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Anna Baar

Die Farbe des
Granatapfels

Roman

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Zwei Jahre nach Hanins Tod wurde die Eisenbahntrasse hinter unserem Haus stillgelegt. Als die Züge den Landstrich noch mit ihren flüchtigen Girlanden aus Pfiffen und Rauch behängten, war uns der Damm ein heiliger Ort, ein von Gräsern dichtbewachsenes Zwischenreich auf Leben und Vergehen. Im Sommer glühten die Schienen an manchen Tagen so, dass die Luft darüber aufsprang und in ungestüme Lichtwesen zerfiel, die sich leichtfüßig über dem Stahllauf kräuselten, schneller noch als die Mückenschwärme. An Wintertagen waren die Gleise frostkalt, die Schattenseiten morgens noch mit den Splitterblüten des Raureifs besprengt, dass unsere Ohren, die wir zwischendurch auflegten, um herannahende Züge aufzuspüren, beinahe daran haften blieben. Es gab keinen Zweifel, dass dieser verbotenste aller Orte der geeignetste war, die Orakel und Gespenster, die uns in Wermutnächten aus den Träumen schreckten, zu verhöhnen mit unserem Übermut, der der Übermut der Kleinlauten war, die ihre Schreckbilder wenigstens bis zum Einbruch der Dunkelheit ins Vergessen zu drängen hofften – einmal im verschwörerischen Flüstern, einmal im Narrengeschrei, denn wer hätte die Stille ertragen, die uns daran erinnerte, dass wir in den Klüften unserer Seelen abgesprengt und allein waren und das Versprechen der Unzertrennlichkeit nicht einzulösen vermochten.

Heimlichtuer waren wir, die Stunde um Stunde jede Glückserwartung daran bemaßen, als Erster die Richtung zu erraten, aus der sich ein Zug näherte – und nichts schien mehr von Belang als das Horchen und Lauern. Und Späher waren wir, allzeit bereit, auf die richtige Vorhersage Arsch und Ehre zu verwetten – und wenn auch unsere todernst behauptete, aber immerzu an den nächstbesten Winkelzug verhökerte Ehre nichts galt, galt der Arsch doch allemal.

Manchmal war ich es, der einen Tag lang jenes erhebende Selbstgefühl zuteil wurde, das selbst Angsthasen zu Helden macht, doch das Glück reichte nie hin, den Triumph leichten Herzens auszukosten und den Kopf auch nur ein klein wenig höher zu tragen als an gewöhnlichen Tagen, denn durch die stillen Schauer der Genugtuung flackerte meine Verlegenheit: Die wahren Helden, so viel stand fest, waren Hanin und Ela, denen nur ebenbürtig sein konnte, wer das Verrecken, wie sie es nannten, nicht einmal im Geheimen fürchtete, Hanin und Ela, die sich nicht auf unser kindisches Ratespiel beschränkten, mutig und leichtsinnig, wie sie waren, zwei aus der Zeit gestürzte Engel, die den Makrofonpfiffen der herandonnernden Lokomotiven zu den Schummerstunden ohne Wimpernzucken die Hitzköpfe hinhielten – Hand in Hand auf immer derselben Bahnschwelle –, allen Warnrufen und Leuchtsignalen die Stirn boten und sich erst im letzten Atemholen, unter dem Kreischen notgebremster Stahlgussräder, im Lichtkegel der Diesellok über die Schüttung von Fels- und Trümmergestein in den Graben warfen, wo wir anderen uns mit angststeifen Fingern umfangen hielten, zitternd, die Augen zugekniffen, winselnd oder aus Leibeskräften anbrüllend gegen Panik und Höllenlärm, denn es war nicht auszumachen, ob die zwei Gliederpuppenkörper, die zuerst in die Senke kollerten und dann wie für die Ewigkeit liegen blieben, tot oder lebendig waren.

So vergingen die Jahre. Und immer ging es gut. Bis auf das eine Mal. Und irgendwann, ich schwor es Ela hoch und heilig, würde ich es sein, die es am längsten auf den Gleisen hielte. Vielleicht an jenem Tag im September, an dem wir uns daran erinnern, wie sich Hanin seiner Flügel entsann und durchbrannte – ohne Lebewohl, wie es seine Art war.

Die Zunge des Basilisken

Was reden mit ihr? Ich glaubte Nada schon vor zwanzig Jahren alt, jetzt ist sie es wirklich. Wir sitzen auf der Veranda, rauchen eine Zigarette nach der anderen. Die Asche wird lang, fällt auf das Plastiktischtuch, das schon voller Brandlöcher ist, fällt zu Boden, krümmt sich unter einem Windstoß fort, sammelt sich da und dort in den geschützten Ecken und Winkeln. Manchmal sehe ich Nadas Asche im Ringelspiel des Winds über die Terrasse wirbeln. Überall Asche: im brüchigen Weidenrutengeflecht der verwitterten Korbsessel, in den bodennahen Spinnwebnestern, die Nada längst nicht mehr sieht, in Rachen und Nase dann und wann. Darauf angesprochen, reißt Nada Mund und Augen auf und zieht dabei die Luft so mühevoll in die verschleimten Lungen, dass mich ein schlechtes Gewissen beschleicht. U ime oca i sina i duha svetoga, amen! Sie bekreuzigt sich, wirft die Hände hoch, fährt mit ihren knorrigen Fingern über das glutvernarbte Tischtuch, dass die Asche zerstäubt und zu Boden fällt, und noch während sie über das ausgebleichte Muster streicht und mit ihren rotlackierten Krallen an den Brandschrunden kratzt, als wollte sie auch diese unbemerkt entfernen, behauptet sie, da sei doch nichts, sei auch nichts gewesen: Wo siehst du Asche? Wo? Da ist nichts! Du mit deinem Sauberkeitswahn! Schlimmer als deine Mutter! Und dann, nach einem Kopfschütteln: Gore infišat nego poludit – Spinnen ist schlimmer, als verrückt zu werden.

Es dämmert. Die Bora macht mich frösteln, jagt Blätter, Staub und Asche über die Veranda. Nada sagt, ihr sei nicht kalt, nie. Und nein, sie wolle keine Strickweste und auch kein Glas Wasser und ich solle – verdammtnochmal – aufhören mit meiner Fürsorge, mit meinem lachhaften Gesundheitswahn – neunundachtzig Jahre sei sie, immerhin, obwohl oder gerade weil sie nie einen Gedanken an das Trinken verschwendet habe. Ich habe keinen Durst. Nie! Ich unterdrücke ein Lachen, nach dem mir ohnehin nicht zumute war, dann, den letzten Lungenzug kaum ausgehustet, beginnt sie von vorne: Du bist doch meschugge, dass du immer und überall Asche siehst. Sie wird nicht locker lassen, bis wir schlafen gehen.

