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Anna Baar

Als ob sie träumend gingen

Roman

 

 

 

 

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Bibliografische Information

der Deutschen Nationalbibliothek

 

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese

Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;

detaillierte bibliografische Daten sind im Internet

über http://dnb.d-nb.de abrufbar. www.wallstein-verlag.de

 

Umschlaggestaltung: WSV, Göttingen

 

ISBN (Print) 978-3-8353-3124-2

ISBN (E-Book, pdf) 978-3-8353-4167-8

ISBN (E-Book, epub) 978-3-8353-4168-5

Inhalt

Klee war ein Freund

I Südlicher Fisch

Engel im Schnee

Das Glück der anderen

II Lilys großer Tag

Vom Zur-Welt-Kommen

Salz und Zucker

Lilys großer Tag

Kešmeš oder die eine Leere

III Schattenspieler, nachts

Die Prinzessin von Amarant

Der Irrtum

Sieg des Guten

Vom Ungehorsam

IV Maliks Traum

Als wär's ein Fest

Auf!

Tage des Zorns

Drei Narrenworte

V Ein Augenblick von Ewigkeit

VI Die Abwesenden

Über das Meer

Die Fehlenden und der Ersatz

Die Herzseite der Medaille

Suez

Gier

VII Neue Kinder

Geschichten vom Bleiben

Unter Menschen

Der Weltempfänger

Affe aus Amerika

VIII Gesternschnee

Die größere Geschichte

Ida, immer die Krähen!

Von der Wahrheit

Andante

 

 

 

»Ist das auch wahr, was du da lügst?«

    Jean Cocteau, Kinder der Nacht

 

 

K. 618

    Wolfgang Amadeus Mozart

 

 

 

Klee war ein Freund. Mir jedenfalls galt er als solcher, auch wenn ihm von den Tugenden, die ein noch unerfahrenes Herz begehrt, nur wenige zu eigen waren. Er konnte nicht verlässlich sein noch aufmerksam, kannte nicht Trost noch Manieren und nahm es mit der Wahrheit nicht genau. Beklagte ich mich einmal, ging er ganz in sich zurück, die verletzliche Seite seines Wesens wie einen schuldlosen Mitwisser zu decken. Immerhin: Wir konnten miteinander schweigen. Und das Glück war tiefer mit ihm und das Unglück leichter.

Von ihm will ich erzählen. Auch von den Tagen, da wir uns noch nicht begegnet waren. Manches hat er mir erzählt, manches bilde ich mir ein, vieles wird geträumt sein oder ausgedacht. So ist es gut, auch wenn ihr es gewohnt seid, nur denen zu glauben, die von Tatsachen reden und ihre Niederschriften, in handgreifliche Form gebracht, schließlich als Nachweis verkaufen, als verstünden sie sich darauf, zu erhellen, was sich in einem früheren Dunkel zugetragen hat, als gewährten sie euch Einlass in Räume, deren Türen nur den Träumenden offen stehen. Ihr meint hineinzusehen, und doch ist Finsternis, wohin ihr blickt. Weil alles Lichtspiel bleibt, ein an die Wand geworfener Bilderlauf.

Nicht wer im Augenschein die Wahrheit sucht, vermag gerecht auf ein Leben zu schauen, nur der Liebende und offenen Herzens Staunende.

 

Er wird auch die im Dunkeln sehen.

 

 

 

I

 

Südlicher Fisch

(Adagio con pietà)

