image

Peter Bürger

Theorie der Avantgarde

 

 

 

 

image

 

 

 

 

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation
in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte
bibliografische Daten sind im Internet über
http://dnb.d-nb.de abrufbar.

 

 

 

© Wallstein Verlag, Göttingen 2017

www.wallstein-verlag.de

ISBN (Print) 978-3-8353-3119-8

ISBN (E-Book, pdf) 978-3-8353-4164-7

ISBN (E-Book, epub) 978-3-8353-4165-4

Inhalt

THEORIE DER AVANTGARDE
(1974)

Vorbemerkung

Einleitung: Vorüberlegung zu einer kritischen Literaturwissenschaft

I. Theorie der Avantgarde und kritische Literaturwissenschaft

1. Die Historizität ästhetischer Kategorien

2. Avantgarde als Selbstkritik der Kunst in der bürgerlichen Gesellschaft

3. Zur Diskussion der Kunsttheorie Benjamins

II. Zum Problem der Autonomie der Kunst in der bürgerlichen Gesellschaft

1. Forschungsprobleme

2. Die Autonomie der Kunst in der Ästhetik von Kant und Schiller

3. Die Negation der Autonomie der Kunst durch die Avantgarde

III. Das avantgardistische Kunstwerk

1. Zur Problematik der Werkkategorie

2. Das Neue

3. Der Zufall

4. Der Allegoriebegriff Benjamins

5. Montage

IV. Avantgarde und Engagement

1. Die Debatte zwischen Adorno und Lukács

2. Nachbemerkung mit Rücksicht auf Hegel

Nachwort zur zweiten Auflage (1978)

Das zwiespältige Erbe der Avantgarde (2014)

Auf dem Weg zur Theorie der Avantgarde. Ein Brief (2015)

 

Anhang

Anmerkungen

Literaturverzeichnis

Bildnachweise

 

 

THEORIE DER AVANTGARDE

Vorbemerkung

Geht man davon aus, daß ästhetische Theorie nur in dem Maße gehaltvoll ist, wie sie die historische Entwicklung ihres Gegenstandes reflektiert, dann ist eine Theorie der Avantgarde notwendiger Bestandteil kunsttheoretischer Überlegungen heute.

Die vorliegende Arbeit geht von den Ergebnissen meines Surrealismus-Buches aus. Auf die dort vorgelegten Einzelanalysen verweise ich hiermit global,[1] damit im folgenden auf Einzelhinweise nach Möglichkeit verzichtet werden kann. Der Status der hier vorgetragenen Überlegungen ist jedoch ein anderer. Diese wollen nicht notwendige Einzelanalysen ersetzen, sondern einen kategorialen Rahmen bieten, mit dessen Hilfe solche Analysen vorgenommen werden können. Entsprechend verstehen sich die angeführten Beispiele aus der Literatur und der bildenden Kunst nicht als historisch-soziologische Deutungen von Einzelwerken, sondern als Illustration einer Theorie.

Die Arbeit ist hervorgegangen aus einem vom Sommersemester 1973 bis Sommersemester 1974 an der Universität Bremen durchgeführten Projekt Avantgarde und bürgerliche Gesellschaft. Ohne das Interesse der an dem Projekt mitarbeitenden Studenten für den Gegenstand wäre die Arbeit nicht entstanden. Einzelne Kapitel der Arbeit wurden diskutiert mit Christa Bürger, Helene Harth, Christel Recknagel, Janek Jaroslawski, Helmut Lamprecht und Gerhard Leithäuser; ihnen habe ich für kritische Hinweise zu danken.

Einleitung:
Vorüberlegung zu einer kritischen
Literaturwissenschaft[1]

Kritische Wissenschaft unterscheidet sich von traditioneller Wissenschaft dadurch, daß sie die gesellschaftliche Bedeutung ihres eigenen Tuns reflektiert.[2] Das wirft gewisse Probleme auf, die zu erkennen für die Konstituierung einer kritischen Literaturwissenschaft wichtig ist. Ich meine nicht jene naive Gleichsetzung von individueller Motivation und gesellschaftlicher Relevanz, die heute bei der antiautoritären Linken gelegentlich anzutreffen ist, sondern ein theoretisches Problem. Die Bestimmung dessen, was gesellschaftlich relevant ist, hängt mit dem politischen Standort des Interpreten zusammen. Das bedeutet: die Frage, ob ein Gegenstand relevant ist oder nicht, kann in einer antagonistischen Gesellschaft nicht durch Diskussion entschieden, wohl aber kann sie diskutiert werden. Ich glaube, es wäre bereits ein wesentlicher Fortschritt in der wissenschaftlichen Diskussion, wenn es zu einer Selbstverständlichkeit würde, daß jeder Wissenschaftler die Wahl seines Gegenstandes und seiner Problemstellung begründet.

Kritische Wissenschaft versteht sich – wie immer vermittelt – als Teil gesellschaftlicher Praxis. Sie ist nicht »interesselos«, sondern interessegleitet. Das Interesse wäre in erster Annäherung zu bestimmen als Interesse an vernünftigen Zuständen, an einer Welt ohne Ausbeutung und unnötige Repression. Dieses Interesse kann sich in der Literaturwissenschaft nicht unmittelbar durchsetzen. Wo dies versucht wird, z. B. durch Anwendung eines rigiden Maßstabs, dem zufolge die Fortschrittlichkeit der Literatur in der Darstellung des positiven Helden aus der Arbeiterklasse besteht,[3] werden die Besonderheit und Geschichtlichkeit des Gegenstandsbereichs ignoriert. Das erkenntnisleitende Interesse kann sich in der Literaturwissenschaft nur vermittelt durchsetzen, indem es die Kategorien bestimmt, mit deren Hilfe literarische Objektivationen erfaßt werden.

