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We tell ourselves stories

in order to live.

Joan Didion

Jana Hensel

Keinland

Ein Liebesroman

 

 

 

 

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Bibliografische Information
der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese

Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;

detaillierte bibliografische Daten sind im Internet

über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

 

 

© Wallstein Verlag, Göttingen 2017

www.wallstein-verlag.de

Umschlaggestaltung: Melanie Petersen, Berlin

ISBN (Print) 978-3-8353-3067-2

ISBN (E-Book, pdf) 978-3-8353-4173-9

ISBN (E-Book, epub) 978-3-8353-4174-6

INHALT

Höhlen

Felder

Wälder

Wüsten

Meere

Bäche

Schluchten

Schnee

Wiesen

Wege

HÖHLEN

Heute Morgen bist du nach Hause geflogen, ich muss da noch tief und fest geschlafen haben. Du bist irgendwann aufgestanden, hast deinen Koffer genommen und bist gegangen. Dein silberner Rollkoffer stand im Flur, gleich neben der Tür. Dort hast du ihn, nachdem du angekommen bist, abgestellt, und dort ist er stehen geblieben. Und ich habe es nicht bemerkt, ich habe noch geschlafen, so wie Menschen in Filmen auch oft schlafen, wenn jemand geht, die Tür ganz leise ins Schloss zieht. Ich habe es erst viel später auf Twitter gesehen, aber da warst du schon nicht mehr da. Wir hatten die halbe Nacht am Küchentisch gesessen und gestritten. Auf dem Küchentisch standen da schon nicht mehr als eine Schale Obst und zwei Gläser. Irgendwann haben wir begonnen, nur noch Wasser zu trinken. Du bist immer wieder aufgestanden und hast uns neues Wasser aus dem Hahn hinter dir geholt. Über München, über den Mann mit dem Schnauzbart, über alles, über nichts. Über unser Nichts. Gar nicht abstrakt, ganz konkret. Dein Nichts. Mit dem Mann mit dem Schnauzbart hatte alles angefangen, nein, mit dem Mann mit dem Schnauzbart hatte alles geendet, hatte das Ende angefangen. Wahrscheinlich. Danach war ich so erschöpft, ich bin irgendwann zum Sofa hinübergegangen und muss dort eingeschlafen sein. Und nun ist Martin fast schon wieder zu Hause, zu Hause in seinem heiligen Land.

Vor dem Einsteigen in Tegel hat er noch schnell ein Foto von der aufgehenden Sonne gemacht. Am unteren Rand des Bildes kann ich noch das Geländer der Gangway sehen. Für manche mag das aussehen wie ein Zeichen der Hoffnung, auf jeden Fall ein neuer Tag, immerhin schönes Wetter. 17 Followern gefällt das, das ist nicht so schlecht, aber mir gefällt es nicht. Das Foto passt nicht zu ihm, so ein Foto kann jeder machen, so ein Foto macht jeder, die aufgehende Sonne passt nicht zu ihm. Oder sollte ich das besser nicht denken? Sollte ich das lieber für mich behalten, weil es immer Hoffnung gibt, immer Hoffnung geben muss. Wenn auch nicht hier, wenn auch nicht jetzt, wenn auch nicht mehr für uns.

Ich hatte die Regeln verletzt, ich hatte unsere Vereinbarung gebrochen. Es war meine Schuld. Aber auch das behalte ich für mich, nein, Martin, ich erzähle niemandem von unserer Vereinbarung. Du kannst mir vertrauen.

Warum?, fragst du.

Aus Gründen der Tarnung, sage ich.

Nein, Nadja, ich will wissen, warum ich dir vertrauen soll.

Weil ich dir doch auch vertraue, Martin. Ganz einfach.

Und weil es besser ist, sich zu tarnen. Das habe ich doch von dir gelernt, das hast du mir doch beigebracht. Die meisten Leute tarnen sich, hast du immer gesagt. Sie führen bestimmt ein glücklicheres Leben als wir.

