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Lawrence Douglas

Späte Korrektur

Die Prozesse
gegen John Demjanjuk

Aus dem Amerikanischen
übersetzt von Felix Kurz

 

 

 

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Übersetzt mit freundlicher Unterstützung
des Office of the Dean of Faculty, Amherst College

 

 

Für Jacob und Milo, wieder einmal

 

 

Bibliografische Information der deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der

Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten

sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

 

© Wallstein Verlag, Göttingen 2020

www.wallstein-verlag.de

Umschlaggestaltung: Susanne Gerhards, Düsseldorf

Umschlagfotos: links: John Demjanjuk, 25.4.1988,

Foto: epa afp Nackstrand © dpa – Fotoreport;

rechts oben: Dienstausweis von Iwan »John« Demjanjuk, den er als

»Wachmann« 1942 in seinem Ausbildungslager Trawniki bekommen hat.

Foto: Marijan Murat dpa/lsw © dpa; rechts unten: Fotomontage, die spätere Bilder von Demjanjuk mit dem Trawniki Lichtbildausweis Nr. 1393 vergleicht.

Foto: Office of Special Investigations, US-Justizministerium.

 

ISBN (Print) 978-3-8353-3595-0

ISBN (E-Book, pdf) 978-3-8353-4462-4

ISBN (E-Book, epub) 978-3-8353-4463-1

Inhalt

Einleitung

1. Der Anfang vom Ende von etwas

2. John in Amerika

3. Iwan in Israel

4. Die ewige Wiederkehr des John Demjanjuk

5. Demjanjuk in München

6. Was damals Recht war …

7. Geschichte ohne Erinnerung

8. Historiker finden das Recht

9. Der richtige falsche Mann

Nachwort

Dank

Quellen und Literatur

Personenverzeichnis

Anmerkungen

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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BEITRÄGE ZUR GESCHICHTE

DES 20. JAHRHUNDERTS

 

Herausgegeben von

Norbert Frei

 

Band 29

 

 

 

Ach, was ihr euch einbildet,

noch an Recht zu denken …

H. G. Adler, Eine Reise

Einleitung

Die Zeit schrieb, dies sei »der womöglich letzte große NS-Kriegsverbrecher-Prozess« – eine in fast jeder Hinsicht irreführende Beschreibung.[1] Dem Angeklagten wurde zur Last gelegt, Beihilfe zum Mord an 28 060 Juden im Vernichtungslager Sobibór geleistet zu haben, nicht aber, dass er ein überzeugter Nationalsozialist gewesen sei. Ebenso wenig ging es in dem Prozess um Kriegsverbrechen, denn die systematische Ermordung wehrloser Männer, Frauen und Kinder war keine Kriegshandlung. Und »groß«? Allen Beweisen zufolge war der Angeklagte, John (Iwan) Demjanjuk, kaum mehr als ein niedriger Hilfsarbeiter im nationalsozialistischen Vernichtungsapparat gewesen. Verglichen mit dem Nürnberger Prozess, bei dem sich 21 hochrangige Vertreter des NS-Staates vor dem Internationalen Militärgerichtshof verantworten mussten, dem Prozess gegen Adolf Eichmann in Jerusalem, der die Deportation von Juden aus ganz Europa in den Tod federführend organisiert hatte, oder selbst dem Prozess gegen Klaus Barbie, den »Schlächter von Lyon«, wirkte das Verfahren gegen Demjanjuk beinahe unbedeutend. Bedenkt man außerdem, dass der Angeklagte bei Prozessbeginn fast 90 Jahre alt war, zudem in scheinbar schlechter gesundheitlicher Verfassung, und seine mutmaßlichen Verbrechen 67 Jahre zurücklagen, war das Bemerkenswerteste an dem Prozess, dass er überhaupt stattfand. Dennoch gingen die Staatsanwälte bei Anklageerhebung ein erhebliches Risiko ein: Alles andere außer einer Verurteilung wäre verheerend gewesen. Ein Freispruch hätte das Versagen der deutschen Justiz im Umgang mit den NS-Verbrechen nochmals im vollen Rampenlicht der Weltöffentlichkeit unterstrichen. Aber mit einer Feststellung lag die Zeit richtig: Was immer man von dem Fall halten mochte, es war vermutlich der letzte Holocaust-Prozess, oder zumindest der letzte, der eine solche internationale Beachtung finden würde.

Auch das gewaltige Interesse an dem Prozess hatte weniger damit zu tun, dass Demjanjuk besonders berüchtigt gewesen wäre, als vielmehr mit dem Umstand, dass er früher mit einer in der Tat fürchterlichen Figur verwechselt worden war. Demjanjuks juristische Odyssee begann 1975, als US-Behörden vage Informationen über das Wirken eines Mannes während des Zweiten Weltkriegs erhielten, der mittlerweile als Ford-Arbeiter in einem beschaulichen Vorort von Cleveland lebte. 1920 in der Ukraine geboren, war Demjanjuk 1952 in die Vereinigten Staaten immigriert, wo er sich in der Region Cleveland niederließ und 1958 die amerikanische Staatsbürgerschaft erhielt. In den späten siebziger Jahren waren US-Ermittler zu dem Schluss gekommen, er sei jener Wachmann im Vernichtungslager Treblinka gewesen, der aufgrund seines ausgeprägten Sadismus von den Überlebenden den Beinamen Iwan Grosny, »Iwan der Schreckliche«, erhalten hatte. Im spektakulärsten Ausbürgerungsverfahren der amerikanischen Geschichte verlor Demjanjuk seine Staatsangehörigkeit, wurde im Jahr 1986 nach Israel ausgeliefert und dort angeklagt. 1988 zum Tode verurteilt, saß Demjanjuk fünf Jahre lang in einem israelischen Gefängnis, während sein Berufungsverfahren lief. Im Sommer 1993 schließlich hob der Oberste Gerichtshof von Israel das Urteil auf, da neue Dokumente aus der ehemaligen Sowjetunion belegten, dass die Israelis den falschen »Iwan« vor Gericht gestellt hatten. Demjanjuk kehrte als freier Mann in die Vereinigten Staaten zurück, einer der berühmtesten Verwechslungsfälle in der Rechtsgeschichte ging zu Ende.

