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Stefana Sabin

AugenBlicke

Eine
Kulturgeschichte
der Brille

 

 

 

 

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Wir danken der Viehoff Gruppe, Münster
für die Förderung dieser Publikation

 

 

 

 

 

Bibliografische Information der

Deutschen Nationalbibliothek

 

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese

Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;

detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über

http://dnb.d-nb.de abrufbar.

 

© Wallstein Verlag, Göttingen 2019

www.wallstein-verlag.de

 

Einbandgestaltung: Marion Wiebel, Wallstein Verlag, Göttingen

 

ISBN (Print) 978-3-8353-3546-2

ISBN (E-Book, pdf) 978-3-8353-4394-8

ISBN (E-Book, epub) 978-3-8353-4395-5

Inhalt

Von Neros Smaragd zu Kardinal Hugos Nietbrille

Pisaner oder Florentiner?

Nonnen, Apostel und Diebe

Sehen und Verstehen

Maler, Dichter und ihre Figuren

Agenten und Zauberer

Die Brille kommt weg!

Sie können Ihre Brille auflassen!

 

Bildnachweis

Literatur

Von Neros Smaragd
zu Kardinal Hugos Nietbrille

Der Buchdruck, die Mechanisierung, die Automatisierung und die Digitalisierung sind Veränderungen, die die sozialen, kulturellen und wirtschaftlichen Verhältnisse derart umgestaltet haben, dass man sie als Revolutionen von epochaler Bedeutung bezeichnet. Aber es gibt auch schleichende Revolutionen, nämlich Entwicklungen, die dadurch charakterisiert sind, dass ein scheinbar banales Objekt die Lebens- und Arbeitsbedingungen der Menschen grundlegend verändert. Eine solche schleichende Revolution ist in der Erfindung und Verbreitung der Brille zu sehen; man könnte behaupten, dass die Moderne mit dem medizinisch-philosophischen Paradigmenwechsel beginnt, der die Sehschwäche von einer Krankheit, die mit Salben und Tinkturen behandelt wurde, in eine Behinderung verwandelte, die sich mit technischen Hilfsmitteln beheben ließ.

Die Brille ist ein Produkt medizinischer, technologischer und handwerklicher Bemühungen – und sie hat ihrerseits dem Fortschritt der Zivilisation einen Schub gegeben, denn sie trug entscheidend dazu bei, dass die Lebensarbeitszeit sich mehr als verdoppelte, dass präziser gearbeitet werden konnte und dass Berufe, für die Lesen, Schreiben und Rechnen essentiell waren, überhaupt entstehen konnten. Inzwischen ist die Brille ein triviales Alltagsobjekt: als optisches Hilfsmittel, das Fehlsichtigkeit korrigiert, oder als physischer Schild, der die Augen vor äußeren Einwirkungen schützt, und auch als modisches Accessoire, das auf Statusbewusstsein verweist.

Wie bei vielen Gebrauchsgegenständen lässt sich nicht mit Sicherheit sagen, wer die Brille erfunden hat und wo und wann das war. Tatsächlich ist weniger von einer Erfindung im Sinne eines einmaligen ingeniösen Aktes auszugehen, der für ein bis dahin ungelöstes Problem eine Lösung bot. Vielmehr handelt es sich bei der Brille um eine fortschreitende Entwicklung, die von wissenschaftlichen und technischen Erkenntnissen begleitet wurde – und auch von langanhaltenden Spekulationen und Fragen.

