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Uwe Kolbe

Vinetas Archive

Annäherungen an Gründe

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Ich danke meinem Freund Thomas Wild für die strikte Aufforderung, dieses Buch zu machen, sowie für genaue Durchsicht und Diskussion anfangs umfänglicherer, unsortierter Papiere.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN (Print) 978-3-8353-0882-4
ISBN (E-Book, pdf) 978-3-8353-2427-5
ISBN (E-Book, epub) 978-3-8353-2428-2

I

Tabu

Wie oft in meinem Leben war auch diesmal die Initiative nicht von mir ausgegangen.

Sie hatte bei dem damals sechzigjährigen Schriftsteller F. gelegen, der für manchen von uns Himmel und Hölle in Bewegung setzte, im vorliegenden Fall für mich. Zwar hatte ich schließlich selbst den Antrag gestellt, ein sogenanntes formloses Schreiben getippt und auf die Post getragen, doch wäre ich nicht auf die Idee gekommen, jedenfalls damals noch nicht. Nun saß ich hier auf einer alten, großen, düsteren Holzbank in der Eingangshalle des von außen ansehnlichen Gebäudes, links von mir zwei Bürotüren, geschlossen. Vorhin hatte ich an eine davon geklopft, war hineinspaziert, hatte meinen Namen gesagt und noch, ich wollte »meinen Paß abholen«. Einfach so, ohne vorher vor dem Spiegel den Satz geprobt zu haben, hatte ich gesagt, ich wollte »meinen Paß« abholen. Ich hatte tatsächlich »meinen« gesagt. Was für eine Ungeheuerlichkeit. Eine der beiden Frauen, in Kostüm und hellblauer Bluse, schnarrte mich darauf an, was ich denn wollte, hatte offenbar erst nicht zugehört, und fuhr fort, nachdem ich es noch einmal in etwas anderen Worten erklärt hatte, aha, nun, wie ich denn hieße, und gab mir nach Kramen in einem oder zwei Schubkästen in einem Blechschrank zwischen den beiden hohen Fenstern Bescheid, da sei kein Paß und noch, ich sollte dorthin gehen, wo ich den beantragt hätte, aha, ja, zur Hauptverwaltung Verlage und Buchhandel. Ich hatte darauf ohne zu überlegen geantwortet, daß ich dort nicht hingehen würde. Mir wäre mitgeteilt worden, der Paß sei hier und noch, ich wartete gern, bis man mir den Paß aushändigte oder mir bestimmt sagte, da sei keiner. Und anschließend hatte ich noch gefragt, ob sie das für mich herausbekommen könnte. Seitdem nun saß ich auf der düsteren, schweren Holzbank und lauschte auf das laute Pochen meines Herzens in der raunenden Stille der großen Eingangshalle des Ministeriums für Kultur der DDR am Molkenmarkt in Berlin.

Nach einer Dreiviertelstunde tat sich etwas. Eine der beiden Türen ging auf, eine der beiden Frauen trat aus der Tür heraus und rief in unbestimmte Richtung, der Paß sei »in der Ministerbesprechung«, was ich als positive Nachricht registrierte. Nach einer weiteren halben Stunde kam eine dritte Frau die den Raum beherrschende, breite Treppe herunter und fragte mich, was ich hier wollte. Ich erklärte geduldig alles noch einmal und toppte es zum Schluß mit dem Wissen, der Paß sei doch »in der Ministerbesprechung«, und also gäbe es den, und deshalb, sagte ich, wartete ich hier. Woher ich das wüßte, blaffte sie und, ich sollte warten, was so klang wie, da könnte ich lange warten. Nach zehn weiteren Minuten entstand Bewegung, Türen auf, Türen zu. Man rief meinen Namen. Man legte mir einen blauen Paß mit dem von mir bei Antragstellung eingesandten Paßfoto vor. Die Seite wurde aufgeschlagen, auf der ich zu unterschreiben hätte, und ich unterschrieb. Als ich das Gebäude verließ, war mir heiß und kalt und so, als hätte ich einen Sieg errungen. Ich schaute noch einmal in den Paß. Das Visum darin war gültig zur einmaligen Ausreise bis zum 20. April 1982 und war ausgestellt am 8. April. Soviel zu dem Thema, da wäre kein Paß gewesen, dachte ich laut in meinem Kopf. Von einer Telefonzelle aus rief ich F. an. Er fragte, ob es mir unangenehm väterlich vorkäme, wenn er mich nach Westberlin begleitete. Ich verneinte und wir verabredeten uns für eine halbe Stunde später, zwölf Uhr, an der Friedrichstraße, am Tränenpalast.

