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Gaston Salvatore

Waldemar Müller

Ein deutsches Schicksal
Erzählungen

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Michael gewidmet

Waldemar Müllers moralische Achterbahn

Ein Trailer von Hans Magnus Enzensberger

Ein Ausländer natürlich! Das hat uns gerade noch gefehlt, dass es ein Ausländer ist, der uns den wahren Deutschen zeigt, und zwar auf Deutsch. Denn Gaston Salvatore, der Geburt nach Chilene, dem Pass nach Italiener, wirkt seit gut zwanzig Jahren als ein deutscher Dichter, Dramatiker, Erzähler, Regisseur, Journalist. Statt dass er sich aber, wie andere literarische Immigranten, an die herkömmliche Rolle des Exilschriftstellers hielte, statt dass er sich damit begnügte, uns über die Missstände in seiner Heimat aufzuklären, hat er sich sonderbarerweise von Anfang an mit den Deutschen befasst: mit Georg Büchner statt mit den Indios und mit Wolfgang Neuss statt mit Augusto Pinochet. Die Aufpasser der deutschen Kultur haben ihm dafür wenig Dank gewusst. Weit entfernt davon, ihn in die Arme zu schließen, sind die Hausmeister des Feuilletons, einmütig wie selten, zu dem Schluss gelangt, dass diese Einmischungen eines Zugewanderten in unsere inneren Angelegenheiten nicht geduldet werden dürfen. Deshalb werden Salvatores Stücke, Prosaarbeiten und Filme seit vielen Jahren entweder beharrlich verrissen oder verbissen ignoriert. Aber das macht doch nichts! Es wird schon seine Gründe haben. Einer davon heißt vielleicht, vielleicht auch nicht, Waldemar Müller.

Schon der Name, den dieses Geschöpf trägt, in dem Gaston Salvatore offenbar eine Ausgeburt der Bundesrepublik sieht, schon der Name Waldemar Müller ist an und für sich eine Zumutung; denn so heißt man einfach nicht. Dazu kommt, dass dieser zweifelhafte Held ganz dazu angetan ist, in jedem von uns, besonders aber in den Concierges der Kultur, äußerst gemischte Gefühle zu erregen, zum Beispiel Abscheu. Mitgefühl, Betretenheit und Verständnis. Und das ist noch längst nicht alles! Schon nach den allerersten Sätzen der allerersten Lieferung dieses »deutschen Schicksals« wird erfahrungsgemäß ein gewisses Glucksen laut, ein kleiner Lacher, der widerwillig hochkommt, mühsam unterdrückt wird und sich endlich lauthals Bahn bricht. Und schon keimt in uns die bange Ahnung, der hässliche Verdacht auf, als könnte hier gelacht werden auf unsere Kosten.

Bitte, damit wir uns nicht missverstehen: Es ist nicht so, als ob wir keinen Spaß verstünden. Ganz im Gegenteil, Spaß muss, wie der Volksmund sagt, sein, und zwar auch dann, wenn er platt und peinlich ist. Und niemand hier in der Runde hat etwas gegen Satire. Wir sind schließlich gute Demokraten. Da darf, wie sich der Volksmund ausdrückt, schon mal Dampf abgelassen werden. Leute, denen es ganz recht geschieht, wenn sie mal, wie der Volksmund fistelt, durch den Kakao gezogen werden – solche Leute gibt es weiß Gott genug. Zum Beispiel die Reichen oder die Bürokraten oder die Politiker. Aber auch der Herr Oberbürgermeister muss mal, wie der Volksmund röchelt, eins aufs Dach kriegen und die Polizei auch, weil sie bekanntlich immer so brutal ist und uns Parkzettel hinter die Scheibenwischer steckt, ferner natürlich das Fernsehen, der TÜV und der Feminismus, haha! Nur eines muss ganz klar sein im deutschen Kabarett: dass wir es sind, die da lachen, und irgendwelche andere Leute, über die gelacht wird.

Sogar die schärfsten satirischen Köpfe unserer Literatur haben sich streng an diese eherne Grundregel deutschen Humors gehalten. Falls es bei Karl Kraus und Kurt Tucholsky überhaupt etwas zu lachen gibt, was ich bezweifle, so dürften dabei am ehesten die Besserwisser auf ihre Kosten kommen. Vielleicht werden diese Autoren, obwohl sie doch so militant, so gescheit, so bissig sind, aus diesem Grunde von der Nachwelt eifrig gelesen. Denn die Leute, mit denen sie sich auseinandersetzen, als da sind Der Spießer, Der Aufsteiger, Der Fachidiot, Der Bürohengst, Der Speichellecker – diese Leute stehen ja sowohl moralisch wie auch intellektuell derart weit unter dem Niveau der Satiriker und infolgedessen auch derart weit unter dem unsrigen, dass jede Verwechslungsgefahr ausgeschlossen ist. Die taube Nuss ist immer der andere.

Dieses traditionsgeheiligte Verfahren, ich möchte es die schattenlose Satire nennen, setzt voraus, dass der Verfasser jederzeit weiß, wie man die weißen von den schwarzen Schafen unterscheidet: hie Freund, hie Feind, hie Durchschauer und hie Durchschauter, hie das bessere und hie das bösere Deutschland. Ich fürchte nur, die Zeiten sind vorbei, wo es so leicht war, sich zurechtzufinden, und das wird, denke ich, ziemlich massive Gründe haben, die nicht unbedingt komisch sind. Vielleicht hängt es, ich bitte bei diesem Wort nicht zusammenzuzucken, mit dem Klassenkampf zusammen, der auch nicht mehr ganz das ist, was er einmal war. Die klare Schlachtordnung früherer Zeiten hat sich in ein grässliches Durcheinander verwandelt, und je eher wir das zugeben, um so besser. Wenn es um die Eindeutigkeit geht, wird man sich in unserem schönen Lande an die Regel halten müssen: Trau keinem unter siebzig! Den richtigen Kommunisten, den ganz echten bösen Urnazi, die unzweifelhaft kernige Bäuerin, den hundertprozentigen Proletarier, den Junker, den Schlotbaron, das Dienstmädchen, den Generalstabsoffizier mit Monokel und Kasinoton – alle diese Figuren aus dem Panoptikum der klassischen Satire wird man bei uns, wenn überhaupt, nur noch im Altersheim finden. Und selbst der ganz und gar dumpfe Ossi, der teuflisch geschickte, haifischzähnige Wessi – sie kommen eher in den dumpfen, haifischzähnigen Medien vor als in der Realität. Stattdessen leben wir in einer Republik, die von achtzig Millionen Einzelkämpfern bevölkert wird. Unter ihnen befinden sich porschefahrende Fliesenleger, Töchter von Polizeipräsidenten, die nach wie vor auf den Marxismus/ Leninismus schwören, gemüsebauende frühere Leiter der Vertriebsabteilung, Stasioffiziere, die als Heiratsschwindler malochen, habilitierte Penner, psychoanalytisch vorgebildete Postboten, Kriminelle, die direkt dem Vorstand unterstellt sind, und niederbayerische Bauernsöhne, die eine Windsurfer-Boutique in West-Berlin oder ein Squash-Center auf Gran Canaria aufmachen, und das ist natürlich noch längst nicht alles. Der Klassenkampf ist also keineswegs zu Ende, er hat sich in gewisser Weise sogar verschärft, d. h. wir haben es mit seiner pulverisierten, bis zur Unkenntlichkeit verfeinerten Form zu tun. Er spielt sich nicht mehr, wie einst, nur in der Außenwelt ab, sondern auch in der eigenen Brust, dort, wo sich die immerzu therapiebedürftige Psyche befindet, gleich unterhalb der Zirbeldrüse.

