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BARBARA

Es war einmal
ein schwarzes Klavier ...

Unvollendete Memoiren

 

Herausgegeben

von Andrea Knigge

 

Aus dem Französischen

von Annette Casasus

 

WALLSTEIN

Originaltitel:

»Il était un piano noir … mémoires interrompus«

by Barbara

© Librairie Artheme Fayard, 1998

 

 

Die Übersetzung dieses Buches wurde
von der Göttinger Kulturstiftung gefördert. 
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Die Veröffentlichung erfolgte in Zusammenarbeit
mit dem Städtischen Museum Göttingen.

 

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese

Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;

detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über

http://dnb.d-nb.de abrufbar.

 

 

© Wallstein Verlag, Göttingen 2017

www.wallstein-verlag.de

Umschlaggestaltung: Wallstein Verlag

ISBN (Print) 978-3-8353-3076-4

ISBN (E-Book, pdf) 978-3-8353-4131-9

ISBN (E-Book, epub) 978-3-8353-4132-6

Inhalt

Einleitung Andrea Knigge

 

Vorwort Claude, Régine und Jean

Vorwort Barbara

 

Unvollendeter Bericht

Fragmente

 

Zeittafel

Diskographie (Auswahl)

Bildnachweis

Anmerkungen

Einleitung

»AH, WER DAS KÖNNTE! Hereinstaksen auf die Bühne – steif, hager, hakennasig, im langen, schwarzen Schleppkleid, sich wie erschöpft am Piano niederlassen, das Publikum ignorieren, pausieren, lange, lange nichts tun, den Blick nach innen gerichtet, auf den Lippen dieses kleine Lächeln … und dann die Hand über die Tasten gleiten lassen, so, als wolle man nur sich selber zuhören … und dann irgendein kleines Lalala summen, das wie von selber zu einer Melodie wird, zu einem Vers, einem Chanson.« – Wer das konnte, das war Barbara, und so beschrieb sie 1967 der Publizist und Filmemacher Georg Stefan Troller für das Cover ihrer einzigen in deutscher Sprache aufgenommenen Schallplatte.

2017, im Jahr ihres zwanzigsten Todestages, geriet die geheimnisvolle Französin wieder in den Fokus, als Gérard Depardieu, ein Gefährte der exzentrischen Diva, der die Zuneigung seiner Landsleute in letzter Zeit etwas verspielt hat, ihre Lieder im Pariser Théâtre Bouffes du Nord interpretierte und dafür euphorisch bejubelt wurde. Zitiert wurde sie vom deutschen Bundeskanzler Gerhard Schröder 2003 anlässlich des vierzigsten Jahrestages der Unterzeichnung des Elysée-Vertrages und vom Bundespräsidenten Joachim Gauck im Januar 2017, als er zur Verleihung der Ehrendoktorwürde der Sorbonne das lange so sicher gewähnte und nun wieder bröckelnde europäische Einheitsgefühl anmahnte.

 

Barbara begeisterte mit enormer Bühnenpräsenz, sie ließ ihr Publikum bei ihren Auftritten atemberaubt verstummen und dann frenetisch applaudieren. Sie war sich stets der Wechselwirkung zwischen ihrem Vortrag und der »Liebe«, der »Energie« des Publikums bewusst, »das für mich wie ein Geburtshelfer war«. Keine noch so kleine Geste überließ sie dem Zufall, feilte permanent an ihrer künstlerischen Darstellung, an ihrer Erscheinung.

