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Das Gemeinwohl
im 21. Jahrhundert

 

Herausgegeben von
Corinne Michaela Flick

 

 

 

 

 

 

 

WALLSTEIN      CONVOCO! EDITION

 

 

 

Es ist eine meiner Überzeugungen, daß man für

das Gemeinwohl arbeiten muß und daß man sich

im selben Maße, indem man dazu beigetragen hat, glücklich fühlen wird.

Gottfried Wilhelm Leibniz (1646-1716)

Inhalt

Einführung

Thesen

Udo Di Fabio
Das Gemeinwohl der Weltgesellschaft

Bazon Brock
Eine schöne Bescherung

Wolfgang Schön
Wer definiert das Gemeinwohl

Rudolf Mellinghoff
Gemeinwohl im Steuerrecht

Jens Spahn
Bundeshaushalt 2030 – Wie wir wirtschaftlich und sozial erfolgreich bleiben

Christoph G. Paulus
Das Recht als Bezugsrahmen für das Gemeinwohl

Stefan Korioth
Globale Nachhaltigkeit als Gemeinwohlziel

Stefan Oschmann
Gesundheit – Teil des Gemeinwohls oder ein privates Gut

Kai A. Konrad
Wie viel Gemeinwohlorientierung braucht der Unternehmer

Roland Berger
Unternehmerisches Handeln und Gemeinwohl – ein Plädoyer

Timo Meynhardt
Der GemeinwohlAtlas: Die Vermessung des Gemeinwohls

Carl Benedikt Frey
Die Zukunft der Arbeit

Jörg Rocholl
Wie wirkt sich die Digitalisierung auf den Arbeitsmarkt aus

Clemens Fuest
Gemeinwohl: Ein Ausblick

Hans Ulrich Obrist mit Hito Steyerl und Matteo Pasquinelli
Menschsein im Zeitalter der Künstlichen Intelligenz

Die Autoren

Einführung

Liebe Convoco-Freunde,

in letzter Zeit sieht es so aus, als verschwinde das Gemeinwohl als Leitprinzip unserer Gesellschaft.

In einer Welt, in der Nationalismus dominanter wird – denken wir an Donald Trumps America First-Agenda –, Protektionismus betrieben wird – »Une Europe qui protège«, wie es der französische Präsident Macron ankündigte und auch die Gesellschaft in immer mehr Teile zerfällt, scheint die Auffassung, dass wir Überlegungen zum Gemeinwohl brauchen, immer schwächer zu werden. Immer öfter wird man mit dem Vorwurf konfrontiert, dass gerade in der westlichen Welt die Regierungen wie auch die Eliten aus Wirtschaft und Wissenschaft sich vom Volk, dem eigentlichen Souverän, entfernen.

Das Prinzip des Gemeinwohls ist essentiell für den Zusammenhalt unserer Gesellschaft, denn die Orientierung am Gemeinwohl kann die einzelnen Teile der Gesellschaft einander wieder näherbringen.

Common good auf Englisch, bonum commune auf Latein oder Gemeinwohl auf Deutsch, sie alle meinen das allgemeine Wohlbefinden einer Gesellschaft.

Dies setzt eine Gemeinschaft voraus, die das Gemeininteresse, nämlich die Interessen der Gemeinschaft als Ganzes, grundsätzlich über das Individualinteresse stellt. Für die Motivation, dies zu tun, ist es wichtig, dass der Einzelne sich der konkreten Gemeinschaft zugehörig fühlt.[1]

Unsere heutige Welt besteht aus von Menschen begründeten Gemeinschaften, angefangen bei der Familie, über den Staat bis hin zu globalen Organisationen. Gegenüber den Mitgliedern dieser Gemeinschaften, denen wir uns zugehörig fühlen, haben wir eine erhöhte Verantwortlichkeit. Wir haben aber auch moralische Verpflichtungen gegenüber Menschen außerhalb dieser Gemeinschaften.

Meist bestimmt territoriales Denken unsere modernen politischen Gemeinschaften – das Gemeinwohl der Polis oder des Nationalstaates. Immer mehr erhält aber das Konzept des Gemeinwohls eine globale, postnationale Dimension.[2] In letzter Konsequenz ist bonum commune nicht von der universalen Idee des Guten zu trennen. Damit ist der Begriff »Gemeinwohl« letztendlich auf die Menschheit insgesamt ausgerichtet.