Nadas Angewohnheit, das Offensichtliche abzustreiten, klemmt mir jedes Mal den Hals ab. Ich halte still, wie im Sturm geduckt, halte ihr nichts entgegen, um jede Zuspitzung zu vermeiden, presse den Atem in ungeschickten Stößen durch den Kehlspalt und versuche den Zaunkönig zu erdrücken, der wieder darin zu nisten beginnt, dass mir von seinem Scharren ums Haar das Wasser in die Augen tritt. Ich will die Alte auf ihren Rückzugsgefechten nicht um die letzten Siege bringen, denn wie viel schwerer wöge meine Schuld als ihre Vorhaltung, Asche zu sehen, wo keine ist! Lieber ziehe ich aus freien Stücken den Kürzeren, wenn es denn zwischen uns überhaupt so etwas wie freie Stücke gibt.

 

Der Sturm reißt an, fällt in scharfen Böen über dem Berghang ein, zerrt an den Fensterbalken, an den abgepflückten Wäscheleinen, an Nadas schlampiger Steckfrisur. Im Geäst des alten Mandelbaums ein Trommelwirbel, ein Fauchen im Schilf. So hält er es, wie immer, und fegt die guten Schiffe in den Hafen und zermalmt die schlechten an Molen und Klippen oder wälzt sie in die Schlünde der Wasserwirbel.

Die Bora, sagen die Alten, bringt die Menschen um den Verstand, mancher springt da von Bord einer ins Trudeln geratenen Barka, auch wenn er gar nicht schwimmen kann. Das Kopfschmerzwetter dickt uns das Blut ein, macht den Adern Druck, kratzt an den Schädeldecken. Polternde Spukschatten, die an allem Flüchtigen die Klauen wetzen, und ich, die Unverfrorene, die Lachhafte, die Asche sieht, wo keine ist, weiß mir nichts anderes mehr, als auf die Kraft zu vertrauen, die den Brustkorb zehn-, zwanzigmal in der Minute auftreibt und senkt, gegen den Atem des Winds.

Eine Zigarette nach der anderen. Motten und Nachtfalter tummeln sich in wilden Mazurkas um das Laternenlicht. Unter dem Brustbein schwelt Ekel, aber ich rauche weiter, als ließen sich durch den beißenden Dunst die Leerräume und Nebenhöhlen stopfen, die ein bloßer Atemzug nicht zu füllen vermag, weil die Leibeslöcher für Dichteres vorgesehen sind, weil man die Hohlräume und Tiefungen nur im Schmerz spürt, sich nur so mit jedem Luftzug am Leben weiß. Kippen quellen über den Rand des Aschenbechers, Qualm tritt uns aus Nasen und Mündern. Ich zupfe Fäden aus meiner Strickjacke, rolle sie zwischen Daumen und Zeigefinger zu Wollkugeln, werfe sie auf den Boden, in jenen anderen Himmel, den Fledermaushimmel, denn die Fledermäuse stehen mit dem Teufel im Bund, dass sich die Mädchen nach Einbruch der Dunkelheit nur ja nicht draußen herumtreiben. Verfängt sich eine Fledermaus im Haar, kommt sie nimmer frei!

Mein Blick oszilliert zwischen Brandlöchern und Aschenbechern und Nadas dreckigem Hauskleid, voller Brandlöcher auch das Kleid, trifft auf die in Schüben bebende Schildkrötenhaut über dem Halsausschnitt. War ich es, die eben noch halb entrückt an der Brandkrätze des Tischtuchs rieb – Schlimmer als deine Mutter!, abermals, aber jetzt hinter versiegelten Lippen? Was weißt du schon von mir?, will ich entgegnen und würge den Satz schnell in die Fressscharte wie eine Bittermandel, die man nicht unbemerkt ausspucken kann, denn was, wenn das nur Gedachte auf meiner Zunge zum Wort reifte und aus mir herausbräche, und was, wenn sie gar nichts wissen will und auch damals schon nichts wissen wollte, als sie mich ihr ganzes Glück, ihr Einundalles, ihr Kind nannte?

 

Sie immer: Wen liebt Nada am meisten?

Das Kind schwieg.

Sie dann mit freundlicher Schärfe: Sag: Mich!

Das Kind wider Willen: Mich.

 

Auf einem Beistelltisch am hausseitigen Eck der Veranda flimmert der Röhrenfernseher. Seit Nada es der kranken Beine wegen nur noch selten in den Garten schafft, geht das so, an den meisten Tagen von früh bis spät. Wenn ihr Hörgerät spinnt oder wieder einmal unauffindbar ist, fährt sie den Fernsehapparat mit einem entschlossenen Fingerdruck auf ihrer kartoffelteig- und schmutzverklebten Fernbedienung auf volle Lautstärke, dass man die Tiraden der Nachrichtensprecher und die Stimmen brasilianischer und mexikanischer Telenovelastars bis hinunter zum Strand hört. Vor ein paar Tagen hat das Hörgerät wieder einmal Beine gekriegt. Immer wieder fragt sie danach. Keiner hilft suchen.

Nie kann ich sicher sein, dass Nada mich hört. Ob sie jetzt vernimmt, wie uns die Windgötter verlachen für die vorgetäuschten Meriten, für unser Großtun und Scheinen, wie die Äste und Scharniere krächzen, wie die Brandung schäumt am Strand vorm Haus? Wie ein gefräßiger Basilisk züngelt das Meer an Kies und Felsen, und im Nu erbricht es sich, erbricht den bitteren Auswurf von Tang und Muschelschalen, spuckt in gleichförmigen Spasmen aufs Ufer, was ihm nicht bekommt – totes Meeresgetier und Unrat und manchmal einen noch fest verschnürten Plastiksack voller Katzenleichen. Taumelnd die Barken, die da vor Anker liegen, als rissen sie sich gleich von den Tauen los. Die Bojen zappeln und schlenkern, außer Rand und Band, wie Kinder, die beim Verteilen von Näschereien das Zukurzkommen fürchten. Nachtschwarz tobt das Meer, die Wellenkämme in Fontänen gegen den Himmel gespritzt und ans Ufer geklatscht, in ein Nebelgewölk zerstäubt und als Mehltauschleier über den Horizont gespannt. Mittendrin wir beide, Haut an Haut, die Klatschmohnlippen zum ewigen Kuss geschürzt.

 

 

Ich litt Nada immer schon und litt sie gut – aber das besagt nichts. Seit ich mich erinnern kann, taste ich mich schadenklug und kleinlaut an den Borten unseres Trauerspiels entlang, glitsche in ihre Fallstricke, wie ich, wenn ich Hals über Kopf in den Schlaf tunke, in jene bodenlosen Sturzträume falle, aus denen einen jedes Mal ein epileptisches Zucken schreckt, in letzter Sekunde, wenn bis zum Aufprall nur der eine Augenblick fehlt. Manchmal schaffe ich es auf die Beine, bis ich an ihren Wunderkammern und Lachkabinetten, an ihren Droh- und Angstgebärden abermals zu Fall komme und mich wieder lieb Kind mache – immer noch, nach all den Jahren: ihr lieb Kind. Dann verachte ich mich und verachte sie, der mein Mitleid gilt, und schwöre jedes Mal bei allem, was mir lieb ist, auf der Hut zu sein.