Engel im Schnee

Klee liegt auf dem Krankenbett, unter dem Flügelrad des Deckenventilators, das sich so tief in seine Gedanken schraubt, dass er nicht unterscheiden kann, ob es die Sommerhitze ist, die ihn bezwungen hat, oder ein inneres Feuer. Mit nach der Zimmerdecke gerichteten Augen liegt er da, den Blick schon taub vom Kreiseln. Manchmal verschwimmt sein Jetztbild mit einem früher geschauten: das Rotieren von Audiokassettenspulen hinter der durchsichtigen Plastikabdeckung eines Kassettenfachs. Oder Mädchen beim Reigentanz. Sie stemmen ihre Hände in die Hüften, stampfen, hüpfen, drehen sich. Ein Jauchzen, Klatschen, Lachen! Die Mädchen tragen Zöpfe. Alle bis auf Lily. Lilys Haar ist unfrisiert, immer ist es so. Lily tanzt für sich, zu einer anderen Musik, mit dem anderen Gesicht. Ein Zeitlupentanz ist das – adagio con pietà. Dann, gleich, noch ein anderes Bild: ein Kirchenchor, vielstimmiger Gesang. Und wieder Lilys Mädchengesicht inmitten der anderen Sänger. Und irgendwo beginnt das Feuer, und der Wind stößt ins Feuer und da aus hundert Kehlen Ave, ave! und Heil, o wahrer Leib, der wahrhaft litt!, und am Ende des Dorfs streut sich die Glut über trockenes Gras.

Klee schließt die Augen, hält sich die Ohren zu. Doch alles ist ja längst in seinem Kopf. Lilys Stimme auch. Die anderen immer leiser, die Einsager, Beschuldiger, die Schreihälse, Neider und Spötter. Lily aber meint es gut. Bestimmt meint sie es gut – wie damals auch, am eigentlichen Tag. Ein Wintertag muss das gewesen sein, und kein Tag seit dem Tag, an dem Klee nicht beim kleinsten Anstoß zurückfiel an den Ort und in die Zeit, wie die Plattenspielernadel bei der kleinsten Schramme an den immer selben Punkt zurückspringt, sich da immer tiefer in die Furche fräst, bis sie einmal stecken bleibt. Man kann es kommen sehen. Immer sieht man es kommen. Ein wiederkehrender Wachtraum: Lily und der Mann mit dem Totenkopf am Kragenspiegel. Der treibt sie vor sich her. Und sie? Hinkend, aber aufrecht, im Kreuz den Lauf des Gewehrs, und immer noch den Trotz im Blick, ohne Eitelkeit. Und dann? Lässt sie sich rücklings in den unberührten Schnee fallen und tut wie die hölzerne Gliederpuppe des Kinds, wenn man an der Schnur zwischen ihren Beinen zieht, Arme und Beine ausgebreitet, dann wieder angelegt – und abermals so auf und ab –, und als der Mann sie weiterzwingt, bleibt da eine Vertiefung im Schnee, die aussieht wie ein Engel.

Klee blinzelt, nimmt die Hände von den Ohren. Sein Puls folgt dem Rotationstakt des Propellers. Die Schwüle bleibt. Sie ist ihm gut und er jetzt selbst Teil dieses Drehens, Schwindelns, Taumelns, Stürzens – Ave, ave, verum corpus – und gleich der große Knall, das Aufflattern der Vögel im Weingarten des Vaters, das Aufschrecken aus dem Schlaf, der zuweilen nur ein Halbschlaf ist, ein Dämmern, Dunkelsehen.

Seltsam ist: Er weiß nicht, wie der Tag zu Ende ging.

Draußen am Gang ist es ruhig. Auch drinnen, im Zimmer, ruhig. Nur das Windmaschinengeräusch. Manchmal mischt sich ein Surren hinein, das Kitzeln der Beinchen und Rüssel. Früher waren ihm Fliegen verhasst, und wütend hat er sie immer verscheucht, wütender, als es dem Zuschauer angebracht schien – wenn es denn einen Zuschauer gab –, denn der Zuschauer, wenn es ihn gab, sah ja nur den Tobenden, der nach den Plagegeistern schlug und dabei trampelte und schrie, nicht aber einen, der eigentlich die Erinnerung zu vertreiben suchte, die ihr Anblick in ihm weckte, und lebhaft, wie noch mittendrin, als stünde er immer noch dabei, wie Malik, der jüngere Bruder, damals ein Kind von vielleicht zwölf Jahren, neben dem toten Maultier kniet und weinend nach den Fliegen schlägt, die sich nach kurzem Reißausnehmen wieder und wieder auf Maul und Nüstern setzen, auf Wunden, in denen Maden sich biegen, und so, als stünde er noch dabei, wie Malik das tote Maultier streichelt und wie er sein Ohr an den Tierbauch drückt, als horchte er nach dem Klopfzeichen des Lebens. Und wie er es rüttelt, zu wecken sucht und dabei einen Namen sagt, den keiner außer ihm je in den Mund genommen hat: Mila! Mila!, immer lauter, dass Klee, um einer Rührung zu entgehen, ihm ängstlich ins Gewissen ruft, und diesen Ruf noch jetzt im Ohr – Halt’s Maul und sei ein Mann!