 

Heute gibt es ein konkretes Gemeinwohl auf globaler Ebene. Bei Themen wie Klima oder Gesundheit zum Beispiel ist es von vitalem Interesse, länderübergreifend zu denken und zu kooperieren. Wir dürfen unsere Verpflichtung, als globale Staatengemeinschaft zu handeln, nicht ignorieren. Es braucht ein Verständnis dafür, welche Probleme besser in Europa bzw. international zu handhaben sind als im Alleingang.

 

Nach Aristoteles ist der Mensch ein zoon politikon, ein »politisches Wesen«, das seine wahre Natur im gemeinschaftlichen Leben der Polis findet.

Dies hat tiefgreifende Konsequenzen. Die Art von Person, die ein Mensch wird, ist abhängig von den sozialen, kulturellen und institutionellen Umständen seines Lebens, nicht nur von seinem persönlichen Erfolg und Wohlstand. Darin wird erkennbar, wie wichtig das Gemeinwohl, das bonum commune, für den Einzelnen ist.

Gemeinwohl sollte als Grundbedingung menschlicher Selbstentfaltung angesehen werden und dieser dienen. Es ist kein Selbstzweck, der Einzelne kann sich des Gemeinwohls als gesellschaftlicher Ressource bedienen, auf die er sich verlassen kann.

 

Das Gemeinwohl beschreibt im Wesentlichen das Verhältnis zwischen dem Individuum und der Gesellschaft. Dies geht zurück auf Platon und Aristoteles. Beide Philosophen waren sich einig, dass das Wohl des Individuums und das der Gesellschaft zusammenhängen, gelangten aber zu verschiedenen Ansätzen.

Nach Platon ist das Wohl der Gemeinschaft ein objektives, normatives Wertesystem, das den Bürgern eines Staates gemein ist. Das bonum commune ist in diesem Sinn als ethische Größe, als Leitlinie zu verstehen, die der Ausrichtung von Verhalten dient. Die Verfassung der Vereinigten Staaten und das deutsche Grundgesetz sind Beispiele solcher normativen Wertesysteme. Für Platon gehörte zum Gemeinwohl die Verwirklichung von Gerechtigkeit. Nach diesem Verständnis müssen Machthaber ihre persönlichen Interessen und die einzelnen Mitglieder der Gesellschaft ihre Partikularinteressen hinter dem Wohl aller zurückstellen. Beide müssen sich dem guten und glücklichen Leben aller Bürger unterordnen. Ausdruck von Gerechtigkeit war für Platon allgemeine Gesetzgebung und die Gleichheit vor dem Gesetz.

 

Das andere Verständnis von Gemeinwohl ist empirischer Natur. Es geht auf Aristoteles’ Idee zurück, dass das Gemeinwohl sich aus sozialen Systemen und Institutionen ergibt, die so zusammenarbeiten, dass alle Menschen davon profitieren. Freiheit und Selbstverwaltung können hier durch die aktive Teilnahme Einzelner realisiert werden. Dieses Verständnis zeigt sich zum Beispiel im englischen Rechtssystem, dem »Common Law«.

Ein funktionierendes, modernes Gemeinwohl sollte vermutlich sowohl als Leitlinie dienen als auch praktische Verfahren bieten, mit Hilfe derer die Gesellschaft gedeihen kann.

Es gilt, beide Ansätze neu zu betrachten und das Gemeinwohl wieder in das Zentrum unseres Denkens zu stellen, denn heute scheint es, als wäre das, was wir einst als ›eine Gesellschaft‹ angesehen haben, sich seiner gemeinsamen Werte nicht mehr bewusst. Das ›Wir‹ ist dabei, verlorenzugehen.

 

Ein Garant dieser gesellschaftlichen Ressource Gemeinwohl ist der Staat. Er ist die einzige Instanz, die das Gemeinwohl legitim durchsetzen kann. Durch sein Bürgersein opfert der Einzelne dem Staat einen Teil seiner Freiheit. Dieser Verlust an Freiheit wird dadurch ausgeglichen, dass er sein Individualwohl aufgrund des Gemeinwohls besser gestalten kann. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, wer das Gemeinwohl definiert. In den parlamentarischen Demokratien wird verbindlich prozedural entschieden, was Gemeinwohl ist. Es ist der Gesetzgeber, der entscheidet, also letztlich die Mehrheit in einer Demokratie, aber natürlich gibt es neben der prozeduralen Mehrheitsentscheidung auch einen gesellschaftlichen Diskurs, der definiert, was Gemeinwohl ist. Hier fließen die öffentliche Meinung ein, die Erkenntnisse der Wissenschaft sowie Ethik und Religion. Die Verfassung als normative Grundstruktur bestimmt nicht allein, was Gemeinwohl ist, sie gibt vielmehr die Basis.[3]