Es ist schon so spät, ich sollte endlich vom Sofa aufstehen, in die Küche gehen und mir einen Kaffee machen. Draußen scheint die Sonne, sie sieht mild und noch gar nicht nach Sommer aus. Eigentlich hast du immer den Kaffee gemacht. Du hast sogar die Milch aufgeschäumt, ich musste darüber lachen, ich fand das ein bisschen pedantisch. Bis heute Morgen warst du noch da. Warum, um Gottes willen, habe ich nicht gehört, wie du gegangen bist? Ich sollte duschen, mich anziehen und in die Redaktion fahren. Morgen muss doch auch eine Zeitung erscheinen. Als wäre heute ein ganz normaler Tag. Heute ist ein ganz normaler Tag. Auch Giovanni ist unten auf der Straße schon dabei, die Stühle und Tische vor sein Café zu stellen, ich kann die Mütter mit ihren Kinderwagen, die fast jeden Morgen kommen, bis hier hinauf zu mir in den 2. Stock hören. Sie lachen, dann hören sie auf, weil eines der Babys zu schreien beginnt.

Giovanni ist an vielen Tagen der erste Mensch, mit dem ich spreche. Wenn ich aus dem Haus trete, ruft er laut Buongiorno, Nadja! und winkt mir mit weit geöffneten Armen und einem weißen Geschirrtuch zu, so, als wäre ich weit weg, so, als hätte er Angst, ich könne ihn übersehen, obwohl er doch eigentlich direkt vor mir steht. Auch wenn ich manchmal versuche, mich unbemerkt an ihm vorbeizustehlen, weil ich es eilig habe, weil ich nicht reden möchte, dann ruft er noch lauter nach mir. Come stai, bella? Aber so oder so ähnlich begrüßt er fast jeden, der hier wohnt. In diesem Teil ist unsere Straße noch ruhig, erst weiter hinten, wo der Supermarkt liegt, wird sie belebter und irgendwie größer. Dort fahren mehr Autos, dort gibt es Weinläden, Whiskyläden und Bioläden, dort begrüßt man einander nicht so freundlich wie hier bei uns. Giovanni ist wie ein großes Kind, seine schwarzen Haare erinnern mich an dich. Nein, Martin, ich will damit nicht sagen, dass du wie er bist. Du warst doch nie ein Kind. Nur seine schwarzen Haare erinnern mich an dich und seine schwarzen Augen auch.

Giovanni läuft schnell, noch bevor ich ja oder nein sagen kann, zurück in sein Café und hinter den Tresen, über die Schulter ruft er mir noch einmal wie geht es dir, meine Liebe, zu, macht zwei Espressi und geht wie immer davon aus, dass ich mich kurz zu ihm an den Tresen stelle. Das metallene Sieb der Kaffeemaschine knallt laut gegen die Kanten des Mülleimers. Ich mag dieses Geräusch nicht, habe es noch nie gemocht. Heute aber möchte ich mir am liebsten die Ohren zuhalten. Soll ich Giovanni erzählen, dass ich immer auf dich gewartet habe? Vom ersten bis zum letzten Tag. Dass ich weiter auf dich warten werde, auch wenn ich weiß, dass du nicht mehr zu mir zurückkommen wirst. Aber wenn ich warte, bin ich bei dir, wenn ich warte, lässt du mich bei dir sein und vertreibst mich nicht wie ein lästiges Tier. So ist es immer gewesen. Ich habe immer gewartet. Auf deine Nachrichten, deine Anrufe, deine Hände, deine Worte, deine Fragen. Auf deine Wahrheit. Die es von nun an nicht mehr für mich geben wird. Ob Giovanni das versteht? Wahrscheinlich nicht. Wahrscheinlich wird er mich nur aus seinen dunklen Augen ansehen und nichts sagen. Und ich werde in diese Augen noch einmal wie in deine sehen.

Lieber ein andermal, Giovanni, eigentlich sehr gern, Giovanni, rufe ich ihm zu. Aber ich muss mich beeilen, ich komme doch schon viel zu spät ins Büro! Giovanni! Ich lache dabei, ich versuche zu lachen, oder nein, ich versuche eigentlich nur, nicht unglücklich auszusehen. Ein wenig zu lachen, zu lächeln, wenigstens.

