image

Theodor Wolff

»Es ist im Grunde eine schöne Zeit«

Vater-Tagebuch 1906 – 1913

Mit ausgewählten Dokumenten

 

Herausgegeben von
Bernd Sösemann

 

 

 

 

 

image

 

 

 

 

image

Theodor Wolff mit seinen drei Kindern auf dem Balkon (undatiert)

Inhalt

Vorwort

Bernd Sösemann
Einführung

Theodor Wolffs Vater-Tagebuch
1906-1913

Ausgewählte Dokumente
1904-1913

Angela Reinthal
»Schreib das auf, Wolff!«
Theodor Wolffs »Tagebuch meines Sohnes«
und einige Bemerkungen zur Tradition des Elterntagebuches

Anhang

Editorische Notiz

Tagebucheintragungen, Briefe und Dokumente
im Überblick

Erläuterungen

Quellen- und Literaturverzeichnis

Vorwort

Über den Chefredakteur, Schriftsteller und Parteigründer Theodor Wolff (1868-1943) ist vielfach geforscht worden. Seine umfangreichen Tagebücher und historischen Schriften sind über die Geschichtswissenschaften hinaus bekannt. Aber die Bemühungen der Biographen, auch die privaten, die familiären Verhältnisse zu erfassen, mussten scheitern, weil sich bislang dazu keine historischen Zeugnisse hatten auffinden lassen. Jetzt hellen Tagebuchnotizen das Dunkel ein wenig auf: Das Leben mit seiner Ehefrau Aenne Wolff und die ersten Jahre ihrer drei Kinder schildert der begeisterte Vater darin liebevoll. »Du bist heute zwei Tage alt«, wendet er sich an seinen Erstgeborenen, »deine Anwesenheit macht sich mehr und mehr bemerkbar und ich fühle das Bedürfnis, mich mit dir zu unterhalten«. Von der Existenz dieses Dokuments ahnte nicht einmal der jüngere Sohn, Rudolf Wolff, etwas, über dessen frühe Kindheit der Vater ebenso berichtet wie über die ersten Lebensjahre seines älteren Bruders Richard und seiner Schwester Lilly. Das Heft befand sich auch nicht unter den nachgelassenen Papieren, die das Bundesarchiv in Koblenz in den 1980er Jahren erhielt. Die 1906 begonnenen, bis 1913 reichenden und erst kürzlich entdeckten diaristischen Aufzeichnungen werden hier erstmals vollständig veröffentlicht. Sie werden um Korrespondenzen der Familie Wolff mit Verwandten und Freunden ergänzt und erweitert durch einige Beiträge Theodor Wolffs und eine reiche Sammlung von Fotografien.

Auf die Spur von Theodor Wolffs »Vater-Tagebuch« brachte mich der freundliche Hinweis von Frau Dr. Angela Reinthal, Universität Freiburg im Breisgau. Im Deutschen Tagebucharchiv Emmendingen war sie bei ihren wissenschaftlichen Studien und editorischen Recherchen auf eine Abschrift der Handschrift gestoßen. Niemand vermochte ihr jedoch zu sagen, wo sich die Vorlage befand und ob das Original überhaupt noch existierte. Frau Reinthal bin ich sehr dankbar, dass sie mich damals umgehend informierte und dabei die Vermutung äußerte, die Autographe könnte im Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, Berlin-Dahlem, aufbewahrt sein. Dort liefen zwar meine Nachforschungen ins Leere, aber die fortgesetzte Suche endete schließlich mit dem Fund des Originals in der Handschriftenabteilung der Staatsbibliothek zu Berlin. Es freut mich sehr, dass sich Frau Reinthals Engagement für diese Veröffentlichung auch in ihrem Essay widerspiegelt.

Der Weg der Niederschriften vom Schreibtisch Theodor Wolffs im Kaiserreich durch die Jahrzehnte von Revolution, Demokratie und Diktatur bis hin zur Bundesrepublik Deutschland liegt weitgehend im Dunkeln. Im Anhang findet sich das karge Ergebnis der langwierigen Bemühungen, wenigstens Teile der Überlieferungsgeschichte zu rekonstruieren. Die Kommentierungsarbeiten führten zu etlichen der Dokumente, Korrespondenzen und Fotografien, die den Tagebuchtext ergänzen und perspektivisch erweitern. Diese persönlichen Zeugnisse gestatten einen vertraulich-tiefgehenden Einblick in das Ehe-, Familien- und Freundesleben. Die Großfamilie tritt in Erscheinung, der Kreis der Freunde und Bekannten wird sichtbar, und auch die wiederholt scheiternden Versuche Theodor Wolffs, in seinem Leben neben der Zeitung und der Familie auch noch die Muße für ein ganz persönliches, an seine Kinder gerichtetes Tagebuch zu finden, werden offenbar.

Aenne schreibt ihrem Theodor mitunter täglich aus den Urlaubsorten in den Niederlanden, an der Ostsee oder aus den Bergen, sodass der an die Redaktion des Berliner Tageblatt gefesselte Chefredakteur seine geringere Brieffrequenz schließlich durch Telegramme ergänzt. Stärker als die zumeist knappen Briefe vermitteln die Tagesnotizen einen Eindruck von Theodor Wolffs schriftstellerischer und redaktioneller Tätigkeit, von dem Umgang des Chefredakteurs mit seinem Verleger und enthüllen, wie schwer es ihm fiel, von Paris nach Berlin umzuziehen und »die lachende Schönheit mit der tristesten Alltäglichkeit, die Luft der Freiheit mit der nüchternen Atmosphäre preussischer Ordnung« zu tauschen. Da Theodor Wolff diese privaten Niederschriften gewohnt elegant formuliert hat, bieten sie auch demjenigen ein sprachlich-stilistisches Lesevergnügen, der sich ihnen jenseits wissenschaftlicher Absichten nähert.

»Denke nicht«, versichert der junge Vater dem Erstgeborenen, »dass ich dir gute Lehren erteilen und dir von deinen Pflichten und aehnlichen Dingen sprechen will – du würdest dieses Buch vermutlich nicht weiter lesen und die schöne Harmonie könnte leiden, wenn einer von uns beiden den Pädagogen spielen wollte.«

Die dreiteilige Einführung dieses Buches bietet zuerst einen Überblick über die wichtigsten Stationen im Leben Theodor Wolffs vor dem Ersten Weltkrieg. Es sind die Jahre im Elternhaus und in der Schule, als Auslandskorrespondent und Chefredakteur des Berliner Tageblatts sowie die Zeit der jungen Familie, wie sie sich in den edierten Dokumenten spiegelt. Im zweiten Abschnitt treten die Personen auf, die im Vater-Tagebuch und in den Briefen erwähnt werden. Im Mittelpunkt stehen die beiden eng miteinander verwandten Familien Wolff und Mosse, ihre Freunde und Bekannten, einige ihrer Geschäftspartner und das Personal. Hinweise auf Eigenheiten, Querelen, Verdienste und Trivia beleben die eher trockenen genealogischen und biographischen Erläuterungen. Der abschließende Teil skizziert den beruflichen und privaten Lebensweg Theodor Wolffs vom Ersten Weltkrieg bis zur erzwungenen Auswanderung und zu seinem Tod im Gewahrsam der Gestapo. In allen drei Durchgängen kommt Theodor Wolff in ausführlichen Zitaten erzählend, berichtend und kommentierend selbst zu Wort.