Wer in Berlin war vor dem Fall der Mauer, kannte den Begriff und zumeist auch den Ort. Wer erstmals nach dem Mauerfall in Berlin war, wird ebenso davon gehört, wird den Begriff erklärt bekommen haben, und man wird ihm den Ort gewiesen haben. Der Tränenpalast bildete mit dem daneben liegenden Bahnhof und dem Grenzübergang Friedrichstraße den Nabel Berlins, als es noch geteilt war. Das hieß, nicht für alle bildete er dies, für beileibe nicht alle. Genaugenommen war er nur eine Narbe, zeugend von bestimmten Vorgängen an einem merkwürdigen, nicht für alle gleichermaßen spürbaren, für viele vor allem unzugänglichen Organismus, der dem Organismus der geteilten Stadt eingeschrieben war, das hieß dem doch auch siamesischen Doppel-Organismus der beiden Städte, die schließlich in einer bestimmten, gewöhnlichen und verbreiteten Wahrnehmung ihrer Bewohner beiderseits der Mauer vollkommen voneinander getrennt erschienen und es auch waren. Der Tränenpalast war ein verborgen sich öffnendes Blümchen der Narbe, die ansonsten bekanntlich grauweiß und grob die andauernde Vivisektion des Stadtorganismus markierte. Man konnte sowohl in West- wie in Ostberlin leben, ohne mehr als den Begriff Tränenpalast zu kennen. Vermutlich kannten insbesondere viele Einwohner Westberlins das schöne Wort gar nicht. Die meisten Gründe, in Westberlin zu wohnen, hatten bekanntlich nichts mit dem umliegenden Gebiet zu tun. Architektonisch war der Tränenpalast ein erstaunlich gelungenes Werk, dessen Funktion man ihm nicht ansah. Das Gebäude hielt sich partout nicht an das Funktionalitätsgebot der damals vielfach pervertierten, aber theoretisch noch hochgehaltenen Bauhaustradition, auch wenn sein Entwurf 1962 auf der Höhe der Zeit war. Getauft hat es Volksmund. Und wie stets, wo Volksmund sprach, tat er es präzise. Hier nämlich weinten wir, wenn wir die Westverwandten wieder zurück brachten, die bis Mitternacht zurück in ihren Stadtteil mußten. Genauer gesagt nicht wir, schon deshalb nicht wir, weil unsere Verwandten meistens über die Böse Brücke, über den Grenzübergang Bornholmer Straße ein- und ausreisten, aber auch deshalb nicht wir, weil das Kind, das ich war, eher gar nicht weinte. Meine Mutter tat es. Allerdings hat sie das Weinen später ersetzt durch Kommentare, durch Meckern über die Umstände oder die zu kurze Zeit, die man zusammen sein durfte oder noch später durch Meckern über die Art und Weise des Besuchs, über die üblichen Geschenke, die entweder zu billig oder zu wenig oder beides oder überhaupt weder vom Gefühl noch von der Qualität her etwas wert waren. Die Rede ist von Kaffee, Schokolade usw. Für mich ging es, wenn es gut ging, um Matchbox-Autos. Vor dem Tränenpalast weinten aber genug Leute.

F. und ich trafen uns am Eingang wie verabredet. Von meinen vierundzwanzig Lebensjahren stand die Mauer und galt das mit ihr verbundene Grenzreglement bereits über zwanzig, nun konnte ich das erste Mal im Bewußtsein der Angelegenheit die Grenze queren. Dafür war ich innerhalb des Üblichen jung und stand obendrein in keinerlei Dienstverhältnis. Für den Augenblick war das verrückt und ein Wunder.

Wir gingen die breite Treppe hinab auf die Pappe-, die Sprelacart-, die trabantfarbnen Einbauten mit den Kontrollstellen zu und hielten uns links Richtung Durchgang für »Diplomaten und Dienstreisende«, wo niemand anstand. Nach der herrschenden Nomenklatur waren wir doch Dienstreisende. Nach kaum einer halben Minute befanden wir uns in dem dahinter liegenden Bereich des Gängegewirrs des Bahnhofs. Es war nicht sehr hell dort. Die Schwäche des Lichts verstärkte den Eindruck eines Labyrinths. Bunte Menschen stiegen Treppen herunter oder liefen Treppen hinauf oder warteten. Ein DDR-Grenzoffizier stand an einem Pfeiler wie beobachtend, vor allem wohl, um mit seinem Dienstgesicht zu demonstrieren, daß man hier drinnen das Hoheitsgebiet der DDR noch lange nicht verlassen hatte.