Nur die Narren glauben, nach dem Krieg sei Frieden.

 

Mislim – Ich glaube – so beginnt sie jetzt immer, wenn ich sie bedränge, aus ihrem Leben zu erzählen. Ihre Sätze sind kürzer geworden, ihr Atem auch. Auch meine Geduld. Sie ist es nicht gewohnt, gefragt zu werden. Zeitlebens meine Teilnahmslosigkeit, ein Glassturz, an dem sie sich die Fingerknochen wundschlug, und jetzt? Die Neugier! Jetzt, da alles zur Neige geht, selbst der Nachgeschmack der Lebensreste fade wird, sorgsam verstaut für die letzte Reise, auch was ihr vier Jahre Volksbefreiungskampf verleidet oder in Verklärungen und Anekdoten verkapselt haben: die hingehauchten Liebeserklärungen, die Bitterwinter, Sprengsätze und heimlichen Bittgebete, die Selbstverschwendung an die Liebe oder das, was sie dafür hielt, die Stunden des Wartens am Strand von Bačvice und zuvor die Kindheit in jenem Vorort von Split, Solin!, und an den Ufern der Cetina, die Maskeraden auch und der Leichtsinn, der Mangel, das Unerhörte, das Insgeheime.

Die alten Lieder und Reime trotzen dem Bildzerfall im verkrustenden Hirn, und wie um sich aufzuspielen drängen sie nun an die Oberfläche, durchkreuzen jeden Einfall, um am Ende oft im unpassendsten Moment aus ihr hervorzubrechen, dass es den Anschein hat, ihr Denken bestünde nur noch aus Vers und Gesang: Čiri-biri-bella, Mare moja. Ich will mir die Ohren zuhalten und höre doch hin, koste jede Strophe aus und jede Melodie, denn wenn sie auch sonst nichts hervorbringt – wer weiß, wie lange sie noch singt.

Errät sie meine Angst, sie entbehren zu müssen? Was bliebe ohne sie von unserer Welt? Nichts als die Gegend, ein Landstrich von Stein und Disteln, ein Strich, der sich zum Bannkreis krümmt und alles umfängt und zusammenhält und nur die Gloriole der Zugehörigkeit nie zusammenhielt, die mit den Jahren und in unseren eigenen Zeitmaßen wie Nadas Asche in alle Himmelsrichtungen stob, aus den Fugen ins Nichts. Nichts bliebe mir ohne sie als Steinwüsten und Strände, Kalkdächer und Mauervorsprünge, Wellen und Horizont. Ein Flecken Erde nur, seelenlos mit einem Mal, unberührt von unserem Geschick, gleichgültig auch gegen das Kind, das da heranwuchs, an Nadas Brüste und Brandstätten kroch, sich da wieder und wieder verbrannte, das gebrannte Kind, das das Feuer nicht scheute, nicht weil es aus dem Schaden nicht klug geworden wäre, sondern weil es sich der Gefahr aussetzen musste, um sich in Nadas Fühlung zu wissen, sich in Sicherheit zu wissen vor jenen viel größeren Gefahren, vor denen sie dauernd warnte. Zeit ihres Lebens die Glut, die ihr Gesicht mit jedem Atemzug zum Leuchten brachte und schon im nächsten Augenblick im brüchigen Rückstand erlosch, der im Takt der Lungenzüge von ihr abfiel, als verginge jedes Mal ein Teil ihrer selbst, als riefe sie mit jedem Atemholen ihr eigenes Sterben an. Der Geruch ihres Wasserstoffhaars war dem Kind geläufig, einen Tag ohne Angst um sie kannte es nicht. Es meinte sogar, die Angst kröne die Liebe, und keiner wahren Liebe sei man gewiss ohne dies Entsetzen.

 

 

Als die Zeit noch lang war, schien alles schon getan, und doch war alles helllicht und neu, ein Wundernehmen unterm Blätterdach des Mandelbaums, im Tasten und Schauen und im Hinhören, das ein Hellhören war im Lauten wie im Leisen, denn was dem Kind ans Ohr drang, waren nicht Schall und Geräusch, Klangfarben waren es, Anrührungen, die seine Stimmbänder anschlugen und zum Klingen brachten, dass sich der eigene Ton in die flüchtigen Aromen von Anis und Rosmarin mengte, in die Leichtigkeit der Stille. Alles war ihm gut: die aufgeschlagenen Knieschwarten, in die sich Salz und Dreck einfraßen, die Brombeerdornen auch, der Anblick der winzigen, strampelnden Beinchen, wenn man einen Käfer oder eine Assel auf den Rücken drehte, die Stachelkronen und Wachholdernester, an deren Flechtwerk sich dies linkische Kind beim kleinsten Übermut verletzte, auch die Sonnenstiche im Nacken der über die langen Sommer in andre Obhut Gegebenen, denen man die Rückkehr der Mütter versprach, gedankenlos dahinversprochen – Bald ist es soweit. Bald! –, dass man sich die Ohren zuhalten mochte, um fest zu bleiben im Glauben, es gäbe gar kein Außerhalb, das es zu ersehnen gelte, denn obwohl man in den Schlagschatten der Pinien und Zypressen Finsternis atmete, wärmte einem der Sommer doch Knochen und Gemüt, und man wurde gehätschelt und genährt, und kein böses Wort, solange man sich duckte, und nur ein Sichgedulden allezeit.

 

Sie waren sich gut, Nada und das Kind, in den Stegreifmärchen und Mätzchen, auf allen vieren auf dem Fransenkelim Maulesel nachahmend, außer sich, albern und allen Ernstes – und auf die immer seltenere Erkundigung, die ihren Zweibund gefährden mochte, stand die Antwort längst fest: Bald kommt die Mutter. Bald! Zum Sommerende würde sie auftauchen, einen heimholen in die Fremde, in die sie selbst einst aufgebrochen war, das Land des Vaters und der vielen Jahreszeiten, deren wärmste das Kind nur vom Hörensagen kannte. Doch das Wort Bald war keine Besänftigung, sondern ein Hinhaltewort, das die Sehnsüchte mehrte und häufte.

In immer gleicher Bildfolge träumte das Kind vom Verschwinden der einen, der sein Sehnen galt und der es kaum bis zur Hüfte reichte, als sie einst vor ihm stand in ihrem knielangen Persianer – ein riesenhafter Kegel mit arschlangem Haar, den Kopf so hoch, dass man, wenn man zu ihr aufblickte, immer auch ein Stück vom Himmel sah. Wie sie da lächelt und schweigt und sich dann jäh abwendet, und man glaubt noch an ein Spiel – gleich ruft sie Guck-guck!, gleich kommt sie aus ihrem Versteck, dann rufen beide Da! –, doch diesmal nicht, als sei die Zeit im Bald! festgefahren, eine hängengebliebene Plattenspielernadel, die jedes Mal zurückspringt, genau an dem Punkt, da man das erlösende Da! schon vorhersieht.