Frau Dr. Isabelle Mossong, Frau Dr. Angela Reinthal und Frau Barbara Wolff danke ich ebenso für die freundlich gewährte Unterstützung meiner Bemühungen wie den Archiven und Bibliotheken in Berlin, Darmstadt, Düsseldorf, Emmendingen, Hannover, Koblenz und München sowie den Herren Ludwig Müller-Zetzsche, Niels Schaefer, Stephan Schurr und Till Stüber. Frau Ina Lorenz vom Wallstein Verlag hat das Lektorat auf eine so angenehme Weise umsichtig, ideen- und anregungsreich betreut, dass ich auch ihr herzlich danken möchte. Dem Bundesverband Deutscher Zeitungsverleger, Berlin, und insbesondere der Stiftung Presse-Haus NRZ mit ihrem Geschäftsführer Heinrich Meyer, Mitglied des Kuratoriums für den Journalistenpreis der deutschen Tageszeitungen, Theodor-Wolff-Preis, ist die finanzielle Förderung auch dieser Publikation zu Leben und Werk Theodor Wolffs zu verdanken, die an den 150. Geburtstag (2. August) und 75. Todestag (23. September) erinnern soll.

 

Bernd Sösemann, Berlin 2018

25 Jahre nach dem Tod meines Freundes Rudolf Wolff

 

 

 

 

»Damit du beim Lesen dieser Zeilen
nicht auf irrige Gedanken kommst«

 

(Theodor Wolff im Vater-Tagebuch, 16. Juni 1906)

BERND SÖSEMANN
Einführung

Theodor Wolffs Welt war die der Sprache, des geschliffenen Wortes. Seine »zweite Heimat« war die Redaktion des Berliner Tageblatts mit Stehpult und Telefon, sein bevorzugtes Handwerkszeug der Bleistift und die Zigarette im Mundwinkel sein Accessoire. Aus allen Lebensabschnitten sind Texte erhalten. Anfangs schrieb er für die Schülerzeitung seines Gymnasiums und später – ohne das Abitur erreicht zu haben – Literaturkritiken und Reiseberichte für das Feuilleton im Berliner Tageblatt des Verlegers Rudolf Mosse. Der Schriftsteller und Literaturkritiker Leonhard Adelt urteilte im Berliner Literarischen Echo:

Diese Feuilletons schrieb ein Kosmopolit, der seine Spaziergänge von Göteborg bis Tunis, von London bis Konstantinopel auszudehnen gewohnt ist; schrieb ein Publizist, der auf den Botschafterposten seiner Zeitung die großen und die kleinen Schicksale der Nationen miterlebt hat, ohne darüber die Objektivität des Zuschauers einzubüßen: ein Politiker, der sich für kargbemessene Wochen den Staatsaktionen der Tagesgeschichte in der Verkleidung des harmlosen Ferienreisenden entzieht (Bd. 13, 1910 /11, Sp. 794).

»Mosses junger Mann« machte von 1894 bis 1906 Furore mit brillanten Korrespondentenberichten aus Paris über Politik, Gesellschaft, Literatur, Oper und besonders häufig über Theateraufführungen. Die Berliner Redaktion richtete alsbald eine ständige Rubrik »Notizen über Pariser Theater« ein, in der man Selbstbewusstes und Originelles lesen konnte:

Die Art der Réjane zu erklären, ist nicht ganz leicht. Diese Frau ist eine von jenen seltenen Künstlerinnen, die an jedem Nerv und an jedem Glied Künstlerin sind. Man hat oft darüber debattiert, ob die Kopfschauspieler über die Temperamentsschauspieler zu stellen seien, oder umgekehrt. Künstlerinnen wie die Réjane zeigen, wie die Frage einzig zu lösen ist, sie zeigen die Höhe der Kunst: Der ganze Körper, der ganze Geist, das ganze Wesen ist Eins, nur Eins, und das alles gehorcht einem Willen oder Instinkt. Ich möchte den Künstler sehen, der herausbekäme, ob die Réjane eine Kopf- oder Temperamentsschauspielerin ist! Es scheint alles an ihr unendlich ausdrucksvoll, aber besonders die Hände. Die Réjane hat die beredtesten Hände, die ich mein Lebtag gesehen. Diese Hände leben fortwährend, und sie drücken nacheinander die ganze Skala der Empfindungen aus (BT, 16. 2. 1895).

Die nicht minder engagierte Berichterstattung über die skandalösen Dreyfus-Prozesse und Emile Zolas Verdammung von Antisemitismus und Rechtsbeugung (»J’accuse!«) steigerten das Interesse an den Morgen-, Mittags-, Abend- und Reichsausgaben des Berliner Tageblatts. Unter dem Kürzel »T. W.« fesselte er seine Leser mit einer scharfsinnigen Kritik der Urteilsfindung und mit der Erzählung über die von ihm miterlebte erschütternde Degradierung des Hauptmanns Dreyfus. Er zweifelte die offizielle Darstellung an: Alles deute auf die Unschuld des Offiziers hin, das Kriegsgerichtsverfahren sei formal und inhaltlich höchst bedenklich verlaufen, und die Regierung habe sich umgehend zu bemühen, die Zweifel am Urteil zu beseitigen, und gegen die antisemitischen Rufe »Tod den Juden. Plündert die Juden!« vorzugehen (BT, 21. 2. 1898).

