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Patrick Roth

Die amerikanische Fahrt

Stories eines Filmbesessenen

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AUSSEN – AMERIKA – TAG

Hebels Hollywood

MARLOWE Would you happen to have a Ben-Hur, 1860, third edition, with a duplicated line on page one-sixteen?

Humphrey Bogart zu Dorothy Malone,
der schönen Buchhändlerin, in
Howard Hawks’ »The Big Sleep«

Drei Bilder würde ich Ihnen gerne näherbringen: Eine Autofahrt durch Los Angeles. Eine Hand, die rätselhaft auf etwas deutet. Und: ein einfacher Tisch.

Drei Bilder, die Sie sich, hoffe ich, aus dem Übrigen aufbewahren werden. Ich glaube an die Kraft dieser Bilder:

Die Autofahrt.

Die Hand, die deutet.

Der Tisch.

Ich ging durch diese Bilder und war verwandelt. Wenn Sie am Ende meiner Rede an diese Bilder denken, als hätten Sie sie selbst geträumt, dann wär’s ein Wiedersehen. Im Sinn der Sache. Im Sinn der Autofahrt, der Hand, des Tischs.

Ich bin in Karlsruhe aufgewachsen, lebe aber seit über zwanzig Jahren in Los Angeles, der Stadt, die mir zur zweiten Heimat geworden ist. Wenn Sie Einblick in meine Träume hätten, wäre zu sehen, wie gut sich Karlsruhe und Los Angeles, wie sehr sich beiderlei Heimat miteinander verträgt.

Staunend würden Sie sehen, wie der Sunset Boulevard, so um zwei oder drei Uhr nachts bei mir, in den Karlsruher Passagehof hinterm Moninger mündet und ein Kinobesuch in der »Kurbel« möglich wird. Der selbstlose Karlsruher Kinobesitzer zeigt den »Glanz des Hauses Amberson«: »The Magnificent Ambersons« von Orson Welles. Im amerikanischen Original! Nur: Joseph Cotten spricht seinen Traumdialog mit feinstem Karlsruher Akzent. Aus seinen berühmten Worten vom unaufhaltsamen Aufstieg des Automobils:

But automobiles have come and
almost all things are going to
be different because of what
they bring.

wird:

Ha heer, alles folla Audomobiele.
Do kansch gar nix mache. Un die gehe
ned weg. Swird sich so manches
verändere durch die Dinger.

Auch muß der Zuschauer dabei keinesfalls auf den herrlichen Chili-Dog, den er bei »Pink’s« auf La Brea Avenue zu »munchen« begonnen hat, verzichten. Die Kaiserstraße verliert sich nach solchem Genuß wieder im goldbraunen Abendsmog der Hollywood-Hügel, die geliebten Buchhandlungen – die Stephanus, die Braunsche, Kaiser und Kundt – verwandeln sich in die roten, grellgelben und rosafarbenen Sexshops auf dem Sunset und Santa Monica Boulevard, aus denen kleine geduckte Männer in Regenmänteln mit Erstausgaben von Celan, Huchel, Joyce oder gar von Johann Peter Hebel in die Nacht huschen, um sich die wertvollen Stücke in Geiger’s »Rare Books and De Luxe Editions«-Laden auf dem Hollywood Boulevard – natürlich von den Autoren selbst – signieren zu lassen.

So kann der Traum zusammenführen, das Unbewußte kennt nicht Zeit, nicht Trennung durch den Raum, wie wir sie bei Bewußtsein kennen. Diese Tatsache aber kommt nicht nur im Traum zum Tragen, sondern – so ist das zumindest bei mir – auch bei der Arbeit.

In den ersten Phasen der Arbeit an einem Roman oder Stück lebt man oft intensiv in dieser Welt, in der die Dinge kaum entstanden sind, noch eins ins andere übergeht:

Aus dem Torbogen eines mir aus Kindertagen vertrauten alten Hauses in der Karlsruher Stephanienstraße wird mühelos ein Stadttor-Bogen, durch den am Anfang unserer Zeitrechnung einer den Weg zum Herodianischen Tempel in Jerusalem ging.

Man sucht beim Schreiben einen Halt, nach einem Bild, in welches am geheimnisvollsten schon alles eingegraben scheint. Nach einem Bild, das langsam auszugraben, zu verstehen und so ins Licht zu rücken wäre.

Ich will von Bildern erzählen, die Ihnen einige meiner Stationen als werdender Schriftsteller vor Augen führen. Ich werde reden vom Wunsch, das Ferne nah zu bringen, von einer Sehnsucht mithin, der Einsicht auch, im Fernen immer wieder auch das Allernächste aufzufinden. Das Ferne war mir einst Amerika, jetzt ist es »nah«, und nah ist es, weil ich es über die Jahre immer wieder mit Nahem, Nächstem ergänzt habe. Ich habe mir das fremde Land durchs Eigenste, Nächste angeeignet. Das will ich gleich am Beispiel Johann Peter Hebels, des ehemaligen Rektors meiner alten Schule – des heutigen Bismarck-Gymnasiums – demonstrieren.

Wie habe ich mir die fremde Welt, dieses Los Angeles, zu eigen gemacht?