Zu den ungeklärten Fragen gehört diejenige nach Neros Smaragd. Kaiser Nero, so berichtet Plinius der Ältere in seiner Naturgeschichte (ca. 77 n. Chr.), hat den Gladiatorenkämpfen mit einem Smaragd vor Augen zugesehen: »Nero princeps gladiatorum pugnas spectabat smaragdo.« Lange Zeit hat man das als ersten Beleg für die Verwendung eines Edelsteins als Sehhilfe verstanden. Aber da Nero weitsichtig gewesen sein soll, hätte ihm der Stein nicht helfen können, schärfer zu sehen; und da Plinius auch noch von einem »platten Smaragd« spricht, also von einem ungeschliffenen Stein, kann dieser keine bessere Sicht bewirkt haben. Der grünliche Stein diente Nero, wie Lessing in seinem Fünf und vierzigsten Brief ausführlich beschreibt, »wegen der dem Auge so zuträglichen grünen Farbe« eher als Blendschutz vor den Sonnenstrahlen. Neros Smaragd stellt also keine Ur-Korrekturbrille dar, sondern ist allenfalls ein entfernter Vorläufer der Sonnenbrille.

Aber schon Seneca beschrieb im 6. Kapitel des ersten Buchs seiner Naturwissenschaftlichen Untersuchungen (62-63 n. Chr.) eine – zugegebenermaßen unpraktische – Sehhilfe: »Wie klein und undeutlich eine Schrift immerhin sein mag, durch eine mit Wasser gefüllte Glaskugel erscheint sie größer und deutlicher.« Dass diese Erkenntnis weitgehend folgenlos blieb, hatte mit Senecas Annahme zu tun, dass das Wasser diese vergrößernde Eigenschaft habe, nicht das Glas.

Es war der arabische Mathematiker Ibn al-Haitem, auch Alhacen genannt, der in seinem Buch Schatz der Optik von 1021 als Erster die Eignung gewölbter Glasoberflächen zur optischen Vergrößerung erkannt und beschrieben und auch praktisch umgesetzt hat, indem er Lesekugeln aus Glas herstellte. So bahnbrechend die Erkenntnis war – da sie in einem arabischen Traktat erschien, blieb sie im Abendland lange unbekannt.

Erst Ende des 12. Jahrhunderts wurde Alhacens Traktat von italienischen Franziskanermönchen ins Lateinische übersetzt, und so erfuhr schließlich auch die westliche Welt, dass ein Gegenstand – durch ein durchsichtiges Kugelelement betrachtet – vergrößert erscheint. Die lateinische Übersetzung vom Schatz der Optik vermittelte nicht nur eine physikalische Vorstellung, sondern auch und vor allem eine alltagspraktische Einsicht: dass konvex geschliffene Halbkugeln aus bestimmten Halbedelsteinen die Schrift vergrößerten, wenn sie daraufgelegt wurden. Diese Lesesteine waren die ersten Lesehilfen, die systematisch benutzt wurden.

Als Alhacens Schrift in gelehrten Kreisen bekannt wurde, war der Oxforder Gelehrte Roger Bacon (1214-1294) einer der Ersten, die den praktischen Nutzen der Kugeln als Lesehilfe erkannten und begriffen, dass farbloses Glas ideal zu ihrer Herstellung sein müsse. Aber zu seiner Zeit konnte man nur buntes Glas herstellen – außer in Venedig und Murano, wo aber das Verfahren als Geheimnis streng gehütet wurde. Also schliff man die Kugeln zum Lesen aus Quarz, Bergkristall oder aus Beryll, der Gegenstände besonders stark vergrößerte.