An F.s Seite erklomm ich Treppen um Treppen, bis wir auf einem belebten S-Bahnsteig auftauchten. Meine Beine waren wie taub. Meine Ohren waren wie taub. Meine Haut war nicht da. Ich stand, aber nicht auf meinen Füßen. Die Knie hielten sich als eine Vermutung zwischen mir und dem Boden. In meinem Brustkorb verursachte ein Hammer Krach. Die Augen schlugen gegen die Wände ihrer Höhlen rechts, links, oben, unten. Mir war warm, war mir kalt? Mir war nicht, mir war nach nichts, ich war nicht anwesend. Ich stand wohl dort, F. neben mir. Ich sah ihn nicht, wir sprachen nicht, ich nahm nur seine Nähe wahr. Mußte mich ja an ihn halten, woran sonst? Die Leute auf dem Bahnsteig redeten wohl was. Ausländer sprachen wohl ihre Sprachen. Ein Kiosk war markiert als ›Intershop‹, da kauften wohl welche was. Von Händen hingen Plastiktüten herab, die ich damals noch Plastetüten nannte. Von Rentnerinnenhänden hingen Beutel herab, die ich auch heute noch Beutel nannte. Die Rentnerinnen standen in kleinen, grauen Gruppen und schwiegen. In meinem Rücken mußte sich die Stahlwand befinden, die den ostberliner S-Bahnsteig abtrennte. Auf dem hatte ich schon oft gestanden. Nun aber schwappte um mich herum West-Lärm. Ich fragte mich, warum ich diesen Lärm nicht in den Jahren zuvor immer dann gehört hatte, wenn ich auf dem Sack-S-Bahnhof Friedrichstraße auf der anderen, der Ost-Seite auf die Ost-S-Bahn gewartet hatte, die nur Richtung Osten fuhr. Jetzt stand ich ein paar Meter versetzt auf dem West-S-Bahnhof und wartete auf die West-S-Bahn, die nur nach Westen fuhr. Mir gegenüber lag der Fernbahnsteig mit dem weißen Streifen, dessen Funktion ich von Berichten früherer Reisender kannte. Solange die aus dem Osten zur Weiterfahrt Richtung Westberlin eingefahrenen D-Züge kontrolliert, von Grenzern und ihren Hunden innen und außen beschnüffelt wurden, untersucht wurde, ob nicht ein Ostler auf diesem Wege in den Westen gelangen wollte, solange mußten sich alle Reisenden jenseits der weißen Linie auf dem Bahnsteig aufhalten. Ich sah auf einem Gang oben im West-Giebel des Bahnhofs im Gegenlicht die Silhouette eines SS-Mannes, die einem DDR-Grenzer gehörte. Seine Funktion wäre es gewesen, den unerlaubten Schritt eines Reisenden über die weiße Linie durch Schnauzen zu ahnden. Was er sonst noch so drauf gehabt hätte, signalisierte die große Pistolentasche an seiner Seite.

Während ich dies schrieb, wurde mir nicht klar, wie ich all diese Dinge hatte sehen und aufnehmen können. Die Vermutung lag nahe, ich hätte Aberdutzende späterer Grenzübergänge auf diesen ersten projiziert, alle Eindrücke, alle Realitäts-Bedrängnisse ihm zitathaft aufgedrückt. Doch das stimmte nicht. Hier schrieb ich und konnte nicht anders, als zu gestehen, daß mehr Aufmerksamkeit nie mein Fach war als an diesem Tag. Dabei müssen meine Augen dunkel gewesen sein, voller wirbelnder Schatten. Dabei muß mein Tastsinn statt eines Übergangs zwischen Außen und Innen eine rostige, funktionslose Schranke gewesen sein. Dabei habe ich an diesem Tag kaum geatmet, jedenfalls noch nicht zu diesem Zeitpunkt. Obwohl mir die Brust bebte, auf und nieder ging, die Muffe sauste, der Schweiß troff, ich bestimmt nicht gut roch und in einem Inferno stand. Jetzt, dachte es mitten in dem Inferno, das nur meines zu sein schien, mich unsichtbar umgab, mich zum isolierten Darsteller in mir selbst hatte, seitdem wir den scheinbar festen Boden dieses Bahnhofs betreten hatten, jetzt kommen sie und holen dich. Jetzt, jetzt kommen sie und holen dich. Ich sah sie die Treppe hochkommen, ihre Uniformen, ihre Überzahl, ich sah ihre Hände nach mir greifen. Nichts geschah.