Auf diesem bundesdeutschen Terrain, diesem Minenfeld der Konkurrenz, des Ein-, Um-, Auf-, Ab-, Zuund Aussteigertums hat die gute alte Dampfsatire mit ihrer Parteilichkeit, ihrem Pharisäertum, ihrer pädagogischen Ader keine Chance mehr. Hier sind andere Untersuchungsmethoden nötig. Fast kann sie einem leidtun, die Versuchsperson, die da ausgeschickt wird, um das Fürchten zu verlernen! Auffallend einsam stolpert Waldemar Müller, der kleine Forscher wider Willen, durch die literarische Landschaft. Das soziale Feld, das er überquert, ist scheckig wie ein Spielbrett, auf dem sich das Mensch-Ärgere-Dich-Nicht, das Monopoly unserer ganz privaten Klassenkämpfe, übersichtlich und adrett wie nie zuvor vor unseren Augen entfalten kann. Waldemar Müller ist der Abgeordnete unserer Befürchtungen, Wünsche und Enttäuschungen, und es bleibt ihm nichts erspart. Unermüdlich hetzt ihn sein Erfinder durch Werbeagenturen, Bungalows, Polizeireviere, Funkhäuser, Kneipen, Ortsvereine, Lohnbüros … Erfunden 1980, ist Waldemar Müller zur Zeit der Großen Breschnew’schen Stagnation, die bekanntlich auch den Westen heimgesucht hat, in einen zehnjährigen totenähnlichen Schlaf verfallen. Aber der Fall von 1989 war auch der Tag seiner Auferstehung, und unser Held erweist sich, im zähen Familienkrach der Vereinigung, als der ideale Gesamtarbeiter dieses hoffnungsfrohen Debakels. Auch diese neue soziale Landschaft ist nur ganz grob hingestrichelt wie eine Anzeigenserie, wie eine Folge von Werbespots, aus denen sich so etwas wie eine schematische Gesamtdarstellung der Republik ergibt. Ihr Aggregatzustand lässt sich vermutlich nur noch mit Mitteln der Trivialkunst darstellen. Und so kommt Gaston Salvatores Sittenschilderung mit voller Absicht grob daher wie ein Comicstrip, schamlos wie eine Klamotte, abenteuerlich wie ein Thriller, monoton und bunt, platt und rasant wie eine gute Fernsehserie. Auch damit verstößt der Autor gegen die Spielregeln unserer Schönen Literatur, denn in ihr darf das Triviale zwar genüsslich zitiert, aber niemals gebraucht werden. Dies bedeutet erstens, dass Gaston Salvatore nicht Gefahr läuft, auf einer Bestenliste zu erscheinen, und zweitens, dass die Erzähler, die man auf dieser Liste findet, fast alles, was es über uns zu erzählen gibt, kampflos der Unterhaltungsindustrie überlassen haben: zum Beispiel Film und Reklame, Kunst und Spesen, Fernsehen und Export, den Hochbau und das Berufsverbot, die Hausbesetzung und die Korruption, von der Grünen Bewegung und der Deutschen Einheit ganz zu schweigen. Alle diese Sphären durcheilt Waldemar Müller auf den Flügeln einer Inspiration, die vor nichts zurückschreckt und die ihm, wie uns, manische Aufschwünge beschert, kitzlige Flugträume, Erlebnisse wie auf einer moralischen Achterbahn, und mag auch unsere Fallhöhe seicht sein, so ist doch das Gefühl in der Magengrube darum nicht weniger eindrucksvoll.

Aber bei der aberwitzigen Verwechslung, beim haarsträubenden Zufall, bei der nur allzu vorhersehbaren Katastrophe bleibt es nicht. Die triviale Technik, die durchsichtig konstruierte Handlung, das Repertoire der Slapstick-Komödie, alles, was die trügerische Simplizität dieser Geschichten ausmacht, verbirgt beinah schamhaft, was an Waldemar Müller subtil ist, tückisch, kompliziert, was diese scheinbar flächige Figur von allen populären Pappkameraden unterscheidet, was ihm Dichte, um nicht zu sagen Tiefe verleiht. Das ist seines Schöpfers perfekte Intuition für die Kehrseite der Medaille, für den blinden Fleck, für den toten Winkel, die Einsicht in die zwielichtigen Zonen zwischen Urteil und Vorurteil, sozialer Notwehr und sozialer Brutalität, der böse Blick für sämtliche Lebenslügen dieser Republik.

So mag dieser unbotmäßige Zuwanderer, dem außer der Selbstzensur nichts Deutsches fremd ist, am Ende etwas zuwege bringen, das, soweit ich sehe, noch keiner vor ihm versucht hat oder auch nur für möglich gehalten hätte: dass sich deutsche Leser mit einem Verlierer identifizieren, einem, der, wie die allermeisten hierzulande, fast alles versucht und fast zu allem bereit ist, um Es (was immer Es auch sein mag) zu schaffen – immer umsonst. Waldemar Müller ist ein tragikomischer Held und als solcher wohlgeeignet zum Stellvertreter eines Gemeinwesens, dem manches Gute beschieden sein mag, nur eines nicht: die moralische Rechtfertigung. Es gehört eine Intelligenz dazu, die ebenso zärtlich wie grausam ist, diesen Sachverhalt einzusehen und weiterzuerzählen: dass hier so gut wie jeder kompromittiert ist und keiner weiß, wo er hingehört. Um einen Blick auf den Feind zu werfen, dazu genügt die tägliche Nassrasur, der Strich mit dem Augenbrauenstift. Es gehört nur ein klein bisschen Übung dazu, um die Ähnlichkeit zu sehen, die Ähnlichkeit zwischen Waldemar Müller und dem Gesicht im Spiegel: eine Übereinstimmung, die wenig Platz lässt für Rührung, Selbstmitleid, Schadenfreude. Sondern was hier gebüßt werden kann, ist einzig und allein die kühle, komische, unbehagliche sokratische Lust, zu kapieren, was mit uns los ist. Derjenige, dem wir sie verdanken, verfolgt die einzige Gegend der Welt, in der ein Waldemar Müller denkbar ist, das vereinigte Deutschland, mit Geduld und Spucke, Bewunderung und Galle, Hass und Liebe. Gaston Salvatore ist der deutscheste aller Ausländer.

Waldemar Müller und die Großen dieser Welt

»Auf den Chefredakteur kommt es an«, stand auf dem kleinen Schild an der Wand hinter dem leeren Schreibtisch des großen Rudolf K. Zanker. Aber diese Inschrift beruhigte Waldemar Müller nicht. Die Rezession hatte auch die Presse nicht verschont. Sogar die Frankfurter Lokalredaktion kam Waldemar Müller auf einmal überbesetzt vor. Die Zeitung hatte bereits seit Wochen keinen einzigen Artikel von ihm gebracht. Dabei hielt er seinen Bericht von der Bundesgartenschau für eine seiner besten Arbeiten. Waldemar Müller fühlte sich entbehrlich.