Das Kind geht auf Entdeckung, schaut hinter jede Tür, hinter jeden Vorhang, in den Kleiderschrank, unter die Betten, in die Spinnwebwinkel, bis ihm die Lust am Spiel vergeht, da sie es so hinhält, nicht antwortet, nicht hört, wie es doch brüllt und schluchzt und seine milchigen Vorstellungen um ihr Verschwinden kreisen und um Worte, die es noch nicht hat, Worte, die die Spielverderberin zum Vorschein kommen lassen sollen – Angstworte, Drohworte. Doch jeder Ruf treibt sie noch weiter ab, als sei der Schreihals selbst an ihrem Fortgehen schuld. Und wenn es schon nicht abzuwenden ist, das Fortgehen, so will man es doch immerhin herbeigeführt haben, denn so geschähe einem recht und man könnte sich an seiner Schuld betäuben und darüber alles Leid vergessen.

Es war wie ein stundenlanges Sterben, das man am Ende doch überlebte. Und mochte es dem Kind auch gelingen, sich an die Dunkelheit zu gewöhnen, krümmte es sich doch in den Tausendscherbenstunden, da es mit flachem Atem durch die Zimmer lief und wieder Nachschau hielt, im Hoffen, dass es doch nur ein Versteckspiel sei. Nada findet das rastlose Bälgchen zwischen Türen und Angeln, hebt es auf ihren weichen Schoß, sucht es mit allerlei Unfug abzulenken, schiebt ihm bittere Schokolade in den Mund. Das Kind lässt sich rasch betäuben, presst die Lippen aneinander, dass das Blut aus ihnen weicht, presst sie so aneinander, wie es sie zeit seines Lebens aneinanderpressen wird, wenn ihm etwas unerträglich ist. Nada, die einzige Verbliebene, soll nicht erraten, dass ihre Gegenwart zum Trost nicht reicht. Lieber stumm als niemands Kind.

 

 

Unter Tags, wenn die Traumbilder am Blendlicht des Sommers brachen und sich wie die nachts weit aufgeschürzten Blüten der Finsterblume zu unscheinbaren Schwängeln falteten, schien das Fehlen der Mutter ebenso belanglos wie Nadas Weigerung, dem anvertrauten Kind öfter als alle paar Wochen ein Bad einzulassen, um ihm den Schmutz und das Meersalz, das ihm schon durch die Löcher und Poren ins Fleisch drang, von Haut und Haar zu spülen. Das Kind kannte ja nichts anderes, war unempfindlich gegen die Not des Vertrauten, auch gegen Nadas leere Drohung, sich einen Tamariskenast zu brechen, wenn es barfuß durch den Garten lief – Du kriegst Tetanus! –, sich die Knie aufschlug – Lass sehen, ob es eine Blutvergiftung ist! –, einmal außer Rand und Band geriet – Du wirst dir den Kopf brechen! – oder widersprach, denn wenn der scharfe Gertenstrich sogar die störrischen Maulesel in Gang brachte, wie sollte er dann nicht geeignet sein, dem verstockten Balg die Flausen auszutreiben?

Die Rute ist aus dem Paradies gefallen, murmelte die Schöne, Šiba je iz raja ispala, und bei allen Göttern und Würdenträgern: Wie viel lieber wären dem Kind die paar Stiche in den nackten Kniekehlen gewesen als die Gewissensbisse, wenn sich Nada beim kleinsten Ungehorsam in ihr Schweigen zurückzog oder, was verschiedentlich geschah, sich wegdrehte und ihre Hände vors Gesicht schlug und ihre Schultern beben ließ, um es bis ins Mark fühlen zu lassen, welchen Schmerz es ihr mit seinem Eigensinn bereitete. Eines Tages, wenn ich nicht mehr bin, wirst du schon sehen, wie gut du es hattest! Und: Wirst du dann an mein Grab kommen? Und: Wirst du um mich weinen, traurig sein, mein Kind? Und schon im nächsten Atemholen, da dem Kind die Angst – endlich! – in winzigen Schweißperlen auf der Stirn geschrieben stand:

Wer ist mein Einundalles, mein Augenlicht? … Sag: Ich!

Ich.

 

Das Kind ließ sich den Bann gefallen, die harten Worte auch, die sich Nada als Ehrlichkeit zugutehielt, denn es bemaß seine Welt mit ihrem Maß, das das Maß aller Dinge war, und es liebte Nada – auch dafür, dass es ihr einerlei war, ob es seine Zähne putzte, ob es sich die Hände wusch. Nur die Unterwäsche hatte rein zu sein, frisch und ohne Löcher, denn es war zu jeder Zeit mit einem Unglück zu rechnen, und was, wenn sie einen ins Krankenhaus brächten und auszögen, wenn die Ärzte und Schwestern ein schmutziges Höschen zu Gesicht bekämen oder löchrige Socken!

Es gab nur den einen Einklang: das Biegen, das Brechen, den Sieg. Und die Siegerin – immer dieselbe. Nada, geh nicht fort!, will man rufen, Ich nehme alles zurück, das Trotzen und Toben, die Frechheit, die Wut, denn dein ist das Wort und dein ist das Schweigen, das härter schlägt als jeder Stock, und in allem sollst du recht behalten. Was hätt ich dem Kind nicht alles in den Mund gelegt, im Nachhinein, um seine Geschichte umzuschreiben, aber es lässt sich nichts umschreiben, und das Kind rechnete nicht mehr mit dem Gehörtwerden, auch nicht, als es nach und nach Worte und Wege fand. Ängstlich kroch es unter Nadas Rabenflügel, unter dem es finster war und drückend heiß, doch wer, wenn nicht sie, hätte es beschützen sollen vor den Scheren und Giftzähnen wilder Tiere, vor den Blutvergiftungen und Fieberkrämpfen, vor Typhus und Wundbrand, den Nijemci und der Baba Roga? Wer hätte es beschützen sollen als die, die ihm Mut zusprach und jeden Schrecken herunterspielte – Es ist nichts, nichts!, Uch! To nije ništa! –, nur um die Furcht schon im nächsten Augenblick erneut zu schüren – verschwörerisch gedämpft die Reibholzstimme, in die sogar im Flüstern ein grauer Ton einbrach. Die immer gleichen Erzählungen von der alten Seelenfängerin, die einen in Wechselgestalt, einmal als schönes Mädchen, ein andermal als der meistgeliebte Mensch, mit Lockrufen umgarnte oder unter einem Vorwand um Hilfe anrief, Hirtensohn, erbarme dich! Sieh doch: mein Haar im Dornenbusch verhaspelt!, ehe sie sich auf den Wirbelkamm ihres Opfers schwang, um es mit festem Schenkeldruck, die Haare als Zügel, zu Tode zu reiten. Und Ziegenfüße habe sie, die Baba Roga. Einigen im Dorf soll sie begegnet sein, manchen unter freiem Himmel, beim Schafehüten, beim Wasserholen oder bei der Feldarbeit, manchen in der Schlafkammer, den Kranken und Hinfälligen vor allem, denen sie nur den Atem abzudrücken brauchte; immer die schwarzblauen Blutplacken unter der Totenblässe, als man die Leblosen fand.

