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Hirschfeld-Lectures

Herausgegeben von der
Bundesstiftung Magnus Hirschfeld

Band 4

Jeffrey Weeks

Sexuelle Gleichberechtigung

Gender, Sexualität und
homosexuelle Emanzipation in Europa

Aus dem Englischen übersetzt
von Karin Wördemann

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Inhalt

Geleitwort

Einleitung

Der Mythos wissenschaftlicher Objektivität

Alternatives Wissen

Werte und sexuelle Menschenrechte

Sexuelle Gleichberechtigung heute

Schluss

Anmerkungen

Geleitwort
der Reihenherausgeberin

Im Rahmen des ersten Wissenschaftskongresses unserer Stiftung »Gleich-Geschlechtliche Erfahrungswelten« sprach Jeffrey Weeks am 29. November 2013 in Berlin zum Thema »Sexuelle Gleichberechtigung: Gender, Sexualität und homosexuelle Emanzipation in Europa«. Diese vierte Hirschfeld-Lecture war einer der Höhepunkte des dreitägigen interdisziplinären LSBTI*-Kongresses, welcher das Ziel hatte, die deutschsprachige Forschungslandschaft zu diesem Themenfeld in all ihren Facetten widerzuspiegeln, stärker zu vernetzen und Impulse für die weitere Forschung zu geben, indem er auf Desiderate hinweist. Über 250 Teilnehmende diskutierten in acht Symposien unter anderem zu historischen und kulturellen Aspekten von LSBTI* sowie zu Intersektionalität, Stigmatisierungserfahrungen und der Rolle von sozialen Bewegungen. Mit insgesamt 35 Vorträgen und vier Podiumsdiskussionen schuf der vom Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderte Kongress (FKZ: 01PF1301) neue Anregungen für die Forschungs- und Bildungsarbeit zu den Themen geschlechtliche und sexuelle Vielfalt. Die Beiträge erscheinen im Herbst 2014 im Dokumentationsband Forschung im Queerformat – Aktuelle Beiträge der LSBTI*-, Queer- und Geschlechterforschung und auf der Kongresshomepage (www.hirschfeld-kongress.de).

Magnus Hirschfeld setzte im Kampf für die Gleichberechtigung von Homosexuellen seine Hoffnungen vor allem auf die Wissenschaft. Jeffrey Weeks durchbricht diesen Ansatz und setzt ein stärkeres Gewicht auf die unmittelbaren Zusammenhänge zwischen Gleichberechtigung und Menschenrechten. Er zeigt weit gefächerte politische, religiöse und gesellschaftliche Begleitumstände auf und wagt einen Ausblick auf zukünftige Entwicklungen.

Jörg Litwinschuh

Geschäftsführender Vorstand der Bundesstiftung Magnus Hirschfeld

Einleitung

Was ist sexuelle Gleichberechtigung? Diese Schlüsselfrage der conditio humana hat Magnus Hirschfeld mit seinem berühmten Lebensmotto per scientiam ad justitiam (Durch Wissenschaft zur Gerechtigkeit) nicht nur aufgeworfen, sondern auch gleichzeitig zu beantworten gesucht. Die Wissenschaft, vor allem die von ihm mitbegründete Sexualwissenschaft, sollte den sexuellen Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit befreien. Sexuelle Gleichberechtigung – in einer nach wissenschaftlichen Prinzipien und Erkenntnissen lebenden Gesellschaft würde sie sich gemäß Hirschfelds Überzeugung gleichsam automatisch verwirklichen.

Wenn man so will, war diese Utopie des späten 19. Jahrhunderts das Produkt einer nachholenden, szientistischen Bewegung, welche die politische und gesellschaftliche Aufklärung des 18. Jahrhunderts zu vervollkommnen gedachte. Magnus Hirschfeld war darin ganz Kind seines wissenschaftsgläubigen Zeitalters. Aber er war als öffentlicher Intellektueller auch Machtmensch. Denn mit der Wissenschaft – als entscheidender sozialer Deutungselite – wies er nicht zuletzt sich selbst Autorität zu, die menschliche Sexualität zu entschlüsseln, zu befreien und die zukünftige Gesellschaft im Sinne der eigenen Erkenntnisse und Interessen zu prägen.

Es ist ein großes Glück, dass Jeffrey Weeks im folgenden Essay diese nach wie vor aktuelle Grundfrage menschlichen Zusammenlebens aufgreift. Von Hirschfeld, wir ahnen es, konnte sie nicht dauerhaft überzeugend geklärt werden. Vor dem Hintergrund unserer Gegenwart, in einer vor allem technisch globalisierten, aber wertemäßig nach wie vor zerklüfteten Welt, sind wir auf die Antwort eines der bedeutendsten Sexualhistoriker und Sexualsoziologen unserer Tage gespannt.

Jeffrey Weeks ist, auch wenn er den Vergleich vermutlich scheuen oder gar ablehnen würde, ein postmoderner Magnus Hirschfeld. Er ist nicht, daher sollte er diese freundschaftlich gemeinte Charakterisierung nur als sportlichen Ansporn zu weiterem Schaffen verstehen, die einzige Reinkarnation des Berliner Vorkämpfers für die sexuelle Selbstbestimmung des Menschen. Wie George Chauncey in den USA oder Martin Dannecker in Deutschland hat es Jeffrey Weeks stets verstanden, Wissenschaft und gesellschaftliches Engagement, die kritische Diskussion objektiv gewonnener Erkenntnisse und den Aktivismus des öffentlichen Intellektuellen miteinander zu verbinden. Und zwar ohne einer Seite dauerhaft den Vorrang zu gewähren und damit den berüchtigten »Verrat des Intellektuellen« zu begehen, vor dem Julien Benda im dichotomen Stil der späten 1920er Jahre warnte.