Demjanjuks Kämpfe mit der Justiz waren jedoch längst nicht zu Ende. Nachdem er sich wieder nahe Cleveland niedergelassen und seine amerikanische Staatsbürgerschaft zurückerhalten hatte, strengte das US-Justizministerium ein neues Ausbürgerungsverfahren gegen ihn an. Denn obwohl nicht »Iwan der Schreckliche« aus Treblinka, war Demjanjuk nach den vorliegenden Beweisen doch schrecklich genug gewesen – als ein anderer Iwan, der im nicht weniger tödlichen Lager Sobibór Dienst geleistet hatte. So erwarb Demjanjuk im Jahr 2001 die Auszeichnung, die einzige Person in der amerikanischen Geschichte zu sein, die gleich zweimal ihre Staatsbürgerschaft verlor. Er beharrte weiter auf seiner Unschuld und vergrub sich in seinem bescheidenen Haus in Seven Hills, einem Vorort von Cleveland im Bundesstaat Ohio, während die US-Behörden zunächst vergeblich nach einem Land suchten, das bereit war, ihn aufzunehmen. Nachdem Polen und die Ukraine abgelehnt hatten, willigte die Bundesrepublik schließlich ein – was insofern eine gewisse Überraschung war, als sie die Aufnahme mutmaßlicher Nazi-Kollaborateure aus den Vereinigten Staaten lange Zeit verweigert hatte. Demjanjuk wurde nach München ausgeflogen, wo er am 12. Mai 2009 deutschen Boden betrat.

Genau zwei Jahre später, am 12. Mai 2011, befand ein deutsches Gericht den mittlerweile 91-Jährigen für schuldig, im Lager Sobibór Beihilfe zum Mord an 28 060 Juden geleistet zu haben. Die Strafe wurde nie vollstreckt: Zehn Monate später, während seine Revision noch lief, starb Demjanjuk in einem bayerischen Pflegeheim. Dass der verworrenste, zäheste und seltsamste Strafprozess, den der Holocaust zur Folge hatte, nie einen klaren Abschluss fand, war vielleicht nicht unpassend.

Auf den folgenden Seiten werden wir der vertrackten und eigentümlichen Geschichte der juristischen Odyssee des John Demjanjuk nachgehen. Bei allen erstaunlichen Wendungen konfrontiert uns der Fall zugleich mit tiefer gehenden, bohrenden Fragen. Er zwingt uns kritisch darüber nachzudenken, ob es gerecht ist, alte Männer wegen weit zurückliegender Verbrechen anzuklagen. Er fordert uns dazu auf, über das Wesen individueller Verantwortung bei staatlich organisierten Verbrechen zu reflektieren. Er verlangt von uns, über Charakter, Ursachen und mögliche Rechtfertigungen für die Kollaboration bei Gräueltaten nachzudenken. Im Folgenden werden wir die unterschiedlichen Herangehensweisen näher untersuchen, mit denen die drei Rechtssysteme – das amerikanische, das israelische und das deutsche – die juristischen Herausforderungen bewältigt haben, die die Vernichtung der europäischen Juden aufgeworfen hatte.

Der Rückgriff auf das Strafrecht stellt traditionelle Konzeptionen von Recht und Rechtsprechung auf eine harte Bewährungsprobe. Nach dem Standardmodell, das Jurastudenten in aller Welt lernen, sind Verbrechen Ausdruck eines abweichenden Verhaltens, das sich in der Regel gegen eine andere Person richtet und von der herrschenden Gesellschaftsordnung als delinquentes Verhalten wahrgenommen wird. Die verschiedenen Rechtssysteme bewerten die Frage, welche Handlungen als abweichendes Verhalten marginalisiert werden, oftmals unterschiedlich, doch alle verurteilen elementare Untaten wie Mord und weisen den modernen Nationalstaat an, energisch darauf zu reagieren, indem er den Täter mithilfe seiner Ermittlungs- und Justizbehörden verfolgt, anklagt und schließlich bestraft. In Thomas Hobbes’ Leviathan, dem vielleicht bedeutendsten Werk des abendländischen politischen Denkens, ist der Staat mehr als nur ein Bollwerk der Ordnung; er ist die Kraft, die uns vor der tödlichen Gewalt des anderen schützt. Und in John Lockes Zwei Abhandlungen über die Regierung verteidigt der Staat das Recht und ordnet sich dessen neutraler Herrschaft selbst unter.[2]

Die NS-Verbrechen sprengten dieses Modell und die ihm zugrunde liegende Annahme, das gesellschaftliche Leben werde primär durch die Gewalt von Privatpersonen bedroht. Der Nationalsozialismus offenbarte das furchterregende Vermögen des Staates, selbst kriminell zu werden, ein Phänomen, für das der Philosoph Karl Jaspers den Begriff »Verbrecherstaat« prägte.[3] Dieser Gedanke – dass der Staat mitnichten als Hort und Hüter von Recht und Ordnung auftreten muss, sondern selbst die schlimmsten Verbrechen begehen kann – lag schlichtweg jenseits des Horizonts des konventionellen Strafrechtsmodells und blieb aus seiner Perspektive unverständlich. Jaspers’ Begriff erfasste das beispiellose Werk des Nationalsozialismus: Er hatte den Staat in den größten Verbrecher – den Kriminellen schlechthin – verwandelt.[4] Welche juristische Herausforderung dies nach sich zog, formulierte Robert Jackson, amerikanischer Chefankläger im Nürnberger Prozess, am Ende seiner Eröffnungsrede: »Die zivilisierte Welt fragt sich, ob das Recht derart zurückgeblieben ist, dass es Verbrechen solchen Ausmaßes, begangen von Verbrechern solchen Ranges, vollkommen hilflos gegenübersteht.«[5]

Der Nürnberger Prozess und seine Folgeprozesse gaben eine bestimmte Antwort auf diese Frage: Das Recht war der Aufgabe sehr wohl gewachsen, doch dazu bedurfte es außerordentlicher juristischer Innovationen. Um die Untaten des Verbrecherstaates zu bewältigen, brauchte es besondere Gerichte, neue Prinzipien der Rechtsprechung, unorthodoxe Regeln der Beweisführung und vor allem neuartige Straftatbestände. Diese mussten hinreichend flexibel und weit definiert sein, um Verbrechen zu erfassen, die einen ganzen Kontinent umspannten, von zigtausend Tätern begangen wurden und auf einem komplexen organisatorisch-logistischen Apparat beruhten.

Die Anklage vor dem Internationalen Militärtribunal (IMT) in Nürnberg war dabei ein wichtiger erster Schritt. Der Prozess betraf zwar in erster Linie nicht den Holocaust; den 21 Männern auf der Anklagebank wurden vor allem »Verbrechen gegen den Frieden« vorgeworfen – die Planung und Durchführung eines völkerrechtswidrigen Angriffskrieges. Aber auch »Verbrechen gegen die Menschlichkeit«, staatlich organisierte Gräueltaten, wurden nun juristisch anerkannt, und die Anklage nutzte dies, um umfangreiches Beweismaterial über den Holocaust vor das IMT zu bringen. In den zwölf Folgeprozessen gegen führende deutsche Militärs und NS-Funktionäre aus Justiz und Wirtschaft, die das US-Militär ebenfalls in Nürnberg abhielt, verschoben die amerikanischen Ankläger den Fokus des IMT vom Angriffskrieg auf die Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die nunmehr als das zentrale nationalsozialistische Verbrechen galten.