Unsere Auslegung von Gemeinwohl findet auch in der Ordnungsidee der sozialen Marktwirtschaft mit dem Sozialstaatlichkeits- und Rechtsstaatlichkeitsprinzip Ausdruck. Die drei grundlegenden Prinzipien Personalität, Solidarität und Subsidiarität prägen die soziale Marktwirtschaft.[4] Das heißt, dass bei der persönlichen Verwirklichung neben die Eigenverantwortung die Verantwortung für die Gemeinschaft, nämlich die Solidarität, tritt. Zu beachten hierbei ist, dass zuerst die Selbsthilfe des Einzelnen angesprochen ist, vor der Hilfe der Gemeinschaft. Das bedeutet Subsidiarität.

 

Wichtig ist, dass die Gesellschaft sich ihren Gemeinsinn, also ihr Engagement für das Wohl der Gemeinschaft, erhält. Schließlich war auch die Bildung von Gemeinschaften der Grund dafür, dass Menschen zu einer politischen Kraft wurden. Dieses horizontale Bewusstsein gestaltete sich in der Renaissance[5] und ist bis heute Grundlage unserer gesellschaftlichen Ordnungen. Wir sollten der Gesellschaft eine Richtung geben und das Gemeinwohl als Orientierungspunkt nehmen.

Besonders relevant ist dies angesichts der technologischen Entwicklungen, die in diesem Jahrhundert noch anstehen. Dass es zum Beispiel durch Künstliche Intelligenz und zunehmende Digitalisierung zu starken Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt der Zukunft kommen wird, steht fest. Wie diese aussehen werden, ist noch fraglich. Zu vermuten ist, dass sich Arbeit als identitätsstiftendes Merkmal für den Menschen so nicht mehr festmachen werden lässt.

Der Mensch ist dank seines Wunsches, nicht nur seiner Fähigkeit, zu kooperieren, in der Evolution an den Platz gekommen, an dem er heute steht. Auch innerhalb der Menschheitsgeschichte ist zu beobachten: je mehr die Menschen lernten, ihre Handlungen sowohl im Kleinen wie auch im Großen zu koordinieren, desto größer wurden ihre Erfolge. Die Fähigkeit, Gemeinschaften aufzubauen mit Arbeitsteilung und komplexen Strategien, hat die Stellung des Menschen als »Krone der Schöpfung« begründet.

Durch den Vormarsch der Künstlichen Intelligenz in Verbindung mit Algorithmen und Big Data läuft der Mensch nun Gefahr, diese Stellung zu verlieren. Wir sollten uns der zentralen Rolle der Gemeinschaft und ihrer Relevanz für das 21. Jahrhundert gewahr sein.

 

Corinne Michaela Flick, im Januar 2018

Anmerkungen

1 Eine Studie zur Abgabe von Steuern hat gezeigt, dass das Gefühl der Zugehörigkeit sich proportional zur Bereitschaft, Steuern zu zahlen, verhält. Siehe Benny Geys und Kai A. Konrad, Patriotism and Taxation (November 11, 2016). Working Paper of the Max Planck Institute for Tax Law and Public Finance No. 2016-11.
2 Bernd Ladwig, Liberales Gemeinwohl – Von den Schwierigkeiten einer Idee und ihrem Verhältnis zur Gerechtigkeit, in: Gemeinwohl und Gemeinsinn. Zwischen Normativität und Faktizität, Band IV, hg. von Herfried Münkler und Harald Bluhm, Berlin 2002, S. 93.
3 Vgl. den Vortrag von Udo Di Fabio »Das Gemeinwohl der Weltgesellschaft« beim Convoco Forum in Salzburg am 29. Juli 2017: http://convoco.co.uk/de/convoco-forum-2017, sowie den darauf beruhenden gleichnamigen Beitrag in diesem Band, S. 25-41.
4 Timo Meynhardt / Alexander Schumann, Aufgeschoben, nicht aufgehoben, in: Berliner Republik, 4/2009.
5 Vgl. Bernd Roeck, Der Morgen der Welt, München 2017.