Jetzt lässt er die Fliegen gewähren, hält still, dass sie da bleiben, freut sich am Kitzeln auf seiner Haut. Es ist die letzte Zärtlichkeit, die ihm noch zufallen kann. Das Streicheln eines Mädchens. Er kann sie deutlich sehen, die hohen Wangen und die kühn geschwungenen Brauen, ihr unfrisiertes Haar. Sie wirbt nicht, will nicht gefallen. In schlichter Schönheit steht sie da, wie eine blasse Maurin, eigenwillig und voll von Lust, alles an sich zu haben. Da winkt sie vor seinen Augen, Ist da einer? Hören Sie mich, Klee? Klee? Die Schwester scheucht die Fliegen fort, zerschlägt sein Bild und schlägt das Leintuch um. Wortlos greift sie nach seinem Geschlecht, zieht es aus der Flasche, die sie auf den Nachttisch stellt, säubert es mit einem Zellstofflappen, steckt es erneut in den Flaschenhals, bedeckt ihn wieder und geht. Klee blickt ihr noch nach, als er sie längst nicht mehr sieht. Er muss daran denken, wie er einmal in die Vase uriniert hatte, in die Vase der Frau. Gleich kommt der Oberarzt. Der Oberarzt mag seine Fliegen nicht. Man muss ihm zu Gesicht stehen, sonst …! Was sonst? Die Schwestern kuschen, wenn er kommt. Sie plieren und girren und folgen aufs Wort und folgen auch ohne Worte. Sie geben zu Protokoll: Hoden beidseits vorhanden, etwa haselnussgroß. Der linke verschwindet bei Kälte. Ansonsten ist leiblich alles normal, nur der Geist ist ihm abgeirrt. Augenblicklich hat er die Grillen und bildet sich lebhaft was ein.

Der Arzt macht sich Notizen. Manchmal ein Handzeichen oder ein Eselsohr auf dem obersten Blatt der Krankenakte – soll wohl heißen: Hoffnungsloser Fall. Die Hoffnungslosen räumt man fort. Vielleicht sind die bei Gott, wenn es ihn gibt. Wer sagt denn, dass man keine Hoffnung hat? Er! Der Oberarzt ist obenauf. Er ist es, der die Fragen stellt, und stellt sie aus wie Fallen. Seit wann haben Sie Stimmenhören? Kann man das haben, Stimmenhören? Der Oberarzt notiert, sein Klemmbrett wippt. Musterblatt Krankheitsgeschichte. In die linierten Leerstellen des Vordrucks setzt er das gültige Urteil, schwarzblaue Schlingen, Schlaufen und Zinnen, Kuppen eines unbenannten Orts, die, ehe sie abtrocknen, das Röhrenlicht der Notbeleuchtung spiegeln. Festzustellen: Körpergröße 179 Zentimeter, Gewicht 70 Kilogramm, Statur mittel, Degenerationszeichen Passagerer Kryptorchismus, besondere Erkennungsmerkmale Regio pectoralis lateralis rechts kirschgroßes, altes Wundmal, Regio deltoidea links erbsengroßes, altes Wundmal sowie längliche, wulstige Narbe Regio hypochondriaca, Kein Parasitenbefall. Diagnose Schwachsinn. Der Oberarzt will ihn nackt. Antworten Sie mir endlich! Wer glauben Sie, dass Sie sind? Er spielt mit ihm das Ratespiel. Er wird das Spiel gewinnen. Er wird jedes Schweigen als Krankheitszeichen deuten, wie er jede Antwort als Krankheitszeichen deuten wird. Er weiß am besten, wer Klee ist und dass der Klee wer ist.