In meinem ersten Auto, einem 500-Dollar-VW mit einem baren Hauch von Bremsbelägen, gab es kein Radio. Ich las mir meine Lieblingsautoren, den Johann Peter Hebel, den Hölderlin, Joyce, Trakl, Nathanael West, Poe, Arno Schmidt und Celan, auf Tonband, deponierte das Tonbandgerät dann auf meinem Beifahrersitz und hörte den Geschichten und Gedichten bei den langen Fahrten auf den Los Angeles Boulevards und Freeways also per Band zu. Damals war das Benzin um einiges billiger als heute, »cruising« – das einfache Herumkreuzen mit dem Auto – war jedermanns Zeitvertreib. Man fuhr, ohne eigentlich anzuhalten, man fuhr langsam. Langsamer, sehr langsam, im Schritt-Tempo, wenn man eine junge Frau etwa genauer sehen wollte oder genauer gesehen werden wollte. Letzteres war bei mir nicht der Fall. Kein California Girl, das etwas auf sich hielt, wäre in meine Todeskarosse eingestiegen. Der vorherige Besitzer hatte, als hätte er’s herbeibeschwören wollen, die Beifahrertür durch einen Unfall – die Tür war halb eingerammt – für immer versiegeln lassen. Ich hätte also erst aussteigen müssen, um jemanden dann auf meiner Seite einsteigen und auf den »dead-end-«, das heißt: Sackgassen-Sitz, rutschen zu lassen. Und was hätten diese Frauen dann gehört? Meine Stimme auf Tonband, Kalendergeschichten, Gedichte, »short stories« lesend.

»Hey, man. Don’t you even have a radio? Some music, for God’s sake?«

»Musik?«

Hatte ich nicht – und also keine Beifahrer.

Ich hörte beim Fahren zum Beispiel meiner Stimme zu, die las:

»In Falun in Schweden küßte vor guten fünfzig Jahren und mehr ein junger Bergmann seine junge hübsche Braut …«

Das war der Anfang der Hebelschen Kalendergeschichte »Unverhofftes Wiedersehen«. Erinnern Sie sich an diese Geschichte? Eine meiner Lieblingsgeschichten. Sie erzählt von einem jungen Bergmann und dessen bevorstehender Hochzeit mit seiner jungen Braut.

Aber der Tod holt ihn ein, die Braut sieht ihn nicht wieder. Die Zeit, die Weltgeschichte, zieht an dieser geringen Figur, einer trauernden Frau in einer kleinen Stadt in Schweden, vorbei. Es gibt Wichtigeres, Weltbewegenderes als ihr Unglück. Da schwenkt der Erzähler, Hebel, nach Jahrzehnten Weltgeschichte, zeilengerafft einhermarschierender Weltgeschichte, fast zärtlich zurück auf die Altgewordene, die Alte, die Witwe des Bergmanns. Man hatte nämlich aus einer der verschütteten Minen, aus »dreihundert Ellen Tiefe«, heißt es bei Hebel, aus »Schutt und Vitriolwasser« einen jungen Mann hervorgegraben. Seine Leiche war nicht gealtert. Den Entdekkern, die den Unbekannten nach oben beförderten, schien es, als sei er bei seiner Arbeit nur eingeschlafen, vor wenigen Stunden. Ein halbes Jahrhundert war aber vergangen, und niemand mehr, der ihn erkannt hätte. Nur die alte Frau, die herbeikommt. Die erkennt ihn, den Toten. Ja erkennt an ihm noch die Stunde der Hochzeit, die damals so nah war, er hätte nur nach Hause kommen müssen. Und nimmt Abschied, noch einmal, verspricht dem jungen Mann bald nachzukommen, denn »bald wird’s wieder Tag«, sagt sie und schaut sich, als sie fortgeht, noch einmal nach ihm um.

»Unverhofftes Wiedersehen«. Von Hebel so erzählt, daß man glauben lernt, alles Geliebt-Verlorene eines Tages doch noch wiederzusehen.

Denn Hebel führt den Leser, seinen Zuhörer, immer wieder unvermittelt von hinten an ein zu Sehendes, an den Rücken des Verlorenen, das sich dann dreht, sich uns unverhofft als das Verlorene wiederschenkt. Und Hebel tanzt mit solcher Drehung, solchem Drehen um die wenigen Bilder seiner Geschichte, daß einem schwindlig wird und das Wiedersehen mit dem Toten wahrhaft unverhofft zustande kommt. Eindringlich wird bei ihm wiedergesehen, wiedererlebt, was für verloren galt. Das Leben, das sich für diese Frau seit dem Unglück doch nur wie stur nach vorn bewegt haben muß, sinnlos scheinbar, ein nimmer enden wollendes Vermissen, lautlos gemacht vom Gebrüll der Weltgeschichte, wird leise rundgeschlossen hier im Schlaf, durch diesen gleichsam Schlafenden, den hier entdeckten Toten, wird rundgemacht ihr Leben, erhält so Sinn. Denn »Was die Erde einmal wiedergegeben hat, wird sie zum zweiten Male auch nicht behalten«, hört Hebel die Alte sagen, das letzte, was zu hören ist.

»In Falun in Schweden küßte vor guten fünfzig Jahren und mehr ein junger Bergmann seine junge, hübsche Braut …«

Nochmals zum Anfang zurück, dem ersten Satz der Geschichte. Ich fahre ja noch im Auto, das Tonbandgerät auf dem Sitz neben mir. Ich höre sie ja gerade auf dem One-Oh-One, dem Ventura Freeway, diese Geschichte, diese Sätze.