Oben schrieb ich das Wort Realität und, es hätten Bedrängnisse vorgelegen. So war es aber im Augenblick ganz und gar nicht. Der andere infernalisch in mir rasende und nicht schwindende Satz, der nicht Gedanke war, nur in mir gesagt oder mehr geschrieen wurde, er lautete: Es kann nicht sein. Das meinte nicht die Situation in dem Moment, mein wenige Meter hinter die Stahlwand verschobenes Sein, durch einen Paß verschoben, den der normale DDR-Bürger nicht einmal besaß, geschweige denn auf einer der vorderen Seiten den Stempel der Stempel: »Gültig für alle Staaten und Westberlin«, kombiniert mit dem Visum mit dem sprechenden Wort in Versalien: Ausreise. Denn das war das wesentliche Wort. Dieses Ding war gültig zur Ausreise, ob einmalig oder mehrmalig. Von Einreise oder gar Wiedereinreise stand da nichts. Heute würde ich sagen: Es war das Entlassungspapier aus dem Gefängnis. Damals wußte ich das nicht, hätte es weder so gesehen noch so gesagt, war noch nicht soweit, wie ich es kurze Zeit später schon ausdrücken würde, war nicht gemacht dafür, dort zu stehen, wenige Meter verschoben von dem üblichen Aufenthaltsort, sprich Standpunkt. Eine Verschiebung von ein paar und zehn Metern hatte mich aus der Realität geschubst. Während ich dies aufschrieb, jetzt, während ich zugleich lesend sah, wie diese Zeile ihren Fortgang nahm, zweifelte ich schon, ob Realität zu sagen korrekt war. Auch die Münze Wirklichkeit paßte nicht in den Schlitz des Einarmigen Banditen, der auf korrekten Sprachgebrauch mit scheppernder Gewinnausschüttung reagierte. Was lag hie, nach Überwindung der paar Meter, was dort, bevor ich in die augenblickliche Lage geraten war bzw. was lag da jetzt, in dem Nu, in dem ich diesseits stand? Was also meinte der Schrei: Es kann nicht sein?

Kein Wechsel der Begriffe hatte stattgefunden, und ich war, nebenbei bemerkt, noch nie schreibend und mitlesend derjenige, der die Frage auf diese Weise diskutieren würde. Nur hatte ich die Seite gewechselt, und auch heute sagte ich nur leise, was damals noch stumm im Unbewußten, sprich unlesbar stand: Ich war auf die andere Seite der Welt geraten. Nicht von Ost nach West. Nicht vom Kapitalismus in den Sozialismus. Arschwisch! Es war, nach meinem Körpergefühl, nach dieser Taubheit zu urteilen, vor allem nach der Verwandlung meines Gehirns in ein weißes Blatt oder ein schwarzes Loch, das nichts erinnerte, nur die Tinte des Augenblicks aufnahm, nur schluckte, weder die schmutzig stählern und gläsern überwölbte Bahnhofshalle, also was ich sah, hörte oder roch, noch die Grenze der einander »unversöhnlich gegenüberstehenden« Weltsysteme, sondern das und aberdas, was mit meiner Person vorging, mit meiner … Persönlichkeit. Alles, was ich bis eben war – die jähe Überbrückung dieser paar Meter hatte es außer Kraft gesetzt. Als wäre ich vorhin im Kulturministerium in Trance gewesen, stieß mir erst jetzt auf, was die Damen, nach Aushändigung meines Passes deutlich leutseliger, mir zum Abschied gewünscht hatten, nämlich eine gute Reise. Eine gute Reise von einigen Metern war das, später eine Reise von fünf S-Bahnstationen in Waggons, die innen und außen erschienen und rochen wie die in Ostberlin gewohnten.

Der dramatische Effekt war bis eben weder zu beschreiben noch zu erklären. Es gab nur ein großes Wort dafür: Tabu. Ein Tabu war außer Kraft gesetzt, von dessen Existenz ich bis dato keine Ahnung gehabt hatte. Kein gesellschaftliches, versteht sich. Ein Tabu in mir. Wie es da hin kam, fragte ich erst heute, wo ich es beim Namen nannte. Wie es einen jungen, sich kritisch gebärdenden, hungrigen bis wilden Geist so austricksen konnte, sich so gut tarnen und einnisten konnte …, ein Virus quasi, ein stilles, lauerndes – mit einem Begriff aus dem Jahre 2001 gesagt – Schläfer-Tabu, das am 20. April 1982 zwischen 12 und 24 Uhr seine Zeit hatte, aufwachte, den Brief aus seinem Versteck nahm, der die letzten einundzwanzig Jahre, seit dem 13. August 1961, da gelegen hatte, ihn öffnete, las und sofort vernichtete und nun die Informationen umsetzte in Tat, in den Moment seines Triumphes, der selbstverständlich sein Fall war. Am West-S-Bahngleis des Bahnhofs Friedrichstraße stehend, spürte ich etwas verschwinden, von dessen vieljähriger Existenz, also Koexistenz mit meinem sonstigen Wissen, Denken, Sehnen, anderen Tabus usw. ich keine Ahnung gehabt hatte.

