gestellt, der Zeitzeuge als historische Größe wurde immer mächtiger und diskursbestimmender. Damit verbunden war – vor allem auch außerhalb wissenschaftlicher Zusammenhänge – eine sich seit Mitte der achtziger Jahre ausbreitende Skepsis gegen sämtliche Fiktionalisierungen des Holocaust: Es schien sich eine alte Debatte zu wiederholen, die in jedem Versuch, fiktional über den Holocaust zu erzählen, eine unstatthafte Ästhetisierung vermutete. Überlebende wie Elie Wiesel waren nachdrücklich an dieser Entwicklung beteiligt, Wiesels eingängiger Satz »Ein Roman über Treblinka ist entweder kein Roman oder er erzählt nicht von Treblinka«[28] transportierte in nuce diese Bedenken. Dabei übersahen die Bedenkenträger, dass Fiktionalisierungen des Holocaust bereits während der Ereignisse durchaus üblich waren: Neben den Gedichten entstanden – vor allem in den Ghettos – Dramen, Kurzgeschichten oder längere fiktionale Erzählungen.

War durch Rosenfelds Studie 1980 die Bedeutsamkeit der Zeugnisse von Opfern und Überlebenden erstmals etabliert und von Young 1988 nachdrücklich bestätigt bzw. verstärkt worden – und zwar gegen einen traditionell engen Literaturbegriff –, musste jetzt andersherum die fiktionale, mithin auch die ›hohe‹ Literatur nahezu rehabilitiert werden. Dresden tat genau dies, und zwar voller Leidenschaft, die sich einerseits aus enormer Empathie für die nichtprofessionellen Autoren des Holocaust speiste und andererseits aus seiner unübersehbaren Liebe zur Literatur, zu ihren Möglichkeiten und ihrer Bedeutung für den Menschen. Dresden geht in seiner Arbeit vor allem von der Einsicht aus, dass beide Textsorten – die Zeugnisliteratur wie die fiktionale Literatur Nachgeborener bzw. Unbeteiligter – letztlich auf dieselbe Wirklichkeit, wenn auch je unterschiedlich, rekurrieren, aber beide um Wahrheit bemüht seien. Dabei macht er darauf aufmerksam, dass selbst Zeugnisse, die unmittelbar während der Ereignisse entstanden, daran gebunden sind, dass sie Wirklichkeit in Sprache überführten und dass sprachliche Konstrukte Wirklichkeit nie vollständig reproduzieren könnten. Er schreibt: »Gleichgültig welche Form auch immer Texte haben, sie wurden geschrieben. Sie können die Wirklichkeit mehr oder weniger deutlich wiedergeben; der Leser kann den Wahrheitsgehalt ganz unterschiedlich einschätzen, aber eines steht fest: Worte können keine Wirklichkeit erschaffen. Es gibt eine reale Welt und es gibt eine geschriebene.«[29] Das rücke auch so genannte Ego-Dokumente in die Nähe von Literatur, denn Memoiren, Tagebücher und Chroniken haben demnach »mehr mit Fiktionen gemeinsam, als man gewöhnlich denkt oder wünscht. Es wird deutlich, daß Schreiben immer bedeutet eine Auswahl zu treffen; immer wird aus irgendeiner Perspektive berichtet, und es gibt keine Fakten ohne Interpretationen und keine Wahrheit, keine Wirklichkeit, die nicht bearbeitet wäre.«[30][31][32]