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David Van Reybrouck

Gegen Wahlen

Warum Abstimmen nicht
demokratisch ist

Aus dem Niederländischen
von Arne Braun

 

 

 

Wallstein Verlag

»Das englische Volk meint frei zu sein; es täuscht sich sehr: nur während der Wahlen der Parlamentsmitglieder ist es frei; sobald sie gewählt sind, ist es Sklave, ist es nichts.«

 

Jean-Jacques Rousseau,
Vom Gesellschaftsvertrag (1762)

Inhalt

1 Symptome

Begeisterung und Misstrauen
Das Paradox der Demokratie

Krise der Legitimität
Die Unterstützung nimmt ab

Krise der Effizienz
Die Tatkraft nimmt ab

2 Diagnosen

Es liegt an den Politikern
Die Diagnose des Populismus

Es liegt an der Demokratie
Die Diagnose der Technokratie

Es liegt an der repräsentativen Demokratie
Die Diagnose der direkten Demokratie

Es liegt an der elektoral-repräsentativen Demokratie
Eine neue Diagnose

3 Pathogenese

Ein demokratisches Verfahren
Das Losverfahren (Antike und Renaissance)

Ein aristokratisches Verfahren
Wahlen (18. Jahrhundert)

Die Demokratisierung von Wahlen
Ein Scheinprozess (19. und 20. Jahrhundert)

4 Therapie

Das Revival des Losverfahrens
Deliberative Demokratie (Ende des 20. Jahrhunderts) 

Demokratische Erneuerung in der Praxis
Eine internationale Erkundung (2004-2013)

Demokratische Erneuerung in der Zukunft
Ausgeloste Versammlungen

Blaupause für eine auf dem Losverfahren basierende Demokratie

Vorläufiges Plädoyer für ein birepräsentatives System

Fazit

Worauf warten wir?

Anhang

Dank

Bibliographie

Anmerkungen

1 Symptome

Begeisterung und Misstrauen

Das Paradox der Demokratie

Es ist seltsam mit der Demokratie: Jeder scheint sich danach zu sehnen, aber keiner glaubt mehr daran. Wer die internationalen Statistiken heranzieht, stellt fest, dass immer mehr Menschen sich als Befürworter der Demokratie bezeichnen. Das World Values Survey, ein großangelegtes internationales Forschungsprojekt, befragte in den vergangenen Jahren mehr als 73.000 Menschen aus 57 Ländern, die fast 85 % der Weltbevölkerung repräsentierten. Auf die Frage, ob Demokratie eine gute Art und Weise sei, das Land zu regieren, antworteten nicht weniger als 91,6 % der Befragten positiv.[1] Der Teil der Weltbevölkerung, der dem Konzept Demokratie wohlwollend gegenübersteht, war noch nie so groß wie heute.

So viel Begeisterung ist schlichtweg spektakulär, zumal wenn man bedenkt, dass die Demokratie vor noch nicht einmal siebzig Jahren besonders schlecht dastand. Am Ende des Zweiten Weltkriegs gab es auf der Welt infolge von Faschismus, Kommunismus und Kolonialismus lediglich zwölf vollwertige Demokratien.[2] Die Zahl stieg langsam an. 1972 existierten 44 freie Staaten,[3] 1993 waren es 72. Heute sind von insgesamt 195 Ländern 117 Wahldemokratien. Neunzig von ihnen gelten auch in der Praxis als freie Staaten. Noch nie zuvor in der Geschichte gab es so viele Demokratien, noch nie zuvor hatte dieses Staatssystem so viele Anhänger.[4]

Und trotzdem lässt die Begeisterung nach. Dasselbe World Values Survey brachte nämlich auch ans Licht, dass in den vergangenen zehn Jahren der Ruf nach starken Führern, »die keine Rücksicht auf Wahlen oder das Parlament zu nehmen brauchen«, weltweit beträchtlich zugenommen hat und dass das Vertrauen in Parlamente, Regierungen und politische Parteien auf einem historischen Tiefstand ist.[5] Es scheint, dass man der Idee Demokratie zwar gewogen ist, aber nicht deren Praxis oder zumindest nicht der heutigen Praxis.