Lange hatte sie ihre, wie sie es empfand, »Hässlichkeit« nicht ertragen können, bis sie selbst die Frau, die sie sein wollte, erschaffen hatte: »Ich begann, dieses lebende Material, das mir gegeben war, wie ein Bildhauer zu bearbeiten, zu modellieren. Habe ich so diese Frau gestaltet, die ich sein wollte, oder ist diese Metamorphose der Bühne selbst geschuldet, die mich langsam, aber sicher dem annäherte, was mein Äußeres geworden ist?«

 

Geboren wurde Barbara 1930 in Paris als Monique Andrée Serf als zweites von vier Kindern einer jüdischen Familie mit Wurzeln im Elsass und in der Ukraine. Mit ihrem Künstlernamen ehrte sie die geliebte, aus Odessa stammende Großmutter Varvara Brodsky. Sie avancierte zu einer der großen Stimmen des französischen Chansons. Ihr Name leuchtet heute neben den beiden anderen großen »B’s« Jacques Brel und Georges Brassens, neben Edith Piaf, Juliette Gréco, Georges Moustaki, Léo Ferré …

Ihr bewegtes Leben spiegelt neben einer mit traumatischen Erlebnissen verbundenen Familiengeschichte auch das 20. Jahrhundert in Europa wider: Zweiter Weltkrieg, Verfolgung und Ermordung der Juden durch die Nationalsozialisten, die langsame Überwindung alter Feindschaften, das Erwachsen eines neuen europäischen Gedankens. An der Aussöhnung zwischen Deutschland und Frankreich hatte sie, ganz unverhofft, ungeplant, einen besonderen Anteil: Das Lied Göttingen, entstanden nach einem Gastspiel, das sie im Land der Täter zunächst gar nicht geben wollte, wurde zur Hymne der deutsch-französischen Versöhnung. In Frankreich stimmt man es heute noch an, wenn das Gespräch auf die Stadt mit der berühmten Universität kommt: Göttingen, wo auch die für Barbara so wichtigen Brüder Grimm gelebt und gearbeitet hatten.

 

Barbara wollte schon als Kind nur eines: singen. »Entscheidet man sich eines Tages dafür, zu singen, oder ist es nicht vielmehr eine lange und schöne Krankheit, die man in sich trägt und von der man niemals vollkommen geheilt wird?« Sie ringt ihren Eltern Gesangsstunden ab, ein Klavier wird gemietet, 17-jährig beginnt sie ein Gesangsstudium, das sie abbricht, reißt knapp 18-jährig von zu Hause aus und tingelt durch zwielichtige Clubs in Belgien und Paris, hält sich mit Tellerwaschen und dem Interpretieren von Chansons anderer, schon bekannter Musiker über Wasser.

1954 erhält sie ein Engagement in der Ecluse (Schleuse), einer Kleinkunstbühne in Paris, wo sie bis 1964 bleibt. Steil aufwärts mit ihrer künstlerischen Karriere geht es, als sie beginnt, eigene Lieder zu schreiben und vorzutragen. Von nun an füllt sie die großen Konzertsäle wie das Bobino oder das Olympia, tourt um die Welt von Kanada bis in die UdSSR. Daneben wirkt sie als Schauspielerin in Film und Theater, etwa an der Seite von Jacques Brel, Gérard Depardieu oder Maurice Béjart, und engagiert sich ehrenamtlich in sozialen und karitativen Einrichtungen. Mit beispielloser Hingabe widmet sie sich in ihren späteren Lebensjahren dem Kampf gegen Aids.

 

Ihr bewegtes, intensives Leben aufzuschreiben hat die charismatische Künstlerin erst im Jahr 1997 begonnen, in ihrem Haus im gut 30 Kilometer östlich von Paris gelegenen Précy-sur-Marne, als sie, schon länger gesundheitlich geschwächt, nicht mehr singen konnte. »Niemals mehr werde ich eine Bühne betreten. Ich werde nie wieder singen«, beginnt sie ihre Erinnerungen. Und weiter: »Zu schreiben bedeutet heute für mich, den Dialog wieder aufzunehmen. […] Vor mir liegt viel Arbeit, aber es ist eine Arbeit, die ich mag […]. Es ist sechs Uhr morgens, ich bin siebenundsechzig Jahre alt, ich liebe mein Haus, und es geht mir gut.« Mit wenigen Strichen skizziert sie komplexe Themen und Stationen ihres Lebens, erzeugt Gefühle; ihre manchmal sehr knappen Formulierungen sind von atmosphärischer Dichte – so wie in ihren Chansons. Sie konnte ihre Memoiren nicht mehr vollenden, starb noch im selben Jahr, in dem sie mit der Niederschrift begonnen hatte. Sie hätte mit Sicherheit an vielen Stellen gefeilt, neu modelliert, verworfen, ergänzt, umgeschrieben – und vielleicht auch die eine oder andere Ungenauigkeit bei den Fakten korrigiert und diese anders gewichtet –, aber gerade das noch unbearbeitet Geäußerte, das im Moment des Schreibens so Erinnerte, besticht in seiner Unvermitteltheit, ist pointiert und poetisch und evoziert ein einmaliges, kompromissloses Künstlerleben. Genau dies macht den authentischen Charme, macht das Bewegende der Erinnerungen von Barbara aus.