Jeffrey Weeks’ gesellschaftlicher Aktivismus wurde früh durch die Gay Liberation Front (GLF) geprägt, deren britischer Zweig sich 1970 an der London School of Economics and Political Science formierte. Seine erste Publikation, ein kurzer Artikel mit dem Titel »Ideas of Gay Liberation«, erschien 1972 in Gay News, Großbritanniens erster schwuler Zeitung. Was bis heute als roter Faden seines Wirkens ausgemacht werden kann, ist dabei dreierlei: Zunächst die Mitarbeit an der »sexuellen Revolution« seit den späten 1960er Jahren. Dann die kritische, selbstreflexive, intellektuelle Auseinandersetzung mit ihren politischen Praktiken. Und schließlich das wissenschaftliche Räsonnement über die Traditionslinien, die Grundlagen, die Methoden und die Ziele sexueller Liberalisierung im Allgemeinen und homosexueller Selbstbestimmung im Besonderen.

1977 erschien von ihm, gemeinsam mit Sheila Rowbotham, Socialism and the New Life: the Personal and Sexual Politics of Edward Carpenter and Havelock Ellis, wobei sich Weeks auf Havelock Ellis, einen britischen Weggefährten Magnus Hirschfelds konzentrierte. Im selben Jahr kam auch sein erstes eigenständiges Werk heraus Coming Out: Homosexual Politics in Britain, from the Nineteenth Century to the Present, das die historische Relativität der Sexualität betonte. Zahlreiche einflussreiche Studien folgten: Sex, Politics and Society (1981), das den historischen Bezugsrahmen noch weiter spannt, indem es die Entwicklung seit 1800 und die Verflechtung von Gender, Sexualität und Klassenzugehörigkeit verfolgt. Die zweite Auflage von 1989 integrierte die AIDS-Krise der 1980er in die historische longue durée; eine dritte, völlig überarbeitete Auflage erschien 2012. Zu seinen weiteren bekannten Büchern zählen Sexuality and its Discontents (1985), Against Nature (1991), Invented Moralities (1995), Making Sexual History (2000), Same Sex Intimacies (2001, mit Brian Heaphy und Catherine Donovan), The World We Have Won: The Remaking of Erotic and Intimate Life (2007), Sexuality (3. Auflage 2009) und The Languages of Sexuality (2011).

Jeffrey Weeks’ neomarxistische Position hat sich dabei im Laufe der Jahre abgemildert. Es war ein Wandlungsprozess, mit dem er speziell unter britischen Historikern nicht alleine dasteht. Versuche, (homo-)sexuelle Unterdrückung unmittelbar aus kapitalistischen oder patriarchalischen Gesellschaftsstrukturen abzuleiten, sieht er heute als Emeritus der London South Bank University kritisch. Wichtig ist sein Hinweis, Machtbeziehungen als vielfältig ineinander verschränkt und nur selten auf eindeutige Weise entschlüsselbar zu begreifen.

Jeffrey Weeks’ wunderbar pointierter Essay kann als Komplementärstück zu Dagmar Herzogs Paradoxien der sexuellen Liberalisierung (Hirschfeld-Lectures, Band 1) gelesen werden. Dort, wo Herzog die zahlreichen Gegenläufigkeiten der sexuellen Liberalisierung in den gesellschaftlichen Kämpfen des 20. Jahrhunderts herausstreicht, markiert Weeks die Zeitgebundenheit des Hirschfeld’schen Ansatzes Durch Wissenschaft zur Gerechtigkeit und verdeutlicht die Paradoxien und Abgründe im Versuch, die sexuelle Revolution zu verwissenschaftlichen, ja als Wissenschaftsbewegung durchzuführen.

Die Definition sexueller »Pathologien«, die Klassifizierung sexueller »Typen« mit einer verwirrenden Anzahl von Neologismen und Taxonomien durch die Sexualwissenschaft, darauf weist Jeffrey Weeks ausdrücklich hin, ermöglichte neue Freiheiten für diejenigen, die sich darin wiedererkannten. Die Sexualwissenschaft erschuf auch eine neue Sprache, sie erweiterte das Denkbare und das Sagbare, aber sie organisierte eben auch neue Raster, Muster und Schubladen, in die das sexuelle Individuum zu passen hatte. Wissenschaftlicher Fortschritt, dies erscheint mir als Weeks’ zentrales Anliegen, ist keineswegs immer deckungsgleich mit zunehmender sexueller Gleichberechtigung.

Der Ansatz der meisten Sexologen war (und ist) elitär, von oben nach unten, das Gegenteil von grassroots, einem der Lieblingsbegriffe von Jeffrey Weeks. Magnus Hirschfeld konzentrierte sich darauf, die politische Elite zu gewinnen und die bürgerlichen Gesetze zu ändern. Die Menschen, um deren sexuelle Gleichberechtigung es doch eigentlich ging, blieben in erster Linie Untersuchungsobjekte, Fälle in möglichst spektakulären Fallsammlungen.

grassrootsBelle ÉpoqueBerliner klinische Wochenschrift