Ich steige schnell auf mein Fahrrad und fahre an dem kleinen Friedhof, der am Ende unserer Straße liegt und schon lange kein Friedhof mehr ist, rechts vorbei die Straße nach oben und biege links in die Prenzlauer Allee ein. Von hier aus kann ich bis hinunter zum Alexanderplatz und zum Fernsehturm sehen. Früher, denke ich während der Fahrt hinunter nach Mitte oft, war Berlin an dieser Stelle schon zu Ende. Früher hatten hier nur Felder und Friedhöfe gelegen, waren Windmühlen gestanden. Auf alten Ansichten ist das noch zu sehen. Die Stadt sieht darauf weich und kindlich aus, fast schlafend, und ein bisschen so, als läge sie viel weiter im Süden. Aus dem kleinen Friedhof in unserer Straße ist vor ein paar Jahren schon ein Spielplatz geworden, er heißt jetzt Leisepark, und ich bin mir nicht sicher, ob damit die Kinder gemeint sind oder die Toten. Die alten Grabsteine hat man stehen lassen, und die Kinder können nun zwischen den verlassenen Gräbern Vater, Mutter, Kind spielen oder sich Höhlen bauen. Ich sollte umkehren, ich sollte zurückfahren und mich auch in eine der Höhlen legen. Oder besser gleich noch verschwinden. Aber kann man Gräber eigentlich verlassen? Kann man sich eigentlich einfach so aus dem Leben stehlen wie du?

Dabei bist du länger bei mir geblieben, als du wolltest. Viel länger, fast ein ganzes Jahr. Eigentlich wolltest du sofort wieder gehen.

Kommst du wieder zurück zu mir, Martin?

Nein, sagst du.

Ja, sage ich.

So ist es immer gewesen. Von unserem ersten Abend am Strand in Tel Aviv bis heute Morgen. An diesem Abend trug ich das kurze, schwarze Kleid aus Seide und viel zu hohe Schuhe. Du hast immer nein gesagt, und ich habe dir immer mit ja geantwortet. Mit Liebe geht das, habe ich gedacht, mit Liebe geht doch alles, habe ich gesagt und auf den nächsten Tag gewartet. Ich hatte das so bestimmt in irgendwelchen Filmen gesehen, in Liebesfilmen natürlich, mit Happy End natürlich. Ich hatte geglaubt, mein Leben könnte auch so ein Film sein. Aber Liebe reicht nicht immer. Werde ich das nun begreifen? Dass mein Warten nicht reichen wird, wie auch meine Liebe nicht gereicht hat. Verstehen, was wirklich passiert ist, meine ich. Ich weiß, dass Martin denkt, dass die Leute nie begreifen werden, was mit seinen Leuten passiert ist. Was mit ihm noch immer passiert. Auch über diesen Tag hinaus weiter passieren wird.

Hasst du deshalb die meisten Leute so, Martin?

Wie kommst du denn darauf, Nadja?

Die meisten Leute sind mir egal. Es geht mir um nichts, es ging mir nur um dich. Du bist nicht wie die Leute.

So haben wir oft geredet. Ja, nein, ja, nein, ja. Meinland, Deinland, Keinland. Vielleicht unser Land. Ein bisschen mehr als nur nichts. Am Telefon, im Auto, in Hotelzimmern, am Strand, im Bett. In Berlin, in Tel Aviv, in München, in Jerusalem. In jeder Stadt der Welt. Für jemanden, der uns nicht kannte, hätte es so aussehen müssen, als wären wir nur selten einer Meinung gewesen, als würden wir die ganze Zeit aneinander vorbeireden. Wir haben oft aneinander vorbeigeredet. Ja, nein, ja, nein, ja. Aber das stimmt nicht, das stimmt wirklich nicht. Wir haben beide geglaubt, mit Liebe geht das. Jeder auf seine Art. Mit Liebe könne man dem beikommen, was gewesen ist. Dass meine Leute seine Leute in den Tod geschickt haben, Kinder, Frauen, Männer, Alte, Kinder, Frauen, Männer, Alte, Kinder, Frauen, Männer, Alte, immer wieder und wieder, immer mehr und immer mehr, wirklich lange ist das noch nicht her, so lange, bis es keinen mehr geben sollte, bis es ihn nicht mehr hätte geben können, bis ich einem wie ihm nie mehr hätte begegnen können. Wir hätten uns nie begegnen sollen. Aber am Ende musste ich ihm recht geben, Liebe reicht nicht. Sie hat bei uns nicht gereicht. Ich muss das endlich begreifen. Warum er nicht bleiben konnte und doch geblieben ist. Warum ich auf ihn gewartet habe. Bis heute Morgen. Immer.