Dieser Rückfall geht zum Teil auf das Konto der jungen Demokratien. Zwanzig Jahre nach dem Fall der Mauer ist die Desillusionierung in verschiedenen Ländern des ehemaligen Ostblocks besonders groß. Der Arabische Frühling scheint kaum irgendwo zu einem demokratischen Sommer zu führen. Selbst in den Ländern, in denen Wahlen abgehalten wurden (Tunesien, Ägypten), entdecken viele die Schattenseiten des neuen Systems. Es ist eine bittere Feststellung: Menschen, die zum ersten Mal mit der Demokratie Bekanntschaft machen, lernen, dass die Praxis oft weniger rosig aussieht als das Ideal, zumal wenn die Demokratisierung mit Gewalt, Korruption und wirtschaftlichem Niedergang einhergeht.

Aber das ist nicht die einzige Erklärung. Auch gefestigte Demokratien haben immer mehr mit widerstreitenden Signalen von Zustimmung und Kritik zu kämpfen. Nirgends ist das Paradox so frappant wie in Europa. Obwohl das Konzept Demokratie hier historische Wurzeln hat und auch heute noch massenhafte Unterstützung findet, schwindet das Vertrauen in die tatsächlichen demokratischen Institutionen zusehends. Im Herbst 2012 notierte das Eurobarometer, das offizielle Forschungsinstitut der Europäischen Union, dass nur noch 33 % der Europäer Vertrauen in die Europäische Union haben. (2004 waren es noch 50 %!) Das Vertrauen in die nationalen Parlamente und Regierungen lag noch niedriger, bei 28 bzw. 27 %.[6] Diese Zahlen gehören zu den niedrigsten seit Jahren. Heute misstrauen zwei Drittel bis drei Viertel der Menschen den wichtigsten Institutionen ihres politischen Ökosystems. Und obwohl eine gewisse Skepsis zur Grundlage des kritischen Bürgersinns gehört, ist die Frage berechtigt, wie massenhaft dieses Misstrauen sein darf und wann gesunder Argwohn in regelrechte Abneigung umschlägt.

Aktuelle Zahlen vermitteln ein gutes Bild, wie dieses Misstrauen Europa überzieht. Es beschränkt sich längst nicht nur auf die formale Politik, sondern umfasst auch öffentliche Einrichtungen wie die Post, die Bahn und das Gesundheitswesen. Politisches Vertrauen ist lediglich ein Teil einer breiteren Wirklichkeitserfahrung. Aber wenn wir die demokratischen Institutionen betrachten, wird deutlich, dass politische Parteien mit dem weitaus größten Misstrauen zu kämpfen haben (sie werden von den EU-Bürgern mit durchschnittlich 3,9 von 10 Punkten bewertet), gefolgt von Regierungen (4 von 10), Parlamenten (4,2 von 10) und der Presse (4,3 von 10).[7]

Das Misstrauen beruht übrigens auf Gegenseitigkeit. Der niederländische Wissenschaftler Peter Kanne präsentierte 2011 interessante Zahlen darüber, wie die Parteipolitik in Den Haag die niederländische Gesellschaft betrachtet. 87 % der administrativen Elite in den Niederlanden halten sich selbst für innovativ, freiheitsliebend und international orientiert, 89 % von ihnen glauben jedoch, dass das Volk eher traditionell, nationalistisch und konservativ gesinnt ist.[8] Politiker gehen also reihenweise davon aus, dass Bürger anderen, in ihren Augen weniger hochgesteckten Werten anhängen als sie selbst. Es gibt keinen Grund, daran zu zweifeln, dass diese Zahlen auch anderswo in Europa gelten.

Zurück zum Bürger. Als Erklärung für dessen gestiegenes Misstrauen wird häufig »Apathie« genannt. Individualisierung und Konsumismus hätten das kritische Engagement des Bürgers so abgeflacht, dass sein Glaube an die Demokratie in Desinteresse umgeschlagen sei. Heute dümpele er höchstens noch in lustloser Gleichgültigkeit dahin und zappe weg, sobald es um Politik gehe. Der Bürger »springt ab«, heißt es dann. Das entspricht nicht ganz den Tatsachen, denn die überwiegende Mehrheit war schon immer wenig an Politik interessiert. Von einer Abnahme des Interesses in jüngster Zeit kann keine Rede sein. Studien zeigen, dass es sogar größer ist als früher: Mehr als früher reden die Menschen mit Freunden, Verwandten und Kollegen über Politik.[9]