»Ich riskiere es einfach, Müller«, sagte der Chefredakteur, »ich gebe Ihnen eine einmalige Chance.« Rudolf K. Zanker trug seit langem keine Nylon-Hemden mehr, aber an dem massigen schwitzenden Mann sah jedes Hemd synthetisch aus. Waldemar Müller wagte es, sich zurückzulehnen. Zwar verabscheute er neue Aufgaben, aber sie waren immerhin besser als eine Entlassung.

»Renk und Kettenhof sind dienstlich verreist, wie Sie wissen«, sagte der große Rudolf K., »und Kaminski ist krank.« Waldemar Müller kannte diese Namen nur allzu gut. Sie gehörten einer anderen Welt an, der Welt der Außenpolitik und der weiten Reisen. Waldemar Müller hatte Angst vorm Fliegen.

»Früher waren Tagungen doch ihre Stärke, Müller«, sagte der Chefredakteur nicht ohne Bosheit. »Wieso früher?« Waldemar Müller brauste auf und bereute es im selben Augenblick. »Mein Artikel über die Bundesgartenschau …« Er stockte. Früher Journalist gewesen zu sein, das ist immer noch besser als arbeiten, hatte er sich oft mit dem alten Spruch getröstet.

Aber die Zeiten, da ihm die Sätze geradezu federleicht zugeflogen waren, diese Zeiten schienen endgültig vorbei zu sein. »Jeder von uns hat mal eine Krise«, sagte der Chefredakteur. Jeder, der ihn nicht so gut kannte wie Waldemar Müller, hätte ihn dabei für die Güte selbst gehalten. Er musste mit dem Schlimmsten rechnen.

»In wenigen Tagen findet der Summit statt«, sagte Rudolf K. Waldemar Müllers Englisch war nicht schlecht. Die Amerikaner von der Militärpolizei am Bahnhof riefen »Hi, Wohldi«, wenn sie ihn sahen. Aber ausgerechnet das Wort Summit kam ihm rätselhaft vor. Also antwortete er nur: »Alles klar.«

»Letztes Jahr habe ich persönlich den Summit in Tokio gecovered«, sagte der Chefredakteur. Waldemar Müller sah sich schon auf dem Flug nach Japan, seinem sicheren Tod entgegen. »Aber dieses Jahr kann ich unmöglich nach Venedig fahren.«

Waldemar Müller durchschaute das Manöver sofort. Der große Rudolf K. suchte nach einem Entlassungsgrund. Was für Schwierigkeiten man sonst mit dem Arbeitsgericht bekam, wusste der Chefredakteur nur zu gut. Vielleicht wollte er, dass sein Lokalreporter feinfühlig kündigte. Denn eines stand fest: Bei diesem Summit in Venedig konnte Waldemar Müller nur versagen. Immerhin, Venedig war nicht Japan. Nach Venedig konnte man mit der Bahn fahren.

»Dr. Claude Langdorf«, sagte die Stimme von Frau Block durch den Intercom. Ihre Botschaft war nur die Spitze des Eisbergs. Fuzzi Langdorf hinter den feindlichen Linien. Immer gleich hinter dem Bundeskanzler. Dr. Claude Langdorf war der Stolz der Zeitung. Waldemar Müller hasste den schönen Fuzzi, ohne ihn zu kennen.

»Sie werden mit Dr. Langdorf zum Summit nach Venedig fahren«, sagte der Chefredakteur. »Natürlich wird Fuzzi über die Beschlüsse der Großen schreiben.« Rudolf K., der sich für einen der Großen hielt, lächelte unangenehm. »Sie, Müller, werden für ›Farbe‹ zuständig sein. Beschreiben Sie Venedig während des Treffens, die Stimmung der Bevölkerung, die Sicherheitsmaßnahmen. Die Frau des amerikanischen Präsidenten wird garantiert etwas einkaufen wollen und durch die Stadt bummeln. Oder so einen Quatsch. Sie wissen schon.«

Waldemar Müller wusste schon. Er beschloss, es dem Chef bei seiner Entlassung nicht leichtzumachen.

Waldemar Müller stand mit den Fotoreportern hinter der Absperrung vor dem Hotel Danieli Palace und wartete auf die Ankunft des Bundeskanzlers. In Venedig regnete es in Strömen, und er hatte keinen Regenmantel mitgebracht. »Du fährst ja in den Süden«, hatte Sylvia, seine Frau, neidisch bemerkt, »in den Sommer.«

Übrigens, auf einen Waldemar Müller deutete an Waldemar Müller nichts. Weder trug er eine Freizeitjacke, noch waren seine Schuhe spitz oder gar hellbraun. Sandalen mit grauen Strümpfen kamen für ihn nicht in Frage. Etwas unscheinbar war er, das konnte man nicht leugnen. Aber er sah sich regelmäßig Studiofilme an, war neulich in eine Reitschule eingetreten, und mit einem Wohnwagen hätte ihn niemand in Verbindung bringen können. Dass er seit seiner Ankunft in Venedig als Deutscher identifiziert wurde, trotz Cerruti-Jacke und Mailänder Stiefelchen, das wunderte Waldemar Müller, und es kränkte ihn.

Obwohl er von der langen Fahrt sehr müde war, zeigte Waldemar Müller Haltung.

Trotz Regen war Waldemar Müller von Venedig sehr beeindruckt. Mit seiner Geburtsstadt Wuppertal konnte man Venedig bei aller Liebe zur Heimat nicht vergleichen. Allerdings, leicht durchzukommen war hier nicht.

Um seinen Akkreditierungsausweis hatte er schwer kämpfen müssen. Die Journalistenzentrale im Dogenpalast war in einem prachtvollen Raum untergebracht, aber er hatte sich wie ein Verbrecher vor ein Fotogerät stellen müssen. Trotzdem fragte sich Waldemar Müller, ob er nicht in den langen Jahren bei der Lokalredaktion doch etwas verpasst habe. Er beneidete die Kollegen aus aller Welt, die sich so gelassen gaben, als wären sie in diesem riesigen Salon zu Hause. Der höllische Lärm der Hubschrauber, die ununterbrochen über ihren Köpfen kreisten, schien sie bei ihren Unterhaltungen in den verschiedenen Sprachen nicht zu stören. Die Armee-Einheiten an jeder Ecke und auf allen Dächern bedrückten anscheinend nur Waldemar Müller.

Bis auf die Haut durchnässt, erwartete Waldemar Müller den Kanzler. Er war entschlossen, nicht kampflos aufzugeben. Aber wo, fragte er sich, war Fuzzi Langdorf geblieben? Seinen Ausweis im Dogenpalast hatte Fuzzi nicht abgeholt. Vielleicht war ihm etwas zugestoßen, und er, Waldemar Müller, müsste über Politik berichten.

Plötzlich bewegte sich alles. Der Lärm der Hubschrauber wurde stärker, auch der Regen. Gewisse Herren im hellbraunen Regenmantel, einige davon waren sogar Japaner, rannten vorüber und sprachen aufgeregt in Geräte, die sie vergebens unter dem Mantel vor dem Regen zu schützen versuchten. Nur die Fotografen rührten sich nicht.