Ich lasse das Sohohouse hinter mir und fahre an der Volksbühne vorbei. Hier muss ich immer an Bettie denken, denn Bettie hat in der Volksbühne einmal als Bühnenbildnerin gearbeitet. Damals haben wir zusammen fast jede Inszenierung gesehen und die kleinen Programmhefte wie einzelne Kapitel eines Tagebuches gesammelt. Von hier aus ist es nun nicht mehr weit bis zur Spree. Ich fahre die Rosa-Luxemburg-Straße entlang, dann kurz die Münzstraße und schließlich die Rochstraße hinter den Plattenbauten am Alexanderplatz bis fast zum Hackeschen Markt. Ich mag Plattenbauten, habe sie eigentlich immer gemocht. Sie strahlen für mich trotz ihrer Größe Schüchternheit aus, sie machen einem nichts vor. Vielleicht mochten sie deshalb viele nicht. Aber auf eine schwer zu beschreibende Art sind Plattenbauten wahre Häuser, und zur Wahrheit gehört doch immer auch die Hässlichkeit, nicht?

An der Brücke vor der Alten Nationalgalerie, einer Brücke, deren Namen ich mir nie merken kann, einer Brücke, von der ich auch glaube, dass eigentlich niemand ihren Namen kennt, muss ich anhalten. Hier gibt es ein Gewühl, und mir ist das recht. Mitten auf der Brücke hat sich ein wohl türkisches Hochzeitspaar auf zwei leere Obstkisten gestellt und will sich fotografieren lassen, so fotografieren lassen, dass die Spree in ihrem Rücken gut zu sehen ist. Größer aussieht, als sie ist. Den langen, weißen Schleier des Brautkleides hat der Fotograf quer über die Brücke gelegt, und eine japanische Reisegruppe will von dem Paar auch noch Bilder machen. Immer wieder laufen die kleinen Japaner in eiligen Schritten um die beiden herum. Das sieht lustig aus, das sieht so geschäftig aus, obwohl mir eigentlich nicht nach Lachen zumute ist. Ich stehe neben meinem Fahrrad und frage mich, wie viele Bilder die Japaner am Ende ihrer Reise mit nach Hause nehmen werden. Bilder von der Mauer, vom Brandenburger Tor, vom Fernsehturm, nein, vom Fernsehturm wahrscheinlich nicht, von Angela Merkel bei Madame Tussauds, vom Holocaust-Mahnmal und nun auch noch von diesem türkischen Hochzeitspaar auf den leeren Obstkisten. Aus diesen Bildern, denken sie bestimmt, denke ich, bestünde unser Land. Aus diesen Bildern, denken sie sicher, denke ich, bestünden wir.

Ich setze mich auf den Rinnstein und warte. Die Braut sieht in ihrem weißen Kleid mit dem langen Schleier sehr glücklich aus, der Bräutigam hat stolz seine Hand auf ihren Rücken gelegt, schiebt sie, soweit ich das sehen kann, ein bisschen weiter nach vorn, damit sie auf dem Bild noch besser zu sehen ist. Ich wollte mit Martin auch ein Land gründen. Ich hatte mir das alles schon genau vorgestellt, so wie ich mir oft Sachen vorstellte, mir ehrlich gesagt alles am liebsten einfach vorstellte. Das Altsein, das Jungsein, das Nichtsein. Ich liege dabei stundenlang im Bett, blättere in Zeitschriften oder manchmal auch in Kochbüchern, lese, sitze am Küchentisch oder auf dem Balkon und schaue auf die falschen Kirschbäume in meiner Straße, vermisse niemanden. Bettie sagt, manchmal komme es ihr so vor, als trennte mich und das Leben eine dünne Scheibe aus Glas. Auch das Leben stellte ich mir am liebsten vor, die Liebe, den Krieg und Sex. Aber niemand könne dieses Glas sehen, nicht einmal ich selbst würde es bemerken, sagt Bettie. Sex ist in der Vorstellung am schönsten, finde ich. Auch unser Sex war in der Vorstellung am schönsten.

Lass uns ein neues Land gründen, habe ich zu Martin gesagt, wollte ich zu Martin sagen. Ein schmales, ein kleines, ein fast unsichtbares Land. Wir müssen unbedingt ein neues Land gründen! Unser Land. Bitte. Mit einem Tisch und zwei Stühlen, einem Bett und einem Schrank. Mehr brauchen wir doch nicht. Wir haben doch uns. Endlich ein Land für dich, endlich ein Land für mich. Wie schön das klingt! Endlich ein Land für uns. Ich habe mir vorgestellt, wie ich ihm dabei in die Arme und um den Hals falle und ihn küsse wie eine Tochter ihren Vater. Schnell und ein wenig unsicher zugleich. Die japanischen Touristen hätten sich gewiss auch nach uns umgedreht, sie wären sicher auch stehen geblieben und hätten Fotos von uns gemacht. Aber Martin bleibt nicht stehen, er läuft einfach immer weiter, weg von mir. Fast so, als sollte niemand auf den Gedanken kommen können, dass er und ich zusammengehören. Selbst ich nicht. Er und ich. Genau, sage ich, das ist es, wir haben doch zusammengehört.