Das Agar-agar, auf dem es hatte wachsen und mich durchdringen können, war das Schweigen in der Familie. Mir fehlte hier der Atem, jenes Schweigen zu beschreiben oder es gar präzise zu deuten. Zeugen des 20. Jahrhunderts wüßten mehr oder minder grob Bescheid, den Jüngeren wollte ich hier die Stichpunkte sagen: Das Schweigen in den meisten deutschen Familien kam vom miterlebten, mitgetragenen Aufstieg und Fall Nazi-Deutschlands her. Es war grundsätzlich ein Schweigen über Gräbern. Es war die Anwesenheit von Mördern und von Ermordeten als Großväter, Großmütter, Väter, Nachbarinnen und Nachbarn. Es war die Anwesenheit eines gigantischen Schweigens zum Beispiel in der Stadt Berlin, der notorischen Hauptstadt Preußens und Deutschlands, in meinem Fall in Ost-Berlin, wo eine dicke Schicht Schweigens dazugekommen war, als die sozialistischen Panzerparaden brüllten. Während die Kinder der Nazis in der Sowjetischen Besatzungszone zu Sozialisten oder Mitläufern des Systems wurden, damals, in Hoffnungen und Ängsten und mitten im Furchteinflößenden nach dem Krieg, da ging in ihnen eine Grube auf, in die stopften sie ihre Muttersprache und ihre Vorstellungen vom Vaterland, dann schnappten die Verschlüsse, verschwand die Grube, dann bekamen sie Kinder, uns, für die sie keine vollständige, mütterliche Sprache mehr hatten, kein väterliches Vaterland. Was sie uns wiesen, manchmal – sah ich von heute aus – fast aggressiv vorwiesen, war Schweigen. Sie taten es hinweisend wie auf Offensichtliches – sagte ich heute –, das wir kleinen Kretins, wir Bastarde allerdings nicht wahrnehmen konnten mit den Augen, mit denen sie uns ausgestattet hatten. Wenn ich nur schon sicher wäre, ob das Schweigen nicht überhaupt ihr bestes war.

Ich konnte nicht weiter. Ich wußte nicht besser. Ich schrieb: Du lächerliches Tabu, eines, dieses Tages hörbar geworden im lauten Aufprall auf dem alten, platten Schweigen. Daß die Mauer weiß war, wo sie die Enden der ostberliner Straßen abschnitt. Daß dahinter nur Fernseh- und Radioland war mit ›Lassie‹, ›Raumpatrouille‹ und Mick Jagger und Juliane Bartels und Udo Lindenberg (»Und ihr träumt von einem Rockfestival auf dem Alexanderplatz mit den Rolling Stones und ’ner Band aus Moskau«), daß dahinter nur Hippies sich auszogen für den Frieden und daß da natürlich der Imperialismus war, Armut, Krieg, Kriminalität. Vor der Mauer nun wir, zu Pappkameraden aufgestellt, auf daß es das ganze Leben galt und zwar alternativlos. Daß der Sozialismus in seiner Schäbigkeit die Konsequenz aus dem deutschen Desaster war. Mein Tabu hieß mit einem Namen Abfinden, sich abfinden, daß man sich abgefunden hatte. Mit anderem Namen aber hieß es etwa folgendermaßen: einsichtsvolles Engagement zur Veränderung der Gesellschaft. Hatten wir doch nicht nur bei Marx und Heiner Müller nachgeschlagen, sondern auch bei Plato, Morus und Campanella. Wir wußten, daß es die ›Schöne neue Welt‹ war, in der wir lebten und hielten es dennoch lange, sehr lange mit dem Ackergaul von der ›Farm der Tiere‹, der die jeweils veränderten Grundsätze einer vom Oberschwein regierten Gesellschaft kopfschüttelnd mit der Feststellung kommentierte, er müßte noch härter arbeiten.

Auf einmal stand ich, ach, auf der anderen Seite der Welt, jenseits von Richtig und Falsch. Was ich noch an dem Tag sehen sollte, in den zwölf Stunden, die aus meinem Leben ausgeschnitten worden waren, die ich in der Ausnahme lebte, das steht auf einem anderen Blatt. Der Stoß war erfolgt, ich fiel, ich flog, mir fiel auch jetzt kein Wort ein, die Bewegung aus der Ordnung korrekt wiederzugeben. F. konnte mich keinesfalls halten, er wollte es auch nicht. Noch bevor wir uns verabschiedeten an diesem Dienstagnachmittag, sagte er zu mir, zwar hätte er für mich gebürgt bei den DDR-Behörden, aber er verstünde, wenn ich im Westen bleiben wollte.