Das Motorboot des Bundeskanzlers legte vor dem Hotel an. Der Kanzler beachtete die Rufe der Fotografen nicht, denn er war in ein Gespräch vertieft. Auch der Regen schien ihn nicht zu stören. Er wartete auf seinen Gesprächspartner, um ihm aus dem Motorboot zu helfen. Waldemar Müller traute seinen Augen nicht. Der Bundeskanzler unterhielt sich lachend mit Claude »Fuzzi« Langdorf und verschwand mit ihm durch die Tür des Danieli Palace. Waldemar Müller sank das Herz. Nervös fingerte er an seiner Polaroid.

Unter den Journalisten gab es unendlich mehr Klassen als in der Klassengesellschaft, und Waldemar Müller gehörte zur niedrigsten Klasse. Mit seinem Ausweis wurde er tatsächlich wie ein Verbrecher behandelt. Als der amerikanische Präsident zusammen mit seinen Kollegen auf die kleine Insel kam, die vor dem Markusplatz liegt – dort sollte die Konferenz stattfinden –, musste man einen besonderen Ausweis haben, und den hatte Waldemar Müller nicht bekommen. Er durfte nirgends rein. Bei seinem Versuch, die Frau des amerikanischen Präsidenten während ihrer Stadtrundfahrt zu begleiten, war er von italienischen Rangers und amerikanischen Gorillas ziemlich übel traktiert worden. Auch für den Stadtbummel war ein Sonderausweis nötig. Die Stimmung der Bevölkerung gehörte zur »Farbe«; aber Waldemar Müller war wiederholt mit einem deutschen Sicherheitsbeamten verwechselt worden und hatte nur feindselige Blicke geerntet. Der einzige Ort, den Waldemar Müller betreten durfte, war eine Art Sicherheitstrakt, in dem sich die Bar und die Briefing-Räume für Journalisten befanden. Dort durfte er sitzen und fernsehen. Außer ihm und dem älteren Korrespondenten einer Münchner Illustrierten saßen nur zwei junge Männer in Sportanzügen da. Es handelte sich um die Froschmänner, deren Aufgabe es war, auf dem Meeresgrund vor der kleinen Insel nach Torpedos und Minen zu suchen. Immerhin hatten sie die Großen sehen dürfen, wenn auch nur von unten.

Waldemar Müller machte sich Sorgen. Er hätte nicht mit Fuzzis Hilfe rechnen dürfen. Auf den Monitoren sah Waldemar Müller den schönen Fuzzi, dem ganze Büschel von Sonderausweisen vom Halse hingen. Für Waldemar Müller hatte er keine Zeit. »Wie steht’s, Müller« oder »Mahlzeit« oder gar »Arrivederci«, das war alles, was er von seinem Kollegen zu hören bekam. Der ältere Korrespondent der Münchner Illustrierten verriet ihm, dass Langdorf bis tief in die Nacht hinein mit dem Kanzler geplaudert und getrunken hatte. Und danach erst! Der Münchner schmatzte vielsagend mit der Zunge. Fuzzi, das wisse doch jeder, sei eben ein ganz Schlimmer. Ob das auf die Dauer gutgehen könne, möchte er, der Münchner, bezweifeln. Für Waldemar Müller war das kaum ein Trost.

Ölpreise und Inflationsbekämpfung, davon handelten die Tiraden des Regierungssprechers vor den Journalisten. Das Öl werde immer teurer, die Inflation müsse gestoppt werden. Dafür, dachte Waldemar Müller, hätte man sich nicht in Venedig zu treffen brauchen. Er überlegte, ob die Aussage vielleicht vom Tonfall abhing, in dem der Pressesprecher die Worte Ölpreise und Inflationsbekämpfung immer wieder fallenließ.

»Eigentlich sollten wir enger zusammenarbeiten«, sagte Waldemar Müller zum schönen Fuzzi, als er ihn nach einem dieser Briefings allein erwischen konnte.

»Wieso eigentlich?«, erkundigte sich der schöne Fuzzi kaltschnäuzig. Offenbar hatte er seine Anweisungen. Er und der große Rudolf K. steckten unter einer Decke. Es war eine konzertierte Aktion. Die in Frankfurt brauchten ja keine »Farbe«. Um so besser, dachte Waldemar Müller. Nie war er sich farbloser vorgekommen.

Kurz vor der großen Pressekonferenz wollte Waldemar Müller aufgeben. Seine Sylvia würde ihn sicherlich verstehen. Was hatte er eigentlich noch zu verlieren? Warum sollte er sich die Großen der Welt nicht einmal aus der Nähe ansehen? Heiter und verzweifelt nahm er direkt neben Fuzzi Langdorf in dem festlich hergerichteten Saal Platz. Der schöne Fuzzi war unangenehm berührt.

Die Großen sahen genau wie im Fernsehen aus. Wie alte Bekannte waren sie, wie die Sitzecke seines Wohnzimmers in Frankfurt. Der Amerikaner lächelte ununterbrochen, der Deutsche war ständig mit seinem Schnupftabak beschäftigt. Der Ölpreis, die Inflationsbekämpfung. Es habe keinerlei Missverständnisse zwischen ihnen gegeben, behauptete zuerst der Bundeskanzler und dann der amerikanische Präsident. Nach einigen Fragen über Ölpreis und Inflation hörte Waldemar Müller überrascht Fuzzi etwas, was mit »Mr. President« anfing, dazwischenrufen. »Pfui«, »What a shame«, »Zumutung«, »incredible«, so viel Englisch konnte Waldemar Müller, und er verstand, dass der schöne Fuzzi sich blamiert hatte. Der Kanzler blickte irritiert. Waldemar Müller fühlte sich mitschuldig. Fuzzi und er vertraten schließlich dieselbe Zeitung.

»Wer hat mir diese Frage gestellt?«, fragte der amerikanische Präsident. Er hatte aufgehört zu lächeln. Sämtliche Scheinwerfer und Fernsehkameras waren jetzt auf Fuzzi und ihn gerichtet. Dr. Claude Langdorfs Platz war leer. Der schöne Fuzzi hatte sich verdrückt. Dieser Feigling! Aber Waldemar Müller blieb keine Zeit zur Empörung. Der Präsident wiederholte seine Frage. Der Ruf der Zeitung stand auf dem Spiel, ja er war vernichtet durch Langdorfs Flucht. Waldemar Müller beschloss, seinem Blatt einen letzten Dienst zu erweisen. Er stand auf und sagte: »Waldemar Müller of Frankfurt, Germany, Mr. President.«

»Endlich stellt hier jemand eine mutige, eine intelligente, eine ehrliche Frage«, sagte der Präsident. »Thank you, Mr. Müller.«

Wie im Traum verbeugte sich Waldemar Müller. Was der Präsident weiter sagte, konnte er nicht verstehen, aber er merkte, dass der Präsident sich mit Fuzzis Frage sehr lang und breit auseinandersetzte und immer wieder auf Mr. Waldemar Müller of Frankfurt, Germany, zurückkam.

Fuzzi Langdorf saß in einer Ecke der Bar im Sicherheitstrakt. Waldemar Müller ging freundlich auf ihn zu. Aber der wollte kein Wort mit ihm sprechen. Schade, dass Dr. Claude Langdorf kein guter Verlierer war. Waldemar Müller hätte gern gewusst, was der schöne Fuzzi eigentlich gefragt hatte.