Die NS-Gräueltaten drängten das juristische Denken auch zur Anerkennung eines zweiten neuartigen Anklagepunkts. In seinem Buch Axis Rule in Occupied Europe (1944) hatte Raphael Lemkin, ein polnisch-jüdischer Berater des US-Kriegsministeriums, einen Begriff für die Judenvernichtung in den besetzten Ländern geprägt. Zusammengesetzt aus einem altgriechischen Wort für Gruppe (genos) und einem lateinischen für Töten (caedere), zielte Lemkins Wortschöpfung auf etwas anderes, nämlich »die koordinierte […] Zerstörung der wesentlichen Lebensgrundlagen von […] Gruppen, mit dem Ziel, diese Gruppen zu vernichten.«[6] Der Begriff »Genozid« tauchte bereits in der Anklageschrift für den IMT-Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher auf, wurde aber vor allem in den Nürnberger Folgeprozessen gebräuchlich, um die nationalsozialistischen Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu charakterisieren. Am 9. Dezember 1948 stimmte die UN-Vollversammlung für die Aufnahme von Genozid beziehungsweise Völkermord als eigenständiges Verbrechen in das internationale Recht. Die »Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes« trat 1951 offiziell in Kraft; 144 Staaten haben sie inzwischen ratifiziert, und heute gilt Genozid, wie William Schabas formuliert hat, als »das Verbrechen aller Verbrechen« – als das schlimmste, welches das Recht überhaupt kennt.[7]

Das Bemühen um die Ahndung der NS-Verbrechen führte auch zu einem Außerkraftsetzen beziehungsweise einer Reduzierung staatlicher Souveränität, die bislang staatliches Handeln traditionell vor äußerer rechtlicher Kontrolle abgeschirmt hatte. Insbesondere führte es zur Gründung von – teils internationalen, teils nationalen – Sondergerichtshöfen zur Ahndung von Verbrechen mit genozidalen Ausmaßen. Das heute als »Internationales Strafrecht« bekannte Feld verdankt seine Existenz in hohem Maße der juristischen Auseinandersetzung mit den NS-Massenverbrechen.

Nicht alle Rechtssysteme machten sich dieses »Gräueltaten-Paradigma«, wie ich es nennen möchte, zu eigen, also den Rückgriff auf besondere Gesetze und Prozesse in Reaktion auf die nationalsozialistischen Verbrechen. Wie wir sehen werden, lehnte Deutschland, angetrieben vom Ressentiment gegen die Kriegsverbrecherprozesse der Alliierten, gerade die zur Verfolgung von NS-Massenmördern konzipierten neuen Straftatbestände ab. Doch auch dort, wo diese rechtlichen Innovationen akzeptiert wurden, warfen die Gräueltaten des Verbrecherstaates ein noch fundamentaleres Problem auf. Im klassischen vergeltenden Strafmodell, das in den Werken Kants seine bleibende Darstellung gefunden hat, verdient der Verbrecher die Strafe. Ihr Zweck besteht nicht in seiner Resozialisierung oder Besserung, sondern in der Wiederherstellung des durch seine Tat zerstörten moralischen Gleichgewichts. Die nationalsozialistischen Gewaltverbrechen brachten das Kant’sche Axiom in eine Schieflage. Wie Hannah Arendt in einer bekannten Bemerkung zu den Nürnberger Prozessen meinte: »Für diese Verbrechen gibt es keine angemessene Strafe mehr; Göring zu hängen, ist zwar notwendig, aber völlig inadäquat. Das heißt, diese Schuld, im Gegensatz zu aller kriminellen Schuld, übersteigt und zerbricht alle Rechtsordnungen. […] Mit einer Schuld, die jenseits des Verbrechens steht, […] kann man menschlich-politisch überhaupt nichts anfangen.«[8] Ganz ähnlich argumentierte Jahre später der israelische Chefankläger im Eichmann-Prozess, Gideon Hausner, als er offen einräumte, »dass es nicht immer möglich ist, eine Strafe zu verhängen, die der Ungeheuerlichkeit des Verbrechens angemessen ist«. Dieses Problem warf, wie Arendt meinte, tiefgreifende rechtsphilosophische Fragen auf. Anklagepunkte wie »Verbrechen gegen die Menschlichkeit« und »Völkermord« ermöglichten zwar die strafrechtliche Verfolgung von NS-Massenmördern, doch wenn solche Verbrechen klassische Theorien der Vergeltungsjustiz sprengten, worin genau bestand dann der Zweck dieser Prozesse? Für Arendt lag das Problem nicht in einem Unvermögen des Rechts, die Angeklagten gerecht zu behandeln, sondern darin, dass keine rechtlich sanktionierte Strafe eine stimmige Antwort auf massenhafte Gräuel darstellen konnte. Vielmehr offenbarten derartig staatlich angeordnete Gräueltaten die Grenzen des Rechts als vergeltende Gerechtigkeit.

In einem früheren Buch habe ich gezeigt, wie Juristen dieses Dilemma zu lösen versuchten, indem sie den grundlegenden Zweck der Prozesse anders bestimmten.[9] Als ich die Akten von Holocaust-Prozessen studierte, stieß ich immer wieder auf die frappierende Tatsache, dass viele Ankläger die Verfahren als didaktische oder pädagogische Lektion verteidigten. Hausner formulierte dies ganz offen: In seinem Bericht über den Eichmann-Prozess erklärte er, dass »wir mehr brauchten als nur eine Verurteilung; wir brauchten ein lebendes und lebendiges Protokoll einer gigantischen menschlichen und nationalen Katastrophe«.[10] Hausners Worte waren keineswegs ungewöhnlich; amerikanische Ankläger in Nürnberg, deutsche Ankläger im berühmten Frankfurter Auschwitz-Prozess (1963-1965) und französische Ankläger im Verfahren gegen Klaus Barbie (1987) schlugen ähnliche Töne an. In all diesen Verfahren ersuchten Juristen erklärtermaßen, den Prozess als ein Mittel der Darstellung von Geschichte sowie der Schaffung von Narrativen zu nutzen, aus denen sich politische Lehren ziehen ließen. In Abgrenzung zu den pervertierten Schauprozessen der Stalinzeit definiere ich diese Gerichtsverfahren als didaktische Prozesse. Grundsätzlich ging es mir darum, den didaktischen Aspekt als ein keineswegs zufälliges Element von Holocaust-Prozessen zu erklären, sondern diesen als eine Lösung für ein juristisches Problem darzustellen. Wenn die Nazi-Gräuel die Grenzen des konventionellen Strafprozesses als eine Form von Vergeltung deutlich machten, bot der didaktische Prozess eine erweiterte Rechtfertigung der Strafverfolgung. Er erfüllte weiterhin die konventionelle Funktion, über Schuld und Strafmaß zu entscheiden, diente aber auch dazu, Geschichte und geschichtliche Lehren zu vermitteln.

