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BEITRÄGE ZUR GESCHICHTE
DES 20. JAHRHUNDERTS

Herausgegeben von
Norbert Frei

Band 15

Daniel Stahl

Nazi-Jagd

Südamerikas Diktaturen
und die Ahndung von
NS-Verbrechen

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Gedruckt mit freundlicher Unterstützung
der Gerda-Henkel-Stiftung, Düsseldorf,
und der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung
für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein

Bibliografische Information der deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der
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sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© Wallstein Verlag, Göttingen 2013
www.wallstein-verlag.de
Vom Verlag gesetzt aus der Adobe Garamond
Umschlaggestaltung: Susanne Gerhards, Düsseldorf unter Verwendung folgender Abbildungen:
Oben links: Klaus Barbie (links) mit weiteren Angehörigen des Vorstandes der bolivianischen Schifffahrtsgesellschaft »Transmaritima«, Abb. aus dem Buch Ladislas de Hoyos: Barbie. Paris 21987.
Oben rechts: Beate Klarsfeld protestiert mit Angehörigen der unter der Militärdiktatur Verschwundenen vor dem Präsidentenpalast »la Moneda« in Santiago de Chile für die Abschiebung Walther Rauffs, Abb. aus der chilenischen Zeitung »Las últimas noticias«, 1. Februar 1984.
Unten: Portrait Simon Wiesenthal, Foto: Lessing Photo Archive.
Druck und Verarbeitung: Hubert & Co, Göttingen
Zugl.: Dissertation, Universität Jena, 2012

Inhalt

Einleitung

I.

Das »Vierte Reich«

1. Argentiniens Sonderrolle während des Zweiten Weltkriegs

Der argentinisch-amerikanische Konflikt – Bradens Kreuzzug gegen den Peronismus

2. Von der antizipierten zur realen Flucht nach Südamerika

Argentinische Fluchthilfe – Justizflüchtige in Brasilien

3. Die Politisierung der Kriegsverbrecherflucht

Perón und das Nazigold – Der Fall Pavelic

4. Westdeutsche Amnestiepolitik und die Justizflüchtigen

Das Auslieferungsersuchen gegen Karl Klingenfuß – Das vorläufige Ende staatlicher Fahndungsbemühungen

II.

Nazi-Jagd gegen Widerstände, Fahndung unter Vorbehalt

1. Die Eichmann-Entführung

Fritz Bauer und der Mossad – Nachholender Widerstand

2. Westdeutsche Reaktionen

Botschafter Junker und die Justizflüchtigen – Das Auslieferungsverfahren gegen Walther Rauff

3. Mengele und die westdeutsche Verjährungsdebatte

Deutsch-paraguayische Spannungen – Der Kampf gegen die Verjährung

4. Auslieferungsverfahren und Justizökonomie

Der deutsch-argentinische Rechtshilfeverkehr – Die Auslieferung Franz Stangls

III.

Nazi-Jagd als Regimekritik

1. Wiederholungstäter im Dienste südamerikanischer Diktaturen

Die Politisierung des Falls Barbie in Bolivien – Menschenrechtsaktivismus und Nazi-Jagd

2. Westdeutsche Auslieferungsersuchen an die Militärjuntas

Die Auslieferungsersuchen gegen Eduard Roschmann und Josef Schwammberger – Walter Kutschmann – Gustav Wagner

3. Barbie und der bolivianische Demokratisierungsprozess

4. Südamerikas Demokraten und die Nazi-Jäger

Walther Rauff und die Proteste gegen das Pinochet-Regime – Die Mengele-Kampagne – Das Auslieferungsverfahren gegen Walter Kutschmann

IV.

Zweierlei Umgang mit staatlichen Gewaltverbrechen

1. Menems doppelte Vergangenheitspolitik

Arbeit am peronistischen Image – Der Fall Erich Priebke – Die Auslieferungsurteile und der Kampf gegen die argentinischen Amnestiegesetze

2. Argentinien und die Raubgold-Debatte der neunziger Jahre

Das argentinische Ustasa-Exil

Schluss

Dank

Spanischsprachige Zitate

Überblick über wichtige Fahndungs- und Auslieferungsverfahren

Quellen und Literatur

Abkürzungen

Personenverzeichnis

Einleitung

Der bolivianische Innenminister Mario Roncal wandte sich am 26. Januar 1983 in einer dringenden Angelegenheit an die deutsche Botschaft: Klaus Barbie, der ehemalige Leiter der Sicherheitspolizei und des Sicherheitsdienstes im besetzten Lyon, dessen Auslieferung die Bundesrepublik ein halbes Jahr zuvor beantragt hatte, sei wegen nichtbezahlter Schulden verhaftet worden. Er könne bereits am nächsten Tag den deutschen Behörden übergeben werden.1

Falls Roncal erwartete, mit dieser Mitteilung den westdeutschen Diplomaten eine Freude zu bereiten, so irrte er sich. Nur eine Woche zuvor hatte die Botschaft eine klare Anweisung aus Bonn erhalten: Es solle »in geeigneter Weise« darauf hingewirkt werden, dass Barbie nicht in die Bundesrepublik abgeschoben werde, sondern nach Frankreich, wo er nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in Abwesenheit zum Tode verurteilt worden war. Zu unsicher erschien den westdeutschen Justizbehörden seine Verurteilung auf der Grundlage bundesdeutscher Gesetze und Rechtsprechung, und zu schwer wog die Sorge vor internationaler Kritik, die im Falle eines Freispruchs zu erwarten war.2 Statt deshalb darüber zu reden, wie eine möglichst zügige Übergabe Barbies organisiert werden könnte, erklärte der stellvertretende Leiter der westdeutschen Botschaft, dass das dafür notwendige Personal nicht zur Verfügung stehe, und erkundigte sich, ob der Justizflüchtige nicht auch nach Frankreich geschickt werden könne. Doch Roncal erklärte, dass nach bolivianischem Recht nicht jeder beliebige Staat als Abschiebeland in Frage komme, sondern lediglich die Nachbarländer Boliviens oder das Herkunftsland des Abzuschiebenden. Falls eine Überstellung Barbies an die westdeutschen Behörden nicht möglich sei, solle dies bis Ende des Monats mitgeteilt werden. In dem Fall werde man in Bolivien ein »Verfahren wegen möglicher Rauschgiftvergehen und Organisation paramilitärischer Einheiten gegen Barbie« eröffnen.3