Erst am Abend bekam Waldemar Müller das Ausmaß seines Erfolges zu spüren. In Harry’s Bar feierten ihn die Starjournalisten wie einen Helden. Wenn der große Rudolf K. ihn jetzt sehen könnte! Mit seinem Englisch ging Waldemar Müller ziemlich sparsam um. Er verneinte oder bejahte die sicher sehr interessanten Fragen seiner ausländischen Kollegen. Wenn er überhaupt nichts verstand, begnügte er sich mit einem wissenden Lächeln. Salinger, der Pressesprecher von Präsident Kennedy gewesen war, und Bernstein, der Nixons Watergate ans Licht gebracht hatte, wollten seine Artikel ihren Zeitungen in Amerika empfehlen. Als Waldemar Müller die Rechnung an sich reißen wollte, sagte der Besitzer der legendären Bar: »It’s on the house, Mr. Müller.«

Wie stolz wäre seine Sylvia in diesem Augenblick auf ihn gewesen.

Er hatte kaum zwei Stunden geschlafen, als jemand heftig an die Tür seines winzigen Zimmers klopfte. Es waren der Nachtportier und zwei Polizisten in voller Montur. Im Hinterhof war es noch stockdunkel. Waldemar Müller hatte es geahnt. Schlaftrunken dachte er: Das ist die Quittung für Fuzzis unverschämte Frage. Man würde ihn in Handschellen abführen. Er fröstelte, denn er hatte so manches über die Polizeibeamten in den südlichen Ländern gehört.

Aber es ging nicht um ihn. Der ältere Journalist bei der Münchner Illustrierten hatte recht behalten: Fuzzis schlechte Gewohnheiten waren ihm zum Verhängnis geworden. Man hatte ihn verprügelt und ausgeraubt. Jetzt lag er im Krankenhaus und musste dort mindestens zwei Wochen bleiben.

Waldemar Müller fuhr mit dem Polizeiboot ins Krankenhaus. Bei dem Gedanken, dass Dr. Langdorf möglicherweise noch nichts geschrieben hatte, überfiel ihn eine panische Angst. Der große Rudolf K. würde ihn, Waldemar Müller, zwingen, über den Ölpreis und die Inflationsbekämpfung zu schreiben. Waldemar Müller war den Tränen nahe.

Der schöne Fuzzi sah nicht mehr schön aus. Er war überhaupt nicht wiederzuerkennen. »Haben Sie den Artikel?«, fragte Waldemar Müller. Der kaputte Langdorf zeigte mit der Hand auf seine Koffer, die die Polizisten aus dem Hotel mitgebracht hatten. Waldemar Müller wühlte zwischen Fuzzis Unterwäsche nach dem Manuskript.

»Ist es das hier?«, fragte er den Geschlagenen. Fuzzi antwortete etwas Unverständliches, aber Waldemar Müller glaubte eine Sekunde lang auf dem schiefen, geschwollenen Mund ein Lächeln zu sehen. Es war kein schönes Lächeln.

Der Artikel handelte vom Ölpreis und von der Notwendigkeit, die Inflation zu bekämpfen. Waldemar Müller gab sich Mühe, die Überlegungen seines brillanten Kollegen zu verstehen. Nur eines wunderte ihn. Fuzzis Text hatte überhaupt keine Farbe. Keine Rede von Palästen, von Möwen, von Kanälen und Brücken. Als hätte der Gipfel in Düsseldorf oder sonst wo stattgefunden. Völlig verfehlt, dachte Waldemar Müller. Das Wichtigste in Venedig ist doch das Wasser. Er brachte dieses Element an einigen Stellen hinein. Dafür war Fuzzis Beschreibung der Ankunft der Großen und auch der vielen Hubschrauber und Armee-Einheiten vorzüglich. Die Überschrift fehlte.

»Der Lagunen-Gipfel von Dr. Claude Langdorf«, schrieb Waldemar Müller quer über den Text. Aber die Versuchung war doch zu groß, und er fügte hinzu: »und Waldemar Müller«. Danach war er erschöpft. Aber er konnte nicht einschlafen. Fuzzi hatte sein Mitgefühl nicht verdient. Außerdem ließ ihn der Gedanke nicht los, dass Langdorf mindestens zwei Wochen im Krankenhaus liegen musste. Waldemar Müller strich Fuzzis Namen aus und schlief mit einem zufriedenen Lächeln ein.

»Haben Sie diesen Artikel geschrieben, Müller?«, fragte der große Rudolf K. und schlug mit der gerade ausgedruckten Zeitung auf den Tisch. Waldemar Müller war von sämtlichen Redakteuren zu seiner hervorragenden venezianischen Leistung beglückwünscht worden. Sogar Renk und Kettenhof waren persönlich in der Lokalredaktion erschienen, und Kaminski hatte ihn aus einem Kurort angerufen. Da der große Rudolf K. über das Weekend auf seinem Landsitz war, hatte sein Stellvertreter den Artikel ohne die geringsten Korrekturen in den Satz gegeben.

»Ich wollte sowieso meine Kündigung einreichen«, sagte Waldemar Müller trotzig. »Sie sind entlassen«, brüllte der große Rudolf K. Hatte ihn Fuzzi aus Venedig angerufen? Das war ausgeschlossen. »Sie sind ein Dieb, Müller!« Der Chefredakteur war nicht mehr aufzuhalten. »Wissen Sie, wer diesen Artikel geschrieben hat?« Waldemar Müller fühlte sich entlarvt. Er würde alles zugeben. Es hatte ohnehin keinen Sinn mehr. Trotzdem hörte er sich mit fester Stimme sagen: »Fuzzi. Ich meine, Dr. Langdorf.« – »Was heißt hier Fuzzi!« Der große Mann war außer sich. »Ich, Rudolf K. Zanker, habe diesen Artikel geschrieben, und zwar vor einem Jahr, zum Gipfel von Tokio!« Waldemar Müller verstand alles. Der böse, schlaue Fuzzi hatte ihn reingelegt.

Dabei hatte er in Venedig den Ruf der Zeitung gerettet. Er und sonst niemand. Und was war der Dank? Gebrüll und Beschimpfungen. Er stand auf und sagte: »Ich gehe.«

In diesem Augenblick meldete sich die Stimme von Frau Bloch durch den Intercom. »Der Regierungssprecher, für Sie.« Der große Rudolf K. wirkte auf einmal ziemlich eingeschrumpft. »Der Bundeskanzler ist von dem Artikel deines Waldemar Müller angetan. Sehr angetan sogar«, sagte der Regierungssprecher. »Ich gratuliere dir, lieber Rudolf. Und noch eins: Der Kanzler wünscht, dass bei seiner nächsten Reise, also Moskau, nicht dieser aufdringliche Langdorf mitfliegt. Er besteht auf Müller. Das wird sich doch sicher machen lassen?«

»Aber natürlich«, sagte Rudolf K. am Telefon und zwinkerte gewinnend Waldemar Müller zu.

»Sie haben gehört, Herr Müller«, sagte der Chefredakteur unschlüssig, »Sie werden nach Moskau fliegen müssen. Gott helfe uns.« Waldemar Müller lachte.

»Warum lachen Sie denn so blöd?«, fragte der Chefredakteur.

