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Die Ohnmacht der Macht
Die Macht der Ohnmacht

Herausgegeben von

Corinne Michaela Flick

 

 

 

 

 

 

 

 

 

WALLSTEIN       CONVOCO! EDITION

 

 

 

Die fast unlösbare Aufgabe besteht darin, weder

von der Macht der anderen, noch von der eigenen Ohnmacht sich dumm machen zu lassen.

 

Theodor W. Adorno (1903-1969)

Inhalt

Einführung

Thesen

Corinne M. Flick

Gedanken zum Verhältnis von Macht und Ohnmacht

Clemens Fuest

Grau ist alle Theorie? Ohnmacht und Macht der wissenschaftlichen Politikberatung

Stefan Korioth

Wissenschaft und Politik: Monologe, Gespräche unter Abwesenden oder fruchtbarer Dialog?

Brendan Simms

Das Paradox deutscher Macht und Ohnmacht in Europa: eine historische Sicht

Wolfgang Ischinger

Diplomatie und Macht: Zum Einsatz militärischer Mittel in der internationalen Politik

Albrecht Ritschl

Wem gehört der Euro? Gemeinschaftswährung und nationale Machtlosigkeit in der europäischen Schuldenkrise

Kai A. Konrad

Macht und Ohnmacht der EZB

Jörg Rocholl

Über den Wert politischer Beziehungen von Unternehmen

Thomas Hoeren

Die Macht der Daten und die Datenqualität

Hans Ulrich Obrist und Simon Denny im Gespräch

Kunst, Holakratie und der Wandel von Machtstrukturen

Christoph G. Paulus

Gedanken zur Bändigung von Macht

Roger Scruton

Die Macht der Ohnmächtigen: Gedanken nach Václav Havel

Die Autoren

Einführung

Liebe Convoco-Freunde,

im Mittelpunkt der Convoco Edition steht das Thema »Die Ohnmacht der Macht. Die Macht der Ohnmacht. Wer übt in der globalisierten Welt tatsächlich die Macht aus?« Beleuchtet wird die Schnittstelle, an der sich Politik, Wirtschaft und Wissenschaft treffen. Es geht um Expertise, Beratung und – natürlich – um Beeinflussung.

Macht und Ohnmacht kommen immer als Paar. Sie sind nur scheinbar Gegensätze. Es gilt, diese Verquickung und Abhängigkeit zwischen Macht und Ohnmacht zu beleuchten. Das Verhältnis zwischen Entscheidungsträger und Berater steht hierbei im Blickpunkt. Der Experte und Berater in der klassischen Rolle des Ohnmächtigen hat die Macht, Macht zu beeinflussen. Wenn sein Rat gehört wird, kommt ihm eine wichtige Funktion zu: Er schafft für den Entscheider den Zugang zur Welt, indem er Entscheidungsmöglichkeiten aufzeigt. Die Entscheidungen des Entscheidungsträgers sind somit weniger frei, da er sich auf den Rat seiner Ratgeber und Experten verlässt. So sind beide, Berater und Entscheider, voneinander abhängig.

Ein Beispiel für die Schwierigkeit des Verhältnisses von Wissenschaft und Politik – also Berater und Beratenem – zeigt Bertolt Brecht in seinem Stück »Leben des Galilei«. Um den Machthabern, den Medici, zu gefallen, »schenkt« Galileo Galilei ihnen die von ihm entdeckten Jupitermonde, indem er sie die »Mediceischen Gestirne« nennt. Mit dieser Entdeckung hat er den Beweis für die Existenz des heliozentrischen Planetensystems erbracht. Doch die Gesandten des Hofes sind nicht einmal bereit, durch das Fernrohr zu blicken. Sie werfen Galilei vor, die Sterne auf die Linse gemalt zu haben. Die wissenschaftliche Erkenntnis gefährdete die Strukturen, auf denen die Macht basierte. Ein klassischer Fall von Beratungsresistenz.

Zur gleichen Zeit ist wichtig, Licht in den Vorraum der Macht zu werfen. Man sollte erkennen, welchen Einfluss Berater haben, welche Rolle ihr Wirken spielt, damit zum Beispiel der demokratische Prozess nicht unterwandert wird oder Transparenz verloren geht. Der Souverän – das Volk – muss sich darauf verlassen können, dass seine gewählten Vertreter nicht Gutachter und Gremien entscheiden lassen oder ihre Verantwortung gar auf Letztere abwälzen.