Tatsächlich hatten in den vorangegangenen Monaten verschiedene Zeitungen berichtet, der Deutsche, der während des Zweiten Weltkriegs in Frankreich die Résistance bekämpft hatte, habe 1980 mit einer eigenen paramilitärischen Einheit den Putsch des General Luis García Meza unterstützt. Zudem sei er unter der bis 1982 währenden Militärdiktatur an Drogengeschäften beteiligt gewesen. Doch die strafrechtliche Aufarbeitung der Verbrechen, die das Regime Meza begangen hatte, kam nur mühsam voran. Zudem fehlte es der bolivianischen Justiz an stichhaltigen Beweisen, um die Vorwürfe gegen Barbie zu erhärten. Alles, worauf sie sich stützen konnte, waren Zeitungsartikel.4 Statt einen langwierigen und ergebnisoffenen Prozess zu wagen, entschied das 1982 an die Macht gekommene Mitte-links-Bündnis unter Präsident Hernán Siles Suazo deshalb schließlich, den deutschstämmigen Freund der kurz zuvor entmachteten Generäle nach Französisch-Guyana abzuschieben. Frankreich hatte bereits mehrfach signalisiert, Barbie übernehmen zu wollen. Dort hatten Verbände ehemaliger Widerstandskämpfer und jüdische Organisationen bereits seit Jahren einen Prozess gegen ihn gefordert – eine Forderung, die bei der Regierung Mitterrand auf offene Ohren stieß. Der ehemalige Leiter des Sicherheitsdienstes in Lyon war an der Ermordung Jean Moulins beteiligt gewesen, der zu den führenden Köpfen des Widerstands gegen die deutschen Besatzer gezählt hatte. In einem Prozess gegen den Mörder des Nationalhelden sah die sozialistische Regierung, in der einige ehemalige Widerstandskämpfer vertreten waren, eine willkommene Gelegenheit, die Erinnerung an die Résistance zu stärken.5 Anfang Februar 1983 kehrte Barbie schließlich nach über dreißig Jahren auf europäischen Boden zurück, wo ihn ein französisches Gericht zu lebenslanger Haft verurteilte.

Wie Barbie hatten nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs zahlreiche Europäer in Südamerika Zuflucht gesucht, die befürchten mussten, in ihrer Heimat vor Gericht gestellt zu werden: Ehemalige Beamte wie Adolf Eichmann, der als Leiter des Judenreferats im Reichssicherheitshauptamt die Vernichtung der europäischen Juden von Berlin aus organisiert hatte, Angehörige des KZ-Personals wie Franz Stangl, der als Kommandant der Vernichtungslager Sobibór und Treblinka die Ermordung von Juden und polnischen Zivilisten vor Ort überwacht hatte, Ärzte und Wissenschaftler wie Josef Mengele, unter dessen Regie grausame medizinische Experimente an KZ-Insassen vorgenommen worden waren. Unter den Justizflüchtigen, die sich in Südamerika der strafrechtlichen Verfolgung zu entziehen suchten, befanden sich aber nicht nur Deutsche und Österreicher. Ante Pavelić, der nach Argentinien geflohene ehemalige Führer des mit dem »Dritten Reich« verbündeten Kroatiens, wurde von der jugoslawischen Justiz gesucht, weil seine Regierung Tausende Angehörige ethnischer Minderheiten hatte ermorden lassen. Auch Publizisten gerieten ins Visier der Nachkriegsjustiz. So verurteilte ein französisches Militärgericht den nach Argentinien geflüchteten Franzosen Pierre Daye in Abwesenheit zum Tode, weil er sich in seinen Publikationen im Sinne der Nationalsozialisten geäußert hatte. Genaue Angaben darüber, wie groß die Gruppe der Justizflüchtigen war, gibt es bis heute nicht. Untersuchungen für Argentinien kommen auf 180 namentlich bekannte Fälle, in denen europäische Justizbehörden Ermittlungen führten; wie hoch die Dunkelziffer ist, lässt sich allerdings nicht sagen.6

In dieser Studie geht es darum, wie seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs bis in die unmittelbare Gegenwart hinein mit den nach Südamerika geflüchteten NS-Tätern und Kollaborateuren umgegangen wurde – eine Geschichte, die bisher lediglich in Form einiger Einzelfallanalysen untersucht worden ist.7 Im Zentrum steht also nicht die Geschichte der Flucht,8 sondern es wird gefragt, welche Bemühungen es in den Jahrzehnten danach gab, die Justizflüchtigen vor Gericht zu bringen, und welche Hindernisse dafür zu überwinden waren. Dabei nimmt die Studie sowohl staatliche Akteure als auch Privatpersonen und nichtstaatliche Institutionen in den Blick.

Was das Spezifische an den Bemühungen zur Ergreifung der Justizflüchtigen war, die seit den sechziger Jahren häufig als Nazi-Jagd bezeichnet worden sind, zeigt die Abschiebung Barbies sehr deutlich: Wie die meisten NS-Verbrecher hatte er seine Taten als Angehöriger der deutschen Besatzungsmacht außerhalb der deutschen Grenzen begangen. Noch bevor deshalb seine strafrechtliche Verfolgung in Deutschland 1971 ein Thema wurde, hatten sich bereits Behörden und Öffentlichkeit in Frankreich mit seinem Fall beschäftigt. Doch während sich jene Täter, die in der Bundesrepublik lebten, außerhalb der Reichweite der Justizbehörden anderer Länder befanden – das Grundgesetz untersagte eine Auslieferung deutscher Staatsbürger –, setzten sich die justizflüchtigen NS-Täter dem Zugriff unterschiedlicher Staaten aus. Wer wie Barbie nach Südamerika geflohen war, musste damit rechnen, dass sich nicht nur bundesdeutsche Behörden um ihn bemühten. Neben ehemaligen Kollaborateuren, die sich durch Flucht der kurzen, aber intensiven Phase der Nachkriegs-Säuberungen in Europa entzogen hatten, konnten auch deutsche Justizflüchtige noch Jahrzehnte nach Kriegsende Gegenstand eines Verfahrens außerhalb der Bundesrepublik werden.

Was das Projekt der Ahndung von NS-Verbrechen in der unmittelbaren Nachkriegszeit gekennzeichnet hatte, nämlich in hohem Maße transnational zu sein,9 galt für die strafrechtliche Verfolgung der Untergetauchten auch in den Jahrzehnten danach: Westdeutschland, Frankreich, Israel, Polen, Italien, die Tschechoslowakei sowie Jugoslawien und seine Nachfolgestaaten – sie alle verfolgten Justizflüchtige strafrechtlich. Nicht selten kam es vor, dass sich mehrere Staaten gleichzeitig um die Ergreifung desselben Täters bemühten und die Vergangenheitspolitiken unterschiedlicher Staaten aufeinandertrafen. Das musste nicht notwendigerweise zu Konflikten führen; es konnte auch zwischenstaatliche Kooperationen zur Folge haben. Vor allem aber entstand eine transnationale Öffentlichkeit: Um die Justizflüchtigen vor Gericht zu bringen, arbeiteten unterschiedliche Akteure über Grenzen hinweg zusammen und stießen länderübergreifende Debatten über die strafrechtliche Verfolgung von NS-Tätern an.