 

Die Idee zu einer deutschen Ausgabe des in Frankreich in schon mehreren Auflagen erschienenen Buches hatten 2014 während eines Barbara-Festivals in Göttingen Annette Casasus und ihr Mann Karl-Udo Bigott. Nach dem plötzlichen Tod von Karl-Udo Bigott noch im selben Jahr nahm Annette Casasus erst 2016 im Rahmen der Ausstellung »Barbara 1964« im Städtischen Museum Göttingen die Idee der Übersetzung von Il était un piano noir wieder auf und leistete sie nun mit Leidenschaft. Die deutsche Ausgabe ist neben einigen Abbildungen um Fußnoten erweitert, die die französischen Kontexte erläutern. Dabei konnte es nicht darum gehen, die vielfältigen Aspekte des Lebens von Barbara näher zu beleuchten, zu kommentieren oder zu deuten. Diese nicht unheikle Arbeit mögen die Biographen leisten. Auf die Übersetzung von Titeln ist in den meisten Fällen verzichtet worden, nur gelegentlich wurde sie zum besseren Verständnis des Kontexts hinzugefügt. Zur Ergänzung stehen am Ende eine Zeittafel und eine Diskographie.

 

Die Realisierung dieses Buches wäre nicht möglich gewesen ohne das Einverständnis und das Mitwirken von Personen und Institutionen, die sich für das Andenken und Fortleben von Barbara auf verschiedene Weise engagieren. Zu danken ist Bernard Serf und Martine Worms von der Association Barbara Perlimpinpin Paris, dem französischen Verlag Fayard, Christiane Gieselmann, der Göttinger Kulturstiftung sowie Andrea Rechenberg und Ernst Böhme vom Städtischen Museum Göttingen.

Andrea Knigge

 

 

 

 

ANFANG DES FRÜHJAHRS 1997 begann Barbara damit, die Geschichte des schwarzen Klaviers und die Geschichte des hingebungsvollen Nomadenlebens einer »Frau, die singt« aufzuschreiben. Als sie uns im selben Jahr am Nachmittag des 24. November so plötzlich verließ, hatte sie erst einige, immer stärker ausgearbeitete Versionen eines chronologischen, jedoch noch ausgesprochen unvollendeten Berichtes verfasst. Manche Teile bestanden aus Entwürfen und kurzen Aufzeichnungen, die mit diesem Projekt in Zusammenhang standen, andere mit Themen, die sie uns ebenfalls nahebringen wollte: ihre Tourneen, ihre Engagements, andere schöne Begegnungen, die Häftlinge, Aids, Drogen, die Einsamkeit, Krankheit und Ärzte, Religion, Tod …

Sollten diese Texte veröffentlicht werden, von denen wir wissen, dass sie sie unentwegt überarbeitet hätte, immer wieder korrigiert bis zum endgültigen Abgabetermin des Manuskriptes im Herbst 1998? Eine schwierige und beunruhigende Frage, über die wir äußerst lange und intensiv nachgedacht haben, oft mit Schmerzen und voller Zwiespalt.

Wenn wir uns letztlich dazu entschlossen haben, dieses Buch erscheinen zu lassen, dann deshalb, weil sie sich leidenschaftlich dem Verfassen gewidmet hatte, aber auch – selbst wenn sie es zu ihrem eigenen Vergnügen tat und sie so das gerade aufgenommene Trauern besser ertragen konnte –, weil sie dieses Buch vor allem für ihr Publikum schrieb, dem sie sich mit ihrem ganzen Mut, ihrer Ausdauer, Ernsthaftigkeit, Großzügigkeit und Liebe hingegeben hatte.