Ich verstand ihn nicht. Er hatte nicht in meiner Sprache gesprochen. Einer der Namen des Tabus war auch Hoffnung gewesen. Hoffnung eines jungen Affen, aus seinem Zoo würde der Garten Eden, wenn er, der Affe nur laut genug schrie und den Stäben seines Käfigs nur fleißig immer neue Namen gäbe. Etwas in der Art des Paradieses, etwas bescheidener vielleicht, Löwe und Lamm einträchtig nebeneinander vielleicht nicht, unschuldig vielleicht gar nichts, etwas bescheidener. Noch wirkte das Tabu, noch stand ich sprachlos.

Die S-Bahn fuhr ein. Wir stiegen ein. Die Bahn setzte sich in Bewegung. Sie fuhr in einem Bogen an der Rückseite der Charité entlang, wo meine Mutter mich einst geboren hatte.

Vinetas Archiv

Aus persönlichen Beständen

»Wenn ich mit Gleichmut zurück an meinen Kummer denke, find ich im Geiste Gleichmut, im Gedächtnis Kummer. Der Geist betrachtet seinen Gleichmut gleichmütig; doch das Gedächtnis seinen Kummer ohne Trauer.« »Nochmal«, sagte sie, »und nicht so schnell.«
Samuel Beckett, Ein feuchter Abend

Die Erinnerung ist eine tolerante Mutter. Nach antiker Vorstellung hat sie neun Mädchen zur Welt gebracht, ein jedes mit besonderer Gabe und Wesensart ausgestattet, Repräsentantinnen der Künste oder der Arten, Geschichte (also das, was geschehen ist), mit jeweils besonderen Mitteln aufzuheben. Das Toleranzgebot für die verschiedenen Aspekte des kollektiven Gedächtnisses dürfte auch heute gelten, sollte man meinen. Doch anderes ist der Fall. Unser Gedächtnis gleicht einer Arena, in der die Erinnerungen aufeinander losgelassen werden. Hier und da behauptet ein Jemand oder eine Körperschaft Deutungshoheit. Erinnerungen werden angezweifelt. Manchmal werden sie aus dem Kanon des Erlaubten ausgeschlossen, eine Zeitlang gemieden oder mundtot gemacht. Obwohl kollektives Erinnern dies auf Dauer nicht zuläßt. Eine Nation, eine Generation, eine Familie bekommt irgendwann einen Schluckauf oder stärkere Konvulsionen, wodurch Erinnerungen ausgeworfen werden und an die Oberfläche gelangen zu erneuter Anschauung, wenn nicht überhaupt das erste Mal.

DDR-Geschichte (und der Umgang mit ihr) bietet davon alles, neben- und übereinander. Sie wurde unmittelbar nach ihrem Ende museal eingeschreint. Zugleich ist sie der lebendigste Kampfplatz. Was hier vorliegt, ist weder das eine noch das andere. Was hier vorliegt, sind Bilder, die auftauchen, als wären sie neu. Sie sind nicht »aufgearbeitet«. Wir nehmen sie so, wie sie in Kisten und Kasten aufbewahrt wurden. Immer wieder einmal hat ein Licht, hat ein Moment davon produktive Kraft entfaltet. Nun geht der Blick erneut darüber hin, ein anderer Fokus stellt sich ein, neue Details gewinnen Gewicht.

Vineta ist jene Stadt, die der Sage nach in der Ostsee versank, weil ihre Bewohner sich für etwas Besseres hielten als den Rest der Welt. Vinetas Kirchenglocken klingen an bestimmten Tagen zu uns herauf. Aufmerksamen Reisenden erscheint die Stadt sogar über den Wassern. Ihre Tore stehen offen und laden zu einem Rundgang ein. In den vorliegenden, persönlichen Erinnerungen ist Vinetas Stadtplan erweitert, umfaßt er den Nordosten Berlins seit dem letzten Krieg oder ein Abrißhaus östlich des Leipziger Hauptbahnhofs, Vororte, Hinterhofbuden mit Kinderhoffnungen und den Spielen Erwachsener.

Der Held der sonst nicht verbundenen Episoden trägt einen Namen, den Samuel Beckett sich einmal von Dante borgte.

1

Der junge Belacqua hing am oberen Drittel einer Gaslaterne in Berlin-Prenzlauer Berg. Er versuchte, eine Auseinandersetzung zu belauschen, und klammerte sich dazu an den Laternenpfahl. Schräg über ihm drangen aus der offenen Balkontüre in der Beletage des Gründerzeithauses Stimmen. Ein Mann schnauzte laut und hart, eine larmoyante Frauenstimme füllte die Pausen, die er ließ, mit Sätzen wie: Das hast du dir alles selber zuzuschreiben. Dazwischen das Schluchzen von Nele. Sie war Belacquas erste Liebe, und er wußte, worum es dort oben ging. Sonst hätte er die Worte nicht deuten können, das Schluchzen nicht wahrgenommen. Aus sieben Minuten Verspätung der Siebzehnjährigen über die neunte Abendstunde hinaus wurde gerade eine Woche Stubenarrest. Sie hatten die fraglichen Minuten auf der schmalen Fußgängerbrücke verbracht, die kaum hundert Meter von hier über den Einschnitt der Stadtbahntrasse führte. Sie hatten in den Vollmond geschaut, dessen fahles Licht die Brandmauern der Mietskasernen scharf hatte hervortreten lassen, hatten einander festgehalten und wie so oft schon gegrübelt, wie sie dem Terror ihrer Eltern entkommen könnten. Einen Moment war ihr Schmerz dort oben größer geworden als das Leben.