Dieser didaktische Ansatz blieb nicht von Kritik verschont – und dass sich dabei gerade Hannah Arendt hervortat, ist merkwürdig und enttäuschend. In ihrem berühmten Bericht über den Eichmann-Prozess, zuerst 1962 im New Yorker und ein Jahr später als Buch erschienen, griff sie Hausners Anklagetaktik vehement an. Arendt beharrte darauf, dass ein Gerichtshof »nur zu einem einzigen Zweck zusammentritt, nämlich dem, Recht zu sprechen: alle anderen Ziele, auch wenn sie an sich legitim sind – wie etwa ›eine geschlossene Dokumentation des Hitlerregimes vorzulegen, die der Prüfung durch die Geschichte standhält‹ […] –, können hiervon nur ablenken; sie werden zudem unweigerlich das eigentliche Rechtsverfahren, das heißt die erhobene Anklage, die Urteilsfindung und die Festsetzung des Strafmaßes, in einem zweifelhaften Licht erscheinen lassen«.[11] Offenbar hatte Arendt vergessen, was sie selbst über die Nürnberger Prozesse geschrieben hatte – dass es für solche Verbrechen »keine angemessene Strafe mehr« gibt. Auch wenn es gewiss stimmt, dass ein Strafprozess in erster Linie die Beweise gegen den Angeklagten unvoreingenommen zu prüfen hat, zeugte Arendts Zurückweisung aller anderen Zwecke von einem merkwürdig verengten Blick. Der didaktische Strafprozess diente keineswegs nur einem Zweck, sondern stellte eine Lösung ebenjenes Problems dar, das Arendt selbst als erste erkannt hatte.

Das Verfahren gegen Adolf Eichmann stellt sich als didaktischer Prozess in Reinform dar. Dieser war in jeder Hinsicht ungewöhnlich, angefangen bei der spektakulären Entführung Eichmanns durch Mossad-Agenten, die den ehemaligen SS-Obersturmbannführer in Buenos Aires auf offener Straße schnappten. Israel stützte seine Befugnis zur Anklage eines Mannes, dessen Verbrechen auf einem anderen Kontinent und vor der Gründung des Staates Israel stattgefunden hatten, auf universelle Gerichtsbarkeit, eine unkonventionelle Begründung. Es wendete auch ein spezielles Strafgesetz an, das 1950 von der Knesset verabschiedete »Gesetz zur Bestrafung von Nazis und Nazihelfern«, das sowohl die Nürnberger Definition von »Verbrechen gegen die Menschlichkeit« als auch eine modifizierte Version der UN-Definition von Völkermord in das israelische Recht einführte. Das dreiköpfige Gericht war ein Sondergericht, eigens zur Anklage von Personen nach dem Gesetz von 1950 eingerichtet. Der Prozess selbst bot mit seiner juristischen Didaktik ein dramatisches Schauspiel, das durch die Zeugenaussagen von Überlebenden Geschichte lehren sollte. Darin wich er erheblich vom Nürnberger Prozess ab, bei dem sich die Anklage unter weitgehendem Ausschluss der Zeugnisse von Überlebenden auf Dokumente gestützt hatte. Viele Beobachter hatten diesen dokumentarischen Ansatz infrage gestellt, denn das als »größtes Geschichtsseminar« schlechthin konzipierte Verfahren geriet eintönig, repetitiv und ermüdend lang. Die Ankläger im Eichmann-Prozess wollten diesen Mangel beheben, indem sie die Geschichte durch die qualvollen Erinnerungen von Überlebenden darstellten, um eine jüngere Generation von Israelis zu Zeugen der Zeugen zu machen. Er würdigte die Erfahrungen der Überlebenden und verhalf ihnen zu öffentlicher Anerkennung, während er jüngeren Israelis die existenziellen Gefahren für das jüdische Volk verdeutlichte. Er bot eine umfassende und ergreifende Darstellung des Holocaust und stellte die Selbstständigkeit des zionistischen Staates sowie seine militärische Verteidigungsbereitschaft als notwendige Bollwerke gegen jegliche Wiederholung einer solchen Katastrophe dar. Zugleich fesselte er die weltweite Öffentlichkeit, vor allem die deutsche und amerikanische, und setzte eine Veränderung des allgemeinen Verständnisses des Holocaust in Gang – mehr und mehr wurde dieser nicht bloß als ein Grauen des Zweiten Weltkrieges gesehen, sondern als das kennzeichnende Ereignis des 20. Jahrhunderts.

Wenn der Eichmann-Prozess die Reinform eines didaktisch angelegten, auf das Zeugnis der Überlebenden ausgerichteten Holocaust-Prozesses war, markierte Demjanjuks Anklage in Jerusalem als »Iwan der Schreckliche« den Zusammenbruch dieses Paradigmas. Während die Gründe für die verheerende Verwechslung, wie wir sehen werden, keineswegs auf der Hand lagen, machte der unglückliche Prozessverlauf die Gefahren einer didaktisch orientierten Justiz hinreichend deutlich, zeigte er doch, wie das Bedürfnis, die Erinnerungen von Überlebenden zu würdigen, einen Strafgerichtshof auf fatale Abwege führen kann. Darüber hinaus verdeutlichte das Scheitern des israelischen Strafverfahrens zugleich die Grenzen des damaligen amerikanischen Umgangs mit NS-Verbrechen, der sich vom oben skizzierten Gräueltaten-Paradigma radikal unterschied.

Amerikanische Juristen waren die wegweisende Kraft in Nürnberg gewesen und hatten in den Jahren unmittelbar danach umfangreiche Erfahrungen mit Prozessen gegen NS-Täter gesammelt – nicht nur bei den Nürnberger Folgeprozessen, sondern auch auf dem Gelände des Konzentrationslagers Dachau, wo die US-Armee vor einer eigens dafür eingerichteten Militärkommission Hunderte von Wachmännern und andere Nationalsozialisten wegen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit anklagte. In den siebziger Jahren jedoch, als sich amerikanische Juristen mit dem Problem der »Nazis von nebenan« (Eric Lichtblau) zu befassen begannen, war dieses institutionelle Wissen verblasst. Wie couragiert und innovativ US-Juristen in Nürnberg agiert hatten, war entweder gar nicht bekannt oder in Vergessenheit geraten. In den siebziger Jahren nahmen Juristen schlicht an, für NS-Verbrechen seien die US-Gerichte nicht zuständig; da ebenjene Straftaten, die die Amerikaner in Nürnberg geschaffen hatten, nicht zur Verfügung standen, konnte das Problem der Nationalsozialisten im eigenen Land nur mit Hilfe der Einwanderungsgesetze angegangen werden. Personen wie Demjanjuk, die mutmaßlich Massenverbrechen verübt oder unterstützt hatten, galten schlicht als Personen, die illegal oder unter falschen Angaben in die Vereinigten Staaten eingereist waren. Die daraus folgenden Ausbürgerungsverfahren wiesen kaum eine didaktische Komponente auf und fanden zumeist wenig Beachtung – mit Ausnahme des spektakulären Falls Demjanjuk, alias »Iwan der Schreckliche«. Im Kern dienten sie einer feierlichen Reinigung: Amerika wurde symbolisch von Personen gesäubert, denen die Zugehörigkeit zu einer auf Toleranz und Gleichheit gegründeten Nation nicht zustand.