»Claude, Régine und dann Jean …«[1]

 

 

 

 

NIEMALS MEHR WERDE ICH eine Bühne betreten.

Ich werde nie wieder singen.

Niemals mehr diese Stunden in meiner Garderobe, in denen ich meinen Lidstrich ziehe und meine Lippen mit diesem lichtschimmernden Puder zeichne, in denen ich mich mit dem Pinsel zur Langsamkeit zwinge, zur Langsamkeit, um mich für Sie schön zu machen.

Niemals mehr werde ich den Strass anlegen, den mit Pailletten bestickten schwarzen Samt.

Niemals mehr dieses Warten hinter den Kulissen, während mein Herz bis zum Hals schlägt.

Niemals mehr wird sich der Vorhang öffnen, niemals mehr wird der Fuß beim Ertönen des Beckenschlages ins Licht gesetzt.

Niemals mehr werde ich auf Sie zuschreiten, zu Ihnen kommen, damit wir uns wieder vereinen.

Eines Abends, es war 1993 im Châtelet[2], schlug mein Herz – zu schwer und übervoll von Emotionen – plötzlich zu schnell und zu heftig, und einige unendliche Sekunden lang, in denen niemand – da bin ich ganz sicher – etwas mitbekommen hat, weigerte sich mein Körper, einem Hirn zu gehorchen, das übrigens längst nichts mehr steuerte.

Dieser Moment blanker Panik, in dem ich gelähmt, kopflos und verloren war, hat sich tief in mich eingebrannt.

Eine Zeit lang habe ich meine Auftritte unterbrechen und schließlich endgültig aufgeben müssen.

Dennoch bin ich zwei Monate nach diesem Abend auf Tournee gegangen. Später werde ich von dieser Tournee erzählen, vom ersten Tag bis zum letzten Abend.

Im Anschluss daran bin ich mit einer großen inneren Leere nach Précy zurückgekehrt und habe zwei Jahre lang um einen Teil meines Lebens, der so jäh zu Ende gegangen war, getrauert.

Zu schreiben bedeutet heute für mich, den Dialog wieder aufzunehmen.

Warum habe ich zum ersten Mal akzeptiert, von einem »vorher« zu sprechen? Weil ich die einzige bin, die dies tun kann! Ich werde es also versuchen, selbst wenn die Zeit die Bilder verzerrt und sie unscharf oder – ganz im Gegenteil – zu präzise, zu fröhlich oder zu schmerzlich werden lässt.

Vor mir liegt viel Arbeit, aber es ist eine Arbeit, die ich mag, und ich werde mich nicht darüber beklagen.

Es ist sechs Uhr morgens, ich bin siebenundsechzig Jahre alt, ich liebe mein Haus, und es geht mir gut. Aus dem Zimmer, in dem ich schreibe, blicke ich in den Garten: Die ersten Rosen erblühen und die weiße Glyzinie ergießt sich in den Patio.

Ein komplettes, verborgenes Leben hat dort hinten seine Wurzeln, in den stehenden Wassern, die einen herben Geruch nach Schwefel verströmen.

Ich habe gelernt, auch die geringsten Geräusche zu erkennen, die unterschiedlichen Gerüche der Erde zu den verschiedenen Tageszeiten. Einzig ein katzenhaftes, unbeständiges Licht überrascht mich manchmal. Mein Blut pulsiert in dem geheimen Rhythmus, der aus dem Boden emporsteigt. Von diesem Ort geht ein so tiefer Friede aus, dass es mir häufig ungerecht erscheint und mich schmerzt, dass nicht die ganze Welt an ihm teilhaben kann. Ein innerer Friede, der mir beschert wurde, weil ich mir für den Rest meiner Tage – wie man so sagt – »dieses kleine Stückchen Frankreich« gönnen konnte.