2

Belacquas Familie war ein Scherbenhaufen wie der Monte Testaccio in Rom. Sein Leben sah er als den untauglichen Versuch, einmal Höhe zu gewinnen. Manche Scherben ließen sich lesen oder wenigstens deuten. So kann es stimmen, daß seine Mutter, bevor sie seine Mutter wurde, Novizin im Westberliner Diakonissenkrankenhaus war. Und sie arbeitete auch dort, als am 17. Juni 1953 die Verwundeten von den Demonstrationen im sowjetischen Sektor eingeliefert wurden. Belacquas Vater, der noch nicht sein Vater war, aus dem französisch besetzten Teil Berlins resp. aus dem Ausbildungscamp in Landau in der Pfalz in den Osten desertiert von der Fremdenlegion, fuhr später mit dem Motorrad beim Diakonissenhaus vor, setzte die junge Frau, die Belacquas Mutter werden sollte, auf den Soziussitz und nahm sie mit auf den Kahn, der ein paar Jahre später auch den Säugling Belacqua beherbergte, Elbe und Oder hinauf und hinab, durch die Kanäle und Schleusen im Interzonenverkehr.

3

Er ging in eine sogenannte Russisch-Klasse oder Klasse mit erweitertem Russischunterricht. Daß es sich um eine der Formen von Eliteförderung handelte, hätte er damals weder gewußt noch gesagt. Im Kreise der aus mancherlei Stadtteilen und Flecken nahe Berlin nach Maßgabe des Halbjahrszeugnisses der zweiten Klasse zusammengewürfelten Kinder herrschte ein vergleichsweise freizügiges Klima. Die Eltern der Mägdelein und Bürschchen waren bei der Staatlichen Plankommission, bei einer »Zeitschrift für Geschichtswissenschaften«, bei der Illustrierten »Für Dich« und bei der »Berliner Zeitung«, auch einmal beim Schild und Schwert der Partei angestellt, sie arbeiteten als Architekt und Publizist oder als Germanistin mit gelegentlich besonderen politischen Aufgaben bei der Akademie für Gesellschaftswissenschaften beim Zentralkomitee der Einheitspartei. Der gewöhnliche Ingenieursvater war eine Ausnahme. Proletarisch nannten nur zwei von zweiunddreißig Schülern ihre Eltern – es gab noch die Rubriken dafür im Klassenbuch: A (Arbeiter), B (Bauern) und I (Intelligenz) –, einer davon Belacqua, und zwar laut und stolz. Die Schule, nach dem ersten Präsidenten der DDR Wilhelm Pieck benannt, lag in dem Stadtbezirk, den die »Pankower Regierung« schon verlassen hatte. Leonid Breschnew hatten die Schüler anläßlich eines Besuchs beim Genossen Ulbricht früher einmal lasch zugewinkt, Fidel Castro später ekstatisch begrüßt. Er, der Heros »Geigen-Kasten«, wie die Kinder einander ernsthaft den Namen übersetzten, kam Stunden verspätet, hatte sich vom Flughafen Schönefeld aus bis in den Nordosten der Stadt regelrecht durchkämpfen müssen, war aufgehalten worden von Massen, die ihn begrüßten, wie er in Uniform stehend in dem riesigen offenen Wagen, die riesige Pistolentasche an der Hüfte, etwas offenbar Lebendiges, ein Ideal verkörperte. Wie sehr diese Erscheinung ihre Kinderhoffnungen zusammenfaßte! Deren weniger revolutionärer Teil schwebte andererseits am Heck der PAN AM-Jets als blaue Weltkugel über den Stadtbezirk.