Keine Welle der Apathie also. Sollte uns das beruhigen? Das ist noch die Frage. Eine Zeit, in der das politische Interesse zunimmt, während zugleich das politische Vertrauen sinkt, hat immer etwas Explosives. Denn die Kluft zwischen dem, was der Bürger selbst meint, und dem, was er den Politiker tun sieht, zwischen dem, was er als Bürger für notwendig hält, und dem, was der Staat in seinen Augen vernachlässigt, wächst. Frustration ist die Folge. Was bedeutet es für die Stabilität eines Landes, wenn immer mehr Bürger passioniert die Whereabouts von Machtinhabern verfolgen, denen sie immer weniger vertrauen? Wie viele abfällige Blicke hält ein System aus? Und sind es denn immer noch nur Blicke, da heute jeder seine leidenschaftlichen Meinungen online kundtun und teilen kann?

Wir leben in einer Welt, die sich von der Situation in den sechziger Jahren diametral unterscheidet. Damals konnte eine einfache Bäuerin politisch vollkommen apathisch sein und der Politik zugleich vollkommen vertrauen.[10] Die Bäuerin, so zeigten soziologische Untersuchungen, war zuversichtlich, und dieser Glaube kennzeichnete große Teile Westeuropas. Damals hieß die Devise: Apathie und Vertrauen. Heute heißt sie jedoch: Begeisterung und Misstrauen. Es sind unruhige Zeiten.

Krise der Legitimität

Die Unterstützung nimmt ab

Demokratie, Aristokratie, Oligarchie, Diktatur, Despotismus, Totalitarismus, Absolutismus, Anarchie – jedes politische System muss versuchen, ein Gleichgewicht zwischen zwei fundamentalen Kriterien zu finden: Effizienz und Legitimität. Effizienz meint die Frage: Wie schnell kann eine Regierung erfolgreiche Lösungen für aktuelle Probleme finden? Legitimität meint die Frage: Wie groß ist die Akzeptanz dieser Lösungen bei der Bevölkerung? Inwieweit erkennt sie die Autorität der Regierung an? Bei Effizienz geht es um Tatkraft, bei Legitimität um Unterstützung. Die beiden Kriterien verhalten sich in der Regel umgekehrt proportional zueinander: Eine Diktatur ist zweifellos die effizienteste Regierungsform (eine Person entscheidet und fertig), aber dauerhafte Legitimität genießt sie nur selten. Das Gegenteil, ein Land, das über jede Maßnahme endlos mit allen Einwohnern diskutiert, vergrößert sicher die Unterstützung, aber gewiss nicht die Effizienz.

Demokratie ist die am wenigsten schlechte aller Regierungsformen, eben weil sie beiden Kriterien zu entsprechen versucht. Jede Demokratie strebt nach einem gesunden Gleichgewicht zwischen Legitimität und Effizienz. Manchmal gibt es Kritik an dem einen, manchmal an dem anderen. Das System hält sich dann aufrecht wie ein Kapitän an Deck: durch die Verlagerung des Gewichts von einem Bein auf das andere, je nach Seegang. Aber heute haben die westlichen Demokratien sowohl mit einer Legitimitätskrise als auch mit einer Effizienzkrise zu kämpfen. Das ist außergewöhnlich. Das ist kein Seegang mehr, das deutet auf Sturm. Um dies zu verstehen, müssen wir uns Zahlen ansehen, die es selten auf die Titelseite schaffen. Wenn wir immer nur mit der Lupe auf die Kräuselungen jeder Meinungsumfrage oder jedes Wahlergebnisses starren, verlieren wir die Sicht auf die großen Meeresströmungen und Wetterkonstellationen.

Im Folgenden betrachte ich die Ebene der nationalen Regierungen in verschiedenen Ländern. Dass es daneben lokale, regionale und supranationale Niveaus gibt, jedes mit seiner eigenen Dynamik und Wechselwirkung, ist evident. Aber die nationale Ebene eignet sich am besten für eine breite Untersuchung des Gesundheitszustands der repräsentativen Demokratie.