Das bolivianische Vorgehen bei der Abschiebung Barbies zeigt aber auch, dass es nicht nur in jenen Ländern ein Interesse an der Ergreifung der Justizflüchtigen gab, in denen Ermittlungen wegen NS-Verbrechen stattfanden. Seit 1972 war Barbie auch in seinem südamerikanischen Zufluchtsland ein Politikum. Denn das ehemalige Mitglied des nationalsozialistischen Sicherheitsapparates hatte auch in Bolivien das Bedürfnis entwickelt, sich um die Sicherheit des Landes zu kümmern. Während er dadurch in den Augen des repressiven Militärapparates ein hochgeschätzter Berater geworden war, setzten sich Regimegegner dafür ein, ihn vor Gericht zu bringen. Ähnlich verhielt es sich mit zahlreichen anderen NS-Tätern und Kollaborateuren, die sich für eine Flucht nach Übersee entschieden hatten: Die Frage, wie mit ihnen zu verfahren sei, wurde auch in ihrer neuen Heimat politisiert. Nicht nur in Europa diskutierte man zunehmend darüber, wie der Einsatz gewalttätiger Maßnahmen von Staats wegen zu bewerten, bis zu welchem Grad er legitim und inwiefern er strafrechtlich zu ahnden sei. Ganz ähnliche Fragen standen auch in Südamerika angesichts anhaltender Gewalt durch staatliche Institutionen fast ununterbrochen auf der Tagesordnung: Durfte ein Staat zur Durchsetzung seiner Ziele mit Gewalt gegen die Bevölkerung vorgehen? Machte sich jemand strafrechtlich schuldig, der sich als Angehöriger einer staatlichen Institution an gewalttätigen Maßnahmen beteiligte?

Die Art und Weise, wie südamerikanische Regierungen und Behörden mit den Justizflüchtigen umgingen, hatte immer auch damit zu tun, wie sie sich zu diesen Fragen stellten. Wie sie auf Auslieferungsersuchen gegen NS-Täter reagierten, verstanden sowohl die Nazi-Jäger Europas als auch viele Politiker, Regimekritiker und Menschenrechtler in Übersee als innenpolitische Statements, als Positionierungen in der Frage nach der Legitimität staatlich angeordneter Gewalt. Und vor allem ein Thema wurde auf beiden Seiten des Atlantiks immer wieder diskutiert: Hing die notorische Repression in Südamerika damit zusammen, dass in diesen Ländern Personen lebten, die während des Zweiten Weltkriegs im Namen des »Dritten Reichs« und seiner Verbündeten Verbrechen begangen hatten?

Dieses Buch ist deshalb nicht nur eine Studie über die Vergangenheitspolitik nach 1945 – es handelt auch von der Auseinandersetzung mit der Repression durch südamerikanische Regierungen in den Jahrzehnten danach. Vor allem aber geht es darum, wie im Zuge der Nazi-Jagd transatlantisch über den Umgang mit staatlich angeordneten Gewaltmaßnahmen verhandelt wurde. Einerseits nimmt die Studie den Wandel im Umgang mit den während des Zweiten Weltkriegs begangenen Verbrechen in den Blick, der sich in Europa zwischen 1945 und der Jahrtausendwende vollzog: Inwiefern spiegeln sich im Verlauf der Nazi-Jagd die vergangenheitspolitischen Interessenlagen der verschiedenen europäischen Staaten wider? Auf welche Weise wurde die öffentliche Auseinandersetzung mit den NS-Verbrechen durch die Bemühungen zur Ergreifung justizflüchtiger NS-Täter geprägt? Und welche Rolle spielten die Prozesse gegen Justizflüchtige, die in mehreren Fällen erst Jahrzehnte nach den Ahndungsbemühungen der unmittelbaren Nachkriegsjahre stattfanden? Bei der Beantwortung dieser Fragen dient der zeitgenössische Begriff Nazi-Jagd nicht nur als Sammelbezeichnung für die Bemühungen zur Ergreifung justizflüchtiger NS-Täter und Kollaborateure, vielmehr wird auch danach gefragt, wie die Begriffe Nazi-Jagd und Nazi-Jäger die Auseinandersetzung mit NS-Verbrechen prägten und was ihre Verwendung über Wandlungsprozesse aussagt.

Andererseits geht es in dieser Studie darum, auf welche Resonanz die Nazi-Jagd in Südamerika stieß: Wie reagierten die südamerikanischen Regierungen und Behörden auf die Versuche, in ihren Ländern Personen zu ergreifen, denen vorgeworfen wurde, im Auftrage einer Regierung Verbrechen begangen zu haben? Welche Zusammenhänge gibt es zwischen ihrer Auslieferungspraxis und ihrem eigenen Verhältnis zu Gewalt und Repression? Von wem und aus welchen Motiven heraus wurde in Südamerika die Anwesenheit justizflüchtiger NS-Täter und Kollaborateure politisiert? Welche Beziehungen gab es zwischen der Nazi-Jagd und der Kritik an der repressiven Politik südamerikanischer Regime? Wie prägten die Bemühungen zur Ergreifung von Justizflüchtigen die Auseinandersetzung mit Repression in Südamerika? Und wie wirkte der überseeische Umgang mit NS-Tätern und Kollaborateuren auf die Auseinandersetzung mit Verbrechen in Europa zurück? Es soll gezeigt werden, dass die strafrechtliche Verfolgung von NS-Tätern nicht allein ein vergangenheitspolitisches Problem war, sondern aktuelle sicherheitspolitische Fragen der Nachkriegszeit tangierte.10

Dass sich die Geschichte der strafrechtlichen Ahndung von NS- Verbrechen beziehungsweise deren Amnestierung nicht allein aus der Geschichte der einzelnen Staaten heraus erklären lässt, zeigt die vorliegende Forschungsliteratur sehr deutlich. Nicht nur die Vorbereitung und Durchführung der alliierten Nachkriegsprozesse fußten auf zwischenstaatlichen Aushandlungsprozessen.11 Fast alle europäischen Staaten standen nach dem Ende der NS-Herrschaft vor der Frage, wie mit Tätern und Kollaborateuren zu verfahren sei. Die Art und Weise, wie diese Frage beantwortet wurde, hing sehr stark von außenpolitischen Interessenlagen und Konstellationen ab.12

Dass der Umgang mit NS-Verbrechen auch außerhalb der eigenen Grenzen verhandelt wurde, war für die Regierung Adenauer ein Problem: Die von ihr vorgenommenen vergangenheitspolitischen Weichenstellungen zu Beginn der fünfziger Jahre – Integration der ehemaligen Funktionsträger sowie Amnestierung der Kriegsverbrecher – waren zwar in der westdeutschen Gesellschaft durchaus populär. Bei den westlichen Besatzungsmächten stießen sie jedoch auf Widerstand und führten zu zahlreichen Auseinandersetzungen. Schließlich mussten sich die USA, Frankreich und Großbritannien für ihren Umgang mit den deutschen Kriegsverbrechern auch gegenüber der eigenen Bevölkerung erklären.13 Solche Probleme hatte die Sowjetunion nicht, die maßgeblichen Einfluss auf die Vergangenheitspolitik der DDR nahm. So gelang es der SED-Spitze, unter Vermeidung öffentlicher Debatten die Sowjetführung von der Notwendigkeit einer Integrationspolitik zu überzeugen, die schon bald parallel zu einigen Schauprozessen betrieben wurde.14