Jedes Kind weiß: Auf einem mannshohen Sockel aus Stein stand auf dem Heldenplatz des Orts das Mal. Aus Gusseisen war das – ein Haudegen in Kniehosen und offenem Mantel, den Arm mit der geballten Faust zum Sieg gespannt, das Gewehr geschultert, den Blick in die Ferne gerichtet. Das wird der Klee gewesen sein. Oder einer wie er, gleich in Ruf und Gestalt. Sie haben das Denkmal fortgeschafft. Als wär es nie gewesen. Als wär der Klee nie gewesen. Doch halt! Die Heldenstücke sind belegt, aufgezeichnet und auf Band gesprochen, acht Kassetten, C90 Super Sound Magnetic Tape, handschriftlich mit Datum und laufenden Nummern versehen. Dazu noch die Plaketten, Ehrenzeichen, und seine alten Narben, die jeder mit freiem Auge erkennt. Es braucht kein Denkmal zum Beweis.

 

Nicht der, für den man mich hält.

Wie hat das angefangen?, fragt der Arzt.

Es hat geschneit, Herr Doktor.

Und dann? Und dann! Sie müssen sich erinnern!

 

Und wie das gehen soll: sich zu erinnern? Oft genug hat er’s versucht, ist ganz in sich gegangen und aus sich, das schon Gelöschte wiederherzustellen. Und manchmal, blitzschnell, war es da, wenn er zum Tonaufnahmegerät geredet hat, zur Erinnerungsmaschine, Stunde um Stunde, Tag um Tag, ohne Rücksicht auf die Frau, ohne Rücksicht auf das Kind. Ja, da waren Frau und Kind. Bei denen hat er gelebt, mehr Anrainer als Mitbewohner, ein großer, schwerer Mann, und doch hat keiner ihn gekannt, nicht die Frau, nicht das Kind, nur die Männer, die an den Abenden kamen und bei Einbruch der Nacht verschwanden. Zu denen hat er geredet, anders als zur Frau. Zum Kind hat er kaum geredet, nur dann und wann ein Kosename oder Liebeswort, bestimmt als Ausgleich für das Schweigen, das Unbehagen, wenn es schwatzte oder Fragen stellte, wie die Kinder immer Fragen stellen, auf die man keine Antwort weiß. Warum wird man geboren? Warum gibt’s Tag und Nacht? Warum bist du so still? Alles hatte still zu sein, und alle Welt schien stillzustehen, vor allem, wenn Klee zur vollen Stunde die Radionachrichten hörte und zwischendurch, an den langen Nachmittagen, in das eingebaute Mikrofon seines Kassettenrekorders sprach, wie man zu einem Vertrauten spricht, nur gründlicher – immer in der Vergangenheitsform, auch in Gegenwart des Kinds, das dann zu seinen Füßen saß, unterm großen Esstisch. Nur selten ein Schaudern, wenn er bemerkte, dass das Kind zu seinen Füßen ein anderes war als eben noch gedacht, ein nächstes Kind, fälschlich beim Namen der Tochter gerufen oder Ida, dem Namen der Frau. Wer sollte die Kinder auseinanderhalten, wo sie sich doch so ähnlich sahen, dass man sie gern in Reih und Glied angeordnet hätte, damit nur keins verlorenginge, wie die hölzernen Schachtelpüppchen, der Größe nach auf dem Wandbrett der Frau. Nur zur Zierde standen sie da, weil Ida immer vorhersah, dass sie zerbrächen oder verlorengingen, wenn das Kind sie für ein Spiel gebrauchte, klein und zierlich, wie sie waren. Eine solche Haltung zum Kind musste ungerecht sein. Umso größer Klees Bedenken, weil sein hauptsächliches Gefühl für das Kind eine Gereiztheit war. Die noch zügellosen Triebe des Kleinen beunruhigten und bedrängten ihn, obwohl er ohne zu zögern geschworen hätte, es über alles zu lieben, genau wie das eigene Kind. So hat er es, wenn es sich fortstehlen wollte, gleich gelockt und gerufen, damit es in Sichtweite bliebe, damit ihm diesmal nicht entginge, wie so ein Menschlein heranwächst und lernt, wie es irgendwann fortzieht; und wie das wieder nächste kommt, früher oder später, wie bei Idas Schachtelpüppchen, die man an der Bauchfurche teilen konnte, dass sie ein kleineres gebaren und immer so weiter, zwiebelartig, bis zum kleinsten, das nicht aufzubrechen war. So wäre alles gut, ein ständiges Wachsen und Mehren, und die Kinderseele bliebe allen inbegriffen, wie die Vorfahren in Ziegen und Schafen, Bäumen und Steinen inbegriffen waren, wie man selbst alsbald in Balg und Borke: Ein Abkömmling nach dem anderen, ausnahmslos vom gleichen Blut. Und dieser da, das Kindeskind, noch anhänglich und biegsam, denn geliebt hat ihn das Kind, den nur im Kreis der Männer Mitteilsamen, wenigstens Angst hat es um ihn gehabt – und war nicht auch die Angst ein Liebeszeichen? Rief er es beim Namen, kam es gleich herbei, denn so ein Kind weiß noch um seinen Platz – und es braucht einen auch, weil man es auf den Schultern trägt, wenn es nicht mehr gehen mag. Mit den Jahren war’s ihm schwer geworden, als hätte er mit letzter Kraft die Last der Welt zu tragen. Und wie er zuletzt keuchte unter dem Gewicht des Kinds, das da vielleicht kein Kind mehr war! Und das Kind, wohl berührt von seinem Keuchen, aber nicht genug, die Annehmlichkeit aufzugeben. Wie die meisten Kinder war es nur zu der Art Dankbarkeit begabt, die gleich nach der Erfüllung neuer Wünsche schielt. Doch wie dem Kind was abschlagen, wenn immer etwas zu begleichen bleibt – das dauernde Verspätetsein, die Übellaunigkeit?