Theoretisch hätte dem erfolgreichen Abschluss solcher zivilrechtlichen Verfahren weniger im Wege stehen sollen als bei Strafprozessen. In der Realität jedoch offenbarten mehrere Fehlschläge, wie heikel der Einsatz konventioneller rechtlicher Mittel ist, wenn es um staatlich organisierte Gräueltaten geht. Staatsanwälte mussten zur Kenntnis nehmen, dass es durchaus riskant sein konnte, hochbetagte Überlebende traumatischer Ereignisse um die korrekte Identifizierung ihrer ehemaligen Peiniger zu bitten. Ein tieferes Problem war institutioneller Natur: Die Ermittlungen gegen Personen, die mutmaßlich über Jahrzehnte zurückliegende Verbrechen in entlegenen Regionen gelogen hatten, erwiesen sich für die dezentral arbeitenden Juristen der Einwanderungsbehörden und die lokalen Staatsanwälte als überaus schwierig.

Dieses unkoordinierte Vorgehen zog Fehler nach sich und führte die Notwendigkeit einer auf solche Fälle spezialisierten Einrichtung vor Augen. So wurde 1979 das Office of Special Investigations (OSI) als ein Zweig des Justizministeriums gegründet – ein wichtiger Schritt zur Bewältigung der juristischen Probleme, die »die Nazis von nebenan« aufwarfen. Mit seinen Teams aus Juristen und Historikern, die eine völlig neuartige Zusammenarbeit praktizierten, entwickelte das OSI ein Modell, das sich Mitte der achtziger Jahre in beachtlichen Erfolgen auszahlte. Als der erste Ausbürgerungsprozess gegen Demjanjuk anlief, war dieses Modell allerdings noch nicht ausgereift, und das OSI zahlte einen hohen Preis dafür, dass es seinen bekanntesten Fall zu einem Zeitpunkt übernahm, als es ihm noch nicht gewachsen war. Mit der Ausbürgerung Demjanjuks als »Iwan der Schreckliche« unterlief dem OSI ein gewaltiger Fehler, den seine späteren Erfolge nie ganz wettmachen konnten. Kompetent und integer geführte Institutionen entwickeln sich mit der Zeit und lernen, so auch das OSI. Doch die Kurskorrekturen erfolgten in diesem Fall zu spät, um ein Debakel zu verhindern, an dem der Ruf der Behörde dauerhaft Schaden nahm.

Wie wir sehen werden, trug zu diesem Unglück auch der Kalte Krieg erheblich bei; sein Andauern wie auch sein Ende hatten immensen Einfluss auf den Verlauf sämtlicher Prozesse gegen NS-Verbrecher in den Vereinigten Staaten, in Israel und Deutschland. Die größte und offensichtlichste Herausforderung für Juristen bestand darin, Zugang zu Dokumenten zu bekommen, die in Archiven hinter dem Eisernen Vorhang lagerten. Doch der Kalte Krieg war für diese Fälle nicht nur eine Kulisse, die gewisse Komplikationen mit sich brachte, sondern selbst ein wirkmächtiger Faktor. Er nährte Zweifel an der Qualität und Echtheit von Beweisen; er prägte das Vorgehen von Institutionen; er sickerte in die Rhetorik der Akteure ein, bestimmte Weltanschauungen und definierte letztlich Handlungsspielräume und den Charakter politischer und rechtlicher Alternativen. Der Kalte Krieg war gleichsam der Äther, in dem sich Juristen bewegten. Nicht weniger weitreichend waren die Folgen, die sein Ende hatte. Auch wenn kontrafaktische Geschichte immer ein gewagtes Unterfangen ist, lässt sich wohl sagen, dass es bei einem Fortdauern des Kalten Krieges das zweite Ausbürgerungsverfahren gegen Demjanjuk nicht gegeben hätte – und strafrechtliche Ermittlungen in Deutschland erst recht nicht.

 

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Als Demjanjuk im Mai 2009 in einem Flugzeug der US-Regierung in München eintraf, lebte ich gerade mit meiner Familie in Berlin. In einem 200-Meter-Radius um unsere Wohnung befanden sich drei Mahnmale für die NS-Verbrechen. In den Bürgersteig vor unserem Haus eingelassene Messingtafeln, sogenannte Stolpersteine, erinnerten an zwei nach Auschwitz deportierte Berliner Juden. In einem kleinen Park auf der gegenüberliegenden Straßenseite stand eine Skulptur, in der ich zunächst einen Stapel Waffeln zu erkennen meinte, die sich aber näher betrachtet als stilisierte Darstellung aufgetürmter Leichen entpuppte (das Werk heißt Treblinka). Und an einem eleganten Vorkriegsbau um die Ecke, in dem sich heute Luxusapartments befinden, informierte eine Tafel die Passanten, dass darin ein NS-Kriegsgericht untergebracht gewesen war, das Tausende Unschuldige zum Tode verurteilt hatte.

Politisch und kulturell ist Deutschland der Musterknabe, wenn es um die Aufarbeitung der eigenen Geschichte geht – das Land schlechthin, das bereit ist, sich seiner monströsen Vergangenheit zu stellen. Die Türkei und Japan müssen ihre Verantwortung für Verbrechen von genozidalen Ausmaßen erst noch akzeptieren. Frankreich kämpft noch immer mit seiner Verstrickung in NS-Verbrechen. Österreich pflegt weiter den Mythos, es sei selbst »das erste Opfer« des Nationalsozialismus gewesen. Spanien stellt gerne Ausländer wegen Menschenrechtsverletzungen vor Gericht, reagiert aber plötzlich gereizt, wenn sich ein Staatsanwalt Verbrechen aus der Franco-Ära vornimmt. Deutschland dagegen hat sich der schwierigen kollektiven Aufgabe der Vergangenheitsbewältigung mit einer geradezu teutonischen Gründlichkeit gestellt und seine historischen Gräueltaten in zahllosen Mahnmalen, Symposien, Filmen und öffentlichen Diskussionen zum Thema gemacht. Wenn nötig, betätigt sich die deutsche Justiz als machtvoller Arm des historischen Gedächtnisses und verfolgt Holocaustleugner.