Thesen

Gemeinwohl ist eine notwendige Fiktion – gewissermaßen eine Orientierung auf das größere Ganze hin, welches erst dadurch Gestalt annimmt und in der Folge wiederum ordnungsstiftend wirkt. In einem Bild: Dem Gemeinwohlgedanken kommt die Funktion eines Polarsterns zu, der zwar niemals erreichbar ist, aber stets eine Richtung weisen kann. Angesichts der aktuellen Herausforderungen in Wirtschaft und Gesellschaft kann man auch sagen: Wenn Komplexität die Herausforderung ist, dann ist Gemeinwohl die Antwort.

Timo Meynhardt

 

An der Diskussion über das Gemeinwohl fällt auf, dass fast alle Beteiligten glauben, es stünde fest, was das Gemeinwohl sei und wie man es bewahren oder fördern könne. In Wirklichkeit ist hier fast alles kontingent, das heißt, man könnte fast immer auch anders optieren, geradezu das Gegenteil behaupten.

Udo Di Fabio

 

Gemeinwohl ist heute das, was den Angehörigen einer Gemeinschaft Freiheit zur Ausbildung von Individualität zuspricht oder rechtsstaatlich gerade ermöglicht, die Vielfalt der Glaubensüberzeugungen ohne Auslöschungskonkurrenz zu leben. Das heißt, das Gemeinwohl gilt der Herausbildung, der Erziehung und Förderung von Individualität.

Bazon Brock

 

So wenig es überzeugen kann, das »globale Gemeinwohl« an allen Fronten der Politik realisieren zu wollen, so wenig kann eine pauschale Renationalisierung der Interessen die realen Probleme der Welt lösen. Richtig erscheint es, je nach Sachthema unterschiedliche politische Bezugssysteme zu adressieren. Der Bürger wird es aushalten müssen, je nach Sachfrage als Deutscher, als Europäer oder als Weltbürger zu denken und zu agieren – sonst denkt er entweder zu klein oder zu groß.

Wolfgang Schön

 

Warum beziehen sich auch im Jahre 2017 unsere Gerechtigkeits- und Gemeinwohlvorstellungen so hartnäckig (und deshalb vielleicht auch mit Recht) auf die Ordnung zeitgleich und räumlich zusammenlebender Gruppen, von der Familie bis zur Nation, mit den Gegenüberstellungen von Inklusion und Exklusion, heute und morgen, Altruismus im Inneren, Egoismus nach außen?

Stefan Korioth

 

Der Gesetzgeber berücksichtigt Gemeinwohlinteressen im Steuerrecht auf vielfältige Weise. Von besonderer Bedeutung ist dabei das Gemeinnützigkeitsrecht. Darüber hinaus erlaubt ihm aber auch das Grundgesetz, von der Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit abzuweichen, wenn er damit Gemeinwohlbelange fördern will. Damit erweist sich das Steuerrecht als wichtiger Bestandteil einer Politik, die auf das allgemeine Wohl ausgerichtet ist.

Rudolf Mellinghoff

Gemeinwohl drückt sich in nichts mehr aus als in Zahlen und Finanzen eines Bundeshaushaltes – das gilt heute, aber auch noch im Jahr 2030.

Jens Spahn

 

Auch wenn alle eine vage, eher diffuse Vorstellung haben, was konkret und präzise Gemeinwohl bedeutet– noch dazu exakt im 21. Jahrhundert –, ist es ungleich einfacher, Dinge präzise zu benennen, die dem Gemeinwohl abträglich sind und diesem zuwiderlaufen. Eines dieser Dinge ist die Schuldenlast der öffentlichen Haushalte nicht nur hierzulande, sondern nahezu auf der ganzen Welt.

Christoph G. Paulus

 

Unternehmen leisten am besten einen Beitrag zur Mehrung des Gemeinwohls, wenn sie sich auf ihre Kernaufgaben konzentrieren: Werte für den Einzelnen und die Gemeinschaft zu schaffen. Ich bin davon überzeugt, dass in unserer arbeitsteiligen, marktwirtschaftlichen Ordnung Unternehmen grundsätzlich dann den größten Beitrag zum Gemeinwohl leisten, wenn sie sich voll und ganz ihrem Geschäft widmen.

Roland Berger

 

Der Unternehmer, der nur seinen Profit maximieren möchte, trägt gerade durch die einseitige Ausrichtung seines Handelns auf den eigenen Gewinn maximal zum Wohlstand der Gesellschaft bei. Wenn die Politik den richtigen ordnungspolitischen Rahmen schafft, dann entsteht kein Zielkonflikt zwischen der einseitigen Profitorientierung des Unternehmers und dem allgemeinen Wohlstand der Gesellschaft.