Die Krise der Legitimität zeigt sich in drei unverkennbaren Symptomen. Erstens gehen immer weniger Menschen wählen. In den sechziger Jahren nahmen in Europa mehr als 85 % der Wahlberechtigten an Wahlen teil. In den neunziger Jahren waren es weniger als 79 %. Im ersten Jahrzehnt des einundzwanzigsten Jahrhunderts sank die Zahl sogar unter 77 %, der niedrigste Wert seit dem Zweiten Weltkrieg.[11] In absoluten Zahlen handelt es sich um Millionen von Europäern, die nicht mehr wählen gehen. Schon bald betrifft es ein Viertel der Stimmberechtigten. In den USA ist es noch dramatischer: Bei Präsidentschaftswahlen beträgt die Wahlbeteiligung weniger als 60 %, bei Midterm-Wahlen lediglich etwa 40 %. Wahlabsentismus wird zur wichtigsten politischen Strömung im Westen, aber davon redet niemand. In Belgien liegt die Verweigerung naturgemäß etwas niedriger, da es eine Wahlpflicht gibt (in den letzten zehn Jahren bei durchschnittlich um die 10 %), aber sie nimmt zu: von 4,91 % im Jahre 1971 auf 10,78 % im Jahre 2010.[12] Die von heftigem Medienrummel begleiteten belgischen Kommunalwahlen von 2012 erlebten sogar die geringste Wahlbeteiligung seit vierzig Jahren. In Städten wie Antwerpen und Ostende stieg die Zahl der Nichtwähler auf 15 %.[13] Vor allem die Antwerpener Zahl ist erstaunlich: Der Kampf um die Bürgermeisterschärpe beherrschte monatelang die nationalen Medien. Bei den niederländischen Parlamentswahlen vom September 2012 blieben ganze 26 % der Stimmberechtigten zu Hause.[14] 1977 waren es nur 12 %.[15] Die Demokratie hat ein ernsthaftes Legitimitätsproblem, wenn die Bürger nicht mehr an ihrem wichtigsten Verfahren, dem Gang zur Wahlurne, teilnehmen wollen. Ist das Parlament dann überhaupt noch repräsentativ? Muss dann nicht ein Viertel der Sitze vier Jahre lang leer bleiben?

Zweitens: Neben Wahlverweigerung ist Wählerwanderung zu beobachten. Stimmberechtigte in Europa wählen nicht nur weniger, sondern auch launischer. Diejenigen, die zur Wahl gehen, mögen die Legitimität des Verfahrens vielleicht noch anerkennen, zeigen aber immer weniger Loyalität gegenüber ein und derselben Partei. Die Organisationen, die sie vertreten dürfen, genießen nur die sehr vorläufige Unterstützung der Wähler. Politikwissenschaftler sprechen in diesem Zusammenhang von »elektoraler Volatilität« und konstatieren, dass diese seit den neunziger Jahren enorm zugenommen habe: Mehr als 10, 20 oder gar 30 % Wählerwanderung kommen vor. Es herrscht der Wechselwähler. Politische Erdrutsche werden immer normaler. »Die Wahlen, die bisher im neuen Jahrhundert abgehalten worden sind, bestätigen diesen neuen Trend«, heißt es in einer aktuellen Studie. »Österreich, Belgien, die Niederlande und Schweden haben mit dem plötzlichen Wachstum der extremen Rechten (in den Niederlanden 2002) oder deren plötzlichem Rückgang (Österreich 2002) neue Rekordwerte erreicht, wodurch Wahlergebnisse entstehen, die zu den volatilsten der westeuropäischen Geschichte gehören.«[16]

Drittens sind immer weniger Menschen Mitglied einer politischen Partei.[17] In den EU-Ländern gehören heute nur noch 4,65 % der Wahlberechtigten einer Partei an. Es handelt sich hierbei um einen Durchschnittswert. In Belgien besitzen noch 5,5 % ein Parteibuch (gegenüber 9 % 1980), in den Niederlanden lediglich 2,5 % (gegenüber 4,3 % 1980), aber der stetige Rückgang ist überall unübersehbar. Eine aktuelle wissenschaftliche Untersuchung nannte das Phänomen quite staggering. Nach einer systematischen Analyse schlussfolgerten die Forscher: »In extremen Fällen (Österreich, Norwegen) beträgt der Verlust mehr als 10 %, in anderen sind es um die 5 %. Alle Länder, mit Ausnahme von Portugal, Griechenland und Spanien [die erst in den siebziger Jahren demokratisch wurden], verzeichnen zugleich einen drastischen langfristigen Verlust an absoluten Mitgliederzahlen: ein Rückgang von 1 Million oder mehr in Großbritannien, Frankreich und Italien, ungefähr einer halben Million in Deutschland und fast ebenso viel in Österreich. Politische Parteien in Großbritannien, Norwegen und Frankreich haben seit 1980 mehr als die Hälfte ihrer Mitglieder verloren, in Schweden, Irland, Finnland und der Schweiz fast die Hälfte. Das sind auffallende Zahlen, die darauf hindeuten, dass sich die Art und die Bedeutung einer Parteimitgliedschaft grundlegend verändert haben.«[18]

Was bedeutet es für die Legitimität des demokratischen Systems, wenn immer weniger Menschen Anschluss an die wichtigsten Akteure innerhalb dieses Systems suchen? Wie schlimm ist es, dass politische Parteien die am meisten beargwöhnten Institutionen Europas sind? Und wie kommt es, dass dies denselben politischen Parteien so selten schlaflose Nächte bereitet?