Selbst die Kinder, vor allem die Neugeborenen, liefen Gefahr, denn die Baba Roga war erpicht, ihnen in einem langen Kuss die Seele auszuschlürfen, begierig darauf, sich mit der Schönheit der Menschenkinder anzustecken. Also wickelten die Mütter und Ammen die Säuglinge in schmutzige Tücher und zogen den besonders Schönen wenigstens ein Kleidungsstück verkehrt herum an, ein Häubchen oder ein Hemdchen, damit die Engel nur ja keinen Gefallen an ihnen fänden.

Das Kind wusste um die Bedrohung, denn es traf wohl zu, dass es schön war – und doch hatte es Zweifel, da ihm niemand je ein Kleidungsstück verkehrt herum angezogen hatte und keiner Schmiere stand, wenn Nada ihren Mund an seine Glutstirn presste und ihm verzuckerten Kamillentee reichte und ihm der Totentrommler an die Schläfen pochte, während es mit seinen Fieberaugen genau erkennen konnte, wie die Baba Roga im Türrahmen anhielt, lächelnd und lautlos die Lippen bewegend, als sei sie mit den Engeln um die Kinderseele im Gespräch. Und so zeichnete es einmal, als ihm die Teta ein Stück Kreide schenkte, den Umriss eines kleinen Leichnams auf den Asphalt und gab ihn zu Nadas Entsetzen als den eigenen aus, denn der Fluch der Baba Roga galt ihm genauso, wie ihm das Versprechen galt, dass bald, bald! die Mutter käme, und nirgendwo war Zuflucht, nicht in Nadas Blick, nicht im zerklüfteten Schatten der Ölbäume, nicht in den steifen Laken, die man in den schweren Nächten in Eiswasser tränkte und um die nackten Hüften und Schenkel schlug, ehe man sich unter dem Summen der Stechmücken in einen seichten, unergiebigen Schlaf quälte.

 

Mehr als ein eigenes Unglück fürchtete das Kind Nadas Tod, denn was, wenn sie ihm wegstürbe, ihm als letzte Hinterlist ihren Tod antäte? Man musste ihr zu Gebot stehen, um sie vor einer solchen Vergeltung abzuhalten. Und was machte es, dass das ofenwarme, duftende Brot, das man jeden Morgen vom Pekar holte und auf dem Nachhauseweg lustvoll an sich drückte, nicht angerührt werden durfte, ehe das alte aufgegessen war, dass Nada beharrlich das harte Brot vom Vortag auftrug, aber davon stets genug, auch jeden Tag ein Ei im Glas und Polenta mit Zucker und Milch, soviel man wollte. Man konnte es ihr schon nachsehen, wie sie zum allabendlichen Stromausfall Nestala struja! ausrief, als sei etwas Bemerkenswertes geschehen, als sei man die Schwärze nicht längst gewohnt, das dauernde Tappen im Dunkel – nach einer lotsenden Hand, nach den Wänden und Türstöcken, nach den Laden, in denen stets Zünder und Kerzen bevorratet waren.

Gewiss, eines Tages, wenn Nada stürbe, würde das Kind sehen, wie gut es war, wie alles um seinetwillen geschehen war und alles im Namen der Liebe, und bestimmt würde es dann auch verstehen, was es mit den Nesseln und Buschbränden auf sich hatte und mit dem Geschrei der ausgehungerten Katzen, das die nächtliche Stille zerriss und die Eintönigkeit des Hochsommers, oder mit den Ziegen und Hütehunden auf den staubigen Stolperpfaden und unwegsamen Distelweiden, und wenn sein Blick scheinbar ins Leere ging, sah das Kind von weitem, wie die Herden auseinanderstoben, aufgescheucht vom Tramontana, der seine wütenden Häscher über die nackten Bergrücken stieß, sie auf das Dorf und die umliegenden Weingärten und Olivenhaine und mitten hinein in den Hafen hetzte, die Schiffe aufs offene Meer hinaus fauchte, alles anherrschte, was sich nicht beugte.

Dort, woher die Böen kamen, in einer Karstspalte unweit des Südhangs des Sveti Vid, hauste die Baba Roga, halb wahnsinnig vor Einsamkeit und Schmerz um ihr ertrunkenes Kind, das sie seither an allen Kindern und Hilflosen zu rächen trachtete. Einst hatte das Meer den leblosen Buben an den Strand vor dem Haus gespült, und das Kind war neugierig dahin geeilt, um die im seichten Wasser wie zum Totentanz pendelnden Beine zu betrachten und dann die Wachshaut des Gesichts, die gebrochenen Augen, den klaffenden Mund mit einem Stück Treibholz zu erforschen, ihn anzustupsen, auch an den noch schütter behaarten Achselhöhlen und endlich auch am Bubengeschlecht, in Erwartung, dass er sich plötzlich regte und aufspränge und lauthals lachte, wie Nada es immer tat, wenn sie sich lange genug totgestellt hatte, so lange, dass das Kind darüber in Verzweiflung geraten war. Doch dieser Tote: nichts davon.

Man konnte so einen stillen Kameraden schon liebgewinnen – die Friedfertigkeit seines Ausdrucks und wie er sich alles gefallen ließ. Wer weiß, wie lange das Kind schon um ihn war, als Nada herbeigeeilt kam, ohne dass irgendwer nach ihr gerufen hatte. Und wie es sich ertappt meinte, wie sich ein heimlicher Schnüffler ertappt glaubt, wenn ein zweiter hinzutritt, während sie, noch unschlüssig, ob sie das eben noch verzweifelt gesuchte Balg an sich drücken oder ohrfeigen sollte, den Blick sofort auf den Hampeltänzer richtete und sich die wie zum Backenstreich ausholende Hand selbst auf den Mund schlug und dann vor dem heil gebliebenen Gesicht des Kinds zu fuchteln begann, wie um eine Furcht zu zerstreuen, die sie dadurch erst entfachte. Und welche Erleichterung dann, als sie das Fuchteln einhielt und dazubleiben beschloss, um alles zu bezeugen, falls Angehörige oder Polizisten einträfen, wie sie sagte – und keine Anstalten mehr, das Kind zu schelten oder zu besänftigen, nur noch Augen für dies andere Kind, das sich lasch und biegsam in der Brandung wälzte.

Sie schien sich den Tod einprägen zu wollen als ein fremdes Gesicht von Angst und Lust, das einen nicht mehr anbelangt, nicht so angeht wie der Tod der Schwester, und das Kind bemerkte das schnelle Heben und Senken ihrer Brust, sah die feuchten Achseln im Armausschnitt ihres Kleids und dass sie keinen Schritt zurückwich, als zwei Fischer den zarten Bubenkörper an Armen und Beinen griffen, ihn wortlos aus dem Meer hoben und auf trockenen Tang betteten, während sich die Menschentraube der Hinzugekommenen für Sekunden lichtete. Da, aufgewühlt mit einem Mal, hätte es gern gelacht, um sich ein wenig zu beruhigen, denn nun, da der Knabe bewegungslos dalag, nur mit seiner Badehose bekleidet, lilienbleich und – hat’s wer gesehen? – mit schwarzen Blutplacken an den Armen, kam ihm der Schlenkertanz abermals in den Sinn, und es dachte: Was ist der Jadran für ein Possenreißer – macht selbst die Toten noch tanzen.