Die nationalen Blätter in Deutschland und der größere Teil der französischen und britischen Presse teilten Theodor Wolffs Ansichten nicht und warfen ihm eine unbedachte Einmischung in die französische Innen- und Justizpolitik vor. Dreyfus werde zum »verhätschelten Sorgenkind« der Liberalen stilisiert und mit ihm die republikanische Regierungsform verherrlicht. Diese Vorwürfe begleiteten zumeist antisemitische Töne. Wenige Zeitungen urteilten ähnlich wie Theodor Wolff. Zu ihnen zählten die Wiener Neue Freie Presse, die der Begründer der zionistischen Bewegung Theodor Herzl in Frankreich vertrat, die Vossische Zeitung mit ihrem Pariser Vertreter Max Nordau und die Frankfurter Zeitung mit ihrem Pariser Korrespondenten Paul Goldmann. Außerdem ergriffen die Berliner Morgen-Zeitung, die Berliner Volks-Zeitung und der sozialdemokratische Vorwärts für Dreyfus Partei. Doch sogar Herzls Redaktion zügelte ihn wiederholt, weil sie das Thema Antisemitismus differenzierter behandelt zu sehen wünschte. Empört über ein allgemein vermutetes Abwiegeln vermerkte Herzl in seinem Tagebuch über Theodor Wolff:

Gestern mit dem kleinen Wolff diniert. […] Er findet den Antisemitismus (in Deutschland) nicht so arg. Der vornehme Preuße sei überhaupt kein Antisemit, der fühle sich bürgerlichen Christen wie Juden gleichsam überlegen (Zionistisches Tagebuch, 5. 7. 1895).

Theodor Wolff ging es in der Dreyfus-Zola-Berichterstattung um vier Hauptziele. Die Verteidigung liberaler und demokratischer Grundsätze gegen religiösen Fanatismus und die Förderung der Einsicht, wie absurd die Übertragung militärischer Denk- und Verhaltenskategorien auf das zivile Leben sei. Er betonte weiterhin, dass sich Staat und Gesellschaft eine sozial- und wirtschaftspolitische Reformfähigkeit dauerhaft erhalten müssten, um der Arroganz der politischen Macht etwas entgegensetzen zu können, und wie notwendig eine unermüdliche Aufklärung über die »terroristische Macht der Skandalpresse« sei. Diese publizistische Fehlentwicklung attackierte er scharf (Sösemann, Wolff, S. 67):

Sie [die Skandalpresse] ist hervorgegangen aus dieser Diskreditirung und diesem Sündenfall der opportunistischen Bourgeoisie. Von jeher hat Frankreich diese Erpresser- und Verleumderblätter gekannt – sie denunzirten unter Marats Leitung die ›Feinde des Vaterlandes‹, sie wühlten unter dem Julikönigthum allen Schmutz der Gossen auf, sie waren, wie ein republikanischer Geschichtsschreiber sagt, unter der zweiten Republik »von wahren Kannibalen redigirt«. Aber sie waren nie zahlreicher und nie mächtiger als heute. Was ihnen ihre Macht gab, war eben, daß ihr Treiben einen Augenblick lang berechtigt schien. Alles, was die Kloaken von Paris an Raubgesindel ausspeien, und was die Waffen der Bedrohung und Erpressung für bequemer und einträglicher hält als ein Dolchmesser oder einen Dietrich, wirft sich auf diesen Journalismus. Ein journalistisches Zuhälterthum rast johlend, berauscht durch den Schrecken, den es verbreitet, über den öffentlichen Markt. Und während die Bedrohten zittern, reibt sich das große Publikum schadenfroh die Hände und sagt: »Es geschieht ihnen ganz recht!«

Der Mosse Verlag zahlte Theodor Wolff ein festes Gehalt von vermutlich mehr als 7000 Reichsmark. Außerdem hatte er von seinem Vater rund 100.000 Reichsmark geerbt, sodass er sich eine eigene Wohnung im achten Arrondissement, am Boulevard Haussmann Nr. 46, gegenüber dem damals schon ungewöhnlich großen Kaufhaus »Printemps«, leisten konnte. Sie lag in der oberen, lichtdurchfluteten Etage und verfügte über einen so großen Salon, dass er seine Geschäftspartner wie die Verleger Albert Ahn und Albert Langen dorthin einlud. Unter seinen Gästen waren u. a. die Schriftsteller Frank Wedekind, Knut Hamsun, Anatole France, Alfred Capus, Georges Porto-Riche, Paul Bourget, Ernest Lavisse und George Clemenceau. Hier und auch nach seinem Umzug in das Haus Nr. 53 pflegte er Freundschaften mit Malern, Graphikern und Karikaturisten wie Auguste Renoir, Camille Pissarro, Eugène Carrière, Charles Léandre, Frits Thaulow oder mit Théophile Alexandre Steinlen. Zu seinen Soirées kamen Bildhauer wie Rupert Carabin oder Auguste Rodin. Hier feierte er und stritt sich mit den journalistischen Kollegen Paul Goldmann, Gustave Rouanet oder André Tardieu, dem späteren Ministerpräsidenten. Schauspielerinnen wie Sarah Bernhardt, Yvette Guilbert oder Gabrielle Réjane verkehrten in seiner Wohnung. Von Picasso und Léandre erhielt er Bilder, von Rodin Widmungen auf Photographien (»Éternel Idole«). George Bernhard Shaw, Emile Zola oder Anatol France eigneten ihm Roman- und Gedichtausgaben zu.

In Paris nahm er mit großem Interesse die Gründung der Gesellschaft »Théâtre Libre« wahr. Sie veranstaltete unter der Leitung von André Antoine in privat gemieteten Räumen Aufführungen, die unter dem Verdikt der Zensur standen. Beeindruckt von dem Mut, den Inszenierungen und ihrer öffentlichen Wirkung, übertrug Theodor Wolff zusammen mit Otto Brahm, Samuel Fischer, Maximilian Harden, Julius Hart, Paul Lindau und Paul Schlenther – so der prominente Kreis der Gründer der »Freien Bühne« – die Idee, Konzeption und Organisationsstruktur auf Berlin. Zu den großen Erfolgen des Vereins zählte die private Erstaufführung von Gerhart Hauptmanns Drama Vor Sonnenaufgang. Die Inszenierung und der »stärkste deutsche Dramatiker seit der klassischen Periode«, notierte Theodor Wolff, hätten einen von »demonstrativen Beifallsstürmen und Protestgeschrei« begleiteten Tumult hervorgerufen, als die Wöchnerin auf der Bühne in den Wehen lag (Bröhan, Wolff, S. 160).

Einige der Romane und Essay-Sammlungen von Theodor Wolff fanden so viele Leser, dass die Verlage sich zu zweiten Auflagen oder Neudrucken entschlossen. Ihm glückten auch einige Theaterstücke, die in Kopenhagen, Berlin und Wien aufgeführt wurden, andere scheiterten oder blieben gänzlich unveröffentlicht. Die Verlagsbuchhandlung G. Grothe in Berlin ging nicht auf seinen Vorschlag ein, die drei Romane Der Heide, Die Sünder und der Untergang neu aufzulegen, da sie »doch sehr Kinder ihrer Zeit« seien (Sammlung Wolff, 4. 7. 1900). Anlässlich der Aufführung seines Dramas Die Königin korrespondierte das Ehepaar Wolff über Inszenierungs- und Besetzungsschwierigkeiten. Nicht selten hatte Theodor Wolff gleichzeitig einen erhebenden wie dann auch niederschmetternden Bewertungs-Spagat der Literatur- und Theaterkritiker erleiden müssen.