Dieser Band diskutiert die Fragen: Was ist Macht? Was heißt heute wirksam werden? Wie erzielen wir Wirkung? Wie stehen wissenschaftliche Beratung und Politik zueinander? Wer hat Macht über den Euro? Wie mächtig ist die EZB? Wie gehen wir mit geopolitischem Machtzerfall um? Wie schränkt man Macht ein? Wie muss sich unser Machtverständnis wandeln, damit es zeitgemäß und nicht ohnmächtig wird? Auf die letzte Frage gibt Roger Scruton in seinem Beitrag eine Antwort: »Wahre Souveränität, wahre Freiheit, wahre Verantwortung sind ein und dasselbe […] Man ist nicht deswegen frei, weil man tun kann, was man will, oder seine Wünsche befriedigen kann. […] Es ist die Macht, die in der Wahrheit selbst liegt, in der Fähigkeit, dem anderen im offenen Dialog gegenüberzutreten und anzuerkennen, dass dieser andere das Recht hat, anderer Meinung zu sein.«

 

Corinne Michaela Flick, im Januar 2016

Thesen

Dass die Macht nicht alleine kommt, sondern an die Ohnmacht gekoppelt ist, scheint nur auf den ersten Blick paradox. In Wirklichkeit sind Macht und Ohnmacht nur scheinbare Gegensätze. Sie gehören zusammen wie zwei Seiten einer Medaille, sie bedingen einander gegenseitig. Es besteht eine Dialektik zwischen beiden.

Corinne M. Flick

 

Mindestens ebenso wie große Persönlichkeiten in Politik und Politikberatung brauchen wir exzellente Wissenschaft, eine verständliche Kommunikation der Politikberater und einen Wettstreit der Argumente. Wettstreit der Argumente bedeutet, dass wir Auseinandersetzung und Dissens in der Debatte nicht als negativ, sondern als fruchtbar verstehen sollten. Theorie ist nicht grau, Politikberatung hat die Macht, die sie braucht. Wenn Beiträge aus der Politikberatung zu öffentlicher Auseinandersetzung führen, dann funktioniert Politikberatung. Gerade in Deutschland brauchen wir nicht mehr Konformismus, sondern mehr fruchtbaren Dissens. Der beste Hüter des Gemeinwohls ist letztlich weder die Politik noch die Politikberatung, sondern eine streitlustige, kritische und lebendige Öffentlichkeit.

Clemens Fuest

 

Wissenschaft und Politik haben sich seit 1945 nicht voneinander entfernt. Ganz im Gegenteil. Das Bewusstsein, aufeinander angewiesen zu sein, ist eher stärker als schwächer geworden. Eine Konstante der Entwicklung liegt darin, dass Wissenschaft heute mehr von ihrem gesellschaftlichen und politischen Umfeld geprägt ist, als sie diesem umgekehrt ihre Signaturen geben kann. Was ihr in jedem Fall als Verpflichtung bleibt, ist die Wahrung ihrer Unabhängigkeit, beginnend mit der Formulierung ihrer Fragen, endend bei den Antwortversuchen.

Stefan Korioth

 

Die Geschichte zeigt, dass eine erfolgreiche Staatenunion nicht aus einem allmählichen Zusammenwachsen unter relativ ruhigen Bedingungen hervorgeht, sondern durch scharfe Brüche in extremen Krisenzeiten. Sie entwickeln sich nicht langsam, sondern entstehen mit einem »großen Knall«. Es sind Ereignisse, keine Prozesse. Die politische Vereinigung Europas, die der Kontinent so dringend braucht, erfordert daher einen einzigen kollektiven Willensakt seiner Regierungen und Eliten und letztlich seiner Bürger.