Kritische Wissenschaft besteht nicht darin, neue Kategorien zu erdenken, um sie den »falschen« der traditionellen Wissenschaft entgegenzusetzen. Sie untersucht vielmehr die Kategorien der traditionellen Wissenschaft daraufhin, welche Fragen mit ihnen gestellt werden können und welche anderen Fragen bereits auf der Ebene der Theorie (eben durch die Wahl der Kategorien) ausgeschlossen sind. In der Literaturwissenschaft ist dabei die Frage wichtig, ob die Kategorien so beschaffen sind, daß sie den Zusammenhang von literarischen Objektivationen und gesellschaftlichen Verhältnissen erforschbar machen. Auf der Bedeutung des kategorialen Rahmens, dessen sich der Forscher bedient, ist zu insistieren. Man kann ein literarisches Werk z. B. als Lösung bestimmter künstlerischer Probleme beschreiben, die durch den Stand der künstlerischen Technik in der Epoche seines Entstehens gestellt sind; damit wird aber die Frage nach der gesellschaftlichen Funktion bereits auf theoretischer Ebene abgeschnitten, es sei denn, es gelänge, in der scheinbar rein kunstimmanenten Problematik ein Gesellschaftliches erkennbar zu machen.

Selbstverständlich nimmt kritische Literaturwissenschaft ihren Ausgang nicht von beliebigen traditionellen Konzeptionen, sondern von den avanciertesten. Zu diesen gehört zweifellos die Hermeneutik. Die beiden wichtigen hermeneutischen Grundbegriffe, die Gadamer in seinem Buch Wahrheit und Methode entwickelt hat, sind Vorurteil und Applikation. Vorurteil besagt, auf den Vorgang des Verstehens fremder Texte bezogen, daß der Interpret kein bloß passiv Aufnehmender ist, der sich dem Text gleichsam anverwandelt, sondern daß er bestimmte Vorstellungen mitbringt, die notwendig in die Deutung des Textes eingehen. Applikation (Anwendung) aber ist jede Deutung, insofern sie einem bestimmten Gegenwartsinteresse entspringt. Gadamer betont, »daß im Verstehen immer so etwas wie eine Anwendung des zu verstehenden Textes auf die gegenwärtige Situation des Interpreten stattfindet«.[4] Soweit ist Gadamer zuzustimmen; die inhaltliche Füllung, die er den Begriffen gibt, ist jedoch mit Recht vor allem von Jürgen Habermas kritisiert worden. »Gadamer wendet die Einsicht in die Vorurteilsstruktur des Verstehens zu einer Rehabilitierung des Vorurteils als solchem um.«[5] Das geschieht, indem Gadamer Verstehen als »Einrücken in ein Überlieferungsgeschehen« bestimmt (Wahrheit und Methode, S. 275). Für den konservativen Gadamer fällt Verstehen letztlich mit der Unterwerfung unter die Autorität der Tradition zusammen; demgegenüber hat Habermas auf die »Kraft der Reflexion« hingewiesen, die die Vorurteilsstruktur des Verstehens transparent macht und dadurch die Macht des Vorurteils auch zu brechen vermag (Logik der Sozialwiss., S. 283 f.). Habermas macht deutlich, daß einer verselbständigten Hermeneutik die Tradition nur deshalb als absolute Macht erscheint, weil ihr die Systeme von Arbeit und Herrschaft nicht in den Blick kommen (Logik der Sozialwiss., S. 289). Er bezeichnet damit den Punkt, an dem eine kritische Hermeneutik anzusetzen hätte.

»Bei den Geisteswissenschaften«, schreibt Gadamer, »ist vielmehr das Forschungsinteresse, das sich der Überlieferung zuwendet, durch die jeweilige Gegenwart und ihre Interessen in besonderer Weise motiviert. Erst durch die Motivation der Fragestellung konstituiert sich überhaupt Thema und Gegenstand der Forschung« (Wahrheit und Methode, S. 269). Der Hinweis auf die Gegenwartsbezogenheit historisch-hermeneutischer Wissenschaften ist als eine bedeutsame Einsicht festzuhalten; doch die Formulierung »die jeweilige Gegenwart und ihre Interessen« unterstellt, Gegenwart sei etwas Einheitliches, dessen Interessen sich bestimmen ließen. Gerade das ist jedoch nicht der Fall. Die Interessen der Herrschenden und die der Beherrschten sind bislang in der Geschichte kaum je die gleichen gewesen. Nur weil er die Gegenwart als monolithische Einheit setzt, kann Gadamer Verstehen mit dem »Einrücken in ein Überlieferungsgeschehen« gleichsetzen. Gegenüber dieser Anschauung, die den Historiker zu einem passiv Aufnehmenden macht, ist mit Dilthey darauf zu bestehen, »daß der, welcher die Geschichte erforscht, derselbe ist, der die Geschichte macht«.[6] Ob er es will oder nicht, bezieht der Historiker bzw. der Interpret innerhalb der gesellschaftlichen Auseinandersetzungen seiner Zeit Stellung. Die Perspektive, aus der er seinen Gegenstand betrachtet, ist durch die Position bestimmt, die er innerhalb der gesellschaftlichen Kräfte der Epoche einnimmt.