 

Précy, den 27. April 1997

Unvollendeter Bericht

»ES WAR EINMAL EIN schwarzes Klavier …«, diese Geschichte beginnt bei Einbruch der Nacht, am 9. Juni 1930 in Paris, Square des Batignolles.

Ich war ein kleines Mädchen, das sich – wie so viele andere Kinder – eine Welt erschaffen hatte, um sich dorthin zurückzuziehen. In dieser Welt war ich eine singende Pianistin. Mit den Fingern trommelte ich Melodien auf den Tisch, sang und sprach sie unermüdlich mit. Meine Hände bewegten sich wie auf einem imaginären Klavier, und stundenlang war ich die größte Pianistin der Welt!

»Komm, deck bitte den Tisch …«

Oh, diese Menschen, die mich aus meinen Träumen reißen und die schuld sind daran, dass ich es auf immer und ewig hasse, gehorchen zu müssen!

Wenn man die größte Pianistin der Welt ist und die Töne herumwirbeln, sich erheben, durch die geöffneten Fenster bis über die Wolken hinauf in den Himmel emporsteigen, um sich dann, Kaskaden von Regen gleich, in die Tiefen der Meere zu ergießen, auf die Gründe der Flüsse hinab zu sinken, sich von ihnen aufnehmen, verschlingen zu lassen, um weit entfernt, in anderen Ländern wieder aufzutauchen, ausgespien zu werden, wenn man »die größte Pianistin der Welt« ist, dann deckt man nicht den Tisch! Die größte Pianistin der Welt bin ich nicht geworden, aber ich habe nie aufgehört, Musik zu hören, und auch meine Abneigung gegen alles, was so einfach meine Träume unterbrechen und den Augenblick zerstören könnte, habe ich mir bewahrt. Ich hasse es, wenn jemand plötzlich laut in meine geheimen Rückzugswinkel eindringt. Ich verabscheue diese jähen Unterbrechungen, diese knallenden Türen, diese viel zu lauten Stimmen, die mich bei meiner Arbeit verletzen.

Wie soll ich es nur ausdrücken, es noch einmal sagen, ohne wie ein Ungeheuer zu wirken, wo ich doch lediglich um Respekt für diese Stille bitte, auf die jeder ein Anrecht hat. Ich schreibe folgende Zeilen und hänge sie in einen kleinen schwarzen Rahmen:

 

Ich bin schwer zu ertragen,

wenn ich arbeite.

Schreien nützt nichts.

Ich sehe nichts,

aber ich höre gut.

Danke!

 

Dies verändert die Dinge und macht die Stimmen sanft. Um mich herum säuselt es eine Zeit lang …

Und dann diese Fragen! Oh, die Fragen dieser ewig Neugierigen, die immer wissen wollen, was uns vollkommen selbstverständlich scheint: »Wann haben Sie beschlossen zu singen?« Entscheidet man sich eines Tages dafür, zu singen, oder ist es nicht vielmehr eine lange und schöne Krankheit, die man in sich trägt und von der man niemals vollkommen geheilt wird?

Ich litt an dieser schönen Krankheit, von der ich nur mit großen Schwierigkeiten kuriert werden konnte. Heute, immer noch genesend, kann ich dieses Buch schreiben …

 

Meine ältesten Erinnerungen reichen zurück bis in das Jahr 1937, als ich in Marseille meine erste große Liebe kennenlernte. Ich war sieben Jahre alt und hatte mich in den Sprössling einer adeligen Familie verliebt, einen Dreizehnjährigen, der wahrhaft sehr gut aussah.

Meine erste kleine Dieberei geschah für ihn: zweiunddreißig frische, duftende, saftige Feigen und so schön anzuschauen, dass mein Vater sie einzeln abzählte und in die Obstschale auf dem großen Buffet legte.

Zwei Tage lang leugnete ich, diese zweiunddreißig Feigen stibitzt zu haben, trotz der Drohung, die Gendarmen zu rufen, mich auf ein Internat zu schicken und weiterer demütigender Strafen.