Brendan Simms

 

Auch künftig werden Konflikte immer wieder mit militärischer Macht ausgetragen. Die Theorie allerdings, dass sich mit überwältigender militärischer Dominanz alles lösen lasse, hat sich als Trugschluss erwiesen. Man hat verstanden – eine Erkenntnis, die man auf Clausewitz zurückführen kann –, dass sich mit militärischen Mitteln in aller Regel nur militärische Probleme lösen lassen. Wenn aber ein politisches Problem zu lösen ist, bedarf es vor allem eines politischen Konzepts, zu dessen Umsetzung es unter Umständen des Militärischen bedarf.

Wolfgang Ischinger

 

Keine Lösung des Staatsschuldenproblems bedeutet die Verewigung des Ausnahmezustands: ein Euro, der langlebiger ist als man dachte, der weicher ist als man wollte, und in dem ein ungeordneter Finanzausgleich die schwachen an die starken Länder bindet, ob man das will oder nicht. Solange die Schuldenfrage in Europa ungeregelt bleibt, ist die EZB unangefochtene Krisenmanagerin, Herrin eines verewigten Ausnahmezustands und der eigentliche Souverän der Eurozone.

Albrecht Ritschl

 

Die mächtige EZB befindet sich heute mehr denn je in einer Position der Ohnmacht. Das scheinbar paradoxe Argument lautet dabei, die EZB habe nicht zu wenig Handlungsoptionen, sondern zu viele. Aus verhandlungstheoretischer Sicht schwächt sie dieses breite Mandat. In der Rolle des Samariters muss die EZB ihr mächtiges Instrumentarium zur Krisenbereinigung einsetzen, statt ein klares, geldpolitisches Ziel in völliger Unabhängigkeit zu verfolgen.

Kai A. Konrad

 

Der Grat zwischen legitimem Lobbyismus und zu verurteilender Korruption ist schmal, daher ist es besonders wichtig, die Kriterien zu beschreiben, die sicherstellen können, dass politische Verbindungen von Unternehmen in nachvollziehbarer und transparenter Weise eingesetzt werden.

Jörg Rocholl

 

Macht hat viel mit Wissen, mit dem Zugriff und der Verwertung von Daten, zu tun. Doch die Frage der Datenqualität wird im Rahmen der Macht-Diskussion kaum gestellt. Dies hat auch damit zu tun, dass juristische Standards für Datenqualität fehlen.

Thomas Hoeren

 

Ist es nicht interessant, dass Menschen, die für angebliche Geheiminstitutionen wie die NSA arbeiten, ihre Projekte online stellen? Wenn man sich die Zeit nimmt, kann man problemlos von der Art ihrer Arbeit in diesen Institutionen auf ein Team, eine Gruppe von Mitarbeitern schließen. Die öffentliche Darstellung in den sozialen Medien unterläuft quasi die Geheimhaltung der Regierungsstelle.

Simon Denny

 

Ausgehend von der Antithese von Macht und Ohnmacht, bei der die Rollenverteilung keineswegs geklärt ist, weil der Mächtige der Ohnmächtige und der Ohnmächtige der Mächtige sein kann, zeigt sich, dass Machtentfaltung Gegenbewegungen auslöst, die die Macht zu bändigen versuchen. Je nachdem, um welche Machtbasis es dabei geht, ob sie also veränderbar ist oder nicht, sind die Methoden der Bändigungsversuche unterschiedlich. Immer aber ist ihnen die Besonderheit zu eigen, dass sie wie das Wasser in kommunizierenden Röhren in wechselseitiger Abhängigkeit stehen.

Christoph G. Paulus

 

Wo die herrschende Macht keine Autorität besitzt, erzeugt die Suche nach der Autorität – selbst wenn es nur eine charismatische und persönliche Autorität ist – Macht einer anderen Art. Und zwar eine Macht, die in einer Art wirkungsvoll ist, wie es sich die »Autoritäten«, wie sie sich ironisch selbst bezeichnen, niemals erhoffen können; nämlich die Macht, die Herzen und Seelen der Menschen zu bewegen und sich mit ihnen in dem zu verbinden, was Pato√ka die »Solidarität der Erschütterten« nannte. Es ist eine Macht, die entsteht, wenn man die Wahrheit da platziert, wo sie hingehört, in das Zentrum unseres Lebens und an den Anfang und das Ende unseres Diskurses.

Roger Scruton

Corinne M. Flick

Gedanken zum Verhältnis von Macht und Ohnmacht

Was heißt heute wirksam werden?