Martin, ich glaube an die Zukunft, rufe ich ihm laut hinterher. Das hat mit meiner Vergangenheit zu tun, weißt du? Ich will unbedingt an die Zukunft glauben. Sage ich. Endlich bleibt er stehen, denkt einen kurzen Moment lang nach, das kann ich sehen, auch wenn er mir noch immer den Rücken zuwendet. Wie er mir den Rücken zuwendet, dass er mir den Rücken zuwendet. Dann dreht er sich um und sagt, ohne seine Arme in die Hüften zu stützen, ohne seine Sonnenbrille abzunehmen, er steht einfach nur da und sagt, aber ich glaube nicht an die Zukunft, Nadja. Und das hat mit meiner Vergangenheit zu tun. Dann dreht er sich wieder um und läuft weiter. Und plötzlich fällt mir wieder ein, dass er heute Morgen gegangen ist, dass er nun schon längst zu Hause und nicht mehr da ist. Dass er nicht mehr zu mir zurückkommen wird.

Die Braut hat unterdessen ihren weißen Schleier in beide Hände genommen und ist in ein großes schwarzes Auto gestiegen, als wäre sie Lady Di. Auch die japanische Reisegruppe ist mit eiligen Schritten weitergezogen, ich nehme mein Fahrrad und schiebe es ein Stück. Am Pergamonmuseum vorbei, dessen Name mir auch oft nicht einfällt und zu dem ich dann Pentagonmuseum sage. Die Kollegen sitzen jetzt schon im Konferenzraum und besprechen die Zeitung von morgen. Inland, Ausland, Wirtschaft, Kultur, Sport und Vermischtes, in genau dieser Reihenfolge werden jeden Morgen um zehn die Themen vorgetragen. Aber spätestens wenn es um die Wirtschaft ging, hörte kaum jemand mehr richtig zu, wurde weiter Zeitung gelesen oder eine SMS getippt, erst wenn die Kollegen vom Sport dran waren, wurde die Diskussion wieder lauter. Das war im Grunde genommen auch jeden Tag dasselbe. Beim Vermischten verließen die Ersten schon wieder den Konferenzraum und liefen zurück an ihre Schreibtische, sie hatten offenbar Wichtigeres zu tun. Ich blieb immer bis zum Schluss sitzen, ich schrieb außer für den Sportteil für alle meine Geschichten. Über solche wie mich machten die Kollegen manchmal Witze, solche wie ich, sagten sie dann, schrieben über alles und hatten von nichts Ahnung. Vielleicht hatten sie recht, heute würde ich ihnen recht geben. Meinetwegen musste morgen keine Zeitung erscheinen. Ich hatte keine Idee für die Zeitung von morgen. Zeitungen sind nichts für Träume. Gestern warst du noch da. Morgen wirst du schon gestern gegangen sein. Futur zwei. Nun das Gegenteil von Zukunft.

Ich wollte mit Martin ein Land gründen, obwohl wir Länder eigentlich schon zur Genüge hatten. Eins, zwei, drei, vier. Vielleicht war das ein Fehler, vielleicht war das zu viel, vielleicht war neben all diesen Ländern kein Platz mehr für ein neues. Erstens: sein großes Land im Westen, ich nenne es das richtige Land. Martin hat es geliebt, aber er hat es auch gehasst. Ich glaube, er hat es auf eine Art geliebt, für die es keine Erklärung gab. Zweitens: mein kleines Land im Osten, ich nenne es das falsche Land. Ich weiß, dass die meisten Leute denken, falsche Länder kann man nicht vermissen, aber das stimmt nicht. Ich vermisste nicht viel aus diesem Land, und trotzdem fehlte es mir. Es fehlte mir auf eine Art, für die es auch keine Erklärung gab. Drittens: dieses große und ein wenig unübersichtliche Land, wie ich finde, das aus beiden entstanden ist. Das richtigfalsche Land? Nein, das ist kein guter Name für ein Land, nennen wir es lieber das neue Land. Martin ist genau in jenem Augenblick aus diesem neuen Land geflohen, in dem ich es betreten habe. Noch ein Grund, warum wir uns eigentlich nie hätten begegnen sollen. Und viertens: das heilige Land, das ihn heilende Land. Es sollte Martin retten, wie ich ihn nicht retten konnte, wahrscheinlich nie hätte retten können.