Die ausgesprochenen Sätze, die von mir da gelesenen Sätze, ihre Bilder, legten sich damals, könnte man sagen, über die Welt meines »windshield«, meiner Windschutzscheibe:

Der junge Bergmann küßte die Braut in Los Angeles auf dem Ventura Freeway nahe dem Laurel Canyon Exit, an dem ich gerade mit 55 Meilen die Stunde vorbeifuhr. Eine perfekte Stelle für Abschiede. In grauer Vorzeit – in Los Angeles heißt das: »vor guten fünfzig Jahren und mehr« – grenzte die Gegend, über die meine Stimme vom Kuß des Hebelschen Bergmanns fiel, an Orangenplantagen, gehörte die Welt im Fenster meines Autos dem alten Hollywood-Regisseur John Huston, war Teil seiner Ranch gewesen. Hier hatte er die Schlachtszenen aus dem amerikanischen Bürgerkrieg spielen lassen, hatte hier, im San Fernando Valley, in der Nähe des Laurel Canyon und Ventura Boulevard, Stephen Cranes berühmten Roman »The Red Badge of Courage« verfilmt. Eine angemessene Stelle für den letzten Kuß eines schwedischen Bergmanns. Denn der Bergmann, von dem Hebel 1811 im Kalenderblatt seines »Rheinländischen Hausfreunds« erzählte, kehrt nicht mehr von seiner Arbeit zurück. »Der Bergmann hat sein Totenkleid immer an«, sagt Hebel. Wie jene Unionssoldaten, behaftet mit der »red sickness of battle«, der »roten Krankheit der Schlacht«, deren Verlauf Stephen Crane so peinlich genau schildert.

Der Kuß, jener Kuß, ist mir seit damals immer mit dieser Stelle verbunden: Laurel Canyon und Ventura Boulevard. Und Hebels kurz darauf folgender Satzteil, nämlich das grausame: »Da meldete sich der Tod« – diese unheimlichste Stimme, die man zunächst hört, wenn man’s liest, als sei in der Kirche auf den Ausruf des Pfarrers, »ob jemand Hindernis wüßte anzuzeigen, warum diese Personen nicht möchten ehelich zusammenkommen«, als sei da jemand aufgestanden, in der hintersten Reihe, einer, den man nicht hatte eintreten hören –, diese Stimme, mit der Hebel den Leser erschreckt, lag über der großen Kreuzung zwischen dem Ventura und dem Hollywood Freeway, den ich in jenen Tagen, auch um zur Arbeit zu fahren, öfter nehmen mußte.

Hier, wo der Tod sich meldete, geht’s in Los Angeles durch einen längeren Paß, den Cahuenga Pass, durch die Hügel nach Hollywood. Wenn man das Folgende dann hört, das Folgende der Hebelschen Geschichte, dabei durch diese Landschaft fährt, im Osten, links des Freeways, noch die Universal Studios, die Carl Laemmle hier gründete, den Black Tower, den Schwarzen Turm, am Studioeingang sieht, in dem auch Hitchcock sein Produktionsbüro hatte, dann muß einem auffallen, wie in diesem – wie gesagt 1811 geschriebenen – Text Hebels die neue Kunst des Films, genauer: eines seiner vermeintlich »filmischsten« Erzählmittel, die »Montage« nämlich, schon angekündigt ist. Kurz bevor Hebel die Weltgeschichte über die vom Tod Getrennten, den Bergmann und seine junge Braut, hinwegmarschieren läßt, endet er visuell: mit einem leitmotivischen Close-up, könnte man sagen, einer Großaufnahme:

»Und die junge Braut saumte vergeblich selbigen Morgen ein schwarzes Halstuch mit rotem Rand für ihn zum Hochzeitstag, sondern als er nimmer kam, legte sie es weg und weinte um ihn und vergaß ihn nie.«

Wir waren gerade ganz nah an diesen Händen der Frau, sahen deutlich das Schwarz und das Rot auch des Halstuchs, das sie ihm saumte. Jetzt folgt die »Montage«. Sie kennen dieses angeblich so filmische Erzählmittel: Montage, das ist das »Und die Tage zogen ins Jahr« des Films; sind die Überblendungen von Dutzenden abfallender Kalenderblätter; sind die »Dissolves« der Jahreszeiten, in Hollywood meist musikunterlegt; oder die Zeitungsschlagzeilen irr rotierender erster Seiten, die aus der Ferne des Filmbilds heranschwirren und dann festfrieren:

KENNEDY ASSASSINATED

»Kennedy ermordet«, während im Hintergrund schon eine neue Schlagzeile herankreist:

OSWALD GUNNED DOWN

»Oswald erschossen«; ein narrativer Trick also, der uns Zuschauern die »passage of time«, das Vergehen der Zeit, durch solche Groß-Schlagzeilen etwa, augenfällig und fühlbar machen soll.

Hier ist Hebel, wie ich ihn auf dem Weg durch den Cahuenga Pass, vorbei an Lankershim Boulevard, Barham Avenue und Mulholland Drive, Geschichte schreiben hörte, so, durch mein Autofenster hin, in meiner Stimme:

»Unterdessen wurde die Stadt Lissabon in Portugal durch ein Erdbeben zerstört, und der Siebenjährige Krieg ging vorüber, und Kaiser Franz der Erste starb, und der Jesuitenorden wurde aufgehoben und Polen geteilt, und die Kaiserin Maria Theresia starb, und der Struensee wurde hingerichtet, Amerika wurde frei« – sehen Sie diese Bilder, diese Schlagzeilen rotieren? – »und die vereinigte französische und spanische Macht konnte Gibraltar nicht erobern. Die Türken schlossen den General Stein in der Veteraner Höhle in Ungarn ein, und der Kaiser Joseph starb auch. Der König Gustav von Schweden eroberte Russisch-Finnland, und die Französische Revolution und der lange Krieg fing an, und der Kaiser Leopold ging auch ins Grab. Napoleon eroberte Preußen, und die Engländer bombardierten Kopenhagen, und die Ackerleute säeten und schnitten.«

Die Montage der Weltgeschichte ist hier schon zu Ende, denn: »Die Ackerleute säeten und schnitten«, das ist natürlich keine Zeitungsüberschrift mehr, keine mehr wert, das ist schon … das ist schon fast wieder die kleine Stadt Falun in Schweden. Das könnte sie sein. Es ist, als würde man sich – auch ein filmisches Mittel – aus der Luft herab durch die Wolken hindurch übers Land hinabbewegen, langsam hinabbewegen – wie zu Anfang in »The Night of the Hunter«, der »Nacht des Jägers«, jenes großen Schwarzweißfilms von Charles Laughton, dessen Sicht aus den Wolken herab auf ein kleines amerikanisches Dorf, auf eine geheimnisvolle Wiese zuhält, auf der Kinder sich verbergen, Versteck spielen.