In den folgenden Nächten wälzte das Kind die Laken knitterig, starrte mit aufgerissenen Augen an die Wand, sah die Baba Roga, wie sie lächelnd aus dem Gedränge hervorkam, das um den Ertrunkenen war, sah die Spur ihrer Ziegenfüße, und gerade, als es Nadas Augenmerk endlich dahin gelenkt hatte, leckte eine Welle die Fußabdrücke vom Sand, dass Nada nichts erkennen konnte und ihm entgegen all seiner Beteuerungen versicherte, dass es sich geirrt habe – Gore infišat nego poludit!, Spinnen ist schlimmer als verrückt zu werden! Mehrmals schrak es hoch, stand auf, vergewisserte sich, dass niemand hinter dem Vorhang war und der Schrank fest verschlossen, denn womöglich hatte die Baba Roga es dabei beobachtet, wie es dem Toten das Treibholz ins Gesicht und ans Geschlecht drückte, und was, wenn der als Wiedergänger in die Welt der Lebenden zurückkehrte, um sich an ihm zu rächen? Wie Quecksilber schwoll die Angst. Erst als es durch den Türspalt Nadas Glut aufleuchten sah und ihre Rauchschwaden zu ihm drangen, wurde es ruhiger und dachte an den Vater, wie er ihm, wenn es im anderen Land zu Bett ging, lange Geschichten erzählte, ihm dabei sanft über Schläfen und Wangen strich, ihm schließlich ein Kreuzzeichen auf die Stirn machte – Gott schütze dich! – und es nicht zu fragen wagte, wovor Gott es schützen solle, auch weil es stillschweigend bezweifelte, dass dieser Gott, der doch nicht ankam gegen die Baba Roga und den Nijemac, der Nadas Lieblingsschwester erschossen hatte, zum Beschützer tauge.

 

Wirst du um mich weinen, traurig sein, mein Kind? Es schüttelt den Kopf, die Distelkrone rutscht ihm über die Stirn, bleibt an der Nasenwurzel hängen. Ein dünnes, klebriges Rinnsal läuft ihm die Wange entlang, über die Lippen, tropft am Kinn ab, zerplatzt als winziger Klecks auf der Brust. Ihm wachsen Flügel. Wie sich die Schulterblätter aufwerfen, wie die Haut darüber spannt! Jetzt fuchtelt sie vor seinem Gesicht herum: Was starrst du immer so ins Nichts?

 

 

Ich unterdrücke Brechreiz, zünde mir noch eine Zigarette an. Überall Asche. Der Rauch tritt mir in die Augen, der Körper hält dagegen, Rotz und Tränen. Nada bemerkt nichts. Wir schweigen. Nur in Gedanken halte ich Zwiesprache mit ihr. Los, erzähl!, fordere ich, vom Krieg meinetwegen oder von den Eskapaden. Wer war dir die Heimlichkeit wert? Es muss doch mehr als den einen gegeben haben, mehr auch als die beiden. Ich weiß vom Admiral. Die Mutter hat es mir erzählt: polstererstickte Schreie an jenem Freitagnachmittag – und danach immer wieder – durch die verschlossene Schlafzimmertür und selbst durch die alten Mauern der Zagreber Villa hindurch in den Flur, in den Garten, auf die Straße. Da half es nicht, dass die Mutter, zu jener Zeit ein Mädchen von elf, zwölf Jahren, eilig alle Fenster schloss und dagegen ging mit den mit einem Mal so gar nicht zaghaften Fingerübungen und den dahingepatzten Akkorden am tausendmalverfluchten Bösendorferflügel, in dessen pechschwarzem Lack man an hellen Tagen sein eigenes Spiegelbild sah.

Begreiflich, Nada, wie dir zumute war, Beppe über die Jahreszeiten zu entbehren, eine Frau von Fleisch und Blut. Wie muss man sich da aufrichten und auch ein wenig rächen, heimlich, für seine Lust an weiter Welt und Abenteuer, für sieben Monate auf hoher See. Und man selbst? Im Hintertreffen, die Faust nur hinterrücks geballt, da die besten Jahre so durch die Lappen gehen, mit der Arbeit und den Pflichten und den beiden Kindern – Stell dir vor, Anuschka, sie nannten mich die Frau mit den zwei Koffern! – Žena sa dva kufera!, eine Dreifachgängerin zumal –, da kommt der Admiral gerade recht.

Mutter und ich belustigten uns an dem Geheimnis, das nie eines war, verdichteten das wenige, was wir wussten oder zu wissen glaubten, in unseren eigenen Worten und Ausdeutungen zu einer eindrucksvollen Liebelei, in die wir unsere verstohlenen Begierden weben konnten, ohne uns verdächtig zu machen. Vielleicht kamen wir auf die Treulose zu sprechen, um einander die eigene Sittlichkeit vorzumachen, einander jede irrige Lust zu vergällen und am Ende selbst gut dazustehen. Und es war wohl nichts dabei, denn wir behielten alles für uns, sprachen Nada nie darauf an, um sie nicht zu beschämen, um sie nicht zu behelligen in ihrem Andenken an die Admiralsflechse, die in drei Minuten dreißig-, vierzigmal an ihrem Muttermund aufsalutierte, bis die Gischt die Welt um sie auswusch und alles ins Vergessen drängte, selbst die Kinder, die einander nicht in die Augen zu sehen wagten, unschlüssig, ob sie Rabatz machen oder sich tot stellen sollten, nun, da sich alles, was sie eben noch aus der Schlafkammer bestürmt hatte – das Ächzen des Lattenrostes, die Seufzer, die zwischen dem Schluchzen eines Balkanlieds und wildem Zorngebrüll dahinglitten –, in betretener Stille auflöste.

 

Ich töte die Zigarette aus. Sie ist nicht einmal zur Hälfte heruntergebrannt. Nada sieht mich fragend an. Ich mag es nicht, wenn man mich fragend ansieht, wenn ich mich aufgefordert fühle zu einer Antwort, zu einem Wort auch nur. Aber die Siegerin spielt ihre Trümpfe aus. Immer.

Nada klatschte mich auf, wo sie nur konnte, beschwor mich, auf den Richtigen zu warten, selbst als ich die Männer längst nicht mehr an einer Hand abzählen konnte, leuchtete die Winkel meiner Seele aus, als wäre es ein Gesetz der Liebe, einander zu entblößen und bis zum Überdruss vertraut zu machen. Beim kleinsten Verdacht schon klagte sie ihr Anrecht auf die Wahrheit ein, wild entschlossen, jedes Dunkel zu lichten. Nichts blieb ihrem Blick verborgen, nichts blieb geheim. Und wenn sie mir auf die Schliche kam, verriet sie nicht, wie sie es angestellt hatte, nur so viel: Ein Vöglein hat es mir gezwitschert.