Als es jedoch um die strafrechtliche Verfolgung von NS-Tätern ging, brachte sie es nur auf eine klägliche Bilanz. In den ersten Nachkriegsjahren führten die Gerichte unter dem wachsamen Auge der alliierten Besatzungsmächte zwar mehr als 4600 die NS-Zeit betreffende Strafprozesse durch – doch die beeindruckend klingende Zahl verdeckt die Tatsache, dass es in den meisten Fällen um recht unbedeutende Eigentumsdelikte aus den letzten Kriegsmonaten ging, als die öffentliche Ordnung im Land kollabiert war.[12] In den frühen Jahren der Bundesrepublik kamen die Prozesse wegen NS-Verbrechen praktisch zum Stillstand; 1955 zum Beispiel verurteilten die Gerichte insgesamt nur 21 Personen wegen Verbrechen in der Zeit des Dritten Reiches. Ostdeutschland zeigte sich bei der Verfolgung von NS-Tätern anfangs entschlossener, wenngleich einige Verfahren kaum mehr als stalinistische Inszenierungen waren; später verlor die DDR das Interesse an diesbezüglichen Prozessen und zog sich stattdessen auf die beharrliche Erklärung zurück, die meisten straffrei gebliebenen Nationalsozialisten lebten im Westen.[13]

Heute befasst sich ein eigenes Gebiet namens Transitional Justice mit der Frage, welche Rolle die Justiz beim Übergang von einem verbrecherischen Regime zu einer demokratischen Ordnung spielen sollte. Die westdeutsche Antwort lautete: Kaum eine. Einer erfolgreichen Strafverfolgung von NS-Tätern stand in der Bundesrepublik gleich eine ganze Reihe von erheblichen Hindernissen im Weg. Während die Nürnberger Prozesse dem Gedanken eine Bresche geschlagen hatten, dass die Ahndung von NS-Verbrechen spezielle Gesetze und Institutionen erfordere, bestand Deutschland darauf, sie als gewöhnliche Verbrechen, vor gewöhnlichen Gerichten und nach den gewöhnlichen deutschen Gesetzen zu behandeln.[14] Dadurch wurde die Strafverfolgung häufig behindert und nicht erleichtert. Großzügige Amnestieregelungen boten vielen Tätern Schutz, darunter fast allen an der Planung und Durchführung des Holocaust beteiligten Staatsfunktionären. Anklage wegen Völkermord oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit konnten deutsche Staatsanwälte nicht erheben, denn beide Straftatbestände wurden als rückwirkende Gesetzgebung verworfen. Da somit gerade die eigens zur Ahndung von NS-Verbrechen konzipierten Anklagepunkte entfielen, konnten sie nur das reguläre Strafgesetzbuch heranziehen. Und so war das Äußerste, was sie einem NS-Täter zur Last legen konnten, gewöhnlicher Mord. Nach 1960 war dies sogar der einzige mögliche Anklagepunkt, denn alle anderen im Dritten Reich begangenen Verbrechen waren laut Gesetz verjährt. Selbst für Mord galt anfangs eine Verjährungsfrist, die nur dank mehrfachen Eingreifens des Bundestages aufgehoben wurde – die Aussicht, sich wegen eines Verjährens sämtlicher NS-Verbrechen internationale Ächtung und Konflikte im eigenen Land einzuhandeln, gefiel den Abgeordneten schlussendlich nicht.

Wie wir sehen werden, stellte die Tatsache, dass die deutschen Gerichte Völkermordverbrechen nur als normalen Mord behandeln konnten, die Strafverfolger vor immense Probleme. Ermittlungen wurden auf halbem Wege eingestellt, Anklagen erhoben, nur um abgewiesen zu werden, und sofern es doch einmal zu einem Prozess kam, endete er oft mit verblüffenden Freisprüchen oder niederschmetternd milden Urteilen; fiel ein Urteil gelegentlich härter aus, wurde die Strafe zumeist später gemindert oder umgewandelt. Aufgrund der Besonderheiten der deutschen Rechtsauffassung behandelten die Richter den Holocaust so, als wäre er das Werk lediglich einer Handvoll Männer gewesen – von Hitler, Himmler, Heydrich, Göring und einigen anderen, die man sicherheitshalber hinzufügte. Alle anderen, auch SS-Männer, die direkt an Massenerschießungen teilgenommen oder den Vernichtungsprozess beaufsichtigt hatten, galten als bloße Helfershelfer.

Diese ernüchternde Bilanz sollte uns nicht allzu sehr überraschen. Es ist eine schlichte Tatsache, dass es in Nachkriegsdeutschland vor ehemaligen Nationalsozialisten geradezu wimmelte, und viele von ihnen bekleideten Führungspositionen im Regierungsapparat und in der Justiz. Selbst diejenigen, die sich den neuen Realitäten der Demokratie reibungslos angepasst hatten, standen einer entschiedenen Verfolgung ihrer ehemaligen Kameraden zumeist ablehnend gegenüber. Dass der fortwährende Einfluss ehemaliger Nationalsozialisten zu Deutschlands Weigerung beitrug, NS-Verbrechen ausgehend vom Modell der Gräueltaten zu ahnden, ist unbestreitbar. Allerdings heißt dies nicht, dass sämtliche politischen, institutionellen, juristischen und ideologischen Blockaden einer erfolgreichen Strafverfolgung ausschließlich ihr Werk gewesen wären. Das Recht ist nicht unbegrenzt biegsam, zumindest nicht in einer liberalen Demokratie; in Rechtsauffassungen mögen sich politische Interessen und parteiische Anliegen ausdrücken, doch sie entwickeln sich auch nach ihrer inneren Logik und nach eigenen Regeln.

Hinzu kommt der institutionelle Aspekt. Wie die Vereinigten Staaten hat Deutschland ein föderales Rechtssystem, das zentral koordinierte Ermittlungen und Anklagen von NS-Verbrechen zwangsläufig behinderte. Für manche war dies natürlich ein Segen. Andere jedoch betrachteten es als eine nationale Schande – wenn nicht als regelrechten Skandal. Volle zwei Jahrzehnte vor der Gründung des amerikanischen OSI richtete die Bundesrepublik deshalb die Zentrale Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen (im Folgenden: Zentrale Stelle) als Sonderbehörde mit Ermittlungsbefugnissen ein.[15] Im Gegensatz zu den eher unspektakulären zivilrechtlichen Fällen des OSI befasste sie sich ausschließlich mit strafrechtlichen Angelegenheiten – nach der Verjährung aller anderen Verbrechen sogar ausschließlich mit Mordfällen. Eine dem OSI gewährte wesentliche Befugnis besaß sie jedoch nie: die zur Anklageerhebung. Seit ihrer Gründung im Jahr 1958 hat die Zentrale Stelle ausschließlich als Ermittlungsbehörde gedient, die zwar Vorermittlungen durchführen darf, für Strafanzeigen und Anklagen aber auf die örtlichen Staatsanwälte angewiesen ist. Das ist einer der Gründe dafür, weshalb die 120 000 Ermittlungsverfahren, die sie seit ihrer Gründung eröffnete, nur zu 5000 Gerichtsprozessen führten, von denen keine 600 mit einer Verurteilung endeten.[16] Aber immerhin gab es diese Prozesse, und die Bemühungen von Ermittlern, Staatsanwälten und Richtern, NS-Täter zur Rechenschaft zu ziehen, waren nicht weniger beachtlich als die ihnen in den Weg gestellten Hindernisse.