Zunächst ist der Begriff Macht neutral. Macht ist weder positiv noch negativ zu verstehen. Erst durch die Art und Weise, wie Macht angewendet wird, wird sie zur guten bzw. unterdrückenden Kraft.

Für den Soziologen Max Weber bedeutete Macht »jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance beruht«.[1] Macht ist die Fähigkeit, andere seinem Willen zu unterwerfen, also das Handeln anderer zu steuern. Ziel dabei ist, Kontrolle über die Wirkung des Handelns zu haben.[2] Denn es geht bei der Ausübung von Macht vornehmlich um die Wirksamkeit des Tuns. Macht zu haben bedeutet, Wirkung zu erzielen, indem man etwas auslöst bzw. etwas verhindert, nicht nur etwas unternimmt bzw. für oder gegen etwas handelt. Dieser Gedanke findet sich vor allem in der chinesischen Kultur. Auch der Philosoph Rainer Forst versteht Macht als das Vermögen, »den Raum der Gründe für andere bestimmen oder gegebenenfalls sogar verschließen (oder auch aufschließen) zu können«.[3] Macht ist dementsprechend das Vermögen, andere dazu zu motivieren, etwas zu denken bzw. etwas zu tun, das sie sonst nicht gedacht oder getan hätten. »Das bedeutet, dass der wirkliche Machtvorgang sich auf der Ebene der Gründe abspielt.«[4] Hier, so könnte man sagen, findet der eigentliche Kampf um Macht statt.

Ein interessantes Phänomen ist, dass die Macht nicht alleine kommt, sie ist an die Ohnmacht gekoppelt. Das scheint nur auf den ersten Blick paradox. In Wirklichkeit sind Macht und Ohnmacht nur scheinbare Gegensätze. Sie gehören zusammen wie zwei Seiten einer Medaille, sie bedingen einander gegenseitig. Die entscheidungsfähige Macht und die entscheidungsunfähige Ohnmacht sind stets aufeinander bezogen. Es besteht eine Dialektik zwischen beiden. So kann ein Entscheider nicht ohne Zugang zur Welt entscheiden. Diesen erhält er in vielen Fällen durch Dritte, die ihn im Vorfeld einer Entscheidung unterrichten und beraten. Denn jede Entscheidung ensteht durch das Abwägen von Alternativen. Margaret Thatchers Maxime TINA, was für There is no alternative steht, gibt keine Grundlage für eine Entscheidungsfindung. Für eine echte Entscheidung braucht es zumindest eine Wahlmöglichkeit. Um diese Möglichkeiten auszuloten, ist in vielen Fällen Expertise notwendig. Die meisten Entscheidungen setzen heutzutage einschlägigen Sachverstand voraus.

Die Tendenz zur Ökonomisierung aller wesentlichen Lebenssachverhalte verstärkt diesen Trend. Auch die Flut von Informationen, denen der Einzelne ausgesetzt ist, ist eine Herausforderung, die bewältigt werden muss. Immer mehr erfordert die Komplexität unserer staatlichen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklungen, dass Entscheidungen durch Experten und Berater vorbereitet werden.

Schon um das Kriterium der verantwortlichen Meinungsbildung zu erfüllen, braucht es eine Kultur der Vermittlung spezialisierten Wissens. Eine solche Kultur ist seit einigen Jahren im Entstehen.[5] Eine autonome Entscheidung ist immer seltener möglich, was nicht heißen soll, dass man nicht intuitiv entscheiden kann. Wenn alle Entscheidungsalternativen vorliegen, ist man oft aufgefordert, intuitiv sich für eine zu entscheiden.