Geschneit? Und dann? Der Oberarzt wird laut. Wie hat das angefangen? Klee starrt und schweigt. Und dann? Man kann es kommen sehen, und immer sieht man es: Das Kreiseln des Ventilators, rotierende Kassettenspulen, gespiegelt in den Pupillen des Kinds. Die Mädchen beim Rundtanz, wieder, und Lily mittendrin. Dann Lily mit dem Totenkopfmann, im Kreuz den Lauf des Gewehrs. Erinnern Sie sich!, brüllt der Arzt, brüllt wie der mit dem Totenkopf, den Gewehrlauf auf ihn gerichtet, den Finger am Abzug, Peng! Klee schlägt um sich, schreit wie ein Kind, ruft immerzu einen Namen. Um Himmels willen, beruhigen Sie sich! Es ist nur eine Spritze! Man bändigt ihn, der Arzt drückt ab. Schlagartig ist es still.

Das Glück der anderen

Am Anfang weiß man nicht, dass es ein Anfang ist, dass etwas beginnt. Es beginnt einfach. Im Anfang war kein Wort. Klee war gebürtig, wo an den Wochenbetten kein Lachen und an den Sterbebetten kein Weinen war und Ahnung schon Gewissheit. Wieder und wieder ist er geboren, in allen Abenteuern und Erfindungen, eigenen wie fremden. Da war das südliche Land, namenlos, eingenommen von immer neuen Eroberern, deren Herkunft den Nachkommen noch heute in Wesen und Gesicht geschrieben steht: Maghreb. Levante. Illyricum. Mauretanien, vielleicht. Einige kamen im Namen des Kalifen von Afrika über das Meer, brachten Kümmel, Orangen, Tamarinden oder Krieg. War nicht Krieg, war’s eine Zwischenzeit, eine Nach- oder Vorkriegszeit. Nur sprach man nicht vom Kommenden, und Krieg blieb ein Vergangenheitswort, nur im Rückblick brauchbar. Flüchtige und Suchende hatten dem Land immer neue Worte und Bräuche aufgedrückt, auch die Irren und Verbrecher, die man hierher verbannte, auch die Schiffbrüchigen, Piraten und Schmuggler, die irgendwann gestrandet und dageblieben waren, und nicht weil sie sich etwas versprachen, und kaum je aus freien Stücken. Ihre Nachkommen, prächtige Mischlinge aus Bunten und Bleichen, sprachen eine Mundart, deren Worte derb, deren Klänge aber warm und weich waren, auch wenn sie sehr laut redeten, wie zu weit Entfernten, wahrscheinlich zu den Ahnen, den vorzeiten in den Ländern ihrer Abstammung Zurückgebliebenen. Eine Sehnsucht war ihnen angeboren, deren Richtung keiner mehr kannte und der doch mancher folgte. Und wie das Meer über Nacht den einen brachte, riss es den anderen wieder fort.