Kai A. Konrad

 

Gesundheit ist ein Teil des Gemeinwohls. Damit wir aber die besten Voraussetzungen für Innovationen bieten, sind wir darauf angewiesen, dass medizinische Produkte und Dienstleistungen von privaten Akteuren entwickelt werden. Wir brauchen den privaten Sektor, um mit vereinten Kräften auf einen gerechten Zugang zur Gesundheitsversorgung hinzuarbeiten.

Stefan Oschmann

 

Im Schnitt hat eine Gesellschaft von der Automatisierung immer profitiert, aber auch manches Mal zu Lasten der Erwerbstätigen, deren Arbeitsplätze verloren gingen. Es ist nun Aufgabe der Gesellschaft, die Computerisierung in das Allgemeinwohl einzubinden, indem man sicherstellt, dass ihre positiven Errungenschaften vielen zugutekommen. Per se ist sie aber nicht Teil des Gemeinwohls.

Carl Benedikt Frey

 

Das Gemeinwohl wird nicht davon profitieren, wenn Menschen, denen eine Beschäftigung mit den neuen Technologien nicht zugetraut wird, mit einem bedingungslosen Grundeinkommen zur Tatenlosigkeit animiert werden. Umfangreiche Anstrengungen bei der Verbesserung von Bildungschancen werden für das Gemeinwohl dauerhaft sinnvoller sein und Teilhabe an wirtschaftlichem Fortschritt und sozialem Austausch ermöglichen.

Jörg Rocholl

 

Wenn man immer nur in der Furcht vor einer bevorstehenden entweder gutartigen oder bösartigen Singularität lebt, dann wird man nicht erkennen, dass unsere Gesellschaften jetzt schon durch die technologischen Entwicklungen in einer Weise umstrukturiert werden, die einen Post-Faschismus, Nativismus, Populismus, Arbeitslosigkeit und all diese Dinge ermöglichen.

Hito Steyerl

 

Das kritische Denken von Künstlern ist im Hinblick auf die Gefahren von Künstlicher Intelligenz äußerst nützlich, da Künstler unsere Aufmerksamkeit auf jene Fragen lenken, welche aus ihrer Perspektive wichtig erscheinen. Wenn Algorithmen durch künstlich erzeugte Bilder auf neue Weise sichtbar gemacht werden, können visuelle Kompetenz und Expertise von Künstlern kritisch genützt werden. Viele existentielle Fragen, die die künstliche Intelligenz betreffen, sind philosophischer Natur und können daher nur auf holistische Weise beantwortet werden.

Hans Ulrich Obrist

 

Bewusstsein für die Bedeutung des Gemeinwohls und für seine Gefährdung ist eine gute Voraussetzung dafür, das Gemeinwohl auch in Zukunft zu bewahren.

Clemens Fuest

 

Wichtig ist, dass die Gesellschaft sich ihren Gemeinsinn, also ihr Engagement für das Wohl der Gemeinschaft, erhält. Wir sollten unserer Gesellschaft eine Richtung geben und dem Gemeinwohl als Orientierungspunkt eine zentrale Stellung einräumen. Besonders relevant ist dies angesichts der im 21. Jahrhundert anstehenden technologischen Entwicklungen. Die Fähigkeit, Gemeinschaften aufzubauen, hat die Stellung des Menschen als »Krone der Schöpfung« begründet. Sie wird auch weiterhin die beste Möglichkeit sein, den Menschen vor der Übermacht der Künstlichen Intelligenz, den Algorithmen und Big Data zu schützen.