Das ist das Stück Theodor Wolffs, das uns durch seine kraftvoll entwickelte Szenenreihe wie durch seine schöne, gedankenvolle und bilderreiche Diktion in gleichem Maße fesselt. Die Begebenheit, in der uns das Schicksal der Königin entwickelt wird, mag frei erfunden sein, doch der Charakter in seiner unheilvollen Färbung ist packend und überzeugend geschildert

lobte Hugo Klein im »Hausblatt« BT, Friedrich Schütz in der Wiener Neuen Freien Presse:

Es ist ein eigenartiges, kühnes Werk, kühn in der Art, seine Charakteristik ohne ernstere historische Prüfung nur aus der pamphletartigen Tagesliteratur des vorigen Jahrhunderts zu holen, kühn in dem Wechsel seiner Stimmungen und dem Versuche, die Ereignisse von Jahrzehnten in drei Schauspielakten zusammenzudrängen, kühn endlich in den Wendungen des mit starkem Talent geführten Dialogs.

Und der Kritiker des Pester Lloyd vermerkt: »Es ist das Werk eines Talents, das uns gewiß noch beschäftigen wird«. Die Berliner Konkurrenz, die Vossische Zeitung, gestand ein: »Ein eigenartiges, durch einen knappen, fein ausgearbeiteten, geistreichen Dialog, sowie durch eine nicht gewöhnliche Charakterisirungkunst ausgezeichnetes Werk« (alle am 18. bzw. 19. 4. 1899).

In Wien kam es bei der Erstaufführung am 16. April 1899 zu einem Skandal. Die Inszenierung, eine »Märchenmaskerade«, habe das Stück »ziemlich entstellt«. Theaterbesucher, die sich durch das Stück »in ihrer Habsburgischen Pietät gekränkt« sahen, hätten ihn, als er sich wie »ein rettender Lotse im Sturm« auf die Bühne gewagt habe, ausgepfiffen. Zu einem gnadenlosen Verriss setzte überdies Karl Kraus in der Fackel an:

Das Publicum des ›Deutschen Volkstheaters‹ hat sich kürzlich nicht mit Unrecht gegen die Zumuthungen des Herrn Theodor Wolff zu Wehr gesetzt. Gedankenärmeres als das Märchenspiel »Die Königin« ist selbst an dieser Stätte bisher nicht geboten worden. Der Pariser Correspondent des »Berliner Tageblatts« breitet seine Geschichtsauffassung umständlich vor uns aus und entwickelt an der französischen Vorrevolutionszeit, die er zu schildern unternimmt, eine Romantik, die dem Gefühlskreise des Berliner Banquierviertels entsprossen scheint (1, 1899 /1900, Nr. 3, S. 27-28).

Theodor Wolff übersetzte in jenen Jahren Komödien des Boulevards aus dem Französischen, konzipierte ein Drehbuch, schrieb Gedichte, verfasste Romane und Erzählungen. Er schätzte die zwölf Jahre in der »Ville lumière« als »die schönsten unter allen, auf die ich zurückblicken kann«. Das Frankreich vor dem Großen Krieg bot ihm offensichtlich politisch, gesellschaftlich, kulturell und intellektuell ungleich mehr an Lebensqualität als das Deutsche Reich, Skandinavien und die von ihm bereisten Länder rings ums Mittelmeer. Den Berlinern zeichnete er ein kritisches Bild ihrer Stadt im Vergleich zu der französischen Metropole, ohne dabei die liebenswürdigen Züge zu übersehen, die der Stadt an der Spree auf dem Weg zur Reichshauptstadt nicht fehlten.

Der männliche Berliner ist hoch zu Rad geblieben, wie er war, als er noch beschaulich zu Fuße ging. Er giebt nichts auf den äußeren Glanz. Von dem eleganten Chic des Pariser Radlers weiß er nichts, und er will auch nichts davon wissen. Er thut dergleichen lächelnd mit dem Worte »Gigerl« ab. Er behält seine Alltagshose an, wenn er auf das Rad steigt. Und es ist noch der beste Fall, wenn er seine Hose anbehält […] Denn auf den Sportplätzen, die jetzt in Berlin und rund um Berlin so zahlreich sich aufgethan haben, scheint es Mode zu werden, daß man ohne Hosen fährt, oder doch mit Hosen, die kaum diesen Namen verdienen und das muskulöse Bein sehen lassen – nackt wie die Potsdamer Straße, der man ihren grünen Jungfernkranz abgenommen hat (BT, 1. 11. 1897).

In der Pariser Zeit entschied sich Theodor Wolff schließlich für den Journalismus und gegen eine Zukunft als Literat und Dramatiker. Das geschah trotz des großen Lobes für seinen Essay zu Niels Lyhne vom alten Theodor Fontane, mit dem er über Romantik, Realismus und Naturalismus in der Literatur korrespondiert hatte. Der Verzicht auf weitere »jugendliche Ikarusflüge« und die daraus auch resultierende Abkehr vom Theater fiel Theodor Wolff besonders schwer. Hatte doch Gerhart Hauptmann über das Theaterstück Niemand weiß es so enthusiastisch geurteilt, dass der Gefeierte die Worte empfing wie einen Siegespreis im antiken Theater:

»Ihr schönes Kunstwerk ist mir zum Wertbesitz geworden. Es ist voller Innigkeit, Glanz, Traum und Inbrunst – fein und reich. – Es ist seit langem keine so seltene Blume aus deutschem Boden gewachsen. Wirklich, das geschaffen zu haben, muß Ihnen ein Glück sein und bleiben, wie es mir ein Glück und Stolz sein sollte, wenn ich sagen könnte: dies Stück ist mir gelungen« (Bröhan, Wolff, S. 208).

Den jungen Dramatiker erfreuten selbstverständlich die Inszenierungen von Max Reinhardt in den Berliner »Kammerspielen«, in denen Die Königin mit Tilla Durieux in einer längeren Reihe von Abenden gegeben wurde, und es verlockten ihn die Voraussagen einiger Kritiker über eine erfolgreiche Zukunft. Aber er sah ein, dass er wohl »keinen Anspruch auf eine schmale Zeile in der Theatergeschichte haben« würde.