Als im November 2009 der Münchner Demjanjuk-Prozess begann, lag das letzte dieser Verfahren, das größere mediale Beachtung gefunden hatte, jedoch bereits Jahrzehnte zurück, und die meisten Deutschen betrachteten die Strafverfolgung von NS-Verbrechern als erledigt; auch viele frühere Verfechter solcher Prozesse waren nun dafür, einen Schlussstrich unter dieses Kapitel der deutschen Geschichte zu ziehen. Die Entscheidung, Demjanjuk nach Deutschland zu bringen und vor Gericht zu stellen, sorgte deshalb für Überraschung und sogar Beunruhigung. Was genau hoffte Deutschland damit zu erreichen? Ausgewiesene Kenner der deutschen Rechtsprechung sagten offen voraus, dass die Anklage – sofern der betagte Angeklagte nicht ohnehin vorher sterben würde – scheitern werde.

Und doch endete das Verfahren, wie ich zeigen möchte, mit einem bedeutenden, ja historischen Erfolg. Während die Nürnberger Prozesse auf Dokumenten, die Prozesse gegen Eichmann und »Iwan den Schrecklichen« auf den Zeugnissen von Überlebenden beruhten, stützte sich der Münchner Demjanjuk-Prozess auf historische Experten. Die Stellungnahmen von Historikern leisteten hier viel mehr, als bloß den Hintergrund und Kontext der verhandelten Verbrechen darzustellen: Sie ermöglichten dem Gericht die Lösung grundlegender rechtlicher Probleme, mit denen es konfrontiert war. Dass der Holocaust als Geschichte verhandelt wurde, war nicht nur Ausdruck einer unentrinnbaren biologischen Realität – der Angeklagte war ein alter Mann, und Überlebende, die ihn hätten identifizieren können, fanden sich nicht mehr –, sondern verdeutlichte exemplarisch die ungewöhnliche Rolle, die Historiker mittlerweile bei der Strafverfolgung von Gräueltaten spielten, angefangen beim Entwurf der Anklageschrift bis hin zum Kern des Gerichtsurteils. Während das Jerusalemer Gerichtsverfahren gegen »Iwan den Schrecklichen« das Ende des Holocaust-Prozesses als einer didaktischen, auf die Zeugnisse von Überlebenden gestützten Übung markierte, zeigte das Münchner Verfahren den Beginn einer ganz anderen Art von Holocaust-Prozess an: einer, bei der der Holocaust als Geschichte verhandelt wird.

 

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Beim Schreiben des vorliegenden Buches haben mich viele Aspekte des Falls Demjanjuk gereizt – allen voran die Fragen, wie sich in den diversen Prozessen die Vektoren von Recht und Kaltem Krieg kreuzten und wie der Fall die durchaus unterschiedlich gearteten Bemühungen dreier nationaler Rechtssysteme verdeutlichte, mit den Verbrechen des Holocaust umzugehen. Dabei interessierte mich nicht zuletzt der Unterschied zwischen einer Behandlung der NS-Vernichtungspolitik als besonderer Herausforderung, die juristische Innovationen erfordert, und als ein gewöhnliches Verbrechen. Die Art und Weise, wie im Fall Demjanjuk Erinnerungen und historische Schlüsse miteinander kollidierten, wirft die Frage auf, wie das Recht mit lange zurückliegenden Straftaten sowie mit dem schwierigen Thema der Kollaboration umgeht. Außerdem wollte ich untersuchen, wie sich Rechtssysteme entwickeln und selbst korrigieren, wie die geltende Rechtsauffassung auf politischen Druck reagiert und wie das Recht historische Erkenntnisse aufnimmt, verarbeitet und in seinen Rahmen stellt.

Demjanjuk als Person galt mein Interesse dagegen nicht. Niemand, der den Fall kennt, kann ernsthaft bezweifeln, dass er als Wachmann diente – nicht nur in Sobibór, sondern auch in Majdanek und Flossenbürg. Aber es wurden nie Beweise dafür vorgelegt, dass er sich durch besondere Grausamkeit ausgezeichnet hätte, und ich bin bereit zu glauben, dass dies nicht der Fall war. Ich kann mir auch gut vorstellen, wie er sich gegen Ende seines Lebens als Opfer sah – als Opfer der Deutschen, die ihn in Kriegsgefangenschaft nahmen, zum Dienst als Wachmann drängten und Jahrzehnte später eben dafür vor Gericht stellten; der Israelis, die ihn in einem mangelhaft gehandhabten Fall von Verwechslung dämonisierten und beinahe hingerichtet hätten; und der Amerikaner, deren strafrechtlicher Verfolgungseifer in den Augen eines alten, zutiefst selbstmitleidigen Mannes wie Rachsucht gewirkt haben muss. Es stimmt, dass Demjanjuk es sich nicht ausgesucht hatte, in Kriegsgefangenschaft zu geraten oder zum Wachdienst in einem Todeslager verpflichtet zu werden. Doch gerade in Zeiten historischer Wirren wirft uns das Leben oft in Situationen, die wir nicht selbst verschuldet haben. In solchen Situationen sind wir mit der Frage konfrontiert, ob eine schwierige, vielleicht sogar furchtbare Wahl dasselbe ist, wie gar keine zu haben. Mit seiner sturen und heuchlerischen Behauptung absoluter Unschuld machte Demjanjuk es der Justiz jedoch bedauerlicherweise unmöglich, den Charakter seiner Kollaboration offen und differenziert zu verhandeln.

Ob ich mich an der Stelle des zuständigen Staatsanwalts dafür ausgesprochen hätte, Demjanjuk in München anzuklagen, kann ich mit letzter Gewissheit nicht sagen. Doch beim Schreiben über den Prozess habe ich festgestellt, dass ich das Urteil klar befürworte – nicht weil ich eine Bestrafung Demjanjuks für wichtig hielte, sondern weil das Gericht eine bemerkenswerte und gerechte Entscheidung gefällt hat, die angesichts von Deutschlands langem juristischen Kampf mit dem Erbe des NS-Völkermordes nur wenige Beobachter erwartet hätten.

