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Patrick Roth

Corpus Christi

Herausgegeben von
Michaela Kopp-Marx

 

 

 

 

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation

in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische

Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

 

 

© Wallstein Verlag, Göttingen 2017

www.wallstein-verlag.de

ISBN (E-Book, pdf) 978-3-8353-4115-9

ISBN (E-Book, epub) 978-3-8353-4116-6

Inhalt

Corpus Christi

Impressum

Aber laß mich jene Zeit übergehen:

was hätt ich noch mit ihr zu schaffen,

von der ich keine Spur mehr finde.

Augustinus

 

We took the dead man in sheets

to the river flanked by love

Deep enough to dive

Deep enough to dive

Live

 

Herr, wir wissen nicht, wo du hingehst;

und wie können wir den Weg wissen?

Joh 14,5

 

In futurity

I prophetic see

That the earth from sleep

(Grave the sentence deep)

Shall arise …

William Blake

1

Ist es wahr, daß sie den Leichnam hat, dann will ich sie abpassen. Zu ihren Helfern soll sie mich führen, von dort aber an den Ort, wo sie Dich hingelegt haben.

Dann will ich Dich sehen, mich überzeugen davon, daß das Sehen der Frauen ja wohl mit Liebe zu tun haben mag – daß sie Dich nämlich aus Liebe sahen –, den Tatsachen aber nicht entspricht.

Dann will ich den Herrn sehen, den Menschen, niederknien vor Deinem Leichnam, Dich bitten, mir zu vergeben, daß ich nicht mutig genug war, mich in den Weg zu stellen denen, die Dich kreuzigten.

Daß ich aus Angst, selbst verhaftet zu werden, nicht mutig genug war, nach draußen zu gehen, Dir, als Du tot warst, vom Holz der Verdammten zu helfen, Dich zu Grabe zu tragen. Nein, aus Angst, Dich sterben zu sehen, Angst, Dir aus fehlendem Mut nicht mitsterben, nicht nachsterben zu können, fern blieb.

Grausam war.

Uns aber wurde ebenso grausam getan. Nach innen, ins verriegelte Haus, drang uns, von Vorbeilaufenden zwischen die Ritzen gespieen, von heimkehrenden Frauen geflüstert, leis unter die Unsrigen verteilt:

Bericht.

Daß Wunden und Qual des Gebundenen sich uns vorstellten, die wir die Zeit des Wartens im verschlossenen Haus über der Tiefe solcher Mißhandlung zubrachten. Denn also in Schlägen, vorgeahnten und nachberichteten, zählte sich uns die Zeit, die Dich anschlug. Die sich einnagelte in unsere Gedanken, bis durch Fuß- und Handwurzeln hin die Maserung spaltend des Festgefügt-Festgeglaubten, mit Hammerschlägen uns neue Bilder einbildend. Denn der als Gottessohn uns aus der Zeit der Unterdrückung führen sollte, den schlug die Zeit mit jedem Schlag tiefer zurück in den Menschenkörper.

So daß wir, langsam tastend, im eigenen Fleisch dem Stöhnen des Durchbohrten nachirren mußten, Zug um Zug, immer zu spät, dem Schrei des von Gott Verlassenen hinterm einsamsten Riegel noch nachlauschend, angstdurchbohrt selbst, gefoltert, in die eigene Ohrenherzkammer verriegelt, darin sich, was vor den Mauern geschah, immer neu einfand, neu zu geschehen.

2

Als am Morgen des ersten Wochentags eine der Frauen kam, sagte, das Grab sei leer, man habe den Leichnam gestohlen, gingen zwei von uns hin und kehrten zurück und bestätigten, was jene gesagt hatte. Das Grab sei leer, die Wachen davor verschwunden.

Ich aber, Judas Thomas, den die Griechen Didymos rufen, das ist Zwilling, ich wollte Dich finden. Ging hinaus, entgegengesetzt. Nicht außerhalb der Mauern, sondern innerhalb suchte ich Dich.

Da stieß ich, nah der Kaserne, auf welche, die waren aus der Bekanntschaft der Wachen, die man vors Grab gezogen hatte. Ich sprach mit ihnen, und sie erzähltens mir so:

Der ihnen dies berichtet hätte, der habe vorige Nacht auf der Treppe zum Grufteingang gelegen, wo er mit anderen Wächtern seinen Dienst versah, und war eingeschlafen. Als er zu sich kam, fand er die anderen Wachen bewußtlos, auf den Stufen über ihm ausgestreckt.