Theodor Wolff haben die Erfahrungen mit den Stärken des Parlamentarismus und den Parteien, aber auch mit den Schwächen und Gefährdungen des französischen politischen Systems nachhaltig geprägt. Denn trotz seiner gegenteiligen Bewertungen während der Dreyfus-Ära hielt er die Franzosen für ein Volk, das »von unten herauf« demokratisch sei und, wenn auch im zeitweiligen Gegensatz zu seinen Regierungen, über einen tief verwurzelten Sinn für Liberté und besonders für Egalité verfüge.

Das politische Leben in Frankreich hat sich bis zum Ausbruch des Weltkrieges weit mehr auf der öffentlichen Bühne abgespielt als das Leben der Deutschen, und während sich bei uns die Dinge auf glattem, gut eingezäuntem Rasen verhältnismäßig einfach abwickelten, gab es in den ersten vierzig Jahren der französischen Republik jene dramatischen Höhepunkte, auf denen sich das Gute und das Schlechte entladen und jeder erst wirklich seine Seele zeigt. […] Gerade weil diese beiden Völker, Franzosen und Deutsche, so wenig einander gleichen, ergänzen sie sich, können sie viel voneinander lernen. Mögen die Diplomaten ihnen Zeit gönnen, sich auszusprechen. Wenn es schön sein mag, Geschichte zu machen – Kulturgeschichte zu machen ist schöner (Wolff, Beziehungen, S. 148).

1905 offerierte Rudolf Mosse seinem Frankreich-Korrespondenten die Übernahme der Leitung des Berliner Tageblatts im folgenden Jahr. Das Angebot war großartig, lebensentscheidend und karrierefördernd. Wie schwer es ihm dennoch fiel, dem Ruf an die Spitze einer bedeutenden Zeitung zu folgen, mit seiner kleinen Familie Paris und das Land zu verlassen, »in dem wir so unendlich glücklich waren, in dem wir die schönsten Jahre unseres Lebens verbracht, in dem wir die Sonne, die Freiheit und die Heiterkeit des Daseins gefunden« hatten, wird erst jetzt bekannt (Vater-Tagebuch, 15. 10. 1906). Erstmals ist darüber etwas in persönlichen Aufzeichnungen von Theodor Wolff zu erfahren, die er nach der Geburt seines ältesten Sohnes Richard niedergeschrieben hat. Das Diarium trägt den Titel »Meines Sohnes Tagebuch«. In das erste Jahr dieses Vater-Tagebuchs fällt also der Abschiedsschmerz des Ehepaares. Hatten doch so zahlreiche und intensive Freundschaften mit Künstlern und Literaten ihr Leben an der Seine bestimmt, dass die Entscheidung, die großartige Offerte anzunehmen, erst nach Tagen fiel.

Nach einer erstaunlich kurzen Eingewöhnungszeit beeindruckte der mit 38 Jahren jüngste Chefredakteur »tout Berlin« mit seinen essayartigen politischen Leitartikeln, die zwei Drittel der Titelseite und eine weitere Spalte der Seite zwei einnehmen konnten. Zunehmend wuchs seine Bekanntheit auch überregional. Rudolf Mosse ließ in seinen Werbeanzeigen und auf Plakaten stolz die Zahl von 105.000 Abonnenten verkünden, die sechs Beilagen und die ebenfalls in dichter Folge erscheinende Juristische, Literarische und Familien-Rundschau nennen, das Sportblatt, die Reise-, Bäder- und Touristen-Zeitung sowie die Parlamentsausgabe. Das Berliner Tageblatt fand weitere neue Leser im Deutschen Reich und im Ausland, wurde zu einer einflussreichen publizistischen Stimme weltweit. Den Wilhelminismus attackierte Theodor Wolff wegen seines Militarismus, Kaiser Wilhelm II. wegen seiner oftmals unverantwortlichen Reden in der Öffentlichkeit und Preußen nicht zuletzt wegen des Dreiklassenwahlrechts und der Arroganz der Junker. Er überreichte Kaiser Wilhelm II. nie die viel zitierten Rosen »aus den Gärten von Byzanz«. Diese Blumen erhielt der Monarch in vollen Bouquets von seinen Paladinen, glückstrahlenden Trägern des Roten Adlerordens Vierter Klasse und von »schweifwedelnden Spalierenthusiasten« (BT, 9. 1. 1918). Zu dieser Gruppe gehörten aber auch Professoren wie Adolph Harnack, Mitglied der Preußischen Akademie der Wissenschaften und Präsident der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften. Hinter den Fehlern der Reichskanzler und der Staatssekretäre sah Theodor Wolff ebenso wie hinter den rhetorischen Fehlleistungen des Kaisers vorrangig nicht individuelles Unvermögen oder persönliche Hybris, sondern vielmehr die Konsequenzen aus der strukturellen Rückständigkeit des deutschen Verfassungs- und Regierungssystems. Er warb für die Ausweitung der politischen Rechte der Bürger, für eine konsequente Parlamentarisierung und eine maßvoll voranzutreibende Demokratisierung. Seine Plädoyers für eine Verständigungspolitik des Reiches mit seinen Nachbarn, insbesondere in den sich verstärkenden krisenreichen Entwicklungen mit Frankreich und Großbritannien, formulierte er entschiedener, als sich Österreich auf dem Balkan in unverantwortlicher Weise in Konflikte verstrickte. Deshalb fiel sein Urteil über die Entente cordiale schonungslos negativ aus für den verantwortlichen Staatsmann in Deutschland, für Bernhard Fürst von Bülow, dessen schönfärberische Reichstagsreden er bloßstellte. Als aber nach dem Zusammenbruch des Wilhelminismus im November 1918 und der Flucht des Kaisers die Kritik am Monarchen wohlfeil war und sie in erster Linie oder sogar ausschließlich Wilhelm II. traf, bemühte sich Theodor Wolff auch in den revolutionären Wirren um ein gerechtes Urteil.

Es wäre eine gewaltsame Ungerechtigkeit, zu behaupten, er habe alle Fehler selbst begangen, uns allein so weit gebracht. […] Die Reden, die vielen Reden, kamen hinzu. Wilhelm II. war kein »Alldeutscher«, er ist von den Alldeutschen lange als ein friedliebender Schwächling angesehen worden, und er hat doch das alldeutsche Vokabularium abwechselnd bereichert und ausgeschöpft. […] Er war nie der »Attila«, dessen blutgieriges, grausames Bild die Ententepresse so rastlos malt. […] Wilhelm II. war nicht der alleinige Urheber, aber der Repräsentant einer aberwitzig kurzsichtigen, die Kräfte und Ideen des Auslandes falsch einschätzenden Politik, und er war das Symbol einer Zeit und eines Geistes, der, in Machtbegehren und Selbstüberhebung, die Katastrophe herbeigeführt hat. Er mußte abdanken, auch wenn die Aufstandsbewegung im ganzen Lande nicht so brausend und unbezwingbar angeschwollen wäre, wie es niemand erwartet hat. Nur diejenigen sollten ihn heute nicht anklagen, die Hurra gerufen haben, als er ihnen »herrliche Zeiten« und, im August 1914, die glanzvollsten Siege versprach (BT, 9. 9. 1918).