Hermeneutik, die sich nicht die bloße Legitimation von Traditionen zum Ziel setzt, sondern die rationale Prüfung von deren Geltungsanspruch, geht in Ideologiekritik über.[7] Daß mit dem Ideologiebegriff eine Vielzahl einander z. T. widersprechender Bedeutungen verbunden wird, ist bekannt; dennoch ist er für eine kritische Wissenschaft unentbehrlich, weil er erlaubt, das widersprüchliche Verhältnis von geistigen Objektivationen und gesellschaftlicher Realität zu denken. Anstelle eines Definitionsversuchs soll im folgenden auf die von Marx in der Einleitung der Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie entwickelte Religionskritik eingegangen werden, in der dieses widersprüchliche Verhältnis entfaltet ist. Der junge Marx – und darin liegt die Schwierigkeit, aber auch die wissenschaftliche Fruchtbarkeit seines Ideologiebegriffs – denunziert als falsches Bewußtsein ein Gedankengebilde, dem er doch zugleich Wahrheit nicht abspricht. Dieser Doppelcharakter von Ideologie wird am Beispiel der Religion faßbar: 1.) Die Religion ist Illusion. Der Mensch projiziert in den Himmel, was er auf Erden verwirklicht sehen möchte. Insofern der Mensch an Gott glaubt, der doch nur die Vergegenständlichung menschlicher Eigenschaften ist, verfällt er einer Täuschung. 2.) Zugleich aber wohnt der Religion ein Moment der Wahrheit inne: sie ist »der Ausdruck des wirklichen Elendes« (denn die bloß ideelle Verwirklichung von Humanität im Himmel zeigt den Mangel realer Humanität in der menschlichen Gesellschaft an). Und sie ist »die Protestation gegen das wirkliche Elend«,[8] denn auch in ihrer entfremdeten Gestalt sind die religiösen Ideale Maßstab dessen, was in der Wirklichkeit zu sein hätte.

Aus der Marxschen Religionskritik läßt sich ein Modell abstrahieren, das auf literarische Gegenstände anwendbar ist. Marx stellt einen Bezug her zwischen einem ideellen Gehalt (der religiösen Lehre) und der gesellschaftlichen Situation der Träger dieses ideellen Gehalts (soziales Elend). Der hergestellte Bezug ist dabei am schwierigsten zu explizieren; wir wollen ihn die gesellschaftliche Funktion des ideellen Gehalts nennen. Diese nun wird in dem Modell als widersprüchlich gefaßt, sie enthält ein Moment der Wahrheit (nämlich Ausdruck des Elends und Protest dagegen zu sein) und ein Moment der Unwahrheit (nämlich illusionäre Hoffnungen zu wecken). Die Bedeutung des Modells besteht darin, daß es die Beziehung von geistigen Objektivationen zur gesellschaftlichen Wirklichkeit nicht eindeutig bereits auf theoretischer Ebene festlegt, sondern diese Beziehung als eine widersprüchliche faßt und dadurch der Einzelanalyse den erforderlichen Erkenntnisspielraum läßt, so daß diese nicht zur bloßen Demonstration eines vorab festliegenden Schemas wird. Wichtig ist weiterhin: Kritik wird als Produzieren von Erkenntnissen begriffen, nicht als bloß passives Aufnehmen von Gegebenem. Das Wahrheitsmoment ist zwar genuin in dem ideellen Gehalt (der Religion) vorhanden, wird aber erst durch die Kritik freigelegt. Diese zerstört den Schein einer autonomen Existenz Gottes und ermöglicht dadurch die Erkenntnis in das Wahrheitsmoment des ideellen Gehalts.

Daraus ergibt sich: 1.) Eine nach dem Muster der Marxschen Religionskritik konzipierte Ideologiekritik zerstört nicht das vergangene geistige Gebilde, sie fördert dessen historische Wahrheit vielmehr erst zutage. 2.) Weiterhin ist festzuhalten, daß der ideelle Gehalt (das literarische Werk) nicht einfach als Abbild, d. h. als Verdopplung der gesellschaftlichen Realität begriffen wird, sondern als deren Produkt. Er ist Resultat einer Tätigkeit, die auf eine als unzulänglich erfahrene Wirklichkeit antwortet. (Das menschliche Wesen, dem die »wahre Wirklichkeit«, d. h. die Möglichkeit einer humanen Entfaltung der Realität, vorenthalten bleibt, wird zur »phantastischen Verwirklichung« seiner selbst im Bereich der Religion gedrängt.) Ideologien sind nicht der bloße Reflex bestimmter gesellschaftlicher Verhältnisse; sie sind Teil des gesellschaftlichen Ganzen. »Die ideologischen Momente ›verdecken‹ nicht bloß die wirtschaftlichen Interessen, sind nicht bloß Fahnen und Kampfeslosungen, sondern Teile und Elemente des wirklichen Kampfes selbst.«[9]

Um für eine Literaturanalyse tauglich zu sein, ist jedoch eine Veränderung an dem skizzierten Modell vorzunehmen. An die Stelle des ideellen Gehalts, der geistige Objektivationen nur von ihrer inhaltlichen Aussage her zu fassen erlaubt, muß eine Bestimmung treten, die der Tatsache Rechnung trägt, daß der Gehalt des Kunstwerks wesentlich durch die Form konstituiert wird. Ich schlage hierfür den Begriff der Werkintention vor. Bezeichnen soll er nicht die bewußte Wirkungsabsicht des Autors, sondern den Fluchtpunkt der im Werk auszumachenden Wirkungsmittel (Stimuli). Hier liegt das Problem der Einbeziehung formaler Verfahren der Textanalyse in eine kritische Literaturwissenschaft. Diese Einbeziehung ist notwendig; allerdings macht sie auf theoretischer Ebene noch Überlegungen erforderlich, die den wissenschaftslogischen Status formaler Verfahren und die Legitimität der Einbeziehung in eine kritisch hermeneutische Wissenschaft klären.