Die Frage nach dem Umgang mit NS-Tätern blieb in verschiedenen Staaten bis weit in die zweite Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts ein Thema. Es ist deshalb nur folgerichtig, dass unter der mittlerweile kaum noch zu überschauenden Literatur über die strafrechtliche Verfolgung und Integration von NS-Straftätern einige Studien hervorstechen, die danach fragen, wie weit sich die Vergangenheitspolitiken verschiedener Staaten wechselseitig bedingt haben. So konnte gezeigt werden, wie stark sich die Instrumentalisierung der NS-Vergangenheit im Zuge der deutsch-deutschen Konkurrenz auf die strafrechtliche Aufklärung in beiden deutschen Staaten auswirkte.15 Auch der französische und der westdeutsche Umgang mit NS-Verbrechern weist solche Wechselwirkungen auf. In Frankreich beobachtete man die Amnestiebemühungen in der westdeutschen Gesellschaft sehr genau und übte öffentlichen Druck auf die Bundesregierung aus, die NS-Verbrechen nicht ungesühnt zu lassen. Gleichzeitig stieß die strafrechtliche Verfolgung durch französische Gerichte in großen Teilen der westdeutschen Gesellschaft auf Ablehnung. Hinter den Kulissen setzte sich die Bundesregierung deshalb erfolgreich für die Begnadigung von verurteilten NS-Tätern in Frankreich ein.16

An diese Forschungen anknüpfend, weitet das vorliegende Buch den Blick über Europa hinaus und fragt nach transkontinentalen Beziehungen bei der Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Verbrechenskomplexen. Die Nazi-Jagd wird hier als eine Geschichte von Wechselwirkungen zwischen der Ahndung von NS-Verbrechen und dem Umgang mit der Repression durch südamerikanische Regime erzählt: als Teil transnational verflochtener Auseinandersetzungen mit staatlich veranlassten Gewaltverbrechen. Sie lässt sich deshalb auch als Beitrag zu der noch jungen Forschung zur Geschichte der Menschenrechte verstehen. Diese hat sich nicht nur mit der Frage nach der Genese menschenrechtlicher Standards beschäftigt, sondern auch damit, wie staatliche Repression in zunehmendem Maße grenzübergreifend verhandelt wurde.

Getragen von einer internationalen Allianz politischer Dissidenten und Menschenrechtsorganisationen, fanden vor allem seit den siebziger Jahren Kampagnen gegen repressive Regime wie die südamerikanischen Militärjuntas oder das Apartheidregime in Südafrika statt, die in vielen Ländern auf Resonanz stießen. Diese Kampagnen trugen wesentlich dazu bei, dass staatliche Gewaltmaßnahmen immer weniger als interne Angelegenheiten souveräner Staaten, denn als ein die ganze Menschheit betreffendes Problem wahrgenommen wurden.17 Mit den Demokratisierungsprozessen, die sich in zahlreichen Staaten während der achtziger und neunziger Jahre vollzogen, verlagerte sich auch der Schwerpunkt der internationalen Debatte über staatliche Gewaltverbrechen: War es den Aktivisten während der siebziger Jahre noch in erster Linie darum gegangen, Menschenrechtsverletzungen zu denunzieren und anzuprangern, so engagierten sie sich nun für deren strafrechtliche Verfolgung. Dabei setzten sie erneut auf die Strategie einer transnationalen Mobilisierung.18

In einem engen Zusammenhang mit dem auf diese Weise in Gang gebrachten transnationalen Dialog über staatliche Gewaltverbrechen standen auch die Bemühungen zur Ergreifung justizflüchtiger NS-Täter. Sie trugen wesentlich dazu bei, dass die Bezugnahme auf die von den Nationalsozialisten begangenen Verbrechen aus der Auseinandersetzung mit der staatlichen Repression in Südamerika bald nicht mehr wegzudenken war. Neben der Berufung auf Menschenrechtsnormen wurden Vergleiche mit dem Nationalsozialismus zu einem wichtigen Instrument, um den verbrecherischen Charakter südamerikanischer Regime international zu denunzieren.

Um diese Geschichte erzählen zu können, muss auf eine an nationalstaatlichen Kategorien orientierte Eingrenzung des Untersuchungsgegenstands verzichtet werden. Die Kampagnen, Fahndungs- und Auslieferungsverfahren zur Ergreifung Justizflüchtiger waren zu eng miteinander verwoben, als dass man sich exemplarisch auf die Nazi-Jagd in ein oder zwei südamerikanischen Staaten oder auf die Maßnahmen eines einzigen ermittelnden Staates beschränken könnte. Die Nazi-Jäger suchten grenzübergreifend nach NS-Tätern und Kollaborateuren, ihre Kampagnen erstreckten sich auf mehrere Staaten, und die Erfahrungen mit der Regierung eines Landes schlugen sich in ihrer Strategie gegenüber anderen Regierungen nieder. Auch das Handeln staatlicher Behörden blieb nicht unberührt von dem, was außerhalb der eigenen Grenzen geschah. Ereignisse wie die Ergreifung Eichmanns oder die Abschiebung Barbies entwickelten eine Signalwirkung, die sich auch in anderen Ländern bemerkbar machte.

Ebenso wenig lässt sich die Untersuchung auf die Bemühungen begrenzen, justizflüchtiger Nationalsozialisten habhaft zu werden. Auslieferungsverfahren verschiedener europäischer Staaten, die sich gegen Kollaborateure richteten, waren wichtige Präzedenzfälle, die sich auch auf Auslieferungsurteile gegen NS-Täter auswirkten; Nazi-Jäger neigten ohnehin nicht dazu, diese beiden Tätergruppen streng voneinander zu unterscheiden. Dementsprechend basiert diese Studie auf Quellen unterschiedlicher Provenienz: Es wurden europäische wie südamerikanische Archive konsultiert und staatliche wie nichtstaatliche Dokumentationen herangezogen.

Der Suche nach Justizflüchtigen kam freilich nicht überall die gleiche Bedeutung zu. Auch wenn in unterschiedlichen Staaten gegen NS-Täter oder Kollaborateure ermittelt wurde, so waren es doch die Behörden der Bundesrepublik, die an den meisten Fahndungs- und Auslieferungsverfahren beteiligt waren, seit sie Ende der fünfziger Jahre die strafrechtliche Aufarbeitung der NS-Verbrechen intensivierten. Der DDR hingegen fehlte es die meiste Zeit an diplomatischen Beziehungen mit südamerikanischen Staaten – eine unabdingbare Grundlage für den zwischenstaatlichen Rechtshilfeverkehr. Andere europäische Staaten hingegen wurden punktuell aktiv: während der kurzen, aber intensiven Phase der Nachkriegssäuberungen, wenn ein Justizflüchtiger seine Taten auf ihrem Territorium begangen hatte oder wenn aufgrund der Staatsbürgerschaft der Täter die eigenen Justizbehörden zuständig waren.