Hebel fährt fort: »Der Müller mahlte, und die Schmiede hämmerten, und die Bergleute gruben nach den Metalladern in ihrer unterirdischen Werkstatt. Als aber die Bergleute in Falun im Jahr 1809 etwas vor oder nach Johannis zwischen zwei Schachten eine Öffnung durchgraben wollten …« – Jetzt haben wir nicht nur die Weltgeschichte, sondern auch das Allgemeine der Saison hinter uns gelassen, sind im unterirdischen Einzelnen, sehen vor uns die Gestalten der Bergmänner, die graben. Die graben, wo sich – ahnen wir vielleicht – etwas verborgen hält. Die also ein Versteck öffnen, die gleich etwas … die gleich einen finden werden, der dort in »Schutt und Vitriolwasser« verborgen ist.

Wenn man das hört, kann man nicht anders als: sehen. Und wenn man fährt, wo ich damals fuhr, kann man wohl auch nicht umhin, diese Bilder filmisch zu lesen, das Filmische in ihnen schon angekündigt zu sehen.

Der Cahuenga Pass öffnet sich. Auf dem letzten Hügel im Osten ist vom Freeway aus gut zu sehen: ein riesiges weißes Kreuz, wo in den fünfziger Jahren noch Gottesdienste abgehalten wurden, hoch über diesem »Sündenpfuhl Hollywood«. Seltsam ist und bleibt mir immer in Erinnerung, daß – wenn man beim Tonbandhören auf dieser Fahrt in keinen Stau kam, wenn man, wie ich das oft tat und tue, zum Beispiel nachts spazierenfährt – sich das Wiedererkennen jenes Toten sinnfällig-zeitgleich mit einem anderen timet. Dann trifft der Ausgang des »unverhofften Wiedersehens«, das Hebel beschreibt, in etwa zusammen mit dem Gower Exit des Hollywood Freeway. Nah dieser Ausfahrt sieht man auf eines der ältesten Hotels in Hollywood, noch im Vorbeifahren liest man die großen, an seinem Dachgerüst befestigten Lettern

HOTEL
KNICKERBOCKER

In diesem elfstöckigen Gebäude wurde in den frühen Morgenstunden des 23. Juli 1948 auch einer wie tot aufgefunden. Aber die ihn fanden – der Dreiundsiebzigjährige war nach einer Hirnblutung den Liftschacht nach unten gefahren, hatte um Hilfe gerufen und war im Foyer zusammengebrochen (der Nachtportier deutet noch heute auf die Stelle unter dem großen Lüster) –, die ihn dort unten dann fanden, die kannten ihn nicht mehr. Im letzten Interview, das er, Wochen zuvor, in seinem Zimmer gegeben hatte, soll er gesagt haben, daß eine gewisse Schönheit – »a certain beauty« – dem Film, seiner Kunstform, aber überhaupt auch den Menschen in ihrem Blick auf alles Lebendige abhanden gekommen sei. Verloren sei nun die Schönheit des Winds, wenn er sich in die Bäume legt, die Kronen zu raufen, verloren auch die Schönheit, die sich im kleinsten Hauch noch, im Zittern des einzelnen Blütenblatts zeigt, wenn Bewegung das stille erfaßt. »We have lost beauty«, soll er geendet haben. Der da lag, als der Hotelarzt zu spät kam – no lastminute rescue –, war D.W. Griffith, der erste große Regisseur der Filmgeschichte, der mitverantwortlich dafür war, daß es Hollywood überhaupt gibt. Er lag bewußtlos hingestreckt, verarmt, vereinsamt und vergessen. Tags darauf starb er.

Ende des Tonbands, Ende der Hebelschen Geschichte, die mit dem Umschauen nach dem Toten schloß und Abschied nahm. Ende auch der Geschichte Griffiths, dessen letzte Station man beim Weiterfahren schon bald im Rückspiegel verliert.

Oft waren die Worte, die ich so hörte, nicht über das gelegt, was ich durch meine Windschutzscheibe sah, sondern schienen mir aus den Dingen selbst zu kommen. Als sei die Welt der fremden Stadt ganz angelegt, so jetzt zu mir zu sprechen, so ganz in Hebels Sprache. Als könnte das Zusammenspiel des Geschehenen und des Gehörten kein Zufall sein. Als habe Hebel Heimat geschrieben. Nur anders, als man denkt.

»Hebel, der Heimatdichter«. Manchmal hört man das ja etwas verächtlich gesagt. Mir war er ein Heimatdichter in anderem Sinne: Denn wenn »dichten« vom lateinischen »dictare« kommt, dann dichtete Hebel mir, »diktierte« er mir die Heimat aufs Fremde. Ich stenographierte die vertrauten Wendungen der Geschichte mit, erkannte sie wieder, im Fremden einer fremden Welt.

So habe ich mir Heimat geschaffen, meine Heimat, mit Stimmen meiner Erzähler über die Landschaft gelegt. Das ist Landnahme, versteht sich. Das tun alle, die fremd irgendwohin kommen und sich dort Heimat machen: Sie bringen etwas mit, das ihnen Heimat bedeutet, das diese Heimat schon immer in sich trug. Wie eben die Erzählerstimme des Johann Peter Hebel.