Er will sich aufrichten, sie wecken. Da packt ihn Entsetzen. Er fällt. Stürzt in die Tiefe. Reißt die Hände zur Treppenstufe und erfaßt noch im Fall ihre Kante. Machtlos, den Körper nach oben zu ziehen, bohrt er die Fingerkuppen in die Ritzen, klammert sich an. Unter sich sieht er den Rachen Leviathans, aufgesperrt aus den Tiefen, wartend, schwarz atmend, daß die Finger der Wache nachgäben und fallen ließen den Menschen. Rettend erkennt der Wächter den Rollstein am Grab. Das Maul des Ungeheuers erstarrt so zu Stein. Der Stein aber hält nicht. Denn auch er liegt offen, zur Seite gewälzt. Abgrund bleibt unterm Hangenden, hallt wider vom Kratzen der Finger, vom hastigen Atmen. Es hallt, als sei es ein Brunnenloch, über dem er hier schwebend kämpft, und der Stein, vor dem er gewacht, ein Deckstein gewesen, weggeschoben, wo er die Tiefe des Brunnens verschloß. Denn nicht quer und nach vorn erstreckt sich der Raum zur Gruft, sondern hinab und nach unten ins Grab.

Er brüllt, daß die andern erwachen. Aber noch als sie zu seiner Stufe herabsteigen, die Hände des Verzweifelten aus den Ritzen zu ziehen, ihn zu greifen, hält die Sinnestäuschung an. Erst als er unter sich plötzlich ein Licht sieht, im Dunkel des Abgrunds zwei Hände, ums Licht gehalten, erspäht, die Hände das Licht in einen Kasten verschließen, erst da wird ihm seine Lage im Raum, auf den Stufen hinab zur Gruft, bewußt. Erst da erkennt er, aufgerichtet von seinen Kumpanen, den wahren Verhalt: daß eingebrochen worden war vor ihnen.

Wütend sei er am zerschlagenen Siegel vorbei ins Dunkel der Vorkammer getreten, habe sich in die Gruft gestellt. Da hört er, wenige Schritte vor sich, in der Dunkelheit ein Geräusch. Angst befällt ihn erneut, er brüllt nach draußen, daß die Feiglinge Feuer brächten, die Fackel. Als man sie ihm hineinreicht, hält er sie unter die Decke der Gruft, um zu sehen: die Vorkammer und Bänke leer. Da aber, weiter hinten, steht einer, im Eingang zur Grabkammer der Gruft. Der Wächter erschrickt, läßt die Fackel fallen. Hinrollend bis zur Gestalt rollt das flammende Scheit. Da bückt sich der Unbekannte, hebt es auf und kommt auf ihn zu. Im Licht der Fackel aber ist es nur eine Frau.

So habe er berichtet. Noch wütend über sein Erschrecken hätte er sie ergriffen, nach hinten mit sich gezerrt in die zweite Kammer, die Grabkammer, und die Fackel dort ausfahren lassen, hastig und rauschend und wutvoll, und auch diesen Raum leer gefunden und ihn untersucht, aber nirgendwo finden können den Leichnam, dessentwegen sie Wache gestanden hätten. Da seien die anderen hinzugetreten und man habe versucht, die Frau zu zwingen, daß sie preisgäbe und gestände, wohin sie die Leiche gebracht, wohin versteckt, und wer ihr geholfen hätte. Und da sie nichts sagte, abgeführt und verhaftet. Noch rechtzeitig, hieß es, denn sie hätte Spuren verwischt und wollte das Grab gerade verlassen. Ihr Name aber sei Tirza, und ihre Helfer ungesehen mit dem Leichnam entkommen.

So ging auch die Meinung derer, die mir vom Erlebnis der Wache erzählten. Nämlich daß jene Frau nur Nachhut war einer Gruppe, die den Einbruch ausgeführt und den Wachen Einschläferndes in den Trunk gemischt haben müßte. Denn gerade der, ders ihnen berichtet hätte, habe sonst nie etwas zu berichten und sei wortkarg, gar nicht erfinderisch.

Ja, sie selbst waren nicht erfinderisch, das sah ich. Denn über die Frau wußten sie, außer daß man sie zum Verhör in die Kaserne geschafft habe, nichts zu sagen.

Da entschloß ich mich hinzugehen, zu warten, bis Tirza entweder freigelassen oder mir durch die, die aus der Kaserne kämen, etwas über ihr Geheimnis zugetragen würde. Sollte sie aber freigelassen werden, dann wollte ich sie als zweiter befragen. Ich glaubte, daß sie, sobald sie wüßte, zu wem ich gehörte, mir Vertrauen schenken und alles mitteilen würde.