Wesentliche Vorteile des aus der Marxschen Religionskritik abgezogenen Modells haben wir genannt, sie lassen sich folgendermaßen zusammenfassen: Das Modell erlaubt den Zusammenhang von Einzelwerk und gesellschaftlicher Wirklichkeit, der dieses sein Entstehen verdankt, als dialektische Beziehung (Funktion) zu fassen. Es erlaubt weiterhin, auch nach der Veränderung der gesellschaftlichen Funktion des Werks zu fragen, nachdem die es bedingende Gesellschaft untergegangen ist. Dem Modell zufolge ist es durchaus denkbar, daß ein Werk in einer veränderten gesellschaftlichen Situation neue gesellschaftliche Funktionen entwickelt.[10] Denn wenn die Funktion nicht einfach als Emanation der Werkintention begriffen wird, sondern als Resultante der Werkintention einerseits und der realen Situation des Publikums, auf das das Werk trifft, andererseits, dann verliert die Antinomie von Historizität und überzeitlicher Geltung etwas von ihrer Unerklärlichkeit.

Ein Mangel des Modells (nicht der Marxschen Religionskritik, sondern der hier vorgeschlagenen Anwendung auf literarische Werke) besteht darin, daß es auf der Fiktion aufbaut, das Einzelwerk wirke als einzelnes. Das ist aber nicht der Fall; das Werk wirkt innerhalb der Institution Kunst. Dieser Mangel ist in Marcuses Übertragung der Marxschen Religionskritik auf die Kultur in der bürgerlichen Gesellschaft behoben; allerdings nicht ohne uns, wie wir sehen werden, vor neue Schwierigkeiten zu stellen.

Skizzieren wir zunächst die zentrale These Marcuses aus dem Aufsatz Über den affirmativen Charakter der Kultur. Wie Marx in der Religion ein »affirmatives« Moment aufzeigt (als Trost entlastet sie die Gesellschaft vom Druck der auf Veränderung drängenden Kräfte), so Marcuse in der bürgerlichen Kultur, die humane Werte nur als Fiktion zuläßt und damit zugleich deren reale Verwirklichung verhindert. Und wie Marx in der Religion ein kritisches Moment erkennt (»Protestation gegen das wirkliche Elend«), so verzeichnet Marcuse den humanen Anspruch der großen Werke der bürgerlichen Gesellschaft als Protest gegen eine ungerechte Gesellschaft. »Sie [sc. die affirmative Kultur] hat zwar die ›äußeren Verhältnisse‹ von der Verantwortung um die ›Bestimmung des Menschen‹ entlastet – so stabilisiert sie deren Ungerechtigkeit –, aber sie hält ihnen auch das Bild einer besseren Ordnung vor, die der gegenwärtigen aufgegeben ist.«[11]

Mit der Übertragung des globalen Modells der Marxschen Kritik auf den Bereich kultureller Objektivationen ist aber die Frage nach dem wissenschaftslogischen Status eines solchen Modells noch nicht beantwortet. Marcuses Kritik der bürgerlichen Kultur macht sich an deren ideellem Charakter fest; sie ist global, insofern sie alle Objektivationen der Kunst des Bürgertums in gleichem Maße trifft. Es fragt sich nun, wie dieses Modell zur Interpretation von Einzelwerken steht. Es wäre natürlich ganz unsinnig zu behaupten, daß damit alle Einzelwerke der bürgerlichen Kultur erfaßt oder gar als »affirmativ« verurteilt wären. Daß solche kulturstürmerischen Schlüsse, die Marcuse selbst durchaus fernliegen,[12] aus seinem Aufsatz gezogen werden können, ist zweifellos ein Mangel der Analyse. Deren Bedeutung ist gerade darin zu suchen, daß sie ein Modell dialektischer Interpretation bereitstellt, ohne daß damit die Interpretation der Einzelwerke bereits festgelegt wäre. Wollte man den Status des Marcuseschen Modells genauer bestimmen, so könnte man es in Anlehnung an die Ausführungen von Habermas über die Metapsychologie Freuds als allgemeine Interpretation begreifen.[13] Wie das Strukturmodell der Metapsychologie, das mit den Begriffen Es, Ich, Über-Ich und den aus der Familienstruktur gewonnenen Rollenmustern ein Erzählschema bereitstellt, das zur Rekonstruktion individueller Lebensgeschichten dient, so erlaubt das Marcusesche Modell, die Werke der bürgerlichen Kultur zu interpretieren als Gebilde, in denen ideeller Anspruch und reale Funktion tendenziell auseinandertreten. Marcuse konstatiert die praktische Folgenlosigkeit der Kunst im Hinblick auf die von ihr intendierten Ziele, und er macht den Zusammenhang deutlich, der zwischen dieser Folgenlosigkeit und dem autonomen Status der Kunst in der bürgerlichen Gesellschaft besteht. Damit ist ein Rahmen abgesteckt, innerhalb dessen die Einzelinterpretation fragen kann, in welcher Weise ein Werk den sich historisch innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft erheblich wandelnden Freiheitsspielraum (Autonomie) nutzt und inwieweit es die praktische Folgenlosigkeit zu überwinden trachtet.