Marseille: Das war der Mistral, mit dem wir zu kämpfen hatten, der meinen Bruder Jean und mich auf dem Weg zur Schule an die Mauern drückte. Marseille, das war der Duft der großen, mit Knoblauch eingeriebenen und mit Olivenöl beträufelten Brotscheiben, die wir in unseren Schulranzen verstauten, das Wettrennen den Boulevard Gaston-Crémieux hinunter, alsdann links und noch einmal links bis zu unseren aneinander grenzenden Schulen. Das Klappern meiner Holzpantinen im Innenhof der Schule, wenn ich ihn rennend überquerte, weil ich zu spät war, die Garderoben und die alten Garderobenhaken, der Geruch der eierschalenfarbenen Schulkittel, auf denen in Rot unsere Namen standen. Und wenn ich endlich in der Klasse angelangt war, erwarteten mich dort mein Schulpult, der Federkasten, das angenagte Radiergummi, der nach Mandeln duftende Topf mit Klebstoff und der Duft der veilchenfarbenen Tinte.

Die schönsten Erinnerungen an meine über verschiedene Institutionen verstreute Schulzeit habe ich an Marseille; sie duften am wohlsten.

 

1938: Wir sind in Roanne, wo meine kleine Schwester Régine zur Welt kommen wird. Von hier stammt meine einzige Erinnerung an ein Weihnachtsfest in der Familie. Am 24. Dezember – es herrschte eine klirrende Kälte – wurden wir zur Mitternachtsmesse mitgenommen. Bei der Rückkehr wartete in der Küche unsere Großmutter, Granny, auf uns, mit einer Orange, einer heißen Schokolade, die einen köstlichen Duft nach Zimt verströmte, und einigen Stückchen Kandiszucker, die sie uns auf einer kleinen blauen Untertasse servierte. Welche Leckereien!

Wie sehr liebte ich meine Großmutter! Sie war ausgesprochen zierlich, mit sehr hohen Wangenknochen, großen schwarzen Augen und überaus feingliedrigen Händen. Das Licht der Welt hatte sie in Tiraspol in Moldawien erblickt, wo auch meine Mutter geboren wurde. Granny duftete nach Honig und buk für mich Kuchen mit hellen Rosinen aus Korinth, Strudel mit Äpfeln und kleingehackten Nüssen. Sie tröstete mich über alles hinweg. Ich kletterte auf ihre Knie und machte es mir in ihren Armen bequem. »Bin ich deine Liebste, Granny? Erzähl‘ wie du in Russland warst, wie du nach Paris gekommen bist. Erzähl‘ wie es war, als Mama noch klein war!« Granny erzählt mir, und als Dank setze ich mich an den Tisch vor mein imaginäres Klavier und spiele ein Lied für sie.

1938 herrscht in Roanne Armut. Ich trage Kleider von Erwachsenen, die für meinen kleinen Kinderkörper zurechtgeschneidert sind und die ich nicht ausstehen kann. In Roanne gab es auch Gerichtsvollzieher, sogenannte »Frühaufsteher«! Eines Tages habe ich sogar miterlebt, wie alle unsere Möbel verschwanden, außer dem Bett meiner Eltern und – Gott sei Dank – dem großen Tisch, auf dem ich meine Lieder erfand und mit den Fingern Klavier spielte.

Ich habe Sätze gehört wie: »Kinder, ihr dürft nicht die Tür aufmachen!« und »Ihr sagt, dass Papa nicht da ist!« Wegen der Gläubiger machten wir oft Umwege. Häufig schämte ich mich. Seitdem hasse ich das Wort »Geld«, die Schummelei und die Lüge. Ich habe das krankhafte Bedürfnis nach Wahrheit, nach meiner Wahrheit …!

Von Roanne behalte ich besonders die Kälte in Erinnerung; wir froren in unserem Haus und in der ganzen Stadt, die ich im eisigen Winter durchqueren musste, ohne Handschuhe, mit blaugefrorenen Fingern, die unendlich schmerzten. Oh wie sehr sie schmerzten!