Zeigen wollte ich also, wie man sich Heimat, das Eigene, ins Fremde holt, das Fremde sich dadurch heimisch macht; das Eigene, Eigenste überhaupt erst im Fremden findet. Es ist nämlich nicht nur ein Transportieren: als würde Eigenes »von hier nach da« geschafft. Das mag es zunächst sein, als solches ist es zunächst geplant; es ist ein Trost, ein Vergnügen, das vertraute Buch dabeizuhaben, sich in der Fremde daraus vorzulesen. Dann aber kommt es – nämlich dort, wo das eigens Hingeschaffte im Kern mit dem Fremden verschmilzt – zur Entdeckung. Man entdeckt, daß man das Eigene gar nicht kannte. Man hat es hier, im Fremden, durchs Fremde erst gefunden.

Das waren ganz entscheidende Eindrücke in meinen ersten Jahren dort drüben. Ende der siebziger Jahre kam ein Zweites hinzu, ein zweites Erlebnis, das ich als Bild, in seinem Geheimnis, den wechselnden Bedeutungen, die ich ihm im Laufe der Jahre zuschrieb, auch nicht vergessen konnte.

Ich hatte einen Job als »production manager« angenommen, kümmerte mich um die Produktion einer kleinen Serie von Dokumentarfilmen über deutsche Exilanten, während des Kriegs nach Los Angeles geflüchtete Schriftsteller. Wir drehten in Marta Feuchtwangers riesigem Haus, der »Villa Aurora«, einer Art Museum, könnte man sagen, Bücher-Museum, mit einem Bestand von 32 000 Bänden damals, fast ausschließlich Erstausgaben, die Lion Feuchtwanger gesammelt hatte.

Marta Feuchtwanger, die ich über Freunde bereits kannte, deren Haus ich aber noch nie besucht hatte, wurde von einer deutschen Interviewerin im ehemaligen Arbeitszimmer ihres Mannes gefilmt: vor einem gemütlichen Kamin und neben einem höchst komfortablen Schreibtisch, einer Sonderanfertigung. Lion Feuchtwanger und zwei Sekretärinnen hatten einstmals daran Platz, in jeweils separaten Schreib-Buchten.

Hier fanden auch, so weiß ich von einer älteren Exilantin, die ich beim Drehen kennenlernte – ich schweife kurz ab –, hier fanden auch Lion Feuchtwangers in deutschen Zirkeln berühmte Lesungen statt. »Wenn Charlie Chaplin oder Aldous Huxley anwesend waren, mußte Feuchtwangers Übersetzer aus der englischen Übersetzung vorlesen«, erzählte sie mir.

»Sobald der Übersetzer nachmittags für den abendlichen Auftritt übte, hörte Feuchtwanger ihm zu und ließ ihn dabei nicht aus den Augen.«

»Feucht« – wie sie ihn manchmal kurz nannte – sei besonders nervös geworden, wenn der Übersetzer beim Lesen die Buchseiten dem Licht zugehalten habe. Er bat ihn dann immer ärgerlich: »Fenster weg!« und winkte den Mann auf den Drei-Buchten-Tisch zu, an dem er selbst saß oder lag. Weil der Übersetzer aber, durch solche Zwischenrufe verwirrt, zunächst seine Stelle wiederfinden wollte – noch ohne sich zu bewegen –, rief Feucht ihm zornig zu: »Antreten!« Was ihn dann nähertreten ließ.

»Und warum vom Fenster weg?« fragte ich die Exilantin.

»Weil just darunter Marta Feuchtwanger immer ihr Sonnenbad nahm – splitternackt.«

An anderen Abenden aber habe Feuchtwanger seinen Gästen selbst vorgelesen. Wenn Thomas Mann und Heinrich Mann, Alfred Döblin, Alma Mahler-Werfel, Ludwig Marcuse, Arnold Schönberg, Hanns Eisler und Bruno Walter zugegen waren, hätten sie die Texte natürlich deutsch zu hören bekommen – »selbst wenn ein paar Hollywood-Starlets unter den Gästen saßen. Die hätten sowieso nichts verstanden«, hieß es. Nur Bertolt Brecht habe sich bei den Lesungen nie sehen lassen. Der habe seinen eigenen Kreis gehabt. Ich fragte sie – weil ich mir die damalige Runde vorzustellen begann:

»Wurde das Vorgelesene von den Gästen denn diskutiert, kommentiert?«

»Sicher, aber nicht im großen Kreis.«

»Wie hat sich denn Thomas Mann zum Vorgelesenen geäußert?«

»Thomas Mann? ›Bravo, Lion, bravo!‹ hat er Feuchtwanger nach den Lesungen immer zugerufen.«

»Nichts weiter?«

»Nichts weiter«, meinte sie und lächelte listig.

Zurück zu jenem Dokumentarfilm, den wir drehten. In den Drehpausen, wenn der Kameramann das Licht neu einrichtete, muß mich Marta Feuchtwanger öfter beobachtet haben, wie ich langsam die Buchrückenreihen abging. Ich hätte es nie gewagt, ein Buch aus seinem eng besetzten Regal zu ziehen, aber sie tat das mehrere Male – für mich. Sie muß sich über meine kindliche Freude amüsiert haben – und schien mir dann selbst wie ein Kind. In einer Inkunabel hat sie mir vorgeblättert – »Schau’n Sie, schau’n Sie!« –, als sei’s eine Illustrierte.

Einmal, ich werde es nie vergessen, zog sie einen schmalen Band aus dem Regal und gab ihn mir in die Hand.

»Na, raten S’ mal, was das ist«, sagte sie und ließ mich allein mit dem Buch.