Dann endlich, von ihr geführt, kam ich zu Dir. Dir nachzusterben, endlich. So wollt ichs. Denn auch wenn ich den Wunsch hatte, zu Toten zu sprechen wie Du einst, ihnen zu befehlen, den Tod zu verlassen und aufzustehen, so war er mir doch im Entwurf des Bilds schon geraubt, dieser Wunsch. Denn die Vorstellung, vor Dir Totem zu stehen, entmachtete mich ganz solchen Befehls, der ich alle Macht von Dir erhalten hatte und mitmächtig war nur, solange Du warst, aber nicht über Dich, sondern durch Dich. Und grauenhaft so das Bild, aller Kraft beraubt, befehlslos vor dem zu stehen, der uns Kraft gegeben und befohlen hatte, den die Verwesung aber nach Tagen jedem Räuber aus Händen rauben würde, durchs Raubnetz hinsiebend Dein Fleisch, die Schütte Sand aufzuschütten, mit der sie rechnet, die Zeit.

3

Als es aber bei Nachteinbruch kälter wurde, Sterne und Mond wolkenverdunkelt, ich den ganzen Tag vergeblich vor der Kaserne gewartet hatte, niemand mit Nachricht herausgekommen war, der Wachposten mir nur bestätigte, drin hätten sie eine, die stünde unter Verdacht, den Leichnam geraubt zu haben, sie sei nicht aus Jerusalem, sondern von jenseits des Jordans, vor wenigen Tagen gekommen, sei Fremde, da ging ich zurück zu den andern.

Die waren im Haus geblieben, verriegelt, hatten sich gegenseitig angesteckt und von den Frauen anstecken lassen. Denn alle behaupteten, sie hätten Dich unter ihnen gesehen. Und als ich fragte, einzeln sie beiseite nahm und sie fragte, wo und wie Du erschienen seist und zu welcher Stunde, da fand ich, daß sie sich widersprachen. Denn manche hatten es von den Frauen, andere von Reisenden, andere von Simon übernommen, der es wiederum von den Frauen hatte. Alle aber redeten von den Wundmalen, die sie gesehen hätten. Die hatten sie sich, fern von der Richtstätte, durch Berichte anderer beigebracht, um so tiefer und eindringlicher aber, als wir uns alle schuldig fühlten, Dich vor der Hinrichtung verlassen zu haben. Und die Wunden, die sie an Dir beobachtet hatten und über die sich jeder verschieden äußerte – manche sagten, sie hätten, als Du vor ihnen standst, von Deinem Blut fließen sehen; aber wo war das Blut? Keine Spur davon auf dem Boden –, waren in Wahrheit Male, die sie durch Fernbleiben sich zugefügt und durch Schuld. Und ich rief:

»Wie könnt ihr so leben? Jeder will gesehen haben, weil es nichts zu sehen gab, das Grab leer war. Warum forscht ihr nicht, wer ihn hat? Wendet den Mut nicht auf die Bilder, die hinter verriegelter Tür jedem Kind einkommen, wenn es sich, einsam gelassen, Besuch erträumt! Sondern schließt euch auf, sucht ihn und lebt. Oder sterbt ihm nach. Aber wißt, wem ihr nachsterbt. Denn ihr erklärt das Haus zur Welt, in der euch Angst verriegelt hält. Denn wäre mein Herr euch wirklich erschienen: aufgestoßen und aufgeriegelt hätte ich unsere Türen gefunden, heute nacht schon, und verschwunden die ängstlichen Bewohner, leer die Wohnung. Leer wie das Grab. Und ihr wärt mir freudig entgegengerannt, noch sein Blut an Armen und Händen, bezeichnend die Stellen, wo ihr den Wiedergewonnenen umarmtet, wo ihr ihn für mich, der ich fehlte und sehen wollte und gern umarmt hätte, zu halten versucht hättet. Auch wenn er euch entkommen wär, seine Spuren noch hätt ich an euch geküßt und hätte geglaubt. Aber, seht selbst, hinter Mauern und Riegeln wohnt ihr, phantasiert ins Leere und steckt euch an mit Gesichten.«

Da protestierten sie und wurden heftig darüber, daß ich nicht glaubte. Ich wiederum war sie satt, die Besserwisser. Und mit einiger Wut, auch über mich selbst, rief ich wütend zu ihnen:

»Haltet ihn nächstes Mal, wenn er euch wieder erscheint! Haltet den Dieb, der uns den Verstand geraubt hat! Denn hört her: Den Auferstandenen will ich annageln, die Nägel ihm in die Wundmale schlagen, meinem Messias, daß er mir nicht mehr entkommt und daß seine Worte im angenagelten Körper noch zum Zuspätgekommenen sprechen. Haltet ihn, daß mir eure Phantasien erspart bleiben, haltet mir den, der mir die Zweifel zermalmt zugleich mit dem Zweifler, die Phantasien zerbirst uns Phantasten, daß ein neuer Mensch aus uns würde, vor ihm zu Boden geschlagen, unfähig, ihm in die Augen zu sehen. Der neue Mensch aber, unten am Boden, soll mit eigenen Augen noch rot die eigenen Hände sehen. Beweisrot soll er sie sehen, seine Hände. Herkunftsrot jeden Finger, der eben noch stak in den Kesseln der Wunden. Haltet ihn also, wenn er wirklich auferstanden sein soll, daß ich die Finger mir färbe an ihm, ihn an uns nagle, daß er uns nie mehr verläßt. Dann will ich euch glauben, wenn ich mich nicht mehr verlassen glaube, er fest vor mir steht. Unterdessen zeugt euer Zeugnis gar nichts, ist ingezüchtet, farblos und blaß.«

Da warfen sie mich hinaus, und ich hörte sie schimpfen hinter den Riegeln, die sie nicht querzulegen vergaßen. Später kam eine der Frauen und ließ mich hinein, als sie schliefen.

4

Vor Morgengrauen noch ging ich zurück zur Kaserne und wartete. Einmal kam einer heraus, den ich erkannte. Denn man sagte von ihm, daß er der Knecht eines sei, der in der Kaserne foltere. Seiner Gestalt wegen war er auch in der Menge leicht zu erkennen. Aber man sah nur selten hin, hielt sich fern, ging nicht leichtfertig an ihm vorbei. Denn der Knecht stand im Ruf, grausamer zu sein als sein Herr. Wie ein Schreien zogs durch die Gassen, wenn er durchkam, hinaus unter die Bewohner der Stadt ging, sie und ihre Waren zu betrachten. Er achtete immer darauf, nichts zu berühren, sie tratens selbst um, so in Unruhe versetzte er sie.

Als er sah, daß ich nicht auswich vor ihm, kam er auf mich zu und fragte mich freundlich:

»Schon gestern standst du hier, sagen die Wächter. Wartest du auf einen, den ich dir rufen kann?«

»Auf eine, die Tirza genannt wird und die ich nicht kenne, von der mir aber Soldaten aus eurer Kaserne berichtet haben«, antwortete ich.

»Ach die«, sagte der Knecht und blickte zum Ausgang zurück, als könnte sie jeden Moment dort erscheinen. »Zufällig weiß ich, von wem du sprichst. Die sich Tirza nennt, die steht unter Folter. Aber wir haben noch nichts aus ihr. Auch nicht die Namen der Helfer. Sie behauptet, am vergangenen Rüsttag Jerusalem zum ersten Mal betreten zu haben.«

»Und woher stammt sie?« fragte ich ihn. »Keiner von uns kennt sie.«

»Sie kennt euch nicht, das ist wahr. Ich allerdings weiß genau, wer du bist und warum du hier wartest«, sagte der Knecht und sah mir in die Augen, ob ich nicht auswiche. Und als ichs nicht tat, fuhr er fort: »Aus der Gegend von Damaskus sei sie gekommen. Den langen Weg bis hierher. Glaubst du ihr das?«

»Ich weiß es nicht«, sagte ich. »Ich kenne sie nicht.«

»Daß sie niemand kennt, erschwert unsere Arbeit. Denn wie können wir, was wahr ist, von Unwahrem trennen? Jedenfalls wissen wir immer noch nicht, was sie im Grab zu tun hatte oder dort tun wollte. Und wohin sie den Leichnam geschafft haben, auch das ist noch dunkel. Mein Herr sagt, wir müssen Geduld haben mit ihr.«

»Warum aber foltert ihr sie?« fragte ich ihn. Da sah ich, daß er meine Angst erkannt hatte und wohl wußte, daß ich keine weitere Frage mehr stellen, eher ausweichen und ihm davonwollte. Sein Haken war aber schon in mir, und er hielt mich ruhig fest, zog nicht zu schnell an, sondern gab immer wieder nach, als spiele er mit mir. Auch sah er, daß ich zwar furchtsam war, die Frage zu stellen, dennoch weiter auf Antwort hier warten würde.