Martin, hattest du damals Angst vor meinen Leuten?

Wie meinst du das?

Ich frage mich, ob du gegangen bist, weil wir gekommen sind?

Das ist Unsinn, Nadja. Erzähl nicht immer solchen Unsinn. Ich habe dir schon oft gesagt, ich will das nicht mehr hören.

Einmal, ganz am Anfang, vor ziemlich genau einem Jahr, hat Martin mich im Büro angerufen. Ich saß am Schreibtisch und schaute durch das kleine Fenster in der Zimmerecke auf den Fernsehturm. Der Fernsehturm, der unser Eiffelturm war. Darüber musste Martin lachen. Er hat im Auto gesessen und ist durch Tel Aviv gefahren, seine Stadt, eine Stadt, die ich damals nur ein bisschen kannte. Ich habe, während wir telefonierten, versucht, auf die Geräusche in den Straßen zu achten, damit ich mir besser vorstellen konnte, wo er war, wo genau er sich befand, wie es ihm ging. In einen längeren Moment der Stille hinein hat Martin mich gefragt, wer bist du, woher kommst du, wovor hast du Angst, liebst du mich eigentlich? In genau dieser Reihenfolge wollte er das von mir wissen, ich erinnere mich daran, als wäre es gestern gewesen. Nie zuvor hatte mir ein Mann so viele Fragen auf einmal gestellt, nie zuvor hatte mir ein Mann diese Fragen gestellt. Natürlich liebe ich dich, habe ich geantwortet, ohne lange darüber nachzudenken. Natürlich liebe ich dich, Martin. Fast war ich über mich selbst erschrocken.

Wer bist du, Nadja?

Woher kommst du?

Wovor hast du Angst, mein Mädchen?

Liebst du mich eigentlich?

Auf die ersten drei Fragen wusste ich nicht so schnell eine Antwort, und so haben wir noch ein bisschen geschwiegen. Obwohl, das stimmt nicht, nein, ich habe nicht geschwiegen, ich habe Martins Hören zugehört

Ein andermal, das war nicht in Berlin, das war in München, an einem sehr heißen Augusttag. Nach einem heftigen Gewitter ist Martin mit mir vom Hotel in der Kurfürstenstraße hinüber in ein kleines Café in der Elisabethstraße gegangen. Kein schönes Café, kein altes Café, irgendein Café, fast war ich ein wenig enttäuscht. Die Hitze war noch immer fürchterlich, die Schwüle fühlte sich noch immer an wie schwerer Stoff, aber Martin hat mich wie ein Kind an den großen Pfützen vorbeigeführt. Dort muss ich zum ersten Mal gedacht haben, ich sollte gehen, ich sollte einfach übers Wasser laufen. Ich sollte Martin verlassen. Einer von uns beiden musste ohnehin gehen. Weg von ihm. Über Seen, Meere, Ozeane, wenn es sein musste. Weg von dir, weg von mir, für immer und ewig und nie.

Aber ich bin nicht losgelaufen, in diesem Moment nicht und auch in keinem anderen. Ich habe seine Hand weiter festgehalten, ich habe immer auf ihn gewartet. Hätte mein Vater mir beigebracht, wie man geht, Abschied nimmt, nicht einfach so verschwindet, auf Nimmerwiedersehen, sich hinausstiehlt, wegschleicht, alles einfach hinter sich lässt, dann hättest du heute Morgen nicht gehen müssen, denke ich jetzt. Martin. Dann wäre ich gegangen, hätte ich gehen können, gehen müssen, längst schon, eher schon, bevor alles zu spät war.

Die Konferenz ist schon zu Ende, und die Kollegen strömen bereits über die Gänge zurück in ihre Büros. Zum Glück laufen sie an meinem erst einmal vorbei. Keiner von ihnen will seinen Kopf durch die Tür stecken und fragen, na, Nadja, wie geht’s? Spät dran? Alles klar? Zum Glück. Noch will ich nicht reden, noch will ich niemandem unsere Geschichte erzählen. Ich will noch warten, wie ich immer gewartet habe. Nur Bettie würde ich alles erzählen, so wie ich Bettie immer alles erzählte. Und Robert natürlich auch. Bettie, die mich verstand wie kein anderer Mensch auf der Welt. Robert, der mich so lange kannte wie kein anderer Mensch auf der Welt. Vielleicht kommst du ja noch zurück zu mir, so wie du immer zurückgekommen bist. Gleich klingelt das Telefon, und du bist dran und erzählst mir, dass du gut gelandet bist, dass alles in Ordnung ist, du erzählst mir, wie froh du bist, wieder zu Hause zu sein. Endlich wieder zu Hause zu sein. Du würdest dabei lachen, dein lautes, schönes, manchmal sorgloses Lachen würdest du mir über das ganze Mittelmeer bis hierher schicken. Die Leute, die sich tarnen, führen ein glücklicheres Leben als wir.