Ich begann, in dem Band zu blättern. Es war die alte Ausgabe eines Sophokles-Textes, die »Antigone«. Der ehemalige Eigentümer hatte sich manches griechische Wort am Blattrand übersetzt. Statt die jeweils fremde Vokabel im griechischen Text zu unterstreichen, ließ der Leser und Besitzer eine mit schwarzer Tinte entworfene Hand fingerdeutend aufs Wort zeigen: »Hier … Hier!« Über die Hand fand man dann zur Marginalie zurück.

Seltsam war die Schönheit, das Detail der so immer wieder gezeichneten Hände. Ich mußte unwillkürlich mit dem Finger daran rühren, denn die Feder des Besitzers war einige Male an der rauhen Oberfläche des Papiers angestoßen, hatte sich darin verhakt. Aber so, daß die Hand dem Betrachter an diesen aufgeworfenen Stichstellen nur noch plastischer erschien. War das Absicht gewesen? An den gezeichneten Händen waren selbst die Hügel der Knöchel und darüberhinlaufenden Sehnen erkennbar, warfen Schattenschraffur, als fiele vom Scheitel des Blatts ein Licht her auf sie.

Ich blätterte weiter, schlug dann zur ersten Seite des Buches zurück. In der unteren rechten Ecke war der handgeschriebene Name des Sophokles-Lesers zu entziffern: »Buonarroti«. Es war die Sophokles-Ausgabe des Michelangelo, die ich in Händen hielt.

Seine kreuz und quer durch Sophokles’ Zeilen gezeichneten Hände wiesen zwar immer aufs fremde Wort, aber nicht alle führten zu einer Übersetzung am Seitenrand. Michelangelo Buonarroti hatte, schien mir, dies im einzelnen Fall zwar immer vorgehabt, war aber öfter vom Plan abgekommen. Manche Hand war über den altgriechischen Worten so fein federgeführt, die Haltung-Drehung der Finger derart lebendig, ihr Sehnennetz aufgetan, um lichtere Knöchel her bogenbeschattet, daß der Zeichner das Übersetzen, den Sprung zum Rand der Textseite, über der Landschaft der Hand einfach vergessen hatte.

Hier, schien mir damals schon, ist etwas gesagt über das Spiel, das nur die eigene Aufgabe kennt. Nicht die Pflicht. Beim Schreiben ist das oft das Wichtigste: vom Plan, der Pflicht, abzukommen und dann sich ganz ins Detail des Entstehenden zu verlieben, es hier nicht zu verlassen, der Pflicht weiterzugehen nicht zu genügen, sondern zu verweilen, verspielt weiter an der zeitlosen Arbeit stehenzubleiben, an ihr – wie »unter Tage« – noch tiefer zu träumen.

Man könnte einwenden: »Und wenn er das griechische Wort einfach nicht zu übersetzen wußte, dein Michelangelo Buonarroti, und deshalb an seiner Hand immer weiter zeichnete?«

»Dann«, sage ich, »schau dir an, um wieviel reicher, für solches Unvermögen, die Zeichnung geworden ist.«

Hier wurde mir, je öfter ich daran dachte, immer klarer, wie wichtig es war, beim Eigenen zu verweilen, die Konzentration aufs Eigene weiterzutreiben, zu intensivieren. Nur dann entstehen »Hände«, die so aufs Fremde deuten, daß man es nicht mehr übersetzen muß, wie an der Hand genommen versteht.

Wenn ich dem Bild, dem sich so in Hände verliebenden Michelangelo, nachdenke, läßt sich erkennen, wer hier bedeutend handelt: Der intuitive, spielerisch-verspielte Mut, nicht weiterzugehen, inwendig zu verstehen, wo wir stehen, unsere Grenzen zu fühlen, ja, der Mut zurückzugehen, zu verweilen und gegen alle, gegen alles »Nach-vorn!«-Geschrei das Leben einmal nicht als ständiges »Weiter« zu begreifen, sondern nach dessen zeitlosen Eigenschaften zu suchen, sie vielleicht spielend zu finden, und das sagt: im einhaltenden Erkennen wahrhaftig Grenzen zu überschreiten.

Einige Jahre darauf, um 80/81 muß es gewesen sein, da brach so manches für mich zusammen. Meine Ehe mit Jude, einer Sängerin aus Nashville, Tennessee, hatte sich nach ganzen fünfzehn Monaten, dramaturgisch gesprochen, über die Krise hinaus katastrophenabwärts gestürzt. Keine Peripetie. Vom dritten sofort in den fünften Akt. Hollywood-style. Sicher habe ich damals auch mit dem Gedanken gespielt, nach Deutschland zurückzukehren. Die Scheidung war eingereicht, ich war ausgezogen, lebte nördlich von Hollywood, auf der anderen Seite der Hügel, bei einem amerikanischen Freund im San Fernando Valley – und lebe heute noch im selben Tal, nur wenige Meilen westlich von dessen damaliger Wohnung.

Zehn Jahre lang hatte dieser Freund versucht, einem CIA-Agenten, seinem Vater nämlich, reisend zu entkommen. Immer wieder, egal wohin er flüchtete, egal unter welchem Namen er sich im Hotel angemeldet hatte, kurz nach Verschließen der Zimmertür, klingelte stets das Telefon – und die Stimme von »Dad« meldete sich. Dieser Freund riet mir natürlich vom Reisen ab.

»Abhauen hat keinen Sinn«, sagte er.

Die Angst, vom Vater verfolgt und immer wieder gefunden zu werden, hatte dieser amerikanische Freund sublimiert. Er zitierte den Philosophen Ralph Waldo Emerson: »The giant is always with you.« Der Riese wird dich immer begleiten. »The giant«, der Riese, das war mir die eigene Aufgabe, vor der kein Entkommen war. Aber was war meine Aufgabe? Beim Spiel zu verweilen, sich auf das eine zu konzentrieren – wie Buonarroti, der über den Bildern die Worte vergaß?