Corinne M. Flick

Udo Di Fabio
Das Gemeinwohl der Weltgesellschaft

1. Die Rede vom Gemeinwohl, die Suche nach dem bonum commune,[1] arbeitet mit einer Formel politischer Gerechtigkeitstheorien.[2] Dahinter steht die Überzeugung, in einem Akt der Erkenntnis ermitteln zu können, was grundlegende Zwecke und Ziele einer politischen Gemeinschaft sind und sein müssen. Die modernen Demokratietheorien gehen heute überwiegend davon aus, dass solch eine substanzielle Bestimmung des Gemeinwohls mit Wahrheitsanspruch nicht möglich sei, dem stünden bereits die Individualisierung und Pluralität der freien Gesellschaft entgegen.[3] Deshalb sei das Gemeinwohl prozeduralisiert, es sei also letztlich das, worauf sich die Mehrheit im förmlichen Verfahren festgelegt hat. Wenn der Deutsche Bundestag beschließt, Stromerzeugung aus Kernenergie sei eine nützliche Sache, entspricht der Ausbau der Kernenergie dem Gemeinwohl; wenn der Bundestag später beschließt, dass nur der Ausstieg, der Verzicht auf Kernenergie dem Gemeinwohl entspricht, dann ist das eben das neue Gemeinwohl. Danach wäre Gemeinwohl dasjenige, was ein Parlament als Gesetz beschließt oder auch ein europäischer Rat, jedenfalls in einem förmlich vorgesehenen Verfahren.[4] Als Begriff politischer Theoriebildung wäre aber damit das Gemeinwohl eine Leerformel – im Grunde genommen um seine eigensinnige, um seine maßstäbliche Kraft gebracht.

 

2. Die Wirklichkeit ist, wie so häufig, etwas komplizierter, als es sich in diesem Unterschied zwischen einem substanziellen und einem prozeduralen Verständnis von Gemeinwohl ausdrückt. In der politischen Debatte werden immer wieder Entscheidungen mit dem Gemeinwohl begründet und aus dieser Perspektive dann geradezu als alternativlos dargestellt. Es gibt eine Staatsräson, die den Kern des Gemeinwohlverständnisses einer politischen Gemeinschaft markiert. Wenn die Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen in die Verfassung geschrieben wird,[5] dann ist das eine Art Staatszielbestimmung mit dem Anspruch, ein Stück Gemeinwohl jenseits einer inhaltlich unbestimmten Entscheidungsfreiheit des Parlaments zu formulieren. Staatsziele und Verfassungsaufträge sollen materielle Gemeinwohlvorstellungen auch für die demokratische Mehrheit verbindlich machen. Letztlich entscheidet dann das Gericht, das zur Auslegung dieser Gemeinwohlaufträge berufen ist. Solche Verfassungsaufträge wie das Sozialstaatsziel oder die Verfassungsentscheidung für die europäische Integration und die internationale Zusammenarbeit spielen vielleicht in der alltäglichen Verfassungsanwendung eine relativ geringe Rolle, aber sie bilden doch Leitplanken und Orientierungsmarken für den politischen Betrieb. In der Verfassungsmechanik finden wir demnach mit dem demokratischen Mehrheitsprinzip starke Anhaltspunkte für die prozedurale Variante des Gemeinwohlverständnisses und in den Staatszielen eben auch ein Stück materieller Maßstäblichkeit.

 

3. Das Verfassungsrecht ist im Vorgang der politischen Willensbildung nicht der einzige Ort, an dem es um die substanzielle Bestimmung des Gemeinwohls geht. Die politische Philosophie oder die Staatstheorie leisten hier ihre wissenschaftlichen Beiträge. Noch wichtiger ist die öffentliche Meinungsbildung, mit der hierin gespiegelten Alltagsauffassung von politischer Moral und den jeweiligen Vorstellungen öffentlicher oder individueller Gerechtigkeit. Die öffentliche Meinung sieht sich ohnehin als frei an, die Aufmerksamkeit und die Auffassungen über grundlegende Zwecke eines Staates oder eines politischen Herrschaftsverbandes zu verschieben und zu verändern. Zwischen Wissenschaft und politischer Willensbildung gibt es häufig gleitende Übergänge und auch Versuche, strategisch die Idee, was handlungsleitendes Gemeinwohlziel ist, in die jeweils gewünschte Richtung zu verschieben. Ergo: Gemeinwohl ist keine objektive Tatsache, sondern eine soziale Konstruktion, die zu Zeiten des Perikles anders ausfiel als zu denen des römischen Kaisers Caligula oder zur Zeit Karls des Großen, die heute im Iran oder in China anders ausfällt als in Schweden oder im Tschad.