Doch es waren weniger die juristischen Zuständigkeiten und Handlungsspielräume, die dazu führten, dass die Nazi-Jagd in manchen Ländern eine wichtigere Rolle spielte als in anderen. Dass die Bemühungen zur Ergreifung Justizflüchtiger nicht allein Akte des zwischenstaatlichen Rechtshilfeverkehrs blieben, sondern darüber hinaus Relevanz erlangten und zu einem transatlantischen Bindeglied bei der Auseinandersetzung mit Repression und staatlich angeordneten Gewaltverbrechen wurden, dafür waren verschiedene öffentliche Debatten und politische Interessenlagen in Europa, Süd- und Nordamerika ausschlaggebend: die Kritik an den argentinischen Militärregimen und der Regierung des populistischen Präsidenten Juan Domingo Perón während der vierziger und fünfziger Jahre und die parallel dazu stattfindende erste Säuberungswelle im Nachkriegseuropa, die Ende der fünfziger Jahre allmählich intensiver werdende westdeutsche Ahndung der NS-Verbrechen, die Proteste gegen die südamerikanischen Rechtsdiktaturen in den siebziger und achtziger Jahren, die zeitgleich einsetzende Internationalisierung des Holocaust-Gedenkens sowie die argentinische Peronismus-Debatte der neunziger Jahre. Innerhalb dieser gesellschaftspolitischen Kontexte erlangten die Bemühungen zur Ergreifung justizflüchtiger Täter ihre Bedeutung. Sie prägten die Nazi-Jagd und wurden umgekehrt auch von ihr geprägt.

Das erste Kapitel behandelt die Entwicklung in den vierziger und fünfziger Jahren, als das Bedrohungsszenario eines »Vierten Reiches« in Argentinien entstand. Die Alliierten und Argentiniens linksliberale Opposition verdächtigten die Regierung Perón, mit den Achsenmächten zu kooperieren. Sie befürchteten, sie werde nach dem Ende des Krieges Kriegsverbrechern19 Zuflucht gewähren, die mithilfe ihres in Sicherheit gebrachten Vermögens den in Europa besiegten Faschismus am Leben erhalten könnten. Dieses Bedrohungsszenario sollte im Verlauf der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts immer wieder in unterschiedlichen politischen Zusammenhängen aktualisiert werden. Zu fragen ist deshalb, wie das Szenario in Wechselwirkung zwischen US-amerikanischer Wirtschafts- und Sicherheitspolitik, den Ahndungsbestrebungen der Alliierten und innerargentinischen Machtkämpfen entstand, welche Folgen es für die Nazi-Jagd hatte und wie der Sturz des Perón-Regimes einerseits und das Ende der ersten europaweiten Säuberungswelle andererseits dazu führten, dass es Ende der fünfziger Jahre vorläufig an Bedeutung verlor und die Bemühungen zur Ergreifung justizflüchtiger NS-Täter in Südamerika zum Erliegen kamen.

Das zweite Kapitel nimmt die Nazi-Jagd vor dem Hintergrund der Veränderungen im Umgang mit den NS-Verbrechen in den Blick, die sich in den sechziger Jahre vollzogen: Die Justiz der Bundesrepublik intensivierte ihre Ahndungsbemühungen, während sich die westdeutsche Öffentlichkeit in zunehmenden Maße mit den ungesühnten NS-Verbre- chen zu beschäftigen begann. Gleichzeitig änderte sich auch der jüdische Umgang mit dem Holocaust. Unter Juden in Israel, den Vereinigten Staaten und in Europa wurde die Erinnerung an dieses Ereignis zu einem wesentlichen Bestandteil der eigenen Identität. Welche Impulse gingen dabei von der Nazi-Jagd aus? Und welche Folgen hatten die veränderten Rahmenbedingungen der sechziger Jahre für die Bemühungen zur Ergreifung Justizflüchtiger in Südamerika? Für die Analyse dieses Zeitabschnitts ist nicht zuletzt von Bedeutung, welche Reinterpretation das Bedrohungsszenario vom »Vierten Reich« in Argentinien erfuhr.

Während der siebziger und achtziger Jahre erlangte das Holocaust-Gedenken in den Vereinigten Staaten und in verschiedenen europäischen Ländern auch außerhalb jüdischer Institutionen immer mehr an Bedeutung. Diese Entwicklung profitierte von der Entstehung einer globalen Medienöffentlichkeit, die Historiker als wesentlichen Bestandteil dessen sehen, was sie als zweite Globalisierung seit Beginn der siebziger Jahre definieren. Die Globalisierung der Medienöffentlichkeit wirkte sich auch auf andere Themenfelder aus: In den siebziger Jahren entstand ein transnationaler, von zahlreichen NGOs getragener Menschenrechtsaktivismus, der international auf große Resonanz stieß. Die Militärdiktaturen und Menschenrechtsverletzungen in Südamerika wurden erstmals auf beiden Seiten des Atlantiks zum Gegenstand öffentlicher Debatten. Im Lichte der Repression gegen die südamerikanische Zivilbevölkerung wurde die Nazi-Jagd neu interpretiert. Menschenrechtsorganisationen, politische Dissidenten und linke Aktivisten, aber auch die Nazi-Jäger selbst sahen in den Juntas Boliviens, Chiles, Paraguays, Argentiniens und Brasiliens nicht nur die Beschützer untergetauchter NS-Täter, sondern auch deren Lehrlinge. Das dritte Kapitel untersucht, wie die Nazi-Jagd zu einem Bindeglied zwischen Holocaust-Gedenken, Menschenrechtsaktivismus und politischem Protest in Südamerika wurde und wie diese mehrfache Bedeutungszuweisung die Bemühungen zur Ergreifung justizflüchtiger NS-Täter veränderte.

Das letzte Kapitel befasst sich schwerpunktmäßig mit Argentinien, wo 1989 der Peronist Carlos Menem zum Präsidenten gewählt wurde. In der Folge seiner Wahl kehrte die Auseinandersetzung mit den Justizflüchtigen Anfang der neunziger Jahre zu ihrem Ausgangspunkt zurück: Angesichts einiger laufender Auslieferungsverfahren sah sich seine Regierung von Beginn an mit kritischen Nachfragen zur Rolle Peróns bei der Einwanderung justizflüchtiger NS-Täter und Kollaborateure konfrontiert. Diese Debatte erhielt zusätzlichen Auftrieb und wurde außenpolitisch brisant, als Mitte der neunziger Jahre international über die Frage nach dem Verbleib des Vermögens diskutiert wurde, das den Juden während des Zweiten Weltkriegs geraubt worden war. Vor diesem Hintergrund erhielten die seit den argentinisch-amerikanischen Auseinandersetzungen der vierziger Jahre kursierenden Gerüchte über die von geflohenen NS-Funktionären nach Südamerika gebrachten Reichtümer erneut Nahrung. Peróns Verbindungen zu den Nationalsozialisten wurden jetzt Gegenstand einer international geführten Kontroverse. Die Regierung Menem sah sich jedoch nicht nur gefordert, zum Verhältnis zwischen Peronismus und NS-Tätern in Vergangenheit und Gegenwart Stellung zu beziehen. Auch über die Frage, ob die Taten der represores der Militärdiktatur zu ahnden seien, wurde während der neunziger Jahre in der argentinischen Öffentlichkeit verhandelt. Deshalb gilt es zu untersuchen, wie Argentiniens Regierung auf das internationale Interesse an Peróns Verbindungen zu Nationalsozialisten reagierte und wie sich diese Debatte auf die strafrechtliche Verfolgung der Junta-Verbrechen auswirkte.