Viel später, als ich im Théâtre des Variétés[3] auftrat, kaufte ich bei einem alten Herrn, der nebenan in der Ladenzeile ein kleines Geschäft hatte, einen ganzen Vorrat an Handschuhen aus Wolle und Leder in allen möglichen Farben, prachtvolle cremefarbene Handschuhe oder weiße, die bestickt waren, feminin verziert mit Perlmuttknöpfchen, die wie Perlen aussahen. Etliche davon habe ich verschenkt, aber manche befinden sich noch immer hier bei mir.

Aus Roanne hat sich unsere Familie heimlich, still und leise, ohne zu bezahlen davongemacht, in einem alten, dunkelgrünen Oldsmobile, an dessen Existenz ich mich nur noch in diesem Zusammenhang erinnere, den ich aber wunderschön fand.

In der Nacht habe ich mich ständig im Bett herumgewälzt, glaubte ich doch, wir würden verfolgt, und bis heute weiß ich noch immer nicht, ob ich dabei Furcht oder Vergnügen empfand.

 

September 1939: Wir leben in Le Vésinet. »Kinder«, sagen uns unsere niedergeschlagenen Eltern, »der Krieg ist gerade ausgebrochen, wir müssen weg.«

Mein Vater wird eingezogen.

Die Familie trennt sich: Meine Mutter bleibt mit meiner kleinen Schwester Régine zusammen, mein Bruder und ich mit Tante Jeanne.

Stets umhüllt von weiten Mänteln, herrisch und noch immer schön (sie war einst Mannequin bei Poiret[4]), mit ihren langen, durch das Rheuma ein wenig verformten Händen, kreuzte Tante Jeanne, ihre goldverzierte Krokotasche an sich gepresst, oft in Krisenzeiten oder wenn es kein Brot mehr gab, plötzlich bei uns auf und rief: »Ah, meine armen Kinder!«

Tante Jeanne bringt uns von Le Vésinet nach Poitiers, wo wir bei einer ihr bekannten Arztfamilie untergebracht werden. Wir gehen auf eine Schule, vor der eines Tages, zu meiner großen Überraschung, mein Vater am Ausgang auf mich wartet. Er ist in Uniform und hat nur zwei Stunden Zeit, die er mit mir und meinem Bruder verbringt. Danach bringt er mich zurück. Schluchzend flehe ich ihn an zu bleiben. Vergeblich. Ich sehe ihn noch, wie er sich entfernt, sich umdreht, wieder zurückkommt, mich in seine Arme schließt. Um mich zu beruhigen, steckt er mir vierzehn Sous aus seiner Tasche zu, von denen ich mir mit schwerem Herzen Lakritze kaufe.

Die Lakritze, in all ihren Varianten, wird mich nie wieder verlassen: Lakritzstangen, Lakritzschnecken, kleine Stückchen und Lakritze mit Veilchengeschmack … Ich werde immer und überall welche um mich und bei mir haben. Später, ohne ihre schädlichen Auswirkungen auf den Blutdruck zu kennen, werde ich sie allen meinen Freunden anbieten. Lily Passion[5] trägt eine mit Strass besetzte Handtasche, voller blauer Lakritze mit Veilchengeschmack.

 

Ohne mir dessen bewusst zu sein, werde ich fortwährend auf der Suche nach diesem glücklichen Augenblick sein, aber eine solche Vater-Kind-Beziehung werde ich nie wieder erleben.

Wohingegen ich lange die Erinnerung an diese Mischung aus Faszination, Angst, Verachtung, Hass und einer grenzenlosen Verzweiflung in mir bewahre, die ich erneut empfinde, als ich ihn, zwanzig Jahre später, in Nantes tot wiedersehe …

 

Von Poitiers brechen wir nach Blois auf. Meine Mutter, die in der Präfektur arbeitet, erfährt, dass die Brücke, über die man aus der Stadt heraus gelangt, gesprengt werden soll, und bittet Tante Jeanne, uns rasch fortzubringen. Wir sitzen im letzten Zug, der Blois verlässt, und fahren einem unbekannten Ziel entgegen. Aus dem geöffneten Fenster sehen wir meine Mutter winken. Ihre zierliche Hand steckt in einem Handschuh. Wir weinen.