Wer sich mit diesem postmodern-konstruktivistisch anmutenden Befund nicht zufriedengeben will, dem sei versichert, dass es eine objektive Schicht des Gemeinwohls immerhin im äußersten Existenzinteresse einer sozialen oder politischen Gemeinschaft gibt. Es ist klar gemeinwohlschädlich, wenn die natürlichen, sozialen, wirtschaftlichen oder politischen Lebensgrundlagen einer Gemeinschaft zerstört werden. Damit würde sich die Frage dahin verlagern, was die maßgeblichen Existenzvoraussetzungen sind, ob und wie sie gefährdet sind und wie Abhilfe möglich wäre, also letztlich eine Diskussion über Selektionsentscheidungen und wahrheitsfähige Fragen. So wird heute etwa der Klimawandel als eine Selbstgefährdung der Menschheit angesehen und insofern in einer globalen Perspektive eine Existenzvoraussetzung formuliert und auf Weltklimakonferenzen nach Abhilfe gesucht. Aber auch hier gibt es keine aus der Natur der Sache heraus bestimmende Gewissheit. Denn der amerikanische Präsident würde die Gefahren des Klimawandels entweder leugnen oder als nicht existenzgefährdend für das amerikanische Volk definieren und damit sowohl die Tatsachengrundlage als auch die Referenz für Gemeinwohlerwägungen anders bestimmen. Ein Rechtspopulist würde die Existenzgrundlage eines Volkes vielleicht durch Migration gefährdet sehen, während im NATO-Hauptquartier eine wirksame Steigerung der Rüstung als entscheidende Maßnahme zur Friedenssicherung und damit als eine Existenzvoraussetzung der freien westlichen Gesellschaften und als überragender Gemeinwohlbelang gesehen würde. Außenpolitiker könnten darüber streiten, ob es dem Gemeinwohl der Europäischen Union dient, von russischen Gasimporten unabhängig zu sein, oder ob es – gerade im Gegenteil – dem durch Handel und Wandel herbeigeführten Frieden dient, Russland Geschäftsaussichten mit dem Westen zu eröffnen und diese Aussichten zu vergrößern.

Es bleibt dabei: An der Diskussion über das Gemeinwohl fällt auf, dass fast alle Beteiligten glauben, es stünde fest, was das Gemeinwohl sei und wie man es bewahren oder fördern könne. In Wirklichkeit ist hier fast alles kontingent, das heißt, man könnte fast immer auch anders optieren, geradezu das Gegenteil behaupten. Aus diesem Grund sind nicht nur Wissenschaftler, sondern auch kritische Staatsbürger misstrauisch, wenn Politiker oder Aktivisten vom Gemeinwohl sprechen.

 

4. Besonderer Klärungsbedarf in puncto Gemeinwohl ist durch den Prozess der Globalisierung entstanden. Die meisten Akteure verstehen unter Globalisierung die Zunahme der wirtschaftlichen, wissenschaftlichen oder kommunikativen Verkehrsbeziehungen über Staats-grenzen hinweg. Globalisierte Wirtschaft ist eine, die nicht nur die ganze Welt als Absatzmarkt begreift, sondern auch den kompletten Vorgang der Produktion von Waren und der Bereitstellung von Dienstleistungen arbeitsteilig rund um den Globus organisiert. In der Soziologie wird, ein Stück tiefer greifend, von Weltgesellschaft gesprochen,[6] weil die traditionelle, nationalkulturell gebundene Idee von Gesellschaft ihre Grundlage verliert und internationale Beziehungen nicht einfach als Außenbeziehungen einer jeweils nationalen Gesellschaftsordnung begriffen werden können. Jeder Nutzer des Internets, jeder Konsument, jedes grenzüberschreitend aufgestellte Unternehmen und jede politische Herrschaftsform, die in geopolitischen Zusammenhängen denkt, operiert letztlich auf weltgesellschaftlicher und nicht (allein oder nicht mehr als maßgeblich verstanden) auf nationalstaatlicher Ebene.

 

Der weltgesellschaftliche Horizont macht die Bestimmung von Gemeinwohl noch viel schwieriger; er macht die im öffentlichen Diskurs übliche Kontingenz disparat. Ohne die praktische Wirklichkeit einer Weltrepublik kann nicht einfach, wie innerstaatlich in den Demokratien üblich, auf eine prozedurale Formel zurückgegriffen oder können nicht politische Lager entgegengesetzter Gemeinwohlverständnisse gebildet werden.[7] Das gilt ungeachtet der Tatsache, dass mit dem UN-Sicherheitsrat, der OECD oder dem WTO-System ebenso wie durch das dichter werdende Band völkervertraglich begründeter Verpflichtungserklärungen, etwa zum Klimaschutz, durchaus eine recht große Bühne entstanden ist für überstaatliches Regieren, internationalisierte Gemeinschaftsbildung und deshalb auch für Formen der rechtlichen Fixierung politischer Leitbilder und Zwecke, also eines überstaatlichen Gemeinwohls. Aber dieser Raum überstaatlicher politischer Herrschaft hat nirgendwo die Dichte und Stabilität des klassisch-modernen Staates erreicht, am ehesten noch in der EU, aber auch dort bleiben der Zusammenhalt und die grundlegende Zielfixierung prekär und umstritten.