Auf den folgenden Seiten hoffe ich den Leser davon zu überzeugen, dass der Münchner Prozess mehr geleistet hat, als den eigentümlichen, verschlungenen Fall Demjanjuk zu einem angemessenen Abschluss zu bringen. Er hat die Fähigkeit der Justiz demonstriert, aus Fehlern zu lernen und sich zu korrigieren, und ein beeindruckendes Beispiel dafür geliefert, wie Strafprozesse durch einen verantwortungsvollen Umgang mit der Geschichte die geltende Rechtsauffassung neu justieren können. Wie wir sehen werden, gelang es dem Münchner Gericht – auch wenn es den Holocaust formal weiterhin als ein »gewöhnliches« Verbrechen behandelte –, das bislang geltende Paradigma zu zertrümmern und den Holocaust als ein Gräuelverbrechen zu fassen. Dass ein Mann, der zunächst fälschlicherweise wegen seiner angeblich einzigartigen Grausamkeit verfolgt wurde, durch das Münchener Strafurteil als Inbegriff des austauschbaren Rädchens in der Vernichtungsmaschine des NS-Staates verurteilt wurde, entbehrt vielleicht nicht der Ironie. Doch wie das Gericht treffend erkannte, kann eine Maschine ohne ihre kleinen Bauteile nicht funktionieren. Demjanjuk wurde zu Recht verurteilt. Er wurde dafür verurteilt, dass er aus einem schlichten und unabweisbaren Grund Beihilfe zum Mord geleistet hatte, indem er in einer Todesfabrik diente – weil genau dies sein Job war.

1. Der Anfang vom Ende von etwas

München, 30. November 2009, 7 Uhr morgens. Die Stadt ist ruhig und der Morgenhimmel noch dunkel, doch auf dem Platz an der Nymphenburger Straße drängen sich die Ü-Wagen von Radio- und Fernsehsendern mit ihren brummenden Generatoren. Hunderte von Journalisten und Zuschauern warten vor dem Gericht, wir haben uns alle warm angezogen, um der Novemberkälte zu trotzen. Am Vortag hatte die Süddeutsche Zeitung berichtet, dass deutlich mehr Journalisten akkreditiert worden seien, als der Gerichtssaal fassen kann. Als die Menge anwächst, beginnt das Gedränge.[1] Ein Mann im Anzug und mit Kippa läuft um die Menschenmenge herum und verteilt schweigend Kerzen; Noah Klieger, ein pensionierter israelischer Journalist und Auschwitz-Überlebender, meint trocken zu mir: »Diese Prozesse ziehen die Verrückten an.«

In einer Presseerklärung hatte das Gericht angekündigt, dass der Einlass für akkreditierte Journalisten um 8 Uhr beginnt, doch der Polizist, dem die Erklärung gezeigt wird, blickt so verdutzt, als würde er sie zum ersten Mal sehen. Ein Kollege von ihm erteilt derweil lauthals unverständliche Anweisungen. Obwohl die Polizei sechs Monate Zeit hatte, sich auf diesen Tag vorzubereiten, wirkt sie planlos und überfordert, sie improvisiert aus dem Stegreif. Recht bald ist das einzige Gesprächsthema unter den Journalisten nicht mehr der bevorstehende Prozess, sondern das erstaunliche Fehlen jeder Koordination bei seiner Eröffnung. Eine rasch entworfene Protesterklärung wird durch die Menge gereicht, die Unterzeichnenden beklagen die organisatorische Inkompetenz. Doch vergeblich. Es vergehen zwei Stunden. Ein Korrespondent des Bayerischen Rundfunks ruft: »Ab 9 Uhr 45 wird zurückgeschossen!« – eine Anspielung auf die Worte, mit denen Hitler den Beginn des Zweiten Weltkrieges verkündet hatte.

Anstatt durch Spaliere eine geordnete Schlange zu bilden, pferchen die Beamten die Menge nun aus unerfindlichen Gründen zu einem groben Trichter zusammen, der auf eine einzige Eingangstür zuläuft. Ein Schild weist den Bereich als »Demjanjuk-Sammelzone« aus. Hat sich hier jemand einen fragwürdigen Scherz erlaubt? Die NS-Zeit hat die deutsche Sprache kontaminiert und grauenvolle Assoziationen hinterlassen, das Wort »Sammelzone« erinnert an die Orte, an die sich Juden begeben mussten, um von dort in die Zentren des Todes verfrachtet zu werden. »Das Einzige, was fehlt«, kommentiert ein in der Menge eingekeilter Mann, »sind die Eisenbahngleise.« Für manche ruft die Tatsache, dass eine Menschenmenge, in der sich viele israelische Journalisten und mehrere Holocaust-Überlebende befinden, auf einen schmalen Eingang hin getrieben wird, bestimmte Bilder wach, die man nicht übergehen kann. Andere, vielleicht besonders die Deutschen, finden die mangelhafte Organisation dagegen beruhigend. Schließlich war die SS furchterregend effizient. Nicht so die Münchner Polizei. Seht her, wir haben uns geändert.

Mit vier Stunden Verspätung – auf das endlose Warten folgten Sicherheitskontrollen inklusive Abtasten – gelingt es mir, Gerichtssaal A 101 zu betreten. Dieser gilt als der sicherste in München, gebaut in den siebziger Jahren für die mit großem öffentlichen Interesse verfolgten Prozesse gegen Mitglieder der Baader-Meinhof-Gruppe, wobei er für diesen Zweck letztlich kaum genutzt wurde. Der fensterlose achteckige Saal gleicht einer Kreuzung aus schäbigem Seminarraum, schmuckloser Lutheranerkapelle und Luftschutzbunker. Die Gewölbedecke hat einen brutalistischen Touch: Als Dekoration gedacht, hängen massive Betonblöcke drohend von ihr herab, scheinbar bereit, sich jeden Augenblick von ihr zu lösen und die Zuschauer unter sich zu begraben. Zumindest den amerikanischen Besucher erstaunt es zudem, dass nirgends eine Nationalfahne oder bayerische Flagge zu sehen ist, auch keinerlei ikonografische Waage der Gerechtigkeit weist den Raum als Gerichtssaal aus. Allein ein schlichtes Holzkreuz ziert die Wände.

Dennoch herrscht feierliche Stimmung im Saal, vielleicht weil die Anwesenden sich zu den Glücklichen zählen dürfen, die es hineingeschafft haben – die Hälfte der Menschenmenge musste draußen bleiben. Die zunächst geplante Videoübertragung in einen Nebenraum wurde aufgrund verfassungsrechtlicher Bedenken gekippt, denn die Übertragung von Gerichtsprozessen gilt im deutschen Recht als Verletzung der Persönlichkeitsrechte des Angeklagten. Aus demselben Grund folgen deutsche Zeitungen der eigenartigen Praxis, Angeklagte durch ein Initial zu anonymisieren – »John (Iwan) D. wurde heute vor Gericht angeklagt.« Das gewaltige öffentliche Interesse an dem Prozess macht die Schreibregel in diesem Fall zwar hinfällig, doch die Videoübertragung wirft eine diffizile Frage auf: Wäre sie nicht bloß eine räumliche Erweiterung des Gerichtssaals – oder praktisch dasselbe, als würde man den Prozess zur besten Sendezeit in die bayerische Provinz ausstrahlen?

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