1 FS Eickhoff (Botschaftsrat La Paz) an AA, 26.1.1983, in: PA AA, B 83, Bd. 1627.

2 FS AA an Botschaft La Paz, 19.1.1983, in: ebenda.

3 FS Eickhoff an AA, 28.1.1983, in: ebenda.

4 Rivero Boyán (Fiscal de Distrito en lo Penal, La Paz) al Ministro del Interior, Migración y Justicia, 2.2.1983, abgedruckt in: Torre: Altmann/Barbie, S. 139-141.

5 Vgl. Rousso: Syndrome, S. 199-201.

6 Vgl. CEANA (Hg.): Informe Final.

7 Zu Eichmann siehe Wojak: Memoiren, Stangneth: Eichmann; zu Eduard Roschmann, dem ehemaligen Kommandanten des Rigaer Ghettos, siehe Schneppen: Roschmann; zu Walther Rauff, der an der Konstruktion von Gaswagen beteiligt war, siehe Cüppers: Davongekommen, Kletten: Nachgeschichte. Über Klaus Barbie gibt es zahlreiche Darstellungen, siehe vor allem Linklater: Fourth Reich, Bower: Barbie, Hoyos: Barbie. Zur Suche nach Mengele siehe Posner/Ware: Mengele, Völklein: Mengele. Zu Josef Schwammberger, Ghetto und KZ-Kommandant, siehe Freiwald/Mendelsohn: Schwammberger.

8 Siehe zu diesem Thema: Senkman: Perón; Meding: Flucht; Gurevich: Prólogo; CEANA (Hg.): Informe Final; Goñi: Odessa; Schneppen: Odessa; Steinacher: Nazis.

9 Vgl. Frei: Nach der Tat.

10 Zur sicherheitspolitischen Dimension des Umgangs mit den ehemaligen NS-Funktionseliten und NS-Tätern siehe Rigoll: Staatsschutz.

11 Vgl. Kochavi: Prelude; Bloxham: Genocide; Tusa/Tusa: Nuremberg; Ueberschär (Hg.): Gericht.

12 Zu den Prozessen der unmittelbaren Nachkriegszeit in den verschiedenen europäischen Staaten siehe Henke/Woller (Hg.): Politische Säuberung. Frei (Hg.): Transnationale Vergangenheitspolitik, nimmt darüber hinaus die Entwicklung während der gesamten zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in den Blick. Siehe außerdem Kuretsidis-Haider/Garscha: Abrechnung.

13 Vgl. Brochhagen: Nach Nürnberg; Frei: Vergangenheitspolitik.

14 Vgl. Vogt: Denazification; Leide: NS-Verbrecher.

15 Vgl. Weinke: Verfolgung.

16 Vgl. Brunner: Frankreich-Komplex; Moisel: Kriegsverbrecher.

17 Vgl. Cmiel: Emergence; Sikkink: Human Rights Network; Eckel: Utopie, S. 472-478, Ders.: Lupe; Hoffmann: Genealogie, S. 29-32; Quataert: Dignity, S. 61-140; Eckel/Moyn (Hg.): Moral.

18 Während die Geschichtswissenschaft mit der Historisierung der Menschenrechtskampagnen begonnen hat, sind die transnationalen Bemühungen zur strafrechtlichen Ahndung von Menschenrechtsverletzungen bisher fast ausschließlich von Juristen und Politologen untersucht worden: Lutz/Sikkink: Justice Cascade; Teitel: Transitional Justice; Roht-Arriaza: Pinochet Effect; Nash: Pinochet Case; Sikkink/Walling: Human Rights Trials. Kritisch zur Bedeutung internationaler Faktoren für die strafrechtliche Ahndung von staatlichen Gewaltverbrechen Collins: Global Justice.

19 Für die vierziger und fünfziger Jahre wird hier der damals übliche Begriff »Kriegsverbrecher« verwendet. Wie noch zu zeigen sein wird, hatte dieser eine andere Bedeutung als der heute übliche Terminus »NS-Verbrecher«.

I. Das »Vierte Reich«

Noch während das NS-Regime in Europa Verbrechen um Verbrechen beging, sah sich die argentinische Regierung genötigt, zur Flucht von Kriegsverbrechern Stellung zu beziehen. Vor dem Hintergrund des in greifbare Nähe gerückten Kriegsendes häuften sich seit August 1944 in britischen und amerikanischen Medien Meldungen über eine einsetzende Flucht der NS-Elite. Argentinien galt neben Spanien als wahrscheinliches Fluchtziel. Der argentinische Botschafter in Washington beteuerte zwar, dass diese Gerüchte jeglicher Grundlage entbehrten, und sein Kollege in London überreichte eine Verbalnote, in der mitgeteilt wurde, dass man keinem Kriegsverbrecher die Einreise erlauben werde.1 Trotzdem fanden entsprechende Meldungen weiterhin Verbreitung und stießen vor allem bei der amerikanischen Regierung auf offene Ohren. Dabei trieb sie zwar auch die Sorge um, die strafrechtliche Aufarbeitung der NS-Verbrechen könne durch die Flucht vereitelt werden, vor allem fürchtete sie aber, die geflohenen Eliten könnten in Argentinien mithilfe des in Sicherheit gebrachten NS-Vermögens das Überleben des Nationalsozialismus sicherstellen und auf die Errichtung eines »Vierten Reichs« hinarbeiten.2

Aber nicht nur in den Vereinigten Staaten und in Großbritannien beschäftigte man sich mit fliehenden Kriegsverbrechern. Auch aus der argentinischen Opposition wurden Mitte der vierziger Jahre Stimmen laut, die auf dieses Problem hinwiesen. Ihre Behauptung, die Justizflüchtigen erhielten mit der Unterstützung der argentinischen Regierung den Nationalsozialismus am Leben, schien durch das rege Treiben der nach Argentinien emigrierten Nationalsozialisten und ihre Verbindungen zur neonazistischen Szene Deutschlands bestätigt zu werden. Selbst nachdem die West-Alliierten Mitte der fünfziger Jahre die Zuständigkeit über die strafrechtliche Verfolgung an die Bundesrepublik übertragen hatten und die Gerichtsprozesse, getragen von einem gesellschaftlichen Konsens, fast zum Erliegen gekommen waren, hörte in Argentinien die Debatte über die immigrierten Kriegsverbrecher nicht auf.