Da war das Dorf, den Jungen nicht gut, um sesshaft zu sein, den Alten nur zur Dauer, und nur der Krieg noch zum Beweis, dass das Land etwas galt, der Ort der langen Tage, des Wartens auf die Heimkehr eines jeden, wie auch die Dagebliebenen Abwesende waren. Den meisten dort fiel niemals ein, zu fragen, ob sie zu Höherem bestimmt seien als zu Plage, Gottesfurcht und Pflicht, und was hoffen oder hadern, wenn einer ums Schicksal doch nicht herumkam. Stumpf gegen die Not des Vertrauten, schien die Not geratener als der Aufbruch in ein anscheinendes Glück, das seine Versprechungen bestimmt nicht einzulösen vermochte, einen vielleicht in ein neues Unglück stürzte und damit um das Gute brächte, das im Alten war – Einverständnis, Zugehörigkeit und ein fester Platz bei Tisch. Alles sollte bleiben, wie es war, auch wenn die Treueschuld alle Leidenschaft überdauert und sich das Herz schon so erkaltet hatte, dass es nicht Lust noch Freude und nicht einmal mehr Trauer fassen konnte. Die Frauen belauerten die Männer, damit sie nicht vom Weg abkämen, nicht in Suff, Wahn oder eine Liebschaft entwischten. Den Mädchen schnitten sie die Zöpfe, um Eitelkeit und Übermut zu bändigen, und redeten ihnen vom Alb, der sich nachts mit den Unfolgsamen paare, ohne dass sie es bemerkten. Den Knaben erzählten sie von Nymphen, die den Samen schlafender Männer raubten, und schürten die Weiberscheu, dass sie sich vor einer jeden in Acht nähmen, die vor den Unwettern auf dem Feld blieb, trotz voller Teller hager war oder, wenn man sie kniff oder trat, keine Träne weinte; vor einer jeden übrigens auch, in deren Haus sich ein Spiegel trübte – und alle Spiegel trübten sich, früher oder später. Und weil die Frauen nicht sicher wussten, ob die weltlichen Maßregeln geeignet wären, sich die Männer und Kinder zurechtzubiegen, und da sie zu beschäftigt waren, sie fortwährend zu bespitzeln, drohten sie mit einem strafenden Gott, dem nichts verborgen bleibe.

So war der Umgang zu der Zeit. Die Zeiten dauern fort. Man blieb einander untertan, bereit, den Eiferern alles zu glauben, dem Herzen aber nichts. Und die Mädchen welkten vor der Blüte. Und die Männer versagten sich die Träume, bis der Schlaf sie mied und sie die schwere Müdigkeit befiel, die nur den Tod als Ausgleich kennt, wie dem an Leidenschaft Erkrankten sonst nichts blieb – außerstande, einem Gott gerecht zu sein, der ihm auf dem Pfad der Tugend zur schwersten Prüfung das Weib beigesellt hatte, dass ihm die ärgste Not nicht Mühsal oder Mangel sei und nicht einmal ein Krieg, sondern der Aufruhr seines Geschlechts. Die Frauen beglichen ihn mit Fleisch und Blut. Es wuchs in ihren Schößen, bis es nach stundenlangem Wälzen zwischen Kot und Nässe herandrängte, einmal als scheinbares Leben, ein andermal reglos, fahl oder blau oder, wenn eine mit dem Teufel im Bunde gewesen war, als groteske Kreatur, von Jelka eilig in ein Windeltuch gepackt und weggelegt, um der Mutter den Anblick zu ersparen. Zuckte oder schmatzte es, schlug die Hebamme ein oder zwei Mal mit einem Holzscheit auf das Windeltuch, an der Stelle, wo sie das Köpfchen wusste, so, wie es die Fischer mit den Brassen und Sardinen taten, wenn sie in den Leinensäcken unerwartet zu zappeln begannen. Danach schlug sie ein Kreuz und hob zu jammern an, bis sich das Tor zur Hölle wieder schloss – Gott gibt, Gott nimmt, wie man nur ausrief, wenn er nahm.