Über die bisher aus der Marxschen Religionskritik gewonnenen Begriffe zur Konstitution eines Modells kritischer Literaturwissenschaft hinaus läßt sich aus dem Ansatz Marcuses ein weiterer wesentlicher Begriff gewinnen, der der Institution Kunst (bzw. Kultur). Bei Marcuse ist das, was wir Funktion genannt haben (jene Einheit von kritischer Intention und affirmativer Wirkung) nicht mehr nur von zwei Faktoren abhängig (der realen Lage der Träger des ideellen Gehalts und von diesem selbst), sondern noch von einem dritten, nämlich dem Status, den die Kunst als von der Lebenspraxis abgehobene in der bürgerlichen Gesellschaft einnimmt. Dieser Status (die Institution Kunst) stellt die Rahmenbedingungen dar, innerhalb derer die Einzelwerke produziert und rezipiert werden. Bei unserem ersten Versuch, ein Modell der Erfassung literarischer Werke aus der Marxschen Religionskritik zu gewinnen, konnte der wichtige Begriff der Institution deshalb verloren gehen, weil wir »Religion« mit »ideeller Gehalt« übersetzt haben, ohne das institutionelle Moment zu berücksichtigen, das im Begriff Religion gesetzt ist.

Marcuses Modell hält die wichtige theoretische Einsicht fest, daß die Aufnahme eines einzelnen Kunstwerks immer unter schon vorgegebenen quasi institutionellen Rahmenbedingungen stattfindet, die die reale Wirkung entscheidend bestimmen. Man kann sogar sagen, daß in dem Modell die Institution Kunst (Autonomie) die Schlüsselstellung einnimmt und die reale gesellschaftliche Funktion des Werks determiniert. Daß die Institution Kunst als eine gesellschaftliche zu denken ist, daran kann kein Zweifel bestehen; aber es fragt sich, in welcher Weise sie dem Forscher zugänglich ist. Das Problem wird klar, wenn man die Institution Kunst der Institution Recht gegenüberstellt; letztere ist uns gegeben als geschriebenes Recht, d. h. als Corpus von Texten, die unmittelbar das Funktionieren der Institution regeln. Für die Institution Kunst gibt es nichts Vergleichbares; sie ist nicht in Statuten festgelegt. Zensurbestimmungen mögen für die Erforschung des Wirkungsspielraums literarischer Erzeugnisse einer Epoche aufschlußreich sein; in keinem Fall erlauben sie, den Status der Kunst in der Gesellschaft zu bestimmen. Dieser ist uns faßbar vor allem in der Reflexion von Autoren und Kritikern. Über den Status von Kunst zur Zeit der klassisch-romantischen Periode informieren Kants Kritik der Urteilskraft und Schillers Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen. (Zu Recht nehmen neuere soziologische Arbeiten zum Problem der Autonomie auf diese Schriften Bezug.) Wenn aber der Status der Kunst zu einer bestimmten historischen Periode uns vornehmlich in den Reflexionen von Autoren und Kritikern faßbar ist, dann treffen wir mit der Erfassung dieses Status nicht auf ein gesellschaftliches Faktum, sondern auf etwas, das selbst wieder der gesellschaftlichen Erklärung bedarf. Mit andern Worten, das Problem der Determination des Kunstwerks durch die Gesellschaft tritt uns auf dieser Ebene erneut entgegen. Handelt es sich also um eine bloße Verschiebung des Problems von einer Ebene auf eine andere? In gewissem Sinne verhält es sich so; aber es wäre falsch, daraus den Schluß zu ziehen, man hätte sich die Überlegungen ebensogut sparen können, da am Ende das Problem doch wieder zum Vorschein komme. Eine solche Auffassung verfehlt das Wesentliche an jeder Theoriebildung: Deren Aufgabe ist es nicht, Probleme auf die Weise zu lösen, daß sie sie zum Verschwinden bringt, sondern begriffliche Artikulationen durchzuführen, die es erlauben, bestimmte Fragen erst einmal präzise zu stellen.[14]

Führen wir uns das durch den Marcuseschen Ansatz erweiterte Modell noch einmal vor Augen: Auffällig ist, daß in dem Modell Gesellschaft nicht an einer Stelle, sondern an mehreren Stellen vorkommt. Daß in das Werk selbst und mithin in die Werkintention Gesellschaft wie immer transformiert und durch vorgegebenes künstlerisches Material gefiltert eingeht, sollte nicht kontrovers sein. Man könnte sagen, in das Werk geht Gesellschaft als »Konstrukt« ein. Die Institution Kunst ist in der bürgerlichen Gesellschaft nur in Opposition zur Lebenspraxis zu bestimmen. So unzureichend die Opposition bzw. Parallelisierung von Kunst und Gesellschaft als Modell der Erklärung von Einzelwerken ist, so kommt ihr doch ein Wahrheitsmoment zu zur Bestimmung der Institution Kunst, die von den klassischen Theoretikern als etwas von gesellschaftlicher Lebenspraxis Abgehobenes bestimmt wird. Gesellschaft erscheint hier als Alltäglichkeit, als Zwang der Verhältnisse, denen jeder einzelne in seiner Lebenspraxis unterworfen ist. Die mit der Institution Kunst gesetzte Dichotomie Kunst versus Gesellschaft (im Sinne von Lebenspraxis) ist jedoch nichts Primäres, sondern determiniert von der Gesamtgesellschaft (der widersprüchlichen Einheit von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen), die darüber hinaus die soziale Lage der primären Träger des Werks oder der Werkgruppe bestimmt. Mit dem Begriff der Institution Kunst wird eine Ebene der Vermittlung bezeichnet zwischen der Funktion des Einzelwerks und der Gesellschaft. Diese Vermittlungsebene ist als geschichtliche Variable zu denken, deren Veränderungen aber viel langsamer vor sich gehen als die Abfolge der einzelnen Werke.