Ich hänge meine Jacke über den Bürostuhl und muss daran denken, wie mir ein Kollege mal erklärt hat, dass Jacken-über-den-Bürostuhl-hängen eigentlich nicht geht, dass es nichts Uncooleres gibt, als seine Jacke über den Bürostuhl zu hängen. Nachdem er mir das erklärt hatte, mussten wir beide lachen, und anschließend haben wir unsere Jacken über unsere Bürostühle gehängt und noch einmal gelacht. Ich mochte diesen Kollegen, aber er arbeitet inzwischen bei einer anderen Zeitung, ich konnte mit diesem Kollegen lachen wie mit niemandem sonst in der Redaktion. Ich schalte den Computer an und öffne erst Facebook, dann Twitter. Ich will nachsehen, ob du wieder etwas gepostet oder getwittert hast. Vielleicht noch ein Bild von der Sonne oder einen neuen Artikel aus der Ha’aretz. Ich könnte dann ein wenig darüber nachdenken, was du damit sagen willst, was du mir damit sagen willst, welche Botschaft du mir sendest.

Einmal morgens, einmal mittags und einmal abends habe ich so nachgesehen, wie es dir geht, was du machst. Manchmal, wenn ich nachts aufgewacht bin, habe ich nachgesehen, ob du schläfst, ob du wirklich schlafen kannst. Zwölf Monate lang habe ich mir dabei dein Gesicht und deine Hände vorgestellt. Wie gern würde ich jetzt meine Hände noch einmal in deine legen, meinen Kopf noch einmal neben deinen legen. Aber auf Twitter und Facebook geht das leider nicht. Ich scrolle die Timeline hinunter, sehe dich noch einmal in Tel Aviv, in Jerusalem, mit Freunden an Yom Kippur, an der Grenze zu Gaza, dich allein am Gleis 17 im Grunewald. In den Grunewald wolltest du mich damals nicht mitnehmen, dorthin wolltest du alleine fahren.

Ich sollte endlich den Mut haben, dorthin zu gehen, wo all die anderen meiner Leute auch schon sind, hast du einmal zu mir gesagt. Du wirst nicht mit mir kommen, Nadja. Dich werde ich dorthin nicht mitnehmen können. Ich will dort allein sein, allein mit meinen Leuten. Das verstehst du nicht, Nadja. Du ganz gewiss nicht.

Am liebsten würde ich jetzt meinen Kopf auf den Schreibtisch legen und schlafen. Schon morgen wirst du gestern gegangen sein. Die Kollegen sollen mich nicht wecken, morgen muss doch keine Zeitung erscheinen. Wenn es nach mir ginge, könnte die Welt für ein paar Tage anhalten, Pause machen, sie müsste sich nicht weiter drehen. Nun passiert doch nichts mehr, nun ist doch alles gesagt. Ich möchte schlafen, bis morgen, bis nächste Woche, bis nächstes Jahr, für immer. Die Erinnerungen einfach verschlafen. Von nun an wird alles zu Erinnerung werden, und ich hasse Erinnerungen. Ich brauche keine neuen Erinnerungen mehr, ich habe bereits zu viele davon.

Heute Morgen bist du nach Hause geflogen, in aller Herrgottsfrühe, ich habe da noch tief und fest geschlafen. Warst du eigentlich auch so müde wie ich? Du hast dich hinausgeschlichen, leise und unbemerkt, wie Menschen das sonst eigentlich nur in Filmen tun, die Tür ganz leise ins Schloss ziehen. Die beiden Gläser hast du vorher noch in die Spülmaschine geräumt, fast so, als sollte nichts an dich erinnern. Aus meinem Bett, aus meinem Zimmer, aus meinem Leben. Fast wie aus der Welt. Auf dem Küchentisch hast du einen Zettel hinterlassen, ich habe ihn erst gesehen, als ich mich an den Tisch setzte, um Kaffee zu trinken. Niemand hat dich dabei gesehen, niemand ist bei dir gewesen. Auch ich habe es ja erst viel später auf Twitter gesehen. Ich habe es erst gesehen, als du nicht mehr da warst. Aber war das nicht immer dein größter Wunsch gewesen, Martin? Weggehen. Gehen. Nicht mehr sein. Ankommen. Um Gottes willen nur endlich einmal irgendwo ankommen. Nadja, verrat mich nicht, stand auf dem Zettel. Ich wusste genau, was du meintest.