»Das Schild hinter Ihrem Rücken«, sagte Waldemar Müller.

Der große Rudolf K. drehte sich um und las: »Auf den Chefredakteur kommt es an.«

Er lachte dröhnend. Aber Waldemar Müller lachte nicht mit. Er hatte Angst vorm Fliegen.

Waldemar Müller und der Fall Mahler

Zweieinhalb Stunden musste er noch absitzen. Nicht nur an diesem dunklen November-Donnerstag fühlte sich Waldemar Müller wie ein Häftling.

Im Archiv der Tiefbau AG saßen seine jungen Mitarbeiter emsig an den neuen Bildschirmgeräten. Nur Unheil hatten die neuen Geräte gebracht. Bei dem Fortbildungskurs hatte Waldemar Müller nichts verstanden.

»Es ist die Angst vor allem Elektrischen«, hatte seine Frau gesagt, um ihn zu beruhigen. Dass er sich mitten im Lehrgang krank gemeldet hatte, war seine Rettung gewesen. Als sein Chef ihn zum Leiter des B-Referats machte, war seine Überraschung von einem nagenden Gefühl getrübt, dem Gefühl, dass er im Archiv der Tiefbau AG nichts zu leiten hatte.

Frau Liek arbeitete nicht im Archiv. Alles an Frau Liek war seidenhaft, die kühle, gedämpfte, ja sogar kirchliche Stimmung der obersten Etage haftete ihr an. Ihr Lächeln war voller Versprechungen, aber unerreichbar. Waldemar Müller traute seinen Augen nicht, als er sie auf sich zukommen sah. Er bekam Angst. »Botho möchte Sie sprechen«, sagte sie.

Waldemar Müller sah sich schon als Arbeitslosen. Er hatte eben doch recht gehabt: Sie hätten die Wohnung mit Zweidrittelfinanzierung nicht kaufen sollen. Seine Frau war an allem schuld. Natürlich würde ihnen jetzt die Bank die Wohnung wegnehmen. Das geschieht Grete ganz recht, dachte Waldemar Müller. Einen Augenblick war er fast zufrieden.

Den jungen Botho Lehmbruck hatte er nur zweimal aus der Ferne gesehen: bei der Silvesterfeier und beim Betriebsausflug. Noch nie war Waldemar Müller in der obersten Etage gewesen. Botho Lehmbruck, so behauptete man, habe sogar einen eigenen Fahrstuhl.

Tatsächlich hatte Frau Liek ihn zu einem Salon im Kolonialstil neben dem Empfang geführt, eine alte geschnitzte Tür geöffnet und sie beide in Sekundenschnelle ins Penthouse gefahren. Mitten in Berlin war er plötzlich in Kalifornien. Waldemar Müller hätte schwören mögen, dass sich hinter den Palmen ein blauer Himmel wölbte. Botho Lehmbruck musste in seinem Alter sein, aber braungebrannt, wie er war, mit dem straffsten Bauch aller Zeiten, das Hemd weit geöffnet, die langen Beine lässig auf dem riesigen Sofa ausgestreckt, hätte er Waldemar Müllers Sohn sein können.

Den anderen Mann auf dem Sofa bemerkte Waldemar Müller erst später. »Setzen Sie sich doch, lieber Müller«, sagte Botho Lehmbruck. Waldemar Müller wählte den kleinen Holzstuhl zwischen den weißen Ledersesseln. »Was darf ich Ihnen anbieten?« – »Mineralwasser«, sagte er leise und blickte neidisch auf die Ballongläser, die Botho Lehmbruck und sein Besucher in der Hand hielten. »Sie kennen Horst Mahler?«, fragte Botho Lehmbruck und lächelte siegreich.

Es ist so weit, dachte Waldemar Müller. Seit die neuen Geräte im Archiv standen, war er schon am Vormittag nicht mehr nüchtern. Aber was viel schlimmer war, jeden Abend traf er sich mit Pachmeyer in der Kneipe. Pachmeyer. Hätte er nur auf seine Frau gehört, als sie ihm sagte: Pachmeyer war damals dabei, als die Studenten auf die Straße gingen, Waldemar. Der ist doch kein Pförtner.

Also war Pachmeyers Job bei der Schaubühne nur eine Tarnung. Und jetzt sollte Waldemar Müller die Quittung präsentiert bekommen. Er würde alles leugnen. Er war kein Terrorist.

»Keine Angst, lieber Müller«, sagte der junge Lehmbruck, als hätte er seine Gedanken lesen können. »Ich meine, ob Sie Horst Mahler aus der Zeitung kennen, ob Sie sich an ihn erinnern.«

»Natürlich, nur aus der Zeitung«, wiederholte Waldemar Müller, der seit Jahren keine Zeitung mehr in die Hand genommen hatte. Nie wieder würde er sich mit Pachmeyer treffen, wenn dieser Kelch an ihm vorüberginge. Und die halbvolle Flasche Korn in seiner Aktentasche würde er auch in den Mülleimer werfen. Ausgerechnet Horst Mahler!

Hatte er nicht zu Pachmeyer gesagt, dieses Terroristenpack müsste man an die Wand stellen? Dass er sich hin und wieder als Bankräuber sah, dass er oft von riesigen Stapeln blauer Scheine träumte, dass er sich mit dem erbeuteten Geld eine eigene Bank aufbauen wollte – als Direktor in einer Fitness-Klinik am Meer –, das alles wollte Waldemar Müller in diesem Augenblick lieber nicht wahrhaben.

Er wagte nicht, den Besucher auf dem großen Sofa genauer anzuschauen. Ein kurzer Blick auf den Anzug hatte genügt, außerdem trugen heute viele einen Bart. Es war das Ende. In Handschellen würde der Kommissar ihn abführen. In seiner Panik hatte Waldemar Müller völlig vergessen, dass er gar nichts verbrochen hatte.

Pachmeyer musste seine Freundschaft mit ihm gestanden haben. Waldemar Müller fühlte sich mitschuldig, stellvertretend sozusagen.

»Ich bin mit Herrn Mahler vom Gymnasium her befreundet«, sagte Botho Lehmbruck. Waldemar Müller verstand die Welt nicht mehr. Wenn er nur einen Schluck Korn hätte kriegen können. Pachmeyer und der junge Lehmbruck steckten also unter einer Decke, eine entsetzliche Vorstellung.

»Noch Mineralwasser, lieber Müller?«, fragte der Generaldirektor.

»Bitte«, antwortete Waldemar Müller fast unhörbar.

»Die Sache ist delikat«, fuhr Botho Lehmbruck fort. Und ob sie delikat ist, dachte Waldemar Müller.

»Wir müssen die Sache aus dem richtigen Blickwinkel betrachten«, sagte Botho Lehmbruck. »Auf den Blickwinkel kommt es an. Am besten, du erklärst es ihm selbst, Horst«, sagte der Chef zu seinem Besucher.

Er hatte ihn Horst genannt. Horst Mahler war aus dem Gefängnis geflüchtet. Er saß hier bei Botho Lehmbruck in der Chefetage der Tiefbau AG. Jetzt verlangte sein Chef von ihm, dass er sich aufopfern sollte, um Mahler heimlich ins Ausland zu bringen. Nicht einmal im Film gelang so etwas.