*

In manchen Sommern, da nicht ein Tropfen Regen fiel, sengte die Sonne die Erde zu Staub, und der Wind trug den Staub aus den Scharten des Karsts und blies die Saat aus den Äckern und streute sie weit übers Meer. In Zeiten der großen Dürre, wenn Kinder und Tiere wie Fliegen starben und die Frucht lange vor der Reife zu welken drohte, pilgerten die Dörfler zur Kapelle des heiligen Antonius, das letzte Stück immer barfuß, den Zürnenden zu erweichen. Man versagte sich das Feiern, Tanzen und Freuen und machte ein finsteres Gesicht, damit Gott gleich bemerkte, wie bitter man die Schuld abtrug, die man sich aufgeladen hat. So ging das, bis der Regen kam und alles seinen gewohnten Lauf nahm und von allen Türmen und aus allen Höfen und Fenstern wieder das Leben lärmte.

Auch mit Klee nahm alles seinen Lauf, aber anders. Der jüngste Sohn des Darovan, eines braven Bauern, der nur beim Militärdienst fremdes Brot gekostet hatte, war ein stürmisches, bockiges Kind, ängstlich gegen die Gestalten seiner Fantasie, achtlos gegen die echten Gefahren oder das, was man dafür hielt. Auch hatte er die Neigung, sich affig aufzuführen, wenn er die Hofleute von der Arbeit ernst und einsilbig fand. Oft spielte er so lange den Schelm, bis ihn ein Weinanfall schüttelte, weil er wieder durchschaut hatte, dass das ausgelöste Lachen kein Beifall und nicht einmal ein Zeichen des Frohsinns, sondern mehr ein Auslachen war. Mit der Zeit lenkte er seinen Ehrgeiz auf anderes, zeigte sich bald in allem geschickt, was Wendigkeit, Kraft und Mut erforderte, auch wenn die Leute nun sagten, er habe Hummeln im Arsch.

Ja, so war das mit Klee. Seine guten Wünsche und Absichten wuchsen höher in den Himmel als die Friedhofszypressen, doch vergaß er darüber, dass alles, was einer ungebeten zu seinem und anderer Glück in Angriff nahm, misslingen konnte, wo man am Ende nur das Ergebnis in Betracht zog, nicht aber den guten Vorsatz, mit dem die Tat vollbracht war. Es beunruhigte ihn, dass die Mutter, auf deren natürliche Klugheit er große Stücke hielt, nicht begreifen wollte, warum er die letzten Schlückchen Ziegenmilch an die Katzen gab oder die Stalltür mit Honig bestrich, um der Fliegen Herr zu werden, die um die Augen des Maultiers wimmelten. Auch dass ihn die Mutter geohrfeigt hatte, als er ihr einen Strauß Nelken entgegenstreckte, überzeugt, dass die Blumen der Mutter mehr Freude bereiteten als der verstorbenen Trödel-Kata, die schon als Lebende so schwachsichtig war, dass sie den Tag nicht von der Nacht zu unterscheiden wusste. Und gleich die zweite Ohrfeige, weil er auf die Frage, woher er die Blumen habe, nur die Achseln zuckte, um der Mutter das Wort zu ersparen, das jeden sofort an den Tod denken ließ. Und gleich die dritte, weil er auch die Lüge abstritt – wer wollte denn einen Lügner zum Sohn! Gott, dem nichts verborgen blieb, dachte bestimmt wie er: Es war ein Zeichen der Liebe, ihr Schlechtes zu ersparen, auch wenn ihm die Mutter die geschönte Wahrheit in derselben Weise krummnahm, wie sie die ungeschönte krummgenommen hätte, dass es einem vorkommen konnte, als ob vor dem Gesetz des Anstands ausgerechnet das in bester Absicht Getane übel ausgehen musste.