Wie bereits dargelegt, erhält der Entscheider Zugang zur Welt durch Dritte. Berater, Vermittler und Experten sind maßgeblich an der Entscheidungsfindung beteiligt. Dabei gilt zu beachten, dass es weder den neutralen Berater gibt, der keine Wirkung ausüben möchte, noch den rationalen Entscheider, der eigenständig und unbeeinflusst entscheidet. Die gute Beratung bedeutet somit das Elend der Ohnmacht für den Entscheider. Im äußersten Fall wird der Machthaber zur Marionette der Leute, die ihn beraten. Die Vermutung liegt nahe, dass die Ohnmacht mächtiger als die Macht selbst sein kann. Denn »wer dem Machthaber einen Vortrag hält oder ihn informiert, hat bereits Anteil an der Macht. […] Es genügt, dass er dem menschlichen Individuum, in dessen Hand für einen Augenblick die Entscheidung liegt, Eindrücke und Motive vermittelt.«[6]

Macht wird klassisch über den Zugang zum Machthaber reguliert. Denn Voraussetzung ist, dass man gehört wird. Beispiele in der Geschichte gibt es einige. Denken wir an Kardinal Richelieu und Ludwig XIII. oder vor allem an Kardinal Mazarin und Ludwig XIV. Zwei Berater usurpieren die Macht. Sie entscheiden für die Kindkönige dadurch, dass sie den Zugang zu deren Müttern haben. In der Rolle des Erziehers und Ratgebers werden sie selber zum Mächtigen.

Auch für Machiavelli bestand das Problem der Politikberatung im Problem des Zugangs. Als verbannter Florentiner und Republikaner musste er den Medici – den Gegnern der Republik – beweisen, dass er ein verlässlicher und treuer Berater war. Ohne Zugang kann man seinen Rat nicht platzieren und bleibt von der Macht ausgeschlossen. Ein aktuelles Beispiel aus der jüngsten Geschichte zeigt, dass Experten nur gehört werden, wenn sie Zugang zur Macht haben. So gab es präzise Vorhersagen der Ereignisse von 1989 bzw. der Krise von 2008 von Experten, die keinen eindeutigen Zugang zur Macht hatten und daher nicht gehört wurden. Ökonomen wie Nouriel Roubini und der spätere Nobelpreisträger Robert Shiller hatten bereits 2006 Vorhersagen zur Finanzkrise gemacht. In Irland wies der Wirtschaftsprofessor Morgan Kelly frühzeitig auf die irische Immobilienblase hin und wurde daraufhin öffentlich attackiert. In den 70er Jahren sagten Wissenschaftler verschiedener Länder den Fall des Kommunismus vorher, doch da die herrschende Meinung von einer starken Position der UdSSR ausging, wurden die Erkenntnisse nicht ernsthaft in die politische Planung einbezogen.

Das Verhältnis von Wissenschaft und Politik

Heute werden Politiker vielfach durch Wissenschaftler beraten. Neben dem Sachverstand, den die Wissenschaft zur Verfügung stellt, trägt Politikberatung zur Politikformulierung bei. Der Philosoph Peter Sloterdijk definiert einen Experten als jemanden, der auf ein Problem aufmerksam macht und in manchen Fällen es erst findet. Er sieht die vorrangige Funktion der Experten darin, ein Bewusstsein für Probleme zu stiften. Ein Problem – so Peter Sloterdijk – ist die Art und Weise, wie wir über ein Thema sprechen, soll heißen, wie wir mit ihm umgehen.[7]

Durch die Fähigkeit, das Interesse auf Probleme zu lenken, erzielt man Wirkung. Darin drückt sich Macht aus. Man kann es »Führung durch Problematisierung« nennen. Es geht um das Führen der Aufmerksamkeit durch Thematisierung. In der Politik spricht man von Agenda Setting: Durch das Führen von Themenstellungen, durch das Besetzen von Begriffen, durch die Demonstration von Kompetenz für Problematisierungen werden andere und die öffentliche Meinung beeinflusst.[8] Die Wissenschaft ist in ihrer Ohnmacht mächtig. Diese Dialektik von Ohnmacht und Macht lässt sich nicht aufheben. In dieser Dialektik zeigt sich außerdem, dass Macht nicht in Institutionen oder Strukturen fest verankert ist. Sie sitzt »im […] Raum, in dem um Hegemonie gestritten wird.«[9]

Was hält Macht und Ohnmacht in Balance? Recht legitimiert einerseits Macht und andererseits bändigt es sie. Eine demokratische Rechtsordnung ist eine Ordnung von Freiheiten. Sie ist der Garant für das Zusammenleben von Menschen. Eine wesentliche Aufgabe der Rechtswissenschaft ist die Begründung einer akzeptierbaren und durchsetzbaren Ordnung. Denn das Recht wie auch die Religion und die Philosophie des Rechts sind die Letztbegründungen einer Gesellschaft in dem Sinn, dass das Recht Orientierung bietet. Es ist die letzte sichere Grundlage, auf die sich der Einzelne beziehen kann.