Wenn Gesellschaft in dem Modell an verschiedenen Stellen in unterschiedlicher Bedeutung vorkommt (als Konstrukt im Werk, als Opposition Kunst versus Lebenspraxis bei der Bestimmung der Institution Kunst, als gesamtgesellschaftliche Gegebenheit in der sozialen Lage der primären Träger und in der Determination der Institution Kunst), so wird damit die starre Gegenüberstellung Kunst versus Gesellschaft, in der erstere als etwas Außergesellschaftliches hypostatiert wird, aufgehoben und, wie immer noch unzulänglich, der Einsicht Rechnung getragen, daß das Kunstwerk nicht außerhalb der gesellschaftlichen Totalität steht, sondern ein Teil derselben ist.

Das Modell ist ein hermeneutisches aufgrund der zentralen Stellung, die der dialektisch gefaßte Funktionsbegriff darin einnimmt. Die Entscheidung darüber, ob ein Werk, mit den Begriffen Marcuses gesprochen, eine kritische oder eine affirmative Funktion hat oder welches Moment (zu einem gegebenen Zeitpunkt) dominiert, ist auch vom Standpunkt des Interpreten innerhalb der gesellschaftlichen Auseinandersetzungen seiner eigenen Zeit abhängig. Wäre sie allein von diesem abhängig, so erübrigte sich jede literaturwissenschaftliche Diskussion; dezisionistisch träten die divergierenden Interpretationen, festgemacht am politischen Standort des Interpreten, einander gegenüber. Daß wir divergierende Interpretationen diskutieren können, besagt zwar nicht, daß sich über Interpretationen entscheiden ließe (im Sinne von »richtig« oder »falsch«), wohl aber daß es möglich ist, Plausibilitätsgründe für diese oder jene Interpretation anzuführen. In dem skizzierten Modell sind sowohl auf der Seite »soziale Lage der primären Träger« wie auf der Seite »Werkintention« Daten auszumachen, die zwar nicht nomologischen Charakter haben, weil sie nur in interpretatorischen Zusammenhängen gewonnen werden können, die aber doch einen relativ hohen Grad an Nachprüfbarkeit haben. Die vom Interpreten vorgenommene Funktionsbestimmung des Werks ist in dem Maße überzeugend, wie er die sozialen »Daten« und die »Werkdaten« kohärent zu verknüpfen vermag. Hier liegt die eigentlich hermeneutische Aufgabe. Das skizzierte Modell verfolgt unter anderem das Ziel, innerhalb einer hermeneutisch verstandenen Literaturwissenschaft die Möglichkeit rationaler Diskussion verschiedener Interpretationen dadurch zu erhöhen, daß quasi nomologische Untersuchungsresultate in die Erörterung einbezogen werden. Dem beliebigen, durch keine theoretische Reflexion abgesicherten Heruminterpretieren wäre damit allerdings die Legitimation entzogen.

Selbstverständlich weiß auch ich, daß die Durchsetzbarkeit einer Methode keine Frage der besseren Argumente ist (daß Erich Köhler so wenige Schüler gefunden hat, die den marxistischen Ansatz aufgenommen haben, liegt sicher nicht an den Mängeln seiner Methode); dennoch müssen wir von der kontrafaktischen Annahme ausgehen, daß sich stets die besseren Argumente durchsetzen, weil wir sonst die wissenschaftliche Diskussion überhaupt aufgeben müßten.

I. Theorie der Avantgarde
und kritische Literaturwissenschaft

1. Die Historizität ästhetischer Kategorien

Geschichte ist der ästhetischen Theorie inhärent. Ihre Kategorien sind radikal geschichtlich.

Th. W. Adorno[1]

Daß ästhetische Theorien, mögen sie noch so sehr auf übergeschichtlich gültige Erkenntnis ihres Gegenstandes ausgehen, doch selbst deutlich durch die Epoche geprägt sind, der sie sich verdanken, ist eine Einsicht, die sich post festum meist relativ leicht gewinnen läßt. Wenn ästhethische Theorien geschichtlich sind, dann muß eine kritische Theorie des Gegenstandbereichs Kunst, die sich um Aufhellung ihres eigenen Tuns bemüht, ihre eigene Geschichtlichkeit durchschauen. Anders ausgedrückt: Es gilt, die ästhetische Theorie zu historisieren.