Der ihm wohlgesinnte und finanziell gesicherte Verleger Rudolf Mosse garantierte ihm jederzeit und sogar im Ersten Weltkrieg gegenüber der immer wieder Erscheinungs- und Schreibverbote rigoros verhängenden Militärzensur die unabdingbare finanzielle, verlagsinterne Unabhängigkeit (Sösemann, Wolff, S. 122 f.). Als Rudolf Mosse starb, veröffentlichte Theodor Wolff am 13. September 1920 einen Nachruf und eine Selbstverpflichtung:

Die Kraft seiner Persönlichkeit und seines Willens und die ruhige Einfachheit seines Pflichtbewußtseins traten nie schöner hervor als in solchen schwierigen Stunden, wo abwechselnd der Militarismus und der aufgehetzte Nationalismus sich drohend gebärdeten und der Spartacismus wild und gewalttätig das in langen Mühen Aufgebaute an sich riß. […] Die Fackel des Lebens, die stetig eine Generation der anderen reicht, ist nun auch seiner Hand entfallen. Wir wollen sie tragen, bis auch für uns die Ablösungsstunde kommen wird, und wir wollen dafür sorgen, daß jene andere Fackel, jene Fackel der Aufklärung und des Geisteskampfes, die er geschaffen hat, immer ein helles und reines Licht auf den Weg der Menschheit wirft (Wolff, Journalist, S. 157 f.).

*

Dem Nachlass von Theodor Wolff ist zu entnehmen, was der unermüdliche Schreiber plante und konzipierte. Dort finden sich neben privaten und beruflichen Schriftstücken, zeitgenössischen Dokumenten und Fotografien auch zahlreiche Tagebuchaufzeichnungen. Sie sind vollständig überliefert zum Ersten Weltkrieg und zu den Anfängen der Weimarer Republik oder in kleinen Fragmenten aus weiteren Jahren. Es ließ sich jedoch keiner Nachlassnotiz, keinem der in der Familie zirkulierenden Briefe entnehmen, dass Theodor Wolff anlässlich der Geburt seiner Kinder jemals ein Tagebuch verfasst hat. In keinem der übrigen Tagebücher, sondern ausschließlich in diesen Notizen und in den aus den Urlaubsmonaten überlieferten Briefen erlebt der Leser ihn als Vater und Ehemann. Dieses sehr persönliche, um nicht zu schreiben intime Diarium und auch die zeitlich parallel entstandenen Briefe aus dem hier edierten Jahrzehnt vor dem Ersten Weltkrieg sind voller Details, Namen und Anspielungen, die dem ereignisfernen und familienunkundigen Leser nicht geläufig sein können. Besonders unübersichtlich sind die engen Beziehungen zwischen der Familie von Theodor Wolff und der seines Cousins, des Verlegers Rudolf Mosse. Eine erste Orientierung soll in drei Stufen erfolgen: mit einer Selbstdarstellung aus der Feder von Theodor Wolff, einem genealogischen Überblick und mit einer Skizzierung der wichtigeren Stationen seines Lebens nach 1913 /14.

Mein Vater [Adolph Wolff (1819-1893)] war als junger Mann aus Schlesien gekommen, aus der Gegend von Grünberg [schlesisch; heute Zielona Góra], wo der sauerste Wein wächst, und wo mein Großvater, der solche wenig respektierten Weinberge besaß, eine offenbar einträgliche Schnapsfabrikation betrieb. Die Firma, die mein Vater in Berlin [nach 1870] gründete, verkaufte »en gros« die geblümten Kattune, die damals bei den Berlinerinnen sehr beliebt waren, offenbar ein Nachklang der Mode aus der sogenannten Biedermeierzeit. Er war mittelgroß, schlank, hatte volles kastanienbraunes Haar und einen kleinen Backenbart, wie unter Wilhelm I. die meisten Bürger – die österreichischen Franz-Joseph-Backenbärte waren länger – und er trug immer schwarze Anzüge, einen sorgfältig gebügelten Zylinderhut und duldete, bis zu seiner Krankheit, sehr penibel und korrekt auch in seinem Äußeren, kein Stäubchen auf seinem Rock. Noch weniger gab es auf seiner Rechtschaffenheit auch nur den kleinsten Staubfleck, alles mußte bis auf den letzten Pfennig stimmen, seine schöne, klare und kräftige Handschrift war der graphische Ausdruck dieser kaufmännischen Solidität. So lange seine Gesundheit es ihm erlaubte, pflegte er am Nachmittag eine Stunde in seinem Club zu verbringen, aber er war nur ein Zuschauer am Spieltisch, er selber rührte keine Karte an. Sein religiöses Empfinden hielt sich nicht an rituelle Vorschriften, aber an den höchsten Feiertagen nahm er in der Synagoge seinen gemieteten Sitz ein und er fastete am Versöhnungstag. […] Wenn ich von meinem Vater ein Pflichtgefühl geerbt habe, das freilich erst nach den Schuljahren erwachte, so ist sehr wahrscheinlich von meiner Mutter [Recha, 1839-1922] mancherlei anderes auf mich übergegangen. Sie war die Tochter eines hervorragenden Arztes [Dr. Davidsohn] in Danzig, der als wissenschaftliche Kapazität und als Mensch von außerordentlicher Verehrung und Liebe umgeben war. Ich habe ihn nicht mehr gekannt, aber in seinem »Stammbuch« – damals schrieben sich in solche Stammbücher die Herzen poetisch oder in Prosa ein – sah ich, daß viele große Mediziner und zahlreiche demokratische und liberale Politiker der Generation von 1848 ihn als Freund und Gesinnungsgenossen grüßten, unter anderen der tapfere Ostpreuße Johann Jacoby, der an Friedrich Wilhelm IV. die berühmten sträflichen Worte gerichtet hatte: »Es ist das Unglück der Könige, daß sie die Wahrheit nicht hören wollen« (Bröhan, Wolff, S. 114-116).

Über die Jugend seiner Mutter, ihre Liebe zur Lyrik und das Leben in Danzig erzählt Theodor Wolff noch einiges, nicht aber, dass er sie einmal hat überreden können, ihm zur Veröffentlichung in seiner Schulzeitschrift Erste Waffengänge ein gefühlvolles Gedicht zu überlassen.