Man kann sagen, dass jede Gesellschaft wie ihr Rechtssystem ist. Je stärker das Recht in einer Gesellschaft verankert ist, desto verlässlicher funktioniert diese Gesellschaft. Das Recht garantiert ein zivilisiertes Miteinander in Freiheit auf der Basis von Vertrauen.

An dieser Stelle ist es daher wichtig, die Definition des »Wir«, also des Kollektivs, in Erinnerung zu rufen; nämlich als eine Gesellschaft gemeinschaftlicher Werte, als eine Gesellschaft von Verfassungs- und Rechtspatrioten – wie Dolf Sternberger sagt.[10] Wir sollten unser Recht lieben; und zwar in der Form, dass wir es beachten und wertschätzen. Denn am Ende ist es das Recht, das die Macht des Einzelnen genauso wie die Macht von Unternehmen und Regierungen beschränkt und vor Machtmissbrauch schützt. Dabei gilt: »Wie nämlich zur Erhaltung guter Sitten Gesetze nötig sind, so sind auch zur Beachtung der Gesetze gute Sitten erforderlich.«[11]

Clemens Fuest

Grau ist alle Theorie? Ohnmacht und Macht der wissenschaftlichen Politikberatung

1. Politikberatung zwischen Macht und Ohnmacht

Wer sich als Wissenschaftler in der Politikberatung versucht, wird sich mit hoher Wahrscheinlichkeit früher oder später diesen Satz anhören müssen: »Grau ist alle Theorie.« Gemeint ist: Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler verstehen die Welt nicht, Politikberatung ist nutzlos, Frauen und Männer der Praxis müssen die Dinge in die Hand nehmen. Das ist eine Variante der Idee von der Ohnmacht wissenschaftlicher Politikberatung: Ohnmacht durch Unfähigkeit. Nur die Praktiker der Politik wissen, wie Politik zu gestalten ist. Wissenschaftler sind von den realen Problemen zu weit entfernt.

Viele, die diesen Satz verwenden, wissen vermutlich, dass er aus Goethes Faust stammt. Sie vergessen aber leicht, wer ihn ausspricht: Mephisto, der Teufel.

»Grau, teurer Freund, ist alle Theorie und grün des Lebens goldener Baum.«[1]

Das sagt Mephisto einem Schüler im Studierzimmer, um ihn vom Lernen abzulenken. Die Idee, Theorie sei entbehrlich, die Praxis allein reiche aus, ist also eine Idee des Teufels. Ideen, die vom Teufel kommen, sehen auf den ersten Blick verführerisch aus. Sie erweisen sich aber schnell als nicht tragfähig. Einer, der das erkannt hat, war John Maynard Keynes: Er hat die Bedeutung von Theorien für die Wirtschaftspolitik so beschrieben: »Viele Praktiker, die von sich glauben, von intellektuellen Einflüssen ziemlich frei zu sein, sind in Wahrheit Sklaven irgendeines lange verblichenen Ökonomen.«[2]

Das ist die These einer subtilen Macht der wissenschaftlichen Politikberatung: Wissenschaft produziert Ideen. Keynes hielt Ideen für mächtiger als Partikularinteressen, die kurzfristig großen Einfluss zu haben scheinen. Er war der Auffassung, dass jeder, der politische Entscheidungen fällt, bewusst oder unbewusst Theorien über die Funktionsweise der Wirtschaft folgt, die er irgendwann einmal gehört und übernommen hat. Da Keynes meinte, dass die meisten Menschen jenseits eines Alters von 25 bis 30 Jahren aufhören, neue Ideen aufzunehmen und ihre Auffassungen über Staat und Wirtschaft folglich nicht mehr ändern, beruht ihr Wissen, wenn sie in Positionen mit Entscheidungsmacht geraten, in der Regel auf veralteten Ideen.[3] Verstorbene Wissenschaftler beeinflussen die wirtschaftspolitischen Praktiker der nachfolgenden Generation. Viele Ideen und Argumente, die in der Vergangenheit entwickelt wurden, sind bis heute wertvoll. Manche geraten in Vergessenheit, obwohl sie wertvoll sind. Trotzdem sollten wirtschaftspolitische Entscheidungen – wie politische Entscheidungen überhaupt – aktuelle wissenschaftliche Ergebnisse berücksichtigen. Deshalb wäre es klug, wenn Praktiker sich für Erkenntnisse der modernen Wissenschaft interessieren würden. Viele Entscheidungsträger im wirtschaftspolitischen Prozess tun das auch und sind zumindest offen für den Austausch mit der Wissenschaft.