Vorab wird man zu klären haben, was es bedeuten kann, eine Theorie zu historisieren. Nicht bedeuten kann es, die historistische Betrachtungsweise, die alle Erscheinungen einer Epoche nur aus dieser versteht und die einzelnen Epochen dann in eine ideelle Gleichzeitigkeit setzt (Rankes »gleich unmittelbar zu Gott«), auf die ästhetische Theoriebildung in der Gegenwart zu übertragen. Der falsche Objektivismus historistischer Betrachtungsweise ist zu Recht kritisiert worden; ihn auf der Ebene der Erörterung von Theorien neu beleben zu wollen, wäre ein Unding.[2] Ebensowenig kann es bedeuten, alle vergangenen Theoriebildungen nur als Stufen zur eigenen Theorie zu begreifen. Vergangene Theoriestücke werden dabei aus ihrem ursprünglichen Kontext herausgelöst und einem neuen eingefügt, ohne daß der dadurch sich ergebende Funktions- und Bedeutungswandel des Theoriestücks adäquat reflektiert würde. Die für aufsteigende Klassen charakteristische Konstruktion der Geschichte als Vorgeschichte der Gegenwart ist unbeschadet ihrer Fortschrittlichkeit insofern im Hegelschen Wortsinne einseitig, als sie nur eine Seite des geschichtlichen Prozesses erfaßt, dessen andere in falschem Objektivismus der Historismus festhält. Unter Historisierung der Theorie soll hier etwas anderes verstanden werden: die Einsicht in den Zusammenhang zwischen der Entfaltung des Gegenstandes und der Kategorien einer Wissenschaft. So verstanden gründet die Geschichtlichkeit einer Theorie nicht darin, daß sie Ausdruck eines Zeitgeists ist (dies die historistische Ansicht), noch darin, daß sie vergangene Theoriestücke sich einverleibt (Geschichte als Vorgeschichte der Gegenwart), sondern darin, daß die Entfaltung des Gegenstandes und die der Kategorien in einem Zusammenhang stehen. Diesen Zusammenhang erfassen heißt, eine Theorie historisieren.

Dagegen ließe sich einwenden, ein solches Unterfangen müsse notwendig für sich selbst einen außergeschichtlichen Standort beanspruchen, die Historisierung sei also zugleich notwendig eine Enthistorisierung; anders ausgedrückt: Die Feststellung der Geschichtlichkeit der Sprache einer Wissenschaft setze eine Meta-Ebene voraus, von der aus diese Feststellung getroffen werden könne, und diese Meta-Ebene sei notwendig eine transhistorische (womit sich dann die Aufgabe der Historisierung der Meta-Ebene ergäbe usw.). Nicht im Sinne einer Trennung verschiedener Ebenen der Wissenschaftssprache ist hier der Begriff Historisierung eingeführt worden, sondern im Sinne von Reflexion, die im Medium der einen Sprache die Geschichtlichkeit ihrer eigenen Rede erfaßt.

Das hier Gemeinte läßt sich am besten an einigen grundlegenden methodologischen Einsichten erläutern, die Marx in der Einleitung der Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie formuliert hat. Am Beispiel der Arbeit zeigt Marx, »wie selbst die abstraktesten Kategorien, trotz ihrer Gültigkeit – eben wegen ihrer Abstraktion – für alle Epochen, doch in der Bestimmtheit dieser Abstraktion selbst ebensosehr das Produkt historischer Verhältnisse sind und ihre Vollgültigkeit nur für und innerhalb dieser Verhältnisse besitzen«.[3] Der Gedanke ist schwer zu fassen, weil Marx einerseits behauptet, daß bestimmte einfache Kategorien immer schon gelten, andererseits, daß ihre Allgemeinheit sich bestimmten historischen Verhältnissen verdankt. Der entscheidende Unterschied ist hier der zwischen »Gültigkeit für alle Epochen« und der Erkenntnis dieser Allgemeingültigkeit (in den Termini von Marx: »der Bestimmtheit dieser Abstraktion«). Die These von Marx lautet nun, daß erst die historisch entfalteten Verhältnisse diese Erkenntnis ermöglichen. Im Monetarsystem, so führt er aus, wird Reichtum noch als Geld gefaßt, d. h. der Zusammenhang zwischen Arbeit und Reichtum bleibt undurchschaut. Erst in der Theorie der Physiokraten wird Arbeit als Quelle des Reichtums erkannt, allerdings nicht die Arbeit überhaupt, sondern eine bestimmte Art der Arbeit, der Ackerbau. In der klassischen englischen Nationalökonomie, bei Adam Smith, wird dann nicht mehr eine bestimmte Art der Arbeit, sondern die Arbeit allgemein als Quelle des Reichtums erkannt. Diese Entwicklung ist nun für Marx nicht bloß eine solche der ökonomischen Theorie; die Möglichkeit des Erkenntnisfortschritts scheint ihm vielmehr bedingt durch die Entfaltung der Sache, auf die sich die Erkenntnis richtet. Als die Physiokraten ihre Theorie entwickelten (in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in Frankreich), war dort die Agrikultur in der Tat noch der ökonomisch dominierende Sektor, von dem alle anderen Sektoren abhingen. Erst das wirtschaftlich sehr viel weiter entwickelte England, in dem bereits die industrielle Revolution eingesetzt hat und damit die Vorherrschaft der Agrikultur über alle anderen Sektoren gesellschaftlicher Produktion tendenziell gebrochen ist, ermöglicht die Smithsche Erkenntnis, daß nicht eine bestimmte Art der Arbeit, sondern Arbeit schlechthin reichtumschaffend ist. »Die Gleichgültigkeit gegen eine bestimmte Art der Arbeit setzt eine sehr entwickelte Totalität wirklicher Arbeitsarten voraus, von denen keine mehr die alles beherrschende ist« (Grundrisse, S. 25).