4

Und: Belacqua schrieb Gedichte. Eine Version, wie es dazu kam, geht wie folgt. Auf einer Klassenfahrt nach Trassenheide auf der Insel Usedom im Februar 1972 trug nicht nur die Ostsee, sondern auch das Blut Schaumkronen. Es fing damit an, daß er versehentlich einmal die langjährige Lehrerin im Nachthemd mit offenen Haaren gesehen hatte. Als nachher der Klassenkamerad, der mit allen irgendwie interessanten Mädchen in der Klasse nacheinander etwas anfing, an dem Tanzabend wieder mit einer knutschte, verließ Belacqua als Furie die Jugendherberge. Nicht daß er sich dem Mädchen vorher einmal genähert oder überhaupt ernsthafte Absichten gehegt hätte. Es ging ums Prinzip. Der dort hatte alle, eine nach der anderen, und er, Belacqua, hatte keine. Hatte überhaupt noch nicht einmal eine im Arm gehalten! Wo er doch der Richtige wäre, für welches Mädchen auch immer, für jede der einzig Richtige, zur großen Liebe bereit und fähig wie sonst keiner. Nur war die Anzubetende noch nicht gewählt, weder mit Silben noch mit Gesten. Belacqua lief Richtung Küste, rutschte, schlug hin im Schnee. Den Strand belagerten Schollen von geborstenem, vom Meer aufgeschobenem Eis. Er kletterte darüber weg, vorwärts zur offenen See. Auf dunklem Flaschengrün schäumend, lief das Wasser auf unter den Fetzen der niedrigen, jagenden Wolken. Eisiger Wind schlug Belacqua ins Gesicht. Da rutschte er ab und brach ein. Zog die nassen Beine wieder hoch. Kletterte, rannte zurück, von flammendem Zorn und eingebildeter Demütigung mehr gejagt als von Nässe und Kälte. Fror, aber brannte. Zog das klamme Zeug aus, warf sich ins Kissen und dünstete das erste Gedicht aus. Was soll es anderes gewesen sein als das Lied vom Ich ohne Maß?

5

Oder dies: Ein strahlender Ostersonntag. Sie waren vor die Stadt gefahren, soweit die S-Bahn reichte, und waren an Feldrainen entlang gewandert, vielleicht mit einem Picknickkorb. Vier junge Menschen, beinahe volljährig nach geltendem Recht, Oberschüler zwei und Lehrlinge zwei. Sie hatten eine Feldscheune gefunden mit aufgelösten Strohballen darin. Die zwei Paare verbargen sich gerade jeweils an einem schönen Plätzchen, als sie Motorengeräusch hörten. Draußen entstiegen zwei Polizisten ihrem Gefährt. Man habe die jungen Leute beobachtet, wie sie da und da der Staatsgrenze zu nahe gekommen seien. Gerade heute hatten sie einmal überhaupt nicht daran gedacht, daß sie immer nahe an der Grenze lebten. Inzwischen traf ein zweites Auto ein. Man hieß sie mitkommen. Das lokale Polizeirevier war eine langgestreckte Baracke unweit des Stadtbahnhofs. Die folgenden sechs Stunden, den ganzen Nachmittag über ließ man sie erst im Gang stehen und vernahm sie darauf in getrennten, kahlen Räumen. Belacqua plagten Schuldgefühle, weil er annahm, daß seine paar Schritte in ein Feld hinein zum Pinkeln das unbotmäßige Annähern an die Grenze bedeutet hatten. Als man sie wieder gehen ließ, fuhren die vier mit der S-Bahn in die Stadt zurück und verabschiedeten den Tag in die Erinnerung, nachdrücklich verbunden mit dem Namen des Ortes, Schönefeld.

6

Belacqua, seine Liebste Nele und ihr properes Baby lebten in einer Mietwohnung im Hinterhaus, vier Treppen hoch unter dem Dach. Eines Tages war Rebecca zu Besuch. Tiefernst die Gesichter, steckten die beiden jungen Frauen die Köpfe zusammen, so daß Belacqua sich in die Küche zu seinen Zetteln verzog. Worum es bei dem Treffen der beiden Schulfreundinnen gegangen war, erfuhr er peu à peu. Leichtathletin mit ehrgeizigem Vater und einer steilen Karriere, sollte Rebecca in den Olympiakader aufgenommen werden. Vom Trainer war ihr ein Papier zur Unterschrift vorgelegt worden, auf dem sie sich mit Maßnahmen aller Art einverstanden erklärte. Sie hatte nicht unterschrieben. Später war ihr im Kofferraum eines Diplomatenautos die Flucht geglückt. Schließlich, aus Anlaß der zwei Jahre später stattfindenden Olympischen Spiele, sahen Nele und Belacqua das Ende der Geschichte im westdeutschen Fernsehen. Rebecca hatte die Medikamente mitgenommen, die sie hatte einnehmen sollen. Sie benannte Namen und Dienstverhältnisse von Personen, die Druck auf sie ausgeübt hatten. Sie war aus dem Leistungssport ausgestiegen. Wie sie dort vor der Kamera saß als frisch verheiratete junge Mutter, wirkte sie überaus gelassen und froh über alle ihre Entscheidungen.

7