Krise der Effizienz

Die Tatkraft nimmt ab

Nicht nur die Legitimität der Demokratie ist in der Krise, auch die Effizienz ist in schweres Fahrwasser geraten. Tatkräftiges Regieren wird stets schwieriger. Parlamente kommen mitunter erst nach anderthalb Jahrzehnten dazu, über ein Gesetz abzustimmen. Regierungen werden zunehmend mühsamer gebildet, sind oft weniger stabil und werden im Nachhinein vom Wähler immer schwerer abgestraft. Wahlen, an denen sich ohnehin schon immer weniger Menschen beteiligen, wirken der Effizienz immer häufiger entgegen. Ich behandele wiederum drei Symptome.

Erstens: Die Koalitionsverhandlungen dauern immer länger, besonders in Ländern mit komplexen Koalitionsregierungen. Das gilt nicht nur für Belgien, das nach dem Juni 2010 alle Rekorde brach und anderthalb Jahre ohne Regierung war, sondern auch für Spanien, Italien und Griechenland, wo nach den jüngsten Urnengängen nur mit Mühe eine Regierungsmannschaft auf die Beine gestellt werden konnte. Selbst in den Niederlanden wird es zunehmend schwieriger. Von den neun Koalitionsverhandlungen der Nachkriegszeit, die länger als achtzig Tage dauerten, fanden fünf nach 1994 statt.[19] Die Gründe sind vielfältig. Einer davon ist sicher, dass Koalitionsverträge immer länger werden, immer ausführlicher. An sich haben wir es hier mit einer sehr merkwürdigen Entwicklung zu tun: Die Zeiten sind unvorhersehbarer denn je, ein flexibles Einstellen auf akute Nöte ist an der Tagesordnung, aber die Politik muss offenbar im Voraus bis ins kleinste Detail abgesteckt und festgeklopft werden, so groß ist das Misstrauen unter den Koalitionspartnern geworden, so groß auch die Nervosität vor einer Abstrafung durch den Wähler. Jede Partei will auf Nummer sicher gehen. So viel wie möglich soll vorab unumstößlich feststehen, es gilt, die Schäfchen des Parteiprogramms ins Trockene des Koalitionsvertrags zu bekommen. Die Folge: längere Verhandlungen.

Zweitens: Regierungsparteien werden immer härter angepackt. Die vergleichende Untersuchung repräsentativer Regierungen ist ein relativ junges Fachgebiet, aber manche Ergebnisse sind beeindruckend. Das gilt vor allem für die Erforschung der »Wählerbelohnung« in Europa. Was ist das Schicksal einer Regierungspartei bei den nächsten Wahlen? In den fünfziger und sechziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts verloren Parteien, die an einer Regierung beteiligt gewesen waren, zwischen 1 und 1,5 %, in den siebziger Jahren 2 %, in den achtziger Jahren 3,5 und in den neunziger Jahren 6 %. Seit der Jahrhundertwende sind es 8 % und mehr. In Finnland, den Niederlanden und Irland verloren Regierungsparteien 11, 15 bzw. 27 % ihrer Wähler.[20] Wer will in Europa noch tatkräftig regieren, wenn der Preis für eine Regierungsbeteiligung so unerbittlich hoch ist? Am Rand stehen zu bleiben ist momentan eine viel rationalere Option, zumal wenn dies keinen Einfluss auf die Parteienfinanzierung hat: Der Staat bezahlt trotzdem.