Meine These lautet nun, daß der von Marx am Beispiel der Kategorie Arbeit aufgezeigte Zusammenhang zwischen der Erkenntnis der Allgemeingültigkeit einer Kategorie und der geschichtlichen realen Entfaltung des Bereichs, auf den diese Kategorie zielt, auch für künstlerische Objektivationen gilt. Auch hier ist die Ausdifferenzierung des Gegenstandsbereichs die Bedingung der Möglichkeit einer adäquaten Gegenstandserkenntnis. Die volle Ausdifferenzierung des Phänomens Kunst ist aber in der bürgerlichen Gesellschaft erst mit dem Ästhetizismus erreicht, auf den die historischen Avantgardebewegungen antworten.[4]

Die These sei an der zentralen Kategorie Kunstmittel (Verfahren) verdeutlicht. Mit ihrer Hilfe läßt sich der künstlerische Schaffensprozeß rekonstruieren als ein Prozeß rationaler Wahl zwischen verschiedenen Verfahrensweisen, wobei die Wahl im Hinblick auf eine zu erreichende Wirkung getroffen wird. Eine solche Rekonstruktion der künstlerischen Produktion setzt nicht nur einen relativ hohen Grad der Rationalität in der künstlerischen Produktion voraus, sondern auch, daß die Kunstmittel frei verfügbar, d. h. nicht mehr in ein System stilistischer Normen eingebunden sind, in dem sich, wenngleich vermittelt, gesellschaftliche Normen niederschlagen. Selbstverständlich sind in der Komödie Molières genauso Kunstmittel verwendet wie etwa bei Beckett; daß sie aber als Kunstmittel zur Zeit Molières noch nicht erkannt werden, kann ein Blick auf die Kritik Boileaus zeigen. Ästhetische Kritik ist hier noch direkt Kritik an den von der herrschenden Gesellschaftsschicht nicht akzeptierten Stilmitteln des Grob-Komischen. In der feudalabsolutistischen Gesellschaft des französischen 17. Jahrhunderts ist die Kunst noch weitgehend in den Lebensvollzug der herrschenden Oberschicht integriert. Auch wenn die im 18. Jahrhundert sich entwickelnde bürgerliche Ästhetik sich von den stilistischen Normen befreit, die die Kunst des Feudalabsolutismus mit der herrschenden Schicht dieser Gesellschaft verknüpft hatten, so bleibt doch die Kunst weiterhin am Prinzip der imitatio naturae ausgerichtet. Die Stilmittel haben daher noch nicht die Allgemeinheit eines allein an der Wirkung auf den Rezipienten festgemachten Kunstmittels, sondern sind einem (geschichtlich sich wandelnden) Stilprinzip untergeordnet.

Zweifellos ist Kunstmittel die allgemeinste Kategorie überhaupt, die zur Beschreibung von Kunstwerken zur Verfügung steht. Aber als Kunstmittel erkannt werden können die einzelnen Verfahrensweisen erst seit den historischen Avantgardebewegungen. Denn erst in den historischen Avantgardebewegungen wird die Gesamtheit künstlerischer Mittel als Mittel verfügbar. Bis zu dieser Epoche der Kunstentwicklung war die Verwendung der Kunstmittel eingeschränkt durch den epochalen Stil, einen vorgegebenen, nur in gewissen Grenzen überschreitbaren Kanon zugelassener Verfahrensweisen. Solange aber ein Stil herrscht, ist die Kategorie Kunstmittel als allgemeine nicht durchschaubar, weil sie realiter nur als besondere vorkommt. Ein charakteristisches Merkmal der historischen Avantgardebewegungen besteht nun gerade darin, daß sie keinen Stil entwickelt haben; es gibt keinen dadaistischen, keinen surrealistischen Stil. Diese Bewegungen haben vielmehr die Möglichkeit eines epochalen Stils liquidiert, indem sie die Verfügbarkeit über die Kunstmittel vergangener Epochen zum Prinzip erhoben haben. Erst die universale Verfügbarkeit macht die Kategorie des Kunstmittels zu einer allgemeinen.

Wenn die russischen Formalisten die »Verfremdung« als das Verfahren der Kunst ansehen,[5] so ist die Erkenntnis der Allgemeinheit dieser Kategorie dadurch ermöglicht, daß in den historischen Avantgardebewegungen der Schock des Rezipienten zum obersten Prinzip künstlerischer Intention wird. Indem damit die Verfremdung tatsächlich zum beherrschenden künstlerischen Verfahren wird, kann sie auch als allgemeine Kategorie erkannt werden. Das bedeutet keineswegs, daß die russischen Formalisten die Verfremdung vornehmlich an avantgardistischer Kunst aufgezeigt hätten (im Gegenteil: der Don Quijote und Tristram Shandy sind bevorzugte Demonstrationsobjekte Šklovskijs); behauptet wird nur ein, allerdings notwendiger, Zusammenhang zwischen dem Prinzip des Schocks in der avantgardistischen Kunst und der Einsicht in die Allgemeingültigkeit der Kategorie Verfremdung. Als notwendig kann dieser Zusammenhang deshalb gesetzt werden, weil erst die volle Entfaltung der Sache (hier: die Radikalisierung der Verfremdung im Schock) die Allgemeingültigkeit der Kategorie erkennbar macht. Damit wird keineswegs der Akt der Erkenntnis in die Wirklichkeit selbst verlegt und das erkenntnisproduzierende Subjekt negiert; es wird nur anerkannt, daß die Möglichkeiten von Erkenntnis durch die reale (geschichtliche) Entfaltung des Gegenstandes beschränkt sind.[6]

Meine These, daß erst die Avantgarde bestimmte allgemeine Kategorien des Kunstwerkes in ihrer Allgemeinheit erkennbar macht, daß mithin von der Avantgarde aus die voraufgegangenen Stadien der Entwicklung des Phänomens Kunst in der bürgerlichen Gesellschaft begriffen werden können, nicht aber umgekehrt die Avantgarde von den früheren Stadien der Kunst her – diese These besagt nicht, daß alle[7]