Natürlich wusste Klee nichts Besseres, als fest im Willen zu bleiben, das, was ihm gut und wichtig schien, ungestüm zu verfolgen. Schon in seinem fünften Jahr, die Ernte war wieder gering und der Hunger groß, klappten die Dorffrauen ihre Fensterladen zu, sobald sie ihn auf der Straße sahen. Zuvor hatte die einäugige Manda beobachtet, wie er etwas nach dem Schwalbennest unter ihrem Dachsims warf, worauf sie ihn weithin hörbar einen Steinschmeißer schalt. So glaubten nun alle zu wissen, wem Gottes Zorn hauptsächlich galt. Kann sein, dass die einäugige Manda die Brotkrume wirklich für einen Stein gehalten hat, aber wahrscheinlich ist das nicht, wo sie doch mit dem einen heilen Auge so adlerisch sah, dass sie damit in die Zukunft blicken konnte, eine Gabe, die sich die Dorffrauen eifrig zunutze machten, wenn Ungeduld und Neugier an ihren Seelen fraßen. Sie glaubten dem Mädchen jedes Wort und hielten eisern daran fest. So blieb der Klee der Steinschmeißer – und blieb es auch nach Mandas Verwandlung. In einen Zustand gefallen, der ihr die seherischen Kräfte raubte, glaubte sie sich von einem Dschinn besessen und suchte rasch den Pfaffen auf, ihr diesen auszutreiben. Der redete ihr den Dschinn wohl aus, in langer nächtlicher Prozedur. Doch war sie danach nicht heller. Im sechzehnten Jahr ihres Lebens begann sie, Grimassen zu schneiden und wie ein Tier zu stöhnen, nur noch zum einzigen Satz begabt – Manda, Manda, schönes Kind. Obendrein verständigte sie sich durch Zeichen, ganz nach Kinderart, und fing auch wieder an, mit ihrem Püppchen zu spielen.

Einmal versuchte Klee zu erklären, dass der vermeintlich geworfene Stein nur eine winzige Brotkrume war, da nannte man ihn Lügner. Und als er darüber in Zorn geriet, tippten sich die Leute mit dem Finger an die Stirn, um ihm zu bedeuten, dass ein Vogel in seinem Kopf niste und wohl den Geist störe. Niemand konnte ihm helfen. Am wenigsten die Mutter. Was immer sie entgegenhielt, gleich hieß es nur, ein Mutterherz sei blind und niemand weniger glaubhaft als eine, die gut von ihrem Kinde spricht.

*

Jelka aber glaubte an Klee, und so, wie man an Gott glauben konnte – oder einen Größeren. Ungewöhnlich war das, weil sich die Erwachsenen sonst nicht darauf verstanden, den Kindern etwas nachzufühlen, geschweige denn es Schwalbenjungen nachzufühlen, die zum Erbarmen nach der Mutter ziepen. Nur der Hebamme war es gegeben, in die Seele des Kinds zu sehen. An der Schwelle des Lebens, noch vor dem ersten Schrei, hat sie Klee den Finger auf die Lippen gedrückt, damit er die Weisheit der Engel nicht an die Irdischen verriete. Daher die kleine Vertiefung über seinem Mund, für die sie beide keinen Ausdruck hatten. Manchmal befühlte Klee die Stelle, wenn Jelka davon erzählte, und sie führte ihn an den ersten Augenblick, hinter die Zeit, weit nach den Zwischenwelten, die man bewohnt, solang man keine Worte hat.

Dann und wann strich sie ihm sanft übers Haar, mit ihren großen Händen, die hundert Kinder auf die Welt gezogen haben, lebende wie tote, und selbst die Winzigsten und die in durchsichtigen Häutchen Eingeschlossenen, bei denen unentschieden blieb, ob sie menschlich waren. Sobald einer Mutter die Milch eintrat, legte Jelka ihr ein Kätzchen an, um Entzündungen abzuwehren. Sank eine ins Fieber, gab sie ihr einen Sud von Salbei und Gräsern und lockte sie mit Zuspruch aus den Fantasien.