Beryll ist ein häufig vorkommendes Mineral, genauer: ein Silikat, das hexagonal kristallisiert. Man sprach ihm magische Kräfte und heilende Wirkungen zu, denn er sollte den Glauben an Gott festigen und gegen Gifte helfen. Als Edelstein soll er zu den Grundsteinen der Stadtmauer von Jerusalem gehört haben: »Die Grundsteine der Stadtmauer schmückten die verschiedensten Edelsteine«, heißt es in der Offenbarung des Johannes. »Ihre Mauer ist aus Jaspis gebaut und die Stadt ist aus reinem Gold, wie aus reinem Glas. Die Grundsteine der Stadtmauer sind mit edlen Steinen aller Art geschmückt; der erste Grundstein ist ein Jaspis, der zweite ein Saphir, der dritte ein Chalzedon, der vierte ein Smaragd, der fünfte ein Sardonyx, der sechste ein Sardion, der siebte ein Chrysolith, der achte ein Beryll, der neunte ein Topas, der zehnte ein Chrysopras, der elfte ein Hyazinth, der zwölfte ein Amethyst.« (Offb 21:18-20) Der Beryll kann verschiedene Farben haben, aber er kann auch farblos, fast durchsichtig sein, und diese Eigenschaft war es, die ihn im Mittelalter zum Material für Lesehilfen prädestinierte: lapides ad legendum, Lesesteine, wurden die plankonvexen Plättchen aus Beryll genannt, die mit der planen Seite auf eine Buchseite aufgelegt wurden und die Buchstaben vergrößerten.

Die wohl einzige bildliche Darstellung der Lesesteine befindet sich auf dem Altar im Prämonstratenser Chorherrenstift Wilten in Tirol, der aus dem 15. Jahrhundert stammt. Auf einem Altarflügel ist, wie Franz Daxecker, Professor an der Innsbrucker Augenklinik, entdeckte, die heilige Ottilie, die Schutzpatronin der Blinden und Augenkranken, dargestellt – und der Altarmaler ersetzte die Augen, die in der Malerei ihr Kennzeichen sind, durch Lesesteine, die sie über ein offenes Buch hält, um die darunterliegende Schrift zu vergrößern.

 

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Abb. 1: Ludwig Konraiter: Die heilige Ursula mit den Jungfrauen, 1485-1490. Detailansicht: Die heilige Ottilie, die Lesesteine über ein offenen Buch hält. Dies ist die erste Darstellung der Lesesteine und die erste Darstellung einer Frau mit Lesehilfe.

 

In der Literatur wird die vergrößernde Eigenschaft des Beryll und seine Verwendung als Lesehilfe seit der späthöfischen Epik erwähnt. In seiner Gralsdichtung Der Jüngere Titurel (1260-1272), einem anspruchsvollen Epos von 6300 Strophen, nannte Albrecht von Scharfenberg einen der Helden, einen Sohn des Stammvaters Senabor von Kapadozien, Parille, nach dem Stein:

Ein sin sun Parille hiez er nach dem stein, / durch daz der ougen wille da mit erget. er machet groz uz kleine. / uz cleinen tugenden machte er di grozen.

Einen seiner Söhne nannte er Parille nach dem Steine. / Damit das Verlangen der Augen da hindurchgehe. Er macht Groß aus Klein. / Aus kleinen Tugenden machte er die großen. (Str. 99,1)

Und viele Strophen später greift Albrecht den Vergleich erneut auf:

Sam der berillus grozet di schrift in im ze lesene, din herze dem genozet, dar inne alle tugende mit wesene wahsent hoch, breit, wit und ouch di lenge.

So wie der Beryll die in ihm zu lesende Schrift vergrößert, gleicht ihm dein Herz, darin alle Tugenden in ihrem Wesen hoch, breit, weit und auch in die Länge wachsen.

Diese Verse, in denen das gute Herz des edlen Helden, des jüngeren Titurel, rein wie der Beryll sein soll und die Tugenden ebenso vergrößert, wie der Beryll die Schrift vergrößert, sind der erste literarische Beleg für die Verwendung von Lesesteinen aus Beryll.

Nur wenig später werden Kristall und Beryll im Marienpreis Die goldene Schmiede von Konrad von Würzburg (1277-1287) als Metaphern für den himmlischen Glanz der Gottesmutter verwendet:

 

er hat an im die groben

und die gewaltechlichen art,

daz nie kein schrift so cleine wart,

ir schin enwürde breiter,

ob dirre stein vil heiter

si dahte und übergriffe:

swer in ot dünne sliffe

und uf die schrift in wollte haben,

ein sähe ir cleinen buochstaben durch in groezer schinen.

(V. 1800-1808)