Wenn man von seiner Mutter sagt, daß sie eine wundervolle Frau war, so ist das nur eine abgedroschene Gebetsformel an Gräbern, denn ist nicht im Gedächtnis ihrer Kinder fast jede Mutter die beste und jede wundervoll? Hohle Schaupuppen, Amüsierweiber, die keine Häuslichkeit kennen, natürlich ausgenommen. Ich rühme unsere Mutter nicht mit den Worten aus dem Lexikon der Liebe, das arm und durch den Gebrauch schäbig geworden ist. Es gibt Schätze, die man entwertet findet, wenn man sie zeigt. Alles läßt mich annehmen, daß meine Mutter als Mädchen in Danzig mit jungen Menschen verkehrte, die wie sie selbst ein reges Interesse für Poesie hatten, und genau weiß ich, daß sie mit dem Dichter Johannes Trojan befreundet war, der in Deutschland sehr populär wurde und die Frauen und den Wein besang. […] Sie war durchaus keine »geistreiche« Frau, sie paradierte nicht in der Konversation, sie hatte für die Beurteilung der Dinge und Menschen nur die Wärme ihres Herzens und den geraden, helläugigen Verstand. Ihre Ehe, niemals durch ernste Uneinigkeit getrübt, war nicht unter den Blütenzweigen der Jugendromantik geschlossen, eine feine, nur für sie vernehmbare Melodie stellte sich manchmal ein, durch ihre Seele zog ein erinnernder Ton, der aus den Jugendträumen herüberklang und, von der gesunden Natürlichkeit ihres Wesens bezwungen, wieder verklang (ebd., S. 116 f.).

In seinen Erinnerungen erwähnt Theodor Wolff den Namen seines Großvaters, Adolph Wolff (1819-1893), nicht aber den seiner Großmutter. Das Ehepaar hatte einen Sohn, der den väterlichen Vornamen Adolph erhielt; er starb um 1903. Die jüngere Tochter Ulrike (1813-1888) heiratete Markus Mosse (1808-65); die vier Jahre ältere Schwester Jeanette starb 1880. An seine Eltern und drei Geschwister erinnert sich Theodor Wolff im französischen Exil ungleich besser: »Wir dagegen waren nur vier Geschwister […]. Meine eine Schwester wohnt jetzt mit ihrer Tochter, von dem deutschen Bombenhagel beängstigt, in London, die andere in einer deutschen Stadt, unter den Bombenwürfen der englischen Flieger, mein Bruder, der fröhliche Zeichner, ist in Paris gerade vor dem Einzug der Sieger aus dem bedrohlichen Leben geschieden […]« (Bröhan, Wolff, S. 115).

Das älteste der vier Kinder von Adolph (1819-1893) und Recha Wolff (1839-1922) war Käthe (1866-1941), verheiratete Hirschfeld. Früh verwitwet musste sie 1933 nach London emigrieren. Jünger als ihr Bruder Theodor Wolff waren Martha (1871-1942), unverheiratet – sie wurde im Konzentrationslager Theresienstadt ermordet. Der Jüngste war Fritz, 1876 geboren, verheiratet mit Elsa [Nachname unbekannt]. Er war Maler und auch als Karikaturist für etliche Berliner Blätter tätig und nahm am Ersten Weltkrieg teil. Im Frühsommer 1933 musste auch er emigrieren. Er ging nach Frankreich, das er in der zweiten Hälfte 1920er Jahre kennen- und schätzengelernt hatte. Wenige Wochen später schrieb er Theodor Wolff, wie sehr er sich darüber freue, dass sein Rudolf soeben in Paris eingetroffen, ihn und seine Frau Elsa dabei unterstütze, die Finanzen zu ordnen, und dass nunmehr die Immigration »beängstigende Dimensionen« anzunehmen drohe (Sammlung Wolff, 10. 10. 1933). Als sich Theodor Wolff im Herbst 1936 um ein Visum für die USA bemühte und seinen Bruder, den er trotz seiner längst ergrauten Haare wie einen ewigen Schuljungen behandelte, zur Überfahrt in die Neue Welt ermunterte, erklärte ihm dieser: »Ich bin für Ruhe! Mein Bedarf an Völkerwanderung ist gedeckt« (ebd., 8. 12. 1936). Er starb 1940 in Paris nach einer Operation.

Man trauert um den Bruder, aber darf man den Tod verwünschen, der ihm in der zur Übergabe bestimmten Stadt, in diesem von ihm so sehr geliebten Paris, eine Fülle von Not und Unglück ersparte und ihn mit tragischem Griff gerade noch fortriss, bevor die letzte Illusion entschwand? (ebd., S. 68).

Theodor Wolff wurde am Dönhoffplatz in Berlin geboren. Dieser Platz lag in der Nähe des »Hôtel de Russie« und des Konzerthauses Bilse, in das stolze Mütter ihre Töchter und Söhne heiratsfähigen Alters führten, wie Theodor Wolff erzählt, um bei Musik, Kaffee und Kuchen »die zur Verlobung reifen Herzen einander näher zu bringen«. Wenig später konnte sich der Vater den Kauf eines Eigentums in der Potsdamer Straße leisten. Mit den beiden älteren Kindern, der vierjährigen Käthe und dem zweijährigen Theodor, zogen die Eltern also zum Matthäikirchplatz und damit in eines der prächtigen Eckgebäude an der Einmündung zur Margaretenstraße, unfern der Potsdamer Brücke. Von dort, von den hellen Lichtern, ging der Blick in der Dämmerung am Kanal entlang bis zum Zoologischen Garten. Zum damals geruhsamen Bild dieses Stadtviertels der Potsdamerstraße gehörten während der Schulzeit von Theodor Wolff nicht die rasselnden Wagen der Tram, sondern die verhalten trabenden Pferdebahnen, mondäne Läden, Restaurants und Cafégärten. Die amüsiert- ironischen Rückblicke auf diese Jahre und die Erinnerungen an das Königliche Wilhelms-Gymnasium zu Berlin sind von der Klarheit, die keinen Zweifel daran lässt, mit welch geringer Freude Theodor Wolff die Zeit in der »Anstalt« verbüßt hat und warum sein schulischer Eifer vor dem Abitur erkaltete. »Meinem Vater, der ihn [den Direktor] aufsuchte, als ich eine besonders schlechte Zensur nach Hause gebracht hatte, riet er, mich in eine Handelsschule zu schicken, worin sich ebenso die Würde des klassischen Philologen äußerte, wie ein nicht überhörbares antisemitisches Nebengeräusch« (ebd., S. 119). Es soll hier nicht der verbreiteten Neigung nachgegeben werden, aus frühen Lebensdokumenten herausragender Persönlichkeiten Folgerungen auf die Substanz ihres Talents herzuleiten. Es überrascht aber doch, unter den Fachnoten nicht ein einziges klares »gut« zu finden.