First things first, dachte ich. Erstmal wollte ich »meine Sachen« aus der alten Wohnung holen, die ich mit Jude geteilt hatte. An die tausend Bücher, einen kleinen Aktenschrank mit Geschichten, Notizen, Filmkamera und Filmkopien, Kleidern. Aber als ich mich anmeldete, ließ sie mich wissen, daß sie die Schlösser ausgewechselt hatte, mir den neuen Schlüssel keinesfalls ausleihen würde. Sie sei auch keine Sängerin mehr. Nein, sie arbeite jetzt als Chefsekretärin für den Manager von Cher und Dolly Parton.

»Dann verdienst du ja genug money, honey«, sagte ich. »Was willst du mit meinen Büchern?«

»Die bleiben bei mir. Bis entschieden ist, wieviel Unterhalt du mir zahlst.«

Unterhalt? What the hell does she mean? Wir hatten beide nichts, weder Geld noch Kinder. Was hieß hier »Unterhalt«?

»Kein Unterhalt, keine Bücher«, sagte sie und hängte ein.

Neben meinem CIA-geplagten Freund wohnte damals ein Maskenbildner namens Jimmy Gillespie, der sich auf low-budget-Horrorfilme spezialisierte und, nachdem er tagsüber gutaussehende junge Männer und Frauen maskenbildnerisch in angehende Kadaver verwandelt hatte, allabendlich mit blutigen Händen nach Hause kam. Im Fenstereck neben seiner Haustür war deutlich ein roter Aufkleber zu sehen, der für potentielle Einbrecher gedacht war. Da las man:

»Meinen Hund, mein Auto, meine Frau
kannst du haben. Aber Pfoten weg
von meiner 45er Magnum.«

Jimmy, der mir haarklein erklärte, wie man jeden Einbrecher, um auf Nummer sicher zu gehen, noch vor der Haustür, ja am besten gleich durch die Türe hindurch: erschießen sollte – Überraschung sei Trumpf, so würde ein Zweikampf vermieden – und wie man den Toten oder Angeschossenen dann sofort an den Beinen in die eigene Wohnung zerren sollte, auf den guten Teppich, bevor man die Polizei verständigt – für jeden Polizisten in L.A. sei sofort klar, was sich zugetragen habe: »forced entry«, der Kerl war eingedrungen, man hatte in Notwehr gehandelt –, Jimmy Gillespie also klärte mich über die Rechtslage in meinem Fall auf.

»Du willst deine Bücher wieder haben?«

Um die vor allem ging es mir. Er wies mich darauf hin, daß ich ja immer noch die »driver’s license«, den Führerschein mit meiner alten Adresse, besaß.

»Du brichst dort einfach ein«, riet er mir. »Du kannst mit deinem Führerschein jederzeit beweisen, daß du dort wohnst, noch legal wohnst. Wir kommen mit ’nem Möbelwagen nach und helfen dir ausräumen.«

»Und was, wenn sie zufällig schon am Nachmittag nach Hause kommt?« fragte ich.

»Keine Sorge. Wir packen alles in die kleine Schweiz.« So nannte Jimmy den Möbelwagen, den er mieten wollte. »Sobald wir dein Zeug in der Schweiz haben, sind wir unantastbar, auf neutralem Gebiet. Sie würde Diebstahl begehen, wenn sie uns überraschen und die Sachen wieder ausräumen wollte.«

Am nächsten Tag also, gegen 3 p.m., brach ich in unsere Wohnung ein, öffnete mein altes Bibliothekszimmer und – fand es nicht mehr vor! Alles war ausgeräumt. Kein einziges Buch, kein einziger Zettel mehr vorhanden. Sie hatte meine Schätze gehoben, irgendwohin geschafft. Oder – mir kam ein grausamer Verdacht – sie hatte alles verkauft. Ich fürchtete schon den Augenblick, der mir bevorstünde, wenn ich, bei »Dutton’s« oder in einem anderen alten Buchladen stöbernd, plötzlich auf meine Bücher stieße.

Wir fuhren – mit leerer kleiner Schweiz – wieder zurück. Jimmy wollte sofort zum Gegenangriff übergehen, es gebe ja schließlich Abhörgeräte, mit denen man rauskriegen könnte, wo sie die Bücher versteckt hielt, und überhaupt: Es gebe todsichere Mittel, sie zum Reden zu bringen. Da pfiff ich ihn zurück. Mir wurde es unheimlich. Ich befürchtete, er wollte aus meinem Pech eine low-budget Horror-Produktion machen.

Ich suchte mir einen Anwalt, gab ihm eine Anzahlung auf das bevorstehende Scheidungsspektakel und flog nach Deutschland. Ich hatte »The Killers«, eine Charles-Bukowski-Geschichte, verfilmt und war guter Hoffnung, den Film in Europa verkaufen zu können. »Atlas Film« war interessiert und wollte mir, um auf Spielfilmlänge zu kommen, eine zweite Bukowski-Geschichte finanzieren: »You kissed Lily« (auch da ging’s um einen Kuß, der den Tod nach sich zieht). Kurz darauf erschien Marco Ferreris Bukowski-Verfilmung »Tales of Ordinary Madness« – in deutschen Kinos ein Flop. »Atlas« gab dem Risikodruck nach, ließ das Projekt fallen.