 

Was war mit dem Operateur, Nada?

Lange und heimlich hatte das Kind die Chirurgenhände betrachtet, sich ausgemalt, wie die dicken Finger mit den runden, sehr kurz geschnittenen Fingernägeln die Klinge führten, die Beppes schwartige Haut über dem Kreuzbein aufriss, wie sie die Wunde aufstülpten und darin stocherten mit Lanzetten aus Edelstahl, hart an den Nerven, bis endlich das Rückgrat frei lag, und wie sie dann abtrugen und zurechtrückten, was abzutragen und zurechtzurücken war, um den Schmerz abzustellen, mit dem sich die Wirbelkörper gegen Beppes viel zu schwer gewordenen Leib auflehnten, und wie die Chirurgenhand, als alles an seinem Platz war, die Nadel fasste und die Haut mit über zwanzig Stichen vernähte, wie die Mutter, drüben im Vaterland, einmal den mit Äpfeln und Semmelmasse gefüllten Truthahn zugenäht hatte, und wie dieselbe heilkundige, von Nada hundertmal dankbar geküsste Hand dann auf der Veranda – oder war es in ihrem Zagreber Salon? – als ungeschickte Pranke nach dem Stiel eines Weinglases griff und dann und wann auch nach der Schulter einer Frau.

Seltsam war mir zumute, als Nada mich einmal fragte, ob eine heimliche Liebe der Grund meines ständigen Schweigens sei, und ohne die Antwort abzuwarten, die ich ihr ohnehin nicht gegeben hätte, sagte sie: Die Liebenden können am wenigsten für ihre Liebe, und dann, nach einem Blick ins Nichts: Die Liebenden haben immer recht!, und ich glaubte zu begreifen, glaubte zu wissen, woran sie dachte, war erleichtert und zugleich beunruhigt, weil mir, der immerzu heimlich Liebenden, die Niedertracht genommen war  und wer war ich ohne meine Niedertracht, die sie allzeit registrierte – Nona sve registrira?

Hatten die Liebenden auch recht, als sie ihre Herzen und Pfeile in Tische, Baumrinden und Türen ritzten, wie ich es mit dem einen getan hatte, nicht dem richtigen in Nadas Argusblick? Von Zeit zu Zeit brachen ihre Sirenen in jenen Traum – Du könntest schwanger werden, Gott behüte! und Hol dir bloß keine Krankheit! und Wenn die Männer einmal aufgelegt sind, gibt es kein Zurück! und wieder: Ist er der richtige, Kind?  aber sie waren leicht zu vertreiben und lösten sich in einem leisen Ton, der Atem und Aufruhr war.

 

 

An den Kopfwehtagen, an denen der Himmel tiefer hing und Nada eine Handvoll Plivadon schlucken musste, um alles für das Kind tun und die Teppichfransen glattstriegeln zu können, wie es ihr über die Jahre erst zur Gewohnheit und dann zum Drang geworden war, konnte es den Atem der Baba Roga als Fieberbrand auf Stirn und Backen spüren, wenn sich die Fingerkuppen kalt und feucht auf die Gesichtshaut legten. So blieb es reglos, um wieder ins Nichts oder – wer wusste das schon – in eine andere Welt zu starren, schien nicht zu bemerken, wenn man es anrief, und niemand fand je heraus, was sich in seinem Inneren zutrug, denn seine Antwort auf die Frage, woran es gerade denke, war immer die gleiche: Nichts  und manchmal nur den Mund zum Strich gepresst und nur ein Schulterzucken, als hätte es ihm die Sprachen verschlagen, die Muttersprache, die Vatersprache, die Engelszunge auch; und so, als geriete durch sein Schweigen auch das Denken ins Stammeln, denn es zog nur ein Gesicht, wenn man es Einundalles nannte und Meinganzesglück.

Dem Kind waren die Namen geläufig wie Nadas Bald, das niemals für die rechte Zeit stand, denn wer ihm aus dem Blick ging, erlosch ihm aus dem Sinn. Längst hatten die Wände begonnen, ihm Geschichten zu erzählen, Geschichten von Donnerschlag und nächtlichem Katzengeschrei, vom kopflosen Reiter, von tödlichen Geschwüren und dem Brandschatz des Nachthimmels. In seiner lustvollen Trägheit glaubte sich das Kind auf nichts und niemanden angewiesen und fühlte sich darüber stark, und die Stärke geriet ihm zum Hochmut, zur Abscheu gegen die Worte der Verwandten, die ihr Glück auf seine schmalen Schultern luden, es nun auch schüchtern nannten oder aufdenmundgefallen. Und immer mehr fürchtete es auch die eigenen Worte, die Nadas Kinn zittern machten und der Mutter unerträglich waren, zum Davonlaufen.

Man konnte sich an den Abschied schon gewöhnen. Beim dritten Mal ließ das Kind nicht mehr von seinem Spiel ab, als ihm die Mutter die Lippen auf die Stirn drückte, schien so gleichgültig, dass sie aufatmete, während sie sich den Abschiedstropfen aus dem Lidrand strich, und es setzte die Beschäftigung auch fort, als sie längst weg war. Es hatte sich beigebracht, die Puppen und Muscheln und Schneckenhäuser dem Lebendigen vorzuziehen, denn die Dinge gehorchten einem, wenn man nur ordentlich darauf achtgab, und das Schweigen der Dinge war kein Schweigen, und nur in Gesellschaft war einem das Alleinsein Last – und in Nadas Sehnsucht nach den alten Zeiten: Was ist aus dem Kind geworden, das, kaum dass es laufen konnte (denn von Beginn an lief es, anstatt zu gehen), nicht mehr stillhielt? Manchmal wirbelte und tanzte es bis zum Stürzen, und nicht nur zu den Schlagern von Tereza oder Zlatko Pejaković, wenn Beppe den Plattenspieler aufdrehte. Alle Ecken im Haus haben wir mit Decken und Tüchern verkleidet, damit sie ihm nicht zur Gefahr wurden. So lieb hatten wir es.

 

Fand Nada auf der Veranda keine Abendkühlung oder keine Ruhe, nahm sie das Kind bei der Hand, ging mit ihm an den Strand, deutete nach den Fledermäusen, die lautlos über ihren Köpfen schwirrten, nach den Schattenwächtern, zu denen das Kind nicht aufblicken mochte, den Unglückskündern, denn Wehe, wenn sich der Šišmiš in deinem Haar verfängt, dann schneid ich dir die Zöpfe ab.