Censur für den Schüler der Klasse Theodor Wolff für das 2te Vierteljahr des

Winter-Semesters 1883 /4. […] Platz der Rangordnung 20 unter 49. – Sittliches Betragen: gut / Aufmerksamkeit, Fleiß: meist bewiesen / Leistungen – Religion: –, Deutsch: mittelmäßig [= 4], z. T. besser / Lateinisch: noch genügend [= 3] / Dichter: gut, im Lernen für Verse genügend / Griechisch: genügend, oft gut / Französisch: notdürftig genügend / Geschichte, Geographie: noch genügend / Mathematik: notdürftig genügend, aber nicht immer den Kräften entsprechend / Naturkunde: genügend / Turnen genügend. – Er ist im Klassenbuche 2mal getadelt, mit 1 St. Arrest bestraft. Beschaffenheit der Hefte und Bücher: meist befriedigend – Er ist versetzt“ (Sammlung Wolff).

Wenn bereits zeitgenössische Leser und nicht erst die Chefredakteurs-Jury des bis heute jährlich verliehenen »Theodor-Wolff-Preis. Journalistenpreis der deutschen Zeitungen« die Sprache und den Stil der Reise- und Theaterkritiken, Korrespondentenberichte und der Leitartikel von Theodor Wolff lobten, dann fragt man sich verwundert, weshalb die Schule im Fach Deutsch nur auf ein »mittelmäßig« erkannt hat. Ein Aufsatzheft hat die gut 130 Jahre überstanden und bietet eine gewisse Erklärung. An den Antworten auf die Fragestellung »Wie schildert Homer leblose Gegenstände?« rügte der Deutschlehrer »eine gewisse Oberflächlichkeit in der Betrachtung« und »empfindliche Mängel« in der Sprache. Als Theodor Wolff zum Thema »Ist der Naturalismus eine berechtigte Kunstform und was versteht man überhaupt unter Naturalismus?« seine Gedanken niederschrieb –

Der Naturalismus ist der krasseste Gegensatz der Romantik, aber er ist keineswegs, wie oft angenommen wird, auch der Gegensatz des Idealismus. Überhaupt wird der Begriff des Naturalismus im allgemeinen falsch verstanden. Wenn man dies Wort von »naturalia« ableitet und diese Kunstform in einen Zusammenhang bringen will mit übelriechenden Stoffen und Unrat, so hat man, wie gezeigt werden wird, Zola und seine Schüler einfach nicht verstanden. »Extreme Realisten« sollte man sie nennen, nicht »Naturalisten« –

notierte der Lehrer zum vorletzten Satz am Rand »Feuilleton Kitzel!« und schloss seine Beurteilung mit der Gesamtbewertung ab:

Es fehlt 1) an einer durchgreifenden, wohl durchdachten u. recht ersichtlichen Disposition 2) an einer sachgemäßen Einleitung u. 3) an einem befriedigenden Schluß. – Was gesagt wird, ist meist richtig, obwohl es nicht immer die Hauptpunkte trifft (der Darwinismus u. seine Stellg. zum N. ist ganz übersehen worden); wie es aber gesagt wird, entspricht durchaus nicht den Anforderungen, die man an eine wissenschaftliche Arbeit stellen muß. Die Fehler im Einzelnen werden sich aus den Correcturen ergeben. Rand lassen! (Sammlung Wolff, 10. 5. 1886).

Theodor Wolff hat in seinen autobiographischen Manuskripten und in den memoirenhaften Fragmenten äußerst selten persönliche oder familiäre Einzelheiten mitgeteilt. Über die privaten Verhältnisse nach der Mittleren Reife – damals die »wissenschaftliche Befähigung für den Einjährig-Freiwilligen Militärdienst« – informiert allein die hier veröffentlichte Korrespondenz zwischen den Eheleuten. Deshalb ist unbekannt, ob die schon vor der Jahrhundertwende in Paris lebende Schauspielerin Marie Louise Anna Hickethier (20. 1. 1872-30. 4. 1956) dort den 33-jährigen und damit dreieinhalb Jahre älteren Theodor Wolff 1898 kennengelernt hat oder ob sie ihm bereits früher einmal in Wien begegnet ist. Der Maler Walther Leistikow bat Wolff im Sommer 1898 brieflich um die besten Grüße an dessen »Freundin«, ohne dass aus den näheren Umständen und anderen Korrespondenzen hervorgeht, ob diese Person identisch ist mit »Anna«, »Änne« oder »Aenne«, wie Theodor Wolff seine Marie Louise nannte. Sie selbst unterschrieb ihre Briefe bis ins hohe Alter immer mit »Änne«. Sie war wie ihr Vater Johann Friedrich Hickethier, ein Gutsbesitzer in Mitteldeutschland, und ihre Mutter Adelgunde Wutschke, Witwe des Victor Carl Grünberger, protestantischen Glaubens. Vielleicht waren ihre Eltern um 1880 nach Berlin umgezogen, denn sie besuchte in Moabit das Königliche Luisen-Gymnasium, die erste preußische Schule, an der Mädchen ein Abitur ablegen durften. Unsicher ist, ob Änne mehrere Geschwister hatte. Im Tagebuch und in einem Brief Ännes wird die Schwester Benoitt genannt – vermutlich die französische Variante des Namens Benedikta –, die mit dem Besitzer einer Treibriemenfabrik verheiratet war, und eine weitere Verwandte, Tini Grünberger, die eine Tochter Lily hat. Benoitt, verheiratete Schulz, starb im Frühjahr 1939, vermutlich im April. Das Ehepaar hatte zwei nicht namentlich erwähnte Söhne – Änne benennt mit Hans vielleicht einen von ihnen (Sammlung Wolff).

Es ist zu vermuten, dass Theodor Wolff seine Frau am Theater oder wenigstens im Umfeld der Bühne kennengelernt hat. Das Aufgebot wurde am 19. September 1902 in Paris bestellt und eine Übersetzung ins Deutsche zwei Tage später nach Berlin geschickt, sodass die beiden – unvorstellbar in der heutigen Hauptstadt – am 11. Oktober 1902 im Pariser 9. Arrondissement heiraten konnten (ebd.). In der Heiratsurkunde findet sich »Schauspielerin« als Beruf, doch die Karriere liegt im Dunkeln. Im Vater-Tagebuch und in den Briefen gibt es keinen Anhaltspunkt für die Vermutung, dass Änne Wolff noch am Theater tätig war. Theodor Wolff teilte mit ihr die Liebe zur Theaterbühne. Ihre musikalische Begabung prägte das Familienleben und die Erziehung ihrer drei Kinder.

Military Intelligence Service