Drittens: Es wird immer langsamer regiert. Große Infrastrukturprojekte wie die Amsterdamer Nord-Süd-Linie, der neue Bahnhof in Stuttgart, die Schließung des Antwerpener Rings oder der geplante internationale Flughafen von Nantes werden kaum noch realisiert. Die nationalen Regierungen in Europa haben viel von ihrem Ansehen und ihrer Macht verloren, so abhängig sind sie von Dutzenden lokalen und supranationalen Akteuren. Waren solche Projekte früher eine Quelle von Prestige und Können, sind sie heute bestenfalls ein verwaltungstechnischer Albtraum. Die stolze Zeit der Deltawerke, des Abschlussdeichs, des TGV-Netzes und des Kanaltunnels ist vorbei. Wenn es schon nicht mehr machbar ist, einen Tunnel oder eine Brücke zu bauen, was vermögen nationale Autoritäten dann überhaupt noch aus eigener Kraft? Wenig, denn was sie auch tun, sie sind mit Händen und Füßen an die Staatsverschuldung, an die europäische Gesetzgebung, an amerikanische Ratingagenturen, an multinationale Unternehmen und an internationale Verträge gebunden. Zu Beginn des einundzwanzigsten Jahrhunderts ist Souveränität, einst das Fundament des Nationalstaats, ein sehr relativer Begriff geworden. Dadurch können die großen Herausforderungen unserer Zeit – Klimawandel, Bankenkrise, Eurokrise, Wirtschaftskrise, Offshore-Betrug, Migration, Überbevölkerung – von nationalen Regierungen nicht mehr adäquat in Angriff genommen werden.

Machtlosigkeit ist das Schlüsselwort dieser Zeit: Machtlosigkeit des Bürgers gegenüber der Regierung, der Regierung gegenüber Europa und Europas gegenüber der Welt. Jeder schaut auf die Trümmerhaufen unter sich herab und blickt dann hoch, nicht mehr mit Hoffnung und Vertrauen, sondern mit Verzweiflung und Wut. Macht heute: eine Leiter voller Fluchender.

Politik ist schon immer die Kunst des Machbaren gewesen, und heute ist sie die Kunst des Mikroskopischen geworden. Denn das Unvermögen, strukturelle Probleme anzupacken, geht einher mit einer Überbelichtung des Trivialen, geschürt von einem überdrehten Mediensystem, für das es, der Marktlogik getreu, wichtiger geworden ist, nichtige Konflikte aufzubauschen, als Einsicht in reale Probleme zu bieten, zumal in Zeiten stärkeren Umsatz- und Quotendrucks. Anders gesagt: Der Wahn des Tages regiert wie nie zuvor. Das niederländische Parlament befasste sich 2009 damit. Es zeugte von viel Selbsteinsicht, als der Ausschuss für parlamentarische Selbstreflexion in seinem Bericht schrieb:

Politiker wollen, um die nächsten Wahlen zu überleben, ständig punkten. Die in zunehmendem Maße kommerzialisierten Medien bieten dafür nur allzu gern ein Podium, wodurch sich diese drei Sektoren [Politik, Medien und Wirtschaft] in einem gegenseitigen Klammergriff befinden, einem »Bermudadreieck«, das alles auf mysteriöse Weise nach unten zieht, wobei jeder sich fragt, wie das nur kommt. […] Die Wechselwirkung zwischen Politik und Medien scheint in der Tat ein wichtiger Faktor für zunehmenden Inzidentalismus in der Politik zu sein. Medien leben von Nachrichten. Im Gespräch mit Journalisten wurde bemerkt, dass Zwischenfälle in den Medien mehr Beachtung finden als gute Debatten, die auch geführt werden.[21]

»Inzidentalismus«: ein guter Terminus. Die Zahlen haben es in sich. In den letzten Jahren ist die Anzahl der mündlichen und schriftlichen Fragen, eingereichten Anträge und Eildebatten im niederländischen Parlament rasant in die Höhe geschossen, parallel zu den Einschaltquoten politischer Talkshows im niederländischen Fernsehen, denn der Parlamentarier wird und muss punkten, wenn die Kameras einmal laufen. »Parlamentsmitglieder sind lieber jeden Tag ›erschüttert‹, ›schockiert‹ und ›höchst unangenehm überrascht‹«, konstatierte einer der Befragten in dem Bericht. »Das neunzehnte Jahrhundert zählte vielleicht zu viele betagte Juristen in der Zweiten Kammer, das heutige zählt zu wenige.«[22]