Dabei bleibt der alte konstruktive Widerspruch neuzeitlicher Staatsverständnisse erhalten und verschärft sich in gewisser Weise sogar: Die Idee einer territorial begrenzten Herrschaft hatte es möglich gemacht, politische Macht zu personalisieren, zuerst in der Souveränität des Fürsten, dann im demokratischen Prinzip der Volkssouveränität. Die Staatsgrenzen wirken als Interdependenzunterbrecher und machen die Vorstellung eines kollektiven Entfaltungsraums plausibel. Das Gemeinwohl kann dann bei liberaler Lesart in der kollektiven Sicherung der individuellen Freiheit und des individuellen Strebens nach Glück verstanden werden oder aber – in einer mehr kollektivistischen, bis ins Nationalistische oder Völkische hineindrängenden Art – als der Selbstentfaltungsanspruch eines Volkes. Der in Europa verheerende übersteigerte Nationalismus der Zeit von vor 1914 bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs hatte das nationale Gemeinwohl im Blick und zerstörte damit die Möglichkeiten einer europäischen und internationalen Friedensordnung. Doch unabhängig von Vereinseitigungen und Radikalisierungen bleibt es bei dem Befund: »Seit seinen Ursprüngen bei Jean Bodin und Giovanni Botero stand dieses Staatsprinzip in Konflikt mit den universalistischen Traditionen des Christentums und später der liberalen Aufklärung, wie schon die doppelte Formulierung der Menschen- und Bürgerrechte im Rahmen der französischen Revolutionsverfassungen gezeigt hat.«[8]

Es kommt auf die Referenz an. Es kommt darauf an, auf wen man das Gemeinwohl beziehen will: auf sich selbst, auf die eigene Familie, auf Bayern, Katalonien, Italien, Deutschland oder Europa oder eben die Welt und jeden einzelnen Menschen, der in ihr lebt. Die Grundrechte des Grundgesetzes unterscheiden als Berechtigte auf der einen Seite deutsche Staatsbürger und auf der anderen Seite Menschen ganz allgemein, die im Einflussbereich der deutschen Staatsgewalt sich befinden. Ein rationales Gemeinwohlkonzept muss demnach seine Referenz benennen und erklären, wie verschiedene Referenzen in einen vernünftigen Zusammenhang gebracht werden, sodass die eine nicht gegen die andere in destruktiver Weise ausgespielt wird. Rational ist ein Gemeinwohlkonzept zudem nur dann, wenn es die Friedens- und Funktionsbedingungen der verschiedenen Akteursebenen respektiert und ihnen genügt. Die konsequente militärische Durchsetzung von Menschenrechten könnte geradewegs in einem großen Krieg enden, der das Ende der Zivilisation bedeutete. Wenn eine konsequente Klimaschutzpolitik mit Demokratien nicht zu machen ist, müsste man dann etwa eine Diktatur erwägen? Aber ist eine Diktatur nicht nach allen Erfahrungen, gemessen an ihren Leistungen und vor allem gemessen am normativen Menschenbild der Freiheit, bereits im Ansatz gemeinwohlwidrig?

Bei näherer Betrachtung erweist sich die Rede vom Gemeinwohl als ganz ähnlich kontingent und geradezu beliebig wie das Argument der Gerechtigkeit: Es gerät desto diffuser, je größer die sozialen und politischen Einheiten werden, auf die sie sich beziehen. Dann wäre globales Gemeinwohl ein rational nicht handhabbares Konzept. Es sind jedenfalls für einen unmittelbaren, nicht durch Organisationen mediatisierten Zugriff zu viele Referenzperspektiven und Gemeinwohlgüter untereinander und gegeneinander abzuwägen, Fakten und Normen miteinander in Einklang zu bringen, als dass das Gemeinwohlargument als Argument triftig sein könnte. Was in den kleinen oder isoliert-autonomen Einheiten einer Familie oder einer Landgemeinde noch anschaulich und prägnant sein kann, wird auf der Ebene der Weltgesellschaft zu einem willkürlichen[9]