Warum aber wurde bereits vor Kriegsende über die Flucht von Kriegsverbrechern nach Südamerika diskutiert? Aus welchem Grund stand unter allen südamerikanischen Ländern gerade Argentinien unter Verdacht? Weshalb stieß das Thema dort bis in die fünfziger Jahre auf Resonanz? Und welche Folgen hatte Argentiniens Sonderrolle sowohl für seinen eigenen Umgang mit den geflohenen Straftätern als auch für die Ahndungsbemühungen der ermittelnden Behörden?

1 Vgl. Newton: Menace, S. 353f.

2 Vgl. Lübken: Nähe, S. 167-186.

1. Argentiniens Sonderrolle während des Zweiten Weltkriegs

Die Gerüchte über eine einsetzende Flucht von Kriegsverbrechern nach Argentinien, die seit 1944 kursierten, verdankten ihre Existenz einer seit Jahren andauernden Debatte über das Verhältnis südamerikanischer Staaten zu den Achsenmächten. Zwar war das Geschehen in Südamerika für die Ereignisse in Europa von nachrangiger Bedeutung, umgekehrt lässt sich das jedoch nicht sagen; der Krieg gegen das »Dritte Reich« und seine Verbündeten gewann im Verlauf der vierziger Jahre maßgeblichen Einfluss auf die Politik in Übersee.

Die südamerikanischen Linken und Liberalen verstanden die Aggressionspolitik der europäischen Diktaturen als Ausdruck eines globalen Angriffs auf die Demokratie, der sich auch gegen ihren Kontinent richtete. Nicht selten dienten ihnen deshalb die Ereignisse in Europa als Folie, vor der sie die politischen Auseinandersetzungen in ihrer Heimat deuteten. In ihren politischen Gegnern des rechten Spektrums meinten sie Verbündete der europäischen Faschisten zu erkennen, die ihre Länder nach dem Vorbild Deutschlands oder Italiens umgestalten wollten. Ängstlich blickten sie auch auf die deutschen und italienischen Minderheiten, die sie als »Fünfte Kolonne« einer befürchteten Faschisierung Südamerikas darstellten. Schon die Annexion des Sudetenlandes 1938, bei der sich das NS-Regime auf die dort lebenden Sudetendeutschen berufen hatte, verlieh diesem Szenario eine gewisse Plausibilität.3

Auch in Argentinien wurde die Angst vor der faschistischen Gefahr während der dreißiger Jahre fester Bestandteil der politischen Kultur. Im September 1930 war die liberaldemokratische Regierung der Unión Cívica Radical von einer Gruppe rechtsnationalistischer Militärs aus dem Amt geputscht worden, deren Rhetorik stark von Mussolini und anderen europäischen Faschisten geprägt war. Hatte zuvor das konservative Lager beständig vor einer von der Sowjetunion gelenkten Unterwanderung Argentiniens gewarnt, so sahen die Anhänger der Unión Cívica und der sozialistischen Partei nun eine faschistische Internationale am Werk. Informationen, die ihnen in Argentinien ansässige Deutsche zuspielten, schienen diese Befürchtungen zu untermauern. Die nationalsozialistische Machtübernahme in Deutschland hatte den in der deutschen Gemeinschaft schon lange schwelenden Streit zwischen dem republikanischen und dem deutschnationalen Lager verschärft. Alteingesessene demokratisch gesinnte Deutsche und die schnell wachsende Gruppe politisch Verfolgter des NS-Regimes lieferten sich mit den Sympathisanten des Nationalsozialismus und der deutschen Botschaft einen offenen Kampf um die politische Ausrichtung auslandsdeutscher Einrichtungen – vor allem der deutschen Schulen. In ihren Bemühungen, den Einfluss der Nationalsozialisten zurückzudrängen, wandten sich die NS-Gegner an argentinische Medien und Politiker des linksliberalen Spektrums. Sie warnten davor, dass in den zahlreichen deutschen Schulen des Landes treue Bürger des »Dritten Reichs« und nicht überzeugte Argentinier herangezogen würden. So gelang es Ihnen, eine öffentliche Debatte über den nationalsozialistischen Einfluss in Argentinien anzustoßen, die zwischen 1937 und 1938 ihren vorläufigen Höhepunkt erreichte.4

Unterdessen geriet die rechtsgerichtete Regierung wegen der massiven Wahlfälschungen, mit denen sie sich an der Macht hielt, immer stärker in die Kritik. Roberto Ortiz, der 1938 zum Präsidenten gewählt wurde, ging deshalb auf die Opposition zu und versprach, in Zukunft »saubere« Wahlen abhalten zu wollen. Tatsächlich erlangten die Sozialisten und die Unión Cívica Radical bei den Unterhaus-Wahlen Anfang 1940 eine Mehrheit. Doch kurz darauf erkrankte Ortiz. Vizepräsident Ramón Castillo, ein Militär, der zum reaktionären Flügel gehörte, übernahm nun die Amtsgeschäfte. Sofort machte er die zuvor eingeleitete Liberalisierung rückgängig und verschärfte die Repression. Die Opposition sah seine Kehrtwende als Ausdruck einer Faschisierung Argentiniens. Als Beleg dafür, dass Castillo ein Verbündeter der europäischen Faschisten sei, galt ihnen seine Weigerung, den Achsenmächten den Krieg zu erklären. War die Neutralitätspolitik bis dahin auch auf Unterstützung in der Unión Cívica gestoßen, so forderten ihre Mitglieder nun vermehrt den Kriegseintritt Argentiniens an der Seite Großbritanniens. Die Befürworter schlossen sich in der Acción Argentina zusammen. Im Mai 1941 veröffentlichten sie einen Text, der angeblich die Rede eines ehemaligen hochrangigen Mitglieds der Auslandsorganisation der NSDAP in Argentinien sein sollte. Dort hieß es, dass es den Deutschen mittlerweile gelungen sei, die höchsten Regierungskreise zu unterwandern, und dass sie über einen fertigen Plan verfügten, um in Argentinien die Macht zu übernehmen. Nun verlangte das Unterhaus, über die Anstrengungen der Regierung zur Kontrolle nationalsozialistischer Aktivitäten informiert zu werden. Als der Bericht des Innenministers nicht zufriedenstellend ausfiel, beschlossen die Abgeordneten die Gründung einer Kommission zur Untersuchung Antiargentinischer Aktivitäten.5