Im Folgenden soll es deshalb um Politikberatung unter Lebenden gehen. Politikberatung hat ebenso wie das Nachdenken darüber eine lange Geschichte, die bis in die Antike zurückreicht. Politikberatung der Vergangenheit war dabei oft die Beratung von Fürsten, mehr oder weniger autoritären Herrschern. Diese Art der Beratung hat ihre eigene Komplexität und ihre eigenen Widersprüche.[4] Sie unterscheidet sich allerdings in wichtigen Aspekten von der Politikberatung unserer Zeit, der Politikberatung in modernen Demokratien, auf die ich mich hier beschränken möchte.

In Deutschland ist es in letzter Zeit immer wieder zu harscher Kritik an Politikberatern und dem Politikberatungsbetrieb gekommen. Als der Sachverständigenrat für Wirtschaft den Mindestlohn kritisiert hat, wollten manche Politiker ihn gleich abschaffen. Nicht den Mindestlohn, sondern den Sachverständigenrat. Das wirft die Frage auf, was eine Beratung bringt, wenn diejenigen, die beraten werden sollen, den Rat ablehnen? Ist da nicht etwas faul? Dieser Streit spricht eher dafür, dass die Politikberatung in Deutschland, soweit sie sich in der Öffentlichkeit vollzieht, ganz ordentlich funktioniert.

Um das nachvollziehen zu können, muss man verstehen, wie Politikberatung in modernen Demokratien funktioniert.

2. Modelle der Politikberatung

Wie funktioniert Politikberatung und was kann sie leisten? Ich möchte diese Frage gerne anhand einer Reihe von »Modellen« der Politikberatung diskutieren, also vereinfachten Darstellungen, die wesentliche Aspekte des Problems herausarbeiten.[5]

Modell 1: Die Wissenschaftler stellen fest, was die richtige Wirtschaftspolitik ist, um das Gemeinwohl zu maximieren. Sie beraten die Politiker entsprechend, und die Politiker setzen die Politik um.

Dieses Modell der Politikberatung mag naiv erscheinen. Es eignet sich aber gut als Ausgangspunkt unserer Überlegungen. Das Modell beruht auf einer Reihe von Annahmen:

  1. Es existiert so etwas wie das Gemeinwohl.
  2. Die politischen Entscheidungsträger wollen das Gemeinwohl maximieren.
  3. Die Wissenschaftler wollen ebenfalls das Gemeinwohl maximieren.
  4. Es lässt sich wissenschaftlich ermitteln, wie das Gemeinwohl maximiert wird.

Was ist von diesen Annahmen zu halten? Annahme 1 ist die am wenigsten problematische, obwohl das Konzept des »Gemeinwohls« viele Fragen aufwirft. Die Idee, dass es so etwas wie »das Gemeinwohl« gibt, darf nicht mit der Vorstellung verwechselt werden, es gebe für freiheitliche Gesellschaften eine gemeinsame Zielsetzung, der sich die Mitglieder dieser Gesellschaft unterzuordnen haben. Kennzeichen freiheitlicher Gesellschaften ist gerade, dass ihre Mitglieder sehr unterschiedliche Vorstellungen über die Gestaltung ihres Lebens haben. Das gemeinsame Ziel besteht darin, individuelle Freiheiten einzelner Mitglieder der Gesellschaft nur insofern zu beschränken, wie dies notwendig ist, damit die Nutzung dieser Freiheiten nicht die Freiheit der anderen untergräbt. In der politischen Praxis moderner Demokratien besteht über bestimmte Ziele der Politik häufig Einigkeit: Anliegen wie das Sorgen für innere und äußere Sicherheit, die Bereitstellung öffentlicher Infrastruktur, soziale Sicherung, Umweltschutz oder die Förderung von Wissenschaft und Kunst sind weithin akzeptierte Ziele staatlichen Handelns.