»Die Sache ist die, Herr Müller«, sagte der Besucher, »ich stehe kurz vor meiner Entlassung und habe Haftverschonung probehalber bekommen. Tagsüber bin ich frei, unter der Bedingung, dass ich einen Beruf erlerne.«

»Ich habe mit dem Polizeipräsidenten gesprochen«, sagte Botho Lehmbruck. »Wir haben vereinbart, dass Horst Mahler hier bei uns im Archiv ausgebildet wird. Er war ja mal Rechtsanwalt. Und Sie, lieber Müller, so dachte ich es mir, sollen sein Ausbilder sein.«

Botho Lehmbruck lachte, also lachte auch Waldemar Müller.

»Ich weiß, Sie werden mir diesen Gefallen tun«, sagte Botho Lehmbruck. »Es handelt sich natürlich nur pro forma um eine Ausbildung«, wieder lachte er, »wir wollen aus dem Horst doch keinen Aktenhund machen, oder?«

»Natürlich nicht«, antwortete Waldemar Müller überzeugt, da er Leitzordner selbst aus ganzem Herzen verabscheute.

»Botho hat mir versichert«, sagte Horst Mahler, »dass es keine unzumutbare Belastung für Sie wäre, Herr Müller. Sie sind ja ein vorzüglicher Archivar, und deswegen läuft der Laden hier wie geschmiert.«

Er lachte. Botho Lehmbruck lachte. Aber Waldemar Müller lachte nicht.

Er spürte den Ernst der Situation.

Grete Müller verlangte von ihrem Mann, er solle ausziehen, lieber heute als morgen. Sie sah sich schon im Gefängnis. Pachmeyer hingegen wollte ihm zuerst nicht glauben. Sicherlich war Pachmeyer enttäuscht. Nie wieder würde er mit seinen Abenteuern als Berufsrevolutionär glänzen können. Denn nun saß Waldemar Müller sozusagen an der Quelle.

»Horst Mahler ist sowieso ein Verräter«, verkündete Pachmeyer. Er hörte sich an wie Karl Liebknecht, ein kleiner Mann.

»Das kommt ganz auf den Blickwinkel an, Pachmeyer«, sagte Waldemar Müller. Er teilte jetzt sein Büro mit Horst Mahler. Alle zwei Stunden wurde er vom Polizeipräsidium angerufen. »Alles unter Kontrolle, Herr Müller?«

Es war alles unter Kontrolle. Sein Schützling war entschlossen, sich gewissenhaft an die Auflagen der Justizbehörde zu halten. Deshalb bestand er darauf, dass Waldemar Müller ihn auf Schritt und Tritt begleitete.

Gelegentlich äußerte Mahler den Wunsch, eine Tasse Kaffee in der benachbarten Konditorei zu trinken. Dort rief er jedesmal eine kleine Sensation hervor. »Halt die Ohren steif«, riefen Jugendliche ihm zu. Manchmal musste Waldemar Müller die Autogramme mitunterschreiben. Beschimpfungen waren selten. Das Gemurmel der behuteten Damen hielt Waldemar Müller für Bewunderung. Sogar er hatte es zu einer Art von Berühmtheit gebracht.

»Mein Freund und Ausbilder Waldemar Müller«, sagte Horst Mahler den Bekannten, die sie auf solchen Spaziergängen trafen.

Was die Ausbildung betraf, so war das eine delikate Sache. Nicht, dass von Ausbildung keine Rede gewesen wäre, nur verlief sie umgekehrt. Es war Horst Mahler, der vergebens versuchte, Waldemar Müller seine neue Staatstheorie zu erklären. Das war schwieriger als die Arbeit an den neuen Bildschirmgeräten. Pachmeyer kam immer seltener in die Kneipe. Und seitdem Waldemar an einem unseligen Samstagabend versucht hatte, seiner Frau Mahlers neue Staatstheorie zu erläutern, hielt Grete ihn für einen Terroristen. Er hatte sich dabei allzu sehr aufgeregt, ja er war beinahe militant geworden. Das war der Fehler.

Jeden Abend fuhr Waldemar Müller seinen Lehrling in die Anstalt zurück und stellte fest, dass nicht nur Botho Lehmbruck und Frau Liek, sondern auch die Wärter Horst Mahler mit Respekt behandelten. Er strahlte so etwas wie Autorität aus. Waldemar Müller glaubte zu spüren, wie ein Teil dieser Autorität auf ihn überging. Auch die Sekretärin des Archivchefs bemerkte diese neue Ausstrahlung und ließ sich eines Abends – das Archiv machte Überstunden – von Waldemar in der Ablage verführen. Er sprach mit ihr über die gefährlichen Begegnungen und die geheimen Abenteuer, die er mit Mahler erlebte. Dabei ließ er sich ziemlich hinreißen. So weit, dass er Mechthild Zäh eines Tages mit gerührter Stimme von seiner Freundschaft zu Ulrike Meinhof erzählte. Mechthild Zäh hatte daraufhin geweint. Sollte die Grete denken, was sie wollte. Er jedenfalls blühte auf.

»Alles unter Kontrolle?« fragte die Stimme aus dem Polizeipräsidium. Waldemar Müller warf seinem Lehrling, der in seine Leitzordner vertieft war, einen Verschwörerblick zu und antwortete gelassen, dass alles in bester Ordnung sei. Mechthild Zäh wurde jeden Tag leidenschaftlicher. Waldemar Müller schaffte es nicht mehr, nach Hause zu gehen. Er blieb über Nacht bei ihr. Manchmal ließ sie ihn nicht einmal frühstücken.

Das Resultat war, dass Waldemar Müller todmüde und fast immer zu spät zur Strafanstalt kam, um Horst Mahler abzuholen. Auch die neue Staatstheorie seines Freundes erzeugte in ihm nur das unwiderstehliche Bedürfnis nach Schlaf.

Eines Morgens, sie sprachen gerade über das neue Kleinbürgertum, bekam Horst Mahler Besuch. Zwei junge Herren, in Leder gehüllt, hellbeige, mit rotbraunen Stiefelchen und Samsonite-Brillen, ließen sich im Büro nieder. Sie hätten jüngere Brüder des jungen Botho Lehmbruck sein können, so sauber und elegant sahen sie aus.

Horst Mahler holte eine Flasche Schnaps aus dem Schreibtisch. Waldemar Müller hielt das silberne Becherchen in der Hand. Er war am Einschlafen.

»Wer garantiert mir, dass es eine faire Sache wird«, hörte Waldemar Müller Horst Mahler zu seinen Besuchern sagen.

Es war klar, dass Mahler und die anderen ein Projekt besprachen. Waldemar Müller hatte das Gefühl, dass er sich dazu äußern müsse.

»Auf den Blickpunkt kommt es an«, sagte er.

»Der Müller hat völlig recht«, bestätigte ihm Mahler.

Na endlich, dachte Waldemar Müller und schlief restlos zufrieden ein.

Als er wieder wach wurde, stellte er fest, dass Mahler und seine Besucher verschwunden waren. Auf der Toilette niemand, niemand im Empfang. Verzweifelt rief Waldemar Müller bei Frau Liek an. Aber die Chefsekretärin wusste von nichts. Und ihre Stimme klang vorwurfsvoll. Er sauste ins Café. Mahler war nicht gesehen worden.

Waldemar Müller geriet in Panik.