Wenn die Zikaden verstummten, wurde das Meer manchmal ganz flach. Dann schien es zu atmen, wie es in ruhigen Zügen den Strand leckte und leise gurgelnd die ausgehöhlten Felsbrocken flutete, ein Klatschen, wenn der Rumpf einer Barke auf dem Wasser anschlug, das Geflüster der kullernden Kiesel, die dem Lockruf der Strömung folgten, als wollten sie Heimlichkeit treiben, und Tauchst du auch nur einen Finger ins Meer, bist du mit allen Welten verbunden! und Nenn mir das Meer niemals ein Wasser!, denn wie könnte es ein Wasser sein, wenn man davon Durst bekam und blaue Lippen. Und Sieh nur, das Meeresleuchten!, das ausschweifende Farbenspiel fluoreszierenden Planktons, wenn das Kind, watend bis zu den Knien, in jenem magischen Spiegel rührte, dass es nur so gleißte und funkelte – Myriaden winziger Lichtblitze! Bei jedem Innehalten formte sich das Rieseln und Schluchzen der selbst erweckten scharfen Brecher zu den Wehmutliedern, mit denen Nada es in den gutgeheißenen Nächten, die doch immer Dunkelnächte blieben, in den Schlaf gesungen hat. Wie hat es sich da die Ohren zugehalten, heimlich, um sich nicht mit Nadas bitterem Schwärmen anzustecken! Doch vergeblich, denn jedes Wort brannte sich in die Gehörgänge – Lijepo ime majka | usta napunjuje | a pijesma o majci | daleko se čuje –, und schwer wie die Liedzeilen wog bald das Gewissen, denn die Mutter, o Hochherzigkeit und Güte!, würde ihm den letzten Bissen Brot überlassen, auch wenn sie dafür hungern müsste, ihr Leben geben für seins, als gäbe es ein Überdauern ohne sie, als bedeutete ihr Sterben weniger als das eigene – Makar gladovala | milom ćedu daje –, als wäre nicht jeder Mutterschmerz auch der eigene, denn welches Mitleid mit der Mutter, der schönen, die drüben im Vaterland womöglich schuftete und hungerte und litt, und alles im Namen der Liebe und nur zu seinem Wohl – Ona uvijek radi | i za svoje dijete neprekidno pati! –, und welcher Undank zu meinen, die Mutter würde nicht für es arbeiten, sondern gegen es, nicht für es hungern, sondern gegen es, nicht für es sterben, sondern gegen es, wie sie einst schon gegen es geblutet hat – auch wenn man ewig bis zum Hals in ihrer Schuld stehen würde, denn niemand liebt besser als sie.

Man musste Nada gern haben, musste ihr alles nachsehen, auch dass sie die Sprachlosigkeit des Kinds vor anderen zu rechtfertigen suchte, auch dass sie seine Wortempfindlichkeit als Marotte abtat, Du bringst mich noch ins Grab!, auch dass ihr seine Schüchternheit nur Ausrede war, ein Vorwand, um die Not geheim zu halten, auch dass sie das geschwürige Innenfutter ihrer Seele so lärmend nach außen kehrte: Wirst du um mich weinen, traurig sein, mein Kind? Wirst du traurig sein! Wirst du wohl! – es war keine Frage, es war ein Gebot –, auch ihre Versuche, ihm die Sprache einmal mit Gewalt und Meißel, dann wieder mit süßlichen Erpressungen zu entlocken, als ließe sich das Unausgesprochene wie ein Mandelkern freilegen, indem man nur die Schale aufbricht mit den Floskeln und vorweggenommenen Antworten, die sie dem Kind in den Mund zwang, weil es doch wieder nichts zu sagen wusste auf die vorgekauten Sätze, die Beschwörungsformeln, das Dahingesagte: Sag: Mich!, Sag: Ich!, Ich grätsch dir die Stimmritzen, damit du endlich sprichst, denn wer glaubst du, dass du bist! Wer bist du, zum Teufel? Am Ende der Teufel selbst?

Das Kind vergab Nada die Nesselliebe, fühlte, dass auch ihm ein Stachel wuchs, leistete nicht Widerstand, wenn sie es an den Schultern packte und schüttelte, bis es unter ihren Maulschellen Wort um Wort erbrach – heuchlerisch, nichtssagend – und ihr das Blaue vom Himmel log und sie beim süßesten Kosenamen rief, denn am Grund seines Herzens war es kein freundliches Kind, sondern wehleidig und zur Liebe nicht begabt; Nada aber war zufrieden.

 

Sie: Wer ist mein Augenlicht?

Das Kind schweigt.

Sie: Sag: Ich!

Das Kind: Ich.

 

 

Die Bora hat sich gelegt. Du bekommst die Bilder, sagt die Alte zwischen zwei schnellen Zügen aus ihrer bis zum Filter heruntergerauchten Zigarette. Hör auf damit!, entgegne ich. Jetzt bin ich es, die das Offenkundige abstreitet, die ihr, da es an der Zeit ist, Abschied und Trost verweigert. Jetzt über ihren Tod reden, der sich unter ihrer pergamentenen Haut ankündigt? Nie im Leben! Und sagte sie nicht, sie fürchte den Tod nicht, als sie noch bei Kräften war?

Nie wollte es mir gelingen, sie zu trösten. Hab ich nicht mit meinen Mitleidsgesten eine noch tiefere Verstörung heraufbeschworen, ihre Höllenhunde aufgestört, die schlechtvernarbten Seelenwunden aufgerissen, dass sie wieder vom Sterben sprach und vom Abschiednehmen und von Vesela, der meistgeliebten Schwester, der Getöteten? Und dann: Schmerzgrimassen und Liebesumschlingungen, die Zentnerlast ihrer Finsternis, die sie, wie eilige Diebe es tun, hastig und mit vollen Händen in meinen Brustkorb lud – Dumeineinundalles, Dumeinganzesglück!, bis mir schwarz vor Augen war.

Schon damals war ich auf der Hut, bald gut darin, mich schwer von Begriff zu stellen, Nadas Teufel schon beim leisesten Anflug von Sentimentalität durch Possen und Streiche im Zaum zu halten, sie zu verblüffen und zu bestürzen, um nur die harmlose Tonart beizubehalten, die jeden Kummer sofort mit dem Firnis unserer klebrigen Liebe überzog.

Dem Kind war es einerlei, ob Nada wohl herausbekommen würde, dass es sie aus Feigheit und Verzweiflung in Aufruhr zu versetzen suchte. Es war auch nicht von Bedeutung, dass sie es hemmungslos verfluchte, wenn es ihr wieder nicht gelungen war, sich ein Lachen zu verbeißen, ganz gleich auch, dass sie über ihr Lachen in Wut geriet und mit allem, was gerade zur Hand war, nach ihm schlug und schmiss – mit dem kartoffelteigverklebten Nudelholz, dem Zeltbesen aus feinstem Reisstroh, dem marokkanischen Aschenbecher, der wie durch ein Wunder immer heil blieb, dem Gartenschlauch, dem Fleischmesser, das es in seinem Wehleid schon vor dem Hieb an Haut und Knochen spürte, sodass es auch aufkreischte, wenn Nadas Schlag ins Leere ging.

Mir, mir do neba! Friede, Friede bis zum Himmel!