Ich wollte nicht aufgeben und fuhr nach Paris, um es mit dem Verkauf dort zu versuchen. Deprimierende Tage. Einmal saß ich in der Pariser Cinémathèque und erinnerte mich an das schöne Buch über die deutsche Stummfilmkunst, »Die dämonische Leinwand«, das Lotte Eisner geschrieben und das ich Jahre zuvor, während der Filmschulzeit in Los Angeles, in englischer Übersetzung gelesen hatte: »The Haunted Screen«. Eisner hatte mir Heimweh gemacht nach Deutschland und mich angesteckt mit ihrer »Sehnsucht nach den zwanziger Jahren und der deutschen Kultur«. Die alte Dame – sie war 1896 in Berlin geboren, also nur drei Monate nach der ersten öffentlichen Aufführung eines Films – wohnte außerhalb von Paris, in Neuilly, 5 Rue des Dames Augustines, eine gute halbe Stunde Fußweg von der Cinémathèque am Trocadéro entfernt.

Ich ging mit meinem Film zu Lotte Eisner. Aber als ich ihn ihr zeigte, stellten wir fest, daß die Augen der Fünfundachtzigjährigen zu schwach geworden waren, um mehr als nur hin- und herschweifende Schemen auf der Leinwand zu erkennen. Drei Nachmittage lang saßen wir dann im Gespräch beisammen. Ich hatte jenes Tonbandgerät dabei, das früher auf dem Beifahrersitz meines VWs gelegen hatte, und nahm unsere Worte auf.

Sie erzählte mir, wie sie als Siebzehnjährige noch völlig theatersüchtig war: Sie trug ein Medaillon mit Alexander Moissis Autogramm um den Hals. Einst war sie von einer Freundin zu einem Kostümball eingeladen worden und mußte absagen. Eisners strenger Vater hatte es verboten. Der Freundin habe sie dann noch mit Nadeln ein herrliches Kostüm zusammengesteckt und gesagt: »Mußt mir morgen erzählen, wie’s war.« Nächsten Tags kam die Freundin: »Du, ich hab einen Dichter kennengelernt, der ist ziemlich verrückt nach mir. Er hat mir was von sich zu lesen gegeben. Leider alles noch handschriftlich, also lies du es doch. Wenn du’s gut findest, dann fang ich was mit ihm an.« Die ganze Nacht hindurch las die »Eisnerin«, so hat er sie später immer genannt, den »Baal« – in der Handschrift des Autors Bertolt Brecht.

1933 mußte sie, die jüdische Filmkritikerin, Deutschland verlassen, denn im »Völkischen Beobachter« habe es geheißen: »Wenn Köpfe rollen, wird auch dieser Kopf rollen«. In Paris gab sie Deutsch- und Lateinstunden, war eine schlechte Sekretärin und führte Kinder spazieren. Da traf sie auf Henri Langlois – den Gründer der Cinémathèque – und George Franju, zwei »vom Film Überwältigte«, wie sie sagte, »die Stummfilme zu retten suchten«. Die beiden hatten einen kleinen Ciné-Club, »Cercle de Cinéma«, zu dem auch Sartre und Cocteau gehörten. Lotte Eisner wurde während der Okkupation verhaftet und kam mit anderen Juden ins Vél d’Hiver, das Pariser Velodrom, das als Sammellager benutzt wurde. Nach acht Tagen in die Waggons. Es gelang ihr, aus dem KZ in Gurs zu entkommen und sich mit Hilfe der Tochter des James Joyce-Übersetzers Louis Gilet falsche Papiere zu beschaffen. »Louise Escoffier« hieß sie nun, weil sie die Nazis haßte und »Carmen« bei Prosper Mérimée von ›escoffier‹ spricht, was in der Zigeunersprache »töten« bedeutet. Langlois bot ihr an, sich in ein Schloß im Zentralmassiv zu flüchten, in dessen bergwerktiefen Verliesen – den »oubliettes« aus dem 12. Jahrhundert – Langlois alle damals verbotenen Filme versteckt hielt. »Da hatten wir«, sagte sie, »alle Russenfilme von Eisenstein und Pudowkin, wir hatten den ›Großen Dikator‹ von Chaplin und ›Kuhle Wampe‹ von Dudow«. Eisner erhielt von Langlois Weisung, im Schloß kein Feuer anzuzünden. Sie durfte sich mit Arbeit warm halten. Der Zustand jener Nitratfilme mußte überprüft, unzählige Rollen aus verrosteten Blechdosen gehoben und identifiziert werden. 1945, gleich nach dem Krieg, wurde Eisner zur Chefkonservatorin der Cinémathèque Française ernannt.

An unserem letzten Nachmittag erzählte die alte Frau mir von ihrem Treffen mit Sergej Eisenstein, dessen Schriften ich damals las. Neben Eisensteins Filmen waren es eben seine Aufzeichnungen über Filmregie und Literatur, die mich faszinierten. Eisenstein war ein Einheizer. Einer, der dich für den, der ihn faszinierte, mitbegeistern konnte. Eisenstein hatte mich für Balzac begeistert, für seine Bücher, für Balzacs Arbeitsmethode: das Schreiben ab Mitternacht, wenn die übrige Welt, wie unter Tage gefahren, in Dunkel und Stille liegt und die eigene, innere Sonne heraufsteigt.

Als ich schließlich von Lotte Eisner Abschied nahm, meinte sie, die sicher ahnte, wie dreckig es mir ging, ich solle noch ein gewisses Museum aufsuchen.

»Sehen Sie sich das an. Das ist sicherlich was für Sie«, sagte die alte Frau und schaute sich, als sie fortging, noch einmal nach mir um.

Das »Musée Balzac« in der ehemaligen Rue Basse war ein restauriertes Haus, in dem der große Nachtarbeiter einst gewohnt hatte. Und hier geschah das Entscheidende.