In unserem Abteil befindet sich eine Gruppe verirrter Pfadfinder mit ihrer Leiterin.

Nach ungefähr hundert Kilometern hält der Zug plötzlich mitten in der Ebene von Châtillon-sur-Indre an. Die Waggons werden abgehängt, die Lokomotive fährt alleine weiter und lässt uns auf freiem Feld zurück.

Einige Stunden später sehen wir vier Soldaten mit Maschinengewehren zur Bewachung des Zuges angerückt kommen.

Für uns Kinder wird der Zug ganz schnell zum Spielplatz: Wir rennen vollkommen aufgeregt die Gänge entlang, von Wagen zu Wagen. Um uns ein wenig zur Ruhe zu bringen, schicken uns die Erwachsenen zu den umliegenden Bauernhöfen, um Milch und Eier zu besorgen.

Auf dem Rückweg begegnen wir Soldaten, die sich auf der Flucht befinden und ihre letzten Konservendosen mit uns teilen.

Vergeblich warten wir auf die Rückkehr der Lokomotive. Der Zug bleibt mutterseelenallein in der Ebene stehen.

Am fünften Tag tauchen drei Jagdflugzeuge auf. Eines wird von einer nahestehenden Flugabwehr getroffen, die anderen kommen im Sturzflug herunter und rasen im Tiefflug über den Zug. Wir können gerade unter den Tragflächen die Hakenkreuze erkennen, bevor das eine von ihnen beginnt, die Wagen neben dem unseren zu beschießen.

Panische Angst überall, Schreie. Es gibt Tote und Verletzte. Die Verletzten müssen vierundzwanzig Stunden warten, bis Krankenwagen kommen, um sie abzuholen.

Kinder zeigen im Angesicht des Unglücks oft grausame Reaktionen oder sind vollkommen sorglos. Wenn man neun Jahre alt ist, bedeutet Krieg manchmal auch das Grauen durch Spielen zu überwinden. Wir spielen weiterhin in der Nähe des Zuges in der Ebene.

Siebzehn Tage werden wir dort bleiben.

 

Ich kann mich nicht mehr daran erinnern, wie wir aus dieser Hölle herauskamen, um letzten Endes in einer leerstehenden Schule in Préaux, in der Nähe von Châteauroux zu landen.

Wir schreiben das Jahr 1940. Tante Jeanne macht sich Sorgen. Mit Hilfe der Stadtverwaltung von Préaux versucht sie, unsere Eltern zu finden. Wir erfahren, dass mein Vater aus der Armee entlassen ist und sich in Tarbes aufhält. Meine Mutter mitsamt meiner kleinen Schwester Régine ist zu ihm gekommen, und dort treffen wir zur großen Erleichterung von Tante Jeanne alle wieder zusammen. Sie wird noch einige Zeit mit uns in den Pyrenäen bleiben.

In Tarbes mieten meine Eltern in der Rue des Carmes ein ziemlich großes und schönes Haus. Jenseits eines großen grünen Eingangsportals erstreckt sich ein gepflasterter Innenhof. Das Haus verfügt über zwei Etagen. Meine Eltern lassen sich im Erdgeschoß nieder, mein Bruder und ich haben das erste Mal in unserem Leben jeder ein eigenes Zimmer. Im ersten Stock, gleich hinter dem Treppenaufgang, befindet sich mein geräumiges und helles Zimmer, das von meinem Bruder am Ende des Flurs.

Das Leben gewinnt schnell wieder die Oberhand: Mein Bruder geht auf das Gymnasium Théophile Gautier, ich besuche die Grundschule.

Schulische Großtaten sind nicht meine Sache. Häufig erhalte ich Bemerkungen wie: »sehr undiszipliniert«, »kichert zu viel«, »Unruhestifterin«, »aufsässig«, »ungehorsam«. Andere zum Lachen und Singen zu bringen, Aufführungen zu organisieren, das ist es, was mich interessiert.