Ihm fiel ein, dass der Schnaps einen bitteren Nachgeschmack gehabt hatte. Drogen, dachte Waldemar. Jetzt wusste er es. Die Besucher hatten Horst Mahler zur Flucht verholfen. Alles hing von ihm ab, von Waldemar Müller. Er überlegte: Flughafen oder Friedrichstraße? Mahler war ja immerhin eine Art Kommunist. Vielleicht waren sie längst über die Grenze. Das durfte nicht wahr sein. Sollte er Botho Lehmbruck anrufen? Die Polizei informieren? Selber fliehen? Er sehnte sich nach seinem Bett. Aber er musste seine Pflicht tun. Was er in diesen Monaten aufgebaut hatte, das durfte Waldemar Müller nicht kampflos aufgeben.

Er suchte weiter. Durch alle Cafés und Kneipen des Kurfürstendamms irrte er. Keine Spur von Mahler.

Als er nach einigen Stunden völlig verzweifelt an einer Würstchenbude eine Tüte Pommes frites aß, traute er seinen Augen nicht: Einer der jungen Herren in Hellbeige rannte eilig an ihm vorbei und stieg in ein wartendes Auto. Das Glück hatte Waldemar Müller also doch nicht ganz verlassen.

Ohne für seine Pommes frites zu bezahlen, stürzte er mitten auf die Straße, hielt ein Taxi an und befahl dem Fahrer energisch, dem flüchtigen Terroristen nachzusetzen.

Horst Mahler und seine Bande gehörten doch alle miteinander an die Wand gestellt. Er hätte auf Grete hören sollen. Vergasen war da das einzig Richtige. Waldemar Müller dachte an seine verlorene Ehre.

Sicher würde auch der junge Lehmbruck Schwierigkeiten mit der Justiz bekommen.

Noch war nicht alles verloren. Er würde Botho Lehmbruck retten und damit auch Frau Liek. Pachmeyer hatte eben doch recht: Horst Mahler war ein Verräter. Seinen Jugendfreund hatte er verraten und vor allem ihn, Waldemar Müller.

Der Wagen der Terroristen hielt vor einem großen Gebäude in der Nähe der Mauer. Waldemar Müller kam es wie ein öffentliches Gebäude vor. Also doch. Bis in »das System« waren diese Wühler gelangt.

Er hatte nur einen Hunderter. »Behalten Sie den Rest«, sagte er zum Taxifahrer und griff nach seiner Polaroid.

Ohne sich beim Pförtner anzumelden, rannte Waldemar Müller dem jungen Kryptokommunisten nach. Während er die große Treppe hinaufkeuchte, bemerkte er gar nicht, dass ein kleiner Trupp von kräftigen jungen Männern hinter ihm her war.

Der Terrorist betrat am Ende eines langen Korridors ein Zimmer. Waldemar Müller stürzte hinter ihm durch die Tür. Da saßen die Verschwörer an einem Tisch. Ein Mann, der Waldemar Müller sehr bekannt vorkam, unterhielt sich angeregt mit Horst Mahler. Waldemar Müller musste handeln. Der gute Ruf der Tiefbau AG lag in seinen Händen. Mit einem Schrei fiel er über Horst her. Mechthild Zäh und der junge Botho Lehmbruck würden Augen machen! Waldemar Müller sah schon die Schlagzeilen der Zeitungen vor sich.

»Diese Faschisten!«, hörte er das bekannte Gesicht sagen, während er gleichzeitig von kräftigen Händen ergriffen wurde und eine schrille Stimme rief: »Sie sind verhaftet!«

Waldemar Müller lag am Boden, die Fliesen waren angenehm kühl. »Alles unter Kontrolle?«, fragte der Mann mit dem bekannten Gesicht. Dann begann Horst Mahler zu lachen.

»Das ist doch Waldemar, Waldemar Müller«, sagte Horst Mahler. »Darf ich vorstellen, Herr Minister: Herr Waldemar Müller, mein Ausbilder bei der Firma Botho Lehmbruck.«

»Ach ja, Botho«, sagte der Innenminister, »ganz recht.«

Alle nickten. Lachend half Horst Mahler seinem Ausbilder auf die Füße. Alles war unter Kontrolle. Nur Waldemar Müller verstand gar nichts mehr. In seinem Leben hatte das Chaos gesiegt.

Waldemar Müllers Flucht durch Deutschland

Der Thüringer Obstkuchen besteht aus einem dünn gewalzten Hefeteig, den man mit einer dünnen Schicht aus sämigem Grießbrei bestreicht, damit der Obstsaft aufgesogen wird und der Boden knusprig bleibt. Das hatte Waldemar Müller nicht in der Parteihochschule gelernt. Leider hielten die oberen Chargen viel zu wenig von solchen Dingen. Dabei ging es in der Partei letzten Endes doch auch um die Liebe zur Heimat. Waldemar Müllers Liebe zur Heimat war ohne den Thüringer Obstkuchen undenkbar.

Er arbeitete als Beamter bei der Reichsbahn, war aber wie die meisten seiner Mitbürger sesshaft. Während er in dieser dunklen Dezembernacht nach Hause ging, beneidete er niemanden. Genosse Labricht war kürzlich von einer Afrika-Reise nach Saalfeld zurückgekehrt; mit einem Lichtbildervortrag hatte er die Wichtigkeit der DDR in einem armen afrikanischen Land dokumentiert. Genosse Labricht war sein Bürovorsteher bei der Bahn in Saalfeld. Aber Parteiarbeit und lange Reisen ließen ihm wenig Zeit übrig, und Waldemar Müller hatte sich seit Jahren um alle wichtigen Vorgänge selbst kümmern müssen.

Den Thüringer Obstkuchen hatte seine Frau Karola als Willkommensgruß für Genosse Labricht gebacken. Aber der Weitgereiste sah so glücklich aus auf den Lichtbildern, wie er neben den hungernden, nackten afrikanischen Frauen in der Sonne stand, dass Waldemar Müllers Kampf mit der Versuchung kurz und schmerzlos war: Auf seiner hinteren Bank hatte er den Thüringer Obstkuchen während des Vortrags verstohlen bis zum letzten Krümel aufgegessen.

Waldemar Müller dachte an die Blaubeeren, Kirschen und Pflaumen, an die Creme aus Eigelb und Sahne, die, mit Rosinen und Rum gekrönt, das steifgeschlagene Eiweiß noch auflockerte. Er hatte nie daran gezweifelt, dass die Liebe durch den Magen geht.

Auf dem Heimweg hatte Waldemar Müller jede Mitfahrgelegenheit abgelehnt. Mit einem angenehmen Gefühl der Völle spazierte er nach Hause. Bis zur innerdeutschen Grenze waren es nur ein paar Kilometer. Aber Waldemar Müller war nicht neugierig. Außerdem war es stockfinster, und weiter als seine Nase konnte er nicht sehen. Glücklicherweise kannte er den Weg. Hier hatte er festen Boden unter den Füßen. »Immer auf dem Teppich bleiben«, sagte er sich, »dann kann einem nichts passieren.« Dabei dachte er weniger an den alten Teppich aus Flickwerk, der in seinem Wohnzimmer lag. Er war zwar nichts wert, aber Waldemar Müller mochte ihn nicht missen. Sein Sinn für Eigentum war stark ausgeprägt.