Die Gründung einer solchen Kommission hatten die Abgeordneten der beiden wichtigsten Oppositionsparteien — der liberalen Unión Cívica Radical und der Sozialisten — bereits seit der Debatte über die deutschen Schulen gefordert. Unter der Leitung Raúl Damonte Tabordas von der Unión Cívica konnten sie nun endlich die seit langem geforderten Untersuchungen durchführen. Wieder einmal spielten die NS-Gegner innerhalb der deutschen Kolonie, die über gute Kontakte zu Politikern des linksliberalen Spektrums verfügten, eine wichtige Rolle. So zogen die Kommissionsmitglieder etwa die in ihren Zeitungen veröffentlichten Artikel über NS-Organisationen in Argentinien oder über die deutschen Schulen heran; einzelne Deutsche trugen den Kommissionsmitgliedern weitere Informationen zu.6 Die Stoßrichtung der Berichte, die bis Ende des Jahres veröffentlicht wurden, war recht eindeutig: Sie sollten zeigen, dass das rechtsgerichtete, autoritäre Regime unter der Führung des Vizepräsidenten Ramón Castillo nichts gegen die faschistischen Achsenmächte unternahm, welche die argentinische Gesellschaft infiltrierten und unterwanderten.7 Der Grund für die Zurückhaltung lag in den Augen der Opposition auf der Hand. Sie meinte, Castillos Regierung sei sowohl in ideologischer als auch in außenpolitischer Hinsicht ein Verbündeter der Achsenmächte. Die Neutralität Argentiniens und die Einschränkungen bürgerlicher Freiheiten bestätigten sie in dieser Ansicht.8

Der argentinisch-amerikanische Konflikt

Warnungen vor einer faschistischen Unterwanderung und vor der Kooperation lokaler Machteliten mit den Achsenmächten waren 1941 auch aus anderen südamerikanischen Staaten zu hören. International beachtet wurden vor allem jene Bedrohungsszenarien, die sich auf Argentinien bezogen. Dafür sorgte schon die politische Interessenkonstellation auf dem Kontinent. Eine besondere Rolle spielten dabei US-amerikanische Interessen in Lateinamerika. Seit der Sudetenkrise wurden die in der sogenannten westlichen Hemisphäre lebenden Deutschen von der Öffentlichkeit in den Vereinigten Staaten als Bedrohung angesehen. Seit dem Beginn des europäischen Krieges versuchten die Interventionisten um Franklin Roosevelt diese Wahrnehmung im Kampf gegen die Isolationisten, die sich gegen einen Eintritt Amerikas in den Zweiten Weltkrieg aussprachen, zu instrumentalisieren. Die westliche Hemisphäre, so ihre Argumentation, sei durch die dort lebenden Deutschen bedroht. Sie stellten ein subversives Potential und ein jederzeit aktivierbares Heer dar, dem es ein Leichtes sein werde, einzelne lateinamerikanische Länder auf die Seite der Achsenmächte zu bringen und sie als Brückenköpfe auf dem amerikanischen Kontinent zu benutzen. Deshalb seien auch die USA unmittelbar von den Ereignissen in Europa bedroht und dürften sich nicht aus dem Krieg heraushalten.9 Die Briten, die an einem Kriegseintritt der Vereinigten Staaten ebenso interessiert waren, taten das Ihrige, um solche Ängste zu schüren.10

Infolge dieser Bedrohungswahrnehmung hielt man es im amerikanischen Finanz- und Außenministerium für notwendig, gegen deutsche Unternehmen in den lateinamerikanischen Ländern vorzugehen, die als potentielle Geldgeber für subversive Tätigkeit gesehen wurden. Dabei verschmolzen Sicherheits- und Wirtschaftsinteressen miteinander. Das »Dritte Reich« hatte seine wirtschaftlichen Beziehungen zu Lateinamerika seit 1934 zielstrebig ausgebaut, um seinen beständig wachsenden Rohstoffbedarf abzudecken. Die deutsche Expansion war auf Kosten der Vereinigten Staaten gegangen.11 Daraufhin hatten Vertreter US-amerikanischer Unternehmen 1936 ihre Regierung gebeten, etwas zu ihren Gunsten zu unternehmen. Das Bedrohungsszenario der Ausländsdeutschen als »Fünfte Kolonne« bot die perfekte Legitimation für den Einsatz von Mitteln des Wirtschaftskrieges. Man griff dabei auf ein Instrument des Ersten Weltkriegs zurück und stellte eine sogenannte proclaimed list zusammen. Sie führte Firmen im Besitz deutsch-, italienisch- und japanischstämmiger Personen auf dem amerikanischen Kontinent auf. Den unter US-amerikanischer Jurisdiktion stehenden Unternehmen war es verboten, mit Firmen oder Einzelpersonen, die in der proclaimed list genannt wurden, Handel zu treiben. Weil auch jedes lateinamerikanische Unternehmen, das mit den aufgeführten Firmen Geschäfte betrieb, automatisch auf die Liste gesetzt wurde, entwickelte sie sich zu einem effektiven Druckmittel. Von ihm erhoffte sich die amerikanische Regierung, dass es sowohl subversiven Tätigkeiten als auch der deutschen Wirtschaftsexpansion — die in den Augen der Analysten im State Department maßgeblich durch die auslandsdeutschen Unternehmen in Südamerika begünstigt worden war — einen entscheidenden Schlag versetzen würde.12

Nach dem Kriegseintritt der Vereinigten Staaten im Dezember 1941 versuchte das State Department, die lateinamerikanischen Staaten in das Vorgehen gegen die »faschistische Unterwanderung« des Kontinents einzubinden. Sie sollten ihre diplomatischen Beziehungen zu den Achsenmächten abbrechen und sich den Maßnahmen gegen deutsche Firmen anschließen. Die meisten der kleineren Staaten kamen der Forderung nach und akzeptierten bei der Umsetzung wirtschaftlicher Sanktionen gegen deutsche, italienische und japanische Minderheiten weitgehende Eingriffe in ihre Souveränität. Mexiko und Brasilien erklärten den Achsenmächten den Krieg und führten eigene Programme zur Bekämpfung wirtschaftlicher Aktivitäten der Feindmächte ein. Auch Chile ging gegen Personen vor, die man subversiver Tätigkeiten zugunsten der Achsenmächte verdächtigte, wenn es auch mit dem Abbruch seiner Beziehungen zu Deutschland und Italien bis Anfang 1943 wartete.13

Nur Argentinien weigerte sich, den Forderungen der Vereinigten Staaten auch nur ansatzweise nachzukommen. Die von Castillo geführte Regierung sah im Hegemon aus dem Norden einen Konkurrenten auf dem amerikanischen Kontinent. Unter keinen Umständen wollte sie sich durch die Preisgabe wirtschaftspolitischer Handlungsoptionen von ihm abhängig machen oder den Eindruck erwecken, dass man sich in die eigene Politik hineinreden lasse. Das State Department reagierte auf diese Missachtung amerikanischer Sicherheits- und Wirtschaftsinteressen mit einem massiven Konfrontationskurs. Da die wirtschaftlichen Verflechtungen beider Länder gering waren, hatten die Vereinigten Staaten für diesen Kurs zunächst kaum Opfer zu bringen — im Gegensatz zu Großbritannien, das von argentinischen Fleischexporten abhängig war und den sich anbahnenden Konflikt mit Besorgnis registrierte.14

Was für argentinische Oppositionspolitiker bereits seit einiger Zeit feststand, wurde angesichts der argentinischen Verweigerungshaltung auch zur Überzeugung des State Department: dass das argentinische