Bei Annahme 2 wird es schon schwieriger. Arbeiten die politischen Entscheidungsträger allein darauf hin, das Gemeinwohl zu maximieren? Würde man darüber abstimmen, ob das so ist, wäre das Ergebnis vermutlich ernüchternd. Für einen Ökonomen ist es ohnehin alles andere als naheliegend anzunehmen, dass Politiker das Gemeinwohl maximieren. Ökonomen arbeiten mit dem Analyseinstrument des »Homo oeconomicus«, der kühl seine persönlichen Interessen verfolgt. Bei Politikern wären das in erster Linie die Machterhaltung, die Wiederwahl, die Durchsetzung eigener ideologischer Präferenzen, vielleicht auch ein hohes Einkommen.

Sicherlich gibt es Politiker, die idealistisch sind und das Wohl ihres Landes mehren wollen. Aber auch die müssen darauf achten, wiedergewählt zu werden, sonst erhalten sie gar nicht die Gelegenheit, ihrem Land zu dienen.

Damit gilt das oben genannte Modell 1 nicht mehr, und wir sind beim zweiten Modell der Politikberatung. Es lässt sich wie folgt beschreiben:

Modell 2: Die Wissenschaftler wollen das Gemeinwohl maximieren, es lässt sich auch wissenschaftlich ermitteln, wie das geht, aber die Politiker verfolgen eigene Interessen, die vom Gemeinwohlziel abweichen können.

Dieses Modell ist nur wenig überzeugender als das erste, aus Gründen, die im Folgenden noch näher diskutiert werden. Dennoch ist es erstaunlich weit verbreitet. Mir begegnet es erstens in persönlichen Gesprächen. Mir wird oft gesagt, es sei ein Skandal, dass die Politik so wenig auf den Sachverstand der Ökonomen zurückgreife und die vielen guten Ratschläge nicht umsetze. Häufig werde ich gefragt, ob ich nicht furchtbar frustriert darüber sei. Ich nehme das als eine freundliche Geste und vermute, dass viele dieser Menschen durchaus sehen, dass nicht jeder Ratschlag der Politikberater überzeugend genug ist, um sofort umgesetzt zu werden.

Zweitens, und das ist erstaunlicher, gibt es Wissenschaftler, oft selbst Berater, die zumindest vorgeben, an dieses Modell zu glauben. Sie beklagen sich immer wieder darüber, dass ihr Rat nicht gehört wird, und führen das auf selbstsüchtige, schlecht informierte oder von Interessengruppen gesteuerte Politiker zurück.

Ein Beispiel für einen Ökonomen mit dieser Sicht der Welt ist Jeffrey Frankel, der immerhin ökonomischer Berater des US-Präsidenten Bill Clinton war. Er hat einen Aufsatz verfasst mit dem Titel: »Was kann ein wirtschaftspolitischer Berater tun, wenn der Präsident eine schlechte Wirtschaftspolitik macht?«[6]

In diesem Aufsatz schreibt er: »Es wäre erstaunlicher Zufall, wenn ein Präsident in jeder wirtschaftspolitischen Frage stets die Position seines wirtschaftspolitischen Beraters übernehmen würde. Aber es ist wahrscheinlich, dass die Unterschiede zwischen der Position des Präsidenten und guter Wirtschaftspolitik besonders groß sind in Bereichen wie dem Budgetdefizit, Zöllen auf Stahl, Agrarsubventionen und anderen Partikularinteressen sowie Geldpolitik.«[7]

Hier stellt sich die Frage, ob die Annahmen drei und vier in unserem eingangs genannten Modell gelten – das sind die Annahmen, dass politische Berater stets das Ziel verfolgen, das Gemeinwohl zu mehren, und dass sie wissen, was dafür getan werden muss. Für einen Ökonomen ist es inkonsequent anzunehmen, dass alle Menschen ihre eigenen Interessen stärker im Blick haben als das Gemeinwohl und entsprechend handeln, dass allein Politikberater ganz selbstlos handeln.