Wenn Profilierungseifer das Regieren überwiegt, wenn das Wahlfieber zu einem chronischen Leiden wird, wenn Kompromisse immer gleich als Verrat bezeichnet werden, wenn Parteipolitik systematisch Verachtung hervorruft, wenn Regierungsbeteiligung prompt eine schwere Abstrafung durch den Wähler zur Folge hat, warum sollte sich ein idealistischer junger Mensch dann noch in die Politik begeben? Dem Parlament droht Blutarmut. Die Rekrutierung neuer, engagierter Leute wird immer schwieriger: ein sekundäres Symptom der Effizienzkrise. Dem Beruf des Politikers ergeht es wie dem des Lehrers: früher eine noble Funktion mit Ansehen, heute ein elender Job. Der Titel einer niederländischen Broschüre über die Anwerbung neuer politischer Talente hatte den vielsagenden Titel: Finden und Festhalten.[23]

Das Festhalten ist nicht so einfach, denn politische Talente verbrennen schneller als früher. Herman Van Rompuy, Vorsitzender des Europäischen Rates, sagte unlängst dazu: »Die Art und Weise, wie unsere Demokratien arbeiten, ›verschleißt‹ Menschen in beängstigendem Tempo. Wir müssen dafür sorgen, dass nicht die Demokratie selbst verschleißt.«[24]

Dies ist der Kern der Effizienzkrise: Die Demokratie ist immer zahnloser geworden, aber überraschenderweise auch immer lautstärker. Statt in einer Ecke vor sich hin zu murmeln, verdattert über die eigene Unfähigkeit, bescheiden ob des begrenzten Aktionsradius, darf, nein muss der Politiker von heute die eigenen Tugenden von den Dächern schreien – die Wahlen und die Medien lassen ihm keine Alternative –, am besten mit geballter Faust, in unnachgiebiger Haltung und die Lippen zusammengepresst, denn das macht sich gut und wirkt energisch. Denkt er. Statt demütig die veränderten Kräfteverhältnisse anzuerkennen und nach neuen Formen sinnvollen Regierens zu suchen, muss der Politiker das elektoral-mediale Spiel weiterspielen, oft gegen seinen Willen und den des Bürgers, der das alles langsam ein wenig ermüdend findet: So viel künstliche und durchsichtige Hysterie ist schließlich nicht dazu angetan, sein Vertrauen wiederzugewinnen. Die Effizienzkrise vergrößert die Legitimitätskrise nur noch.

Die Resultate sind entsprechend. Die Symptome, an denen die westliche Demokratie krankt, sind ebenso vielfältig wie unbestimmt, aber wer Wahlverweigerung, Wählerwanderung, Mitgliederschwund bei den Parteien, Unfähigkeit der Behörden, politische Lähmung, Angst, bei den Wahlen zu versagen, Mangel an politischem Nachwuchs, zwanghaften Profilierungsdrang, chronisches Wahlfieber, erschöpfenden Medienstress, Misstrauen, Gleichgültigkeit und andere hartnäckige Krämpfe nebeneinanderlegt, sieht die Konturen eines Syndroms aufdämmern, des Demokratiemüdigkeitssyndroms, welches noch nicht vollständig beschrieben ist, an dem aber nichtsdestotrotz zahlreiche westliche Gesellschaften unverkennbar leiden. Betrachten wir einmal, welche Diagnosen es schon dafür gibt.

2 Diagnosen

 

 

 

 

Die unterschiedlichen Analysen des Demokratiemüdigkeitssyndroms lassen sich in vier verschiedene Diagnosen einteilen: die Politiker sind schuld, die Demokratie ist schuld, die repräsentative Demokratie ist schuld und – eine spezifische Variante davon – die elektoral-repräsentative Demokratie ist schuld. Ich behandele sie in dieser Reihenfolge.

Es liegt an den Politikern

Die Diagnose des Populismus

Dass Politiker Postenjäger sind und Parasiten, die nur ihre Taschen füllen wollen, dass sie weltfremde Profiteure sind, dass sie keinen Kontakt zum Leben der einfachen Leute haben, dass sie sich alle lieber fortscheren sollten: die Schlagworte sind sattsam bekannt. Populisten bedienen sich ihrer täglich. Ihrer Diagnose zufolge ist die Krise der Demokratie in erster Linie eine Krise des politischen Personals. Die heutigen Führungen, so argumentieren sie, bilden eine demokratische Elite, eine Kaste, die sich von den Nöten und Beschwerden der Durchschnittsbevölkerung völlig entfremdet hat. Kein Wunder, dass sich die Demokratie in schwerem Fahrwasser befindet!

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