FELDER

Ich wünsche mir nichts so sehr wie ein Kind, diesen Satz hat Martin gleich am ersten Abend zu mir gesagt. Das war einer von Martins ersten Sätzen. An diesen Satz habe ich mich gehalten, viel länger als nur bis auf weiteres. Diesem Satz habe ich Glauben geschenkt, lange, sehr lange noch. Bis zum Schluss. In diesen Satz bin ich eingezogen wie andere in ein Haus. Seid ihr nicht von jeher in den Worten zu Hause gewesen? Mit einer Tür und einem Fenster und einem Dach über dem Kopf. Dieser Satz wird uns eines Tages überleben, da bin ich mir sicher.

Wir saßen in einer zugegeben sehr hässlichen Bar am Strand, nichts als eine Hütte aus Holz und ein paar Tische. Aber das habe ich gar nicht bemerkt, ich muss noch immer so nervös gewesen sein. Erst wenige Stunden zuvor war ich gelandet, war nur aus einem Grund ins heilige Land geflogen, in dein heiliges Land. Weil ich dich sehen wollte. Obwohl ich kaum etwas über Martin wusste, nur einmal kurz mit ihm telefoniert hatte, zwei, drei, vier, höchstens fünf Minuten lang, nicht länger, nur seine Stimme und seinen Namen kannte. Mehr nicht. Am Telefon damals hatte er mich angeschrien. War ich deshalb gekommen? Wollte ich etwas richtigstellen? Wollte ich, dass er nochmal schreit? So etwas hatte ich vorher noch nie gemacht. Ich hatte ihm eine Mail geschrieben, Sehr geehrter Herr Stern, ich komme. Bevor Sie untergehen, bin ich da, Ihre Nadja hatte darin gestanden. Und damit er mich finden konnte, wenn er mich suchen sollte, wenn er mich suchen wollte, hatte ich noch den Namen und die Straße des Hotels in die Betreffzeile geschrieben. Vielleicht war das ein wenig ungeschickt, vielleicht war das ein wenig zu offensiv, Martin hat nicht auf diese Mail geantwortet. Ich bin trotzdem geflogen. Auch das hatte ich vorher noch nie gemacht, aber ich war mir plötzlich so sicher, das Richtige zu tun.

Erst als mich die Sicherheitsleute im Flughafen Ben Gurion nach der Landung fragten, was der Grund meines Aufenthaltes wäre, eine Frage, auf die ich so natürlich nicht vorbereitet gewesen war, eine Frage jedoch, die sie jedem stellten, der in ihr Land wollte, keiner kam offenbar grundlos hierher, verhaspelte ich mich, begann erst das eine, dann etwas anderes zu erzählen, ich vermischte die Worte Urlaub und Recherche auf eine Art, dass ich mir selbst kein Wort geglaubt hätte, mir selbst nicht glauben konnte, und wurde deshalb von zwei schwer bewaffneten jungen Frauen, viel jünger als ich, in einen kleinen, fensterlosen Raum geführt, in dem ich meine Taschen öffnen und meine Schuhe ausziehen musste und in dem ich ihnen meine Geschichte, unsere Geschichte, nein, die nicht, weil es gab ja noch keine Geschichte, noch einmal erzählte. Ich weiß nicht warum, aber die Sicherheitsleute ließen mich schließlich doch in dein Land. Und hinterher im Taxi auf dem Weg in die Stadt dachte ich, dass ich Länder, in die man nicht ohne Gründe kam, irgendwie mehr mochte als andere. Ich wünsche mir nichts so sehr wie ein Kind. Ich mochte ja Menschen, für die es Gründe gab, auch mehr als andere. Das war einer von Martins ersten Sätzen. Ein schneller Satz, nicht wahr, ein etwas voreiliger Satz vielleicht. Aber es war auch ein Willkommenssatz. Keine Drohung und auch keine Beschimpfung. Eigentlich eine Einladung.