»Weil sie stumm blieb«, sagte er schließlich und betrachtete mich genauer. »Und weil niemand, selbst du nicht, sie kennen will. Weil niemand an ihrer Statt aussagt. Niemand aussagen kann, so scheint es. Bis es aus ihr reden wird. Und was dann aus ihr redet, das wird sie retten. Da braucht es Geduld, glaube mir. Du verstehst nichts davon. Ich hingegen habe das Unerhörte öfter zutage gefördert. Ich habe in Schächten gearbeitet und wie in Schächten gelernt, auch die Gliedmaßen des Menschen, ja seinen ganzen Körper, wie bestehend aus Schächten und verborgenen Gruben zu sehen, in die unser Gerät dringt, die Wahrheit, die sich dort unten in der Tiefe verzweigt, aufzuspüren, sie noch in ihren Verästelungen, roh, im groben Klotz, wenn es sein muß, nach oben zu fördern und in der Hitze des Tages auszuschmelzen.«

»So findest du die Wahrheit nicht«, sprach ich. »Sie wird euch irgendetwas sagen, damit ihr aufhört, sie zu foltern.«

»Was weißt du?« schrie er ungehalten. Und setzte dann leise, als sei es ihm dringlich, als habe er schon oft über seine Sache nachgedacht, hinzu: »Weißt du denn, was es heißt, die Wahrheit nicht zu haben? Niemanden zu haben, der sie dir in den Mund gelegt hätte? Dabei aber immer zu wissen, daß du unwahr redest? Daß unwahr bleibt, was immer du redest, so weit du es sagen kannst? Denn was du sagst, bleibt unwahr. Ich nenn dir ein Beispiel. Du hast nach jener Tirza gefragt. Deinen Augen aber sehe ich an, daß du wegwillst. Oder gerne bereit wärst, über anderes zu reden. Und wenn ich dir spräche von deiner Braut, dann würdest du mir erzählen von ihr. Ob du sie schon im Auge hast und für wann sie dir etwa versprochen wäre. Von deiner Braut würdest du reden und nicht mehr von jener, der Tirza. Selbst wenn du sie dir erfinden müßtest, die Braut. Wenn ich aber wiederum weiterspränge, von einem anderen beliebigen zu reden, einem der Stadttore zum Beispiel, vor dem man dich, wenige Tage ists her, so schmerzlich vermißt hat, an das man mit Stimmen und Seufzern anschlug, ohne daß du aufgemacht hättest, so sprächst du mir gleich auch davon und ausführlich. Denn grad wie ichs wollte, so würdest du reden. Und wenn ich vom Tempel redete, dich fragte, wer dort wohnt und wo du dich reinigst für den, der dort wohnt, dann gäbst du mir auch darüber Auskunft und reichlich. Von einem zum andern gehend sprächst du, würdest die Rede wenden, wohin ich nur will. Aus Angst nämlich. Aber Wahrheit wärs nicht. Wahrheit spräch nicht aus dir. Denn die läßt sich nicht wenden. Die redet nicht jetzt von diesem, von jenem, dann aber wieder von anderem.«

»Woher weißt du von mir?« fragte ich ihn.

»Mein Herr weiß von dir«, sagte der Knecht.

»Wer ist der, dein Herr?«

»Da fragst du ganz richtig. Denn ich habe alles von ihm. Wenn mein Herr mir sagt: Schlag ihn! Dann weiß ich Bescheid. Oder sagt: Schlag ihn aus diesem Grund! Dann weiß ich Bescheid. Immer gilts zu ergründen, was sich verschlossen hält.«

»Und wenn sie offenläge, die Wahrheit, könntest du sie sehen? Wenn jemand die Wahrheit spräche, könntest du sie erkennen?«

»Ich sage dir: Solange sie sprechen, die Menschen, sagen sie niemals die Wahrheit«, antwortete der Knecht und rührte mit der Hand vertraulich an meine Schulter. Er strich mir über die Ärmel des Kleids, zog sie enger, als hätte er mit Besorgnis bemerkt, daß mir kalt geworden war.

»Schlag sie, das ist mein Rat«, flüsterte er und kam nah, als suche er Wärme. »Schlag sie, die Menschen, so oft sie sprechen. Wenn du die Wahrheit willst, dann schlag sie, bis sie endlich das Sprechen lassen, vor Schwachheit aufhören, Reden zu machen, mit einem Schlag ihr Reden unterbrechen, daß sie hinstürzen, die Zähne sich ausschlagen am Boden. Dann endlich sind sie ohne Macht. Das rat ich dir, wenn du erlernen willst, wie man die Wahrheit hört. Aber jetzt, warum weichst du mir aus? Ekelst du dich vor mir? Fürchtest, ich könnte dich mithineinziehen?«

»Ich habe keine Angst«, log ich. »Ich hör mir an, was du zu sagen hast.«