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Hermann Peter Piwitt
Die Gärten im März

Hermann Peter Piwitt

Die Gärten im März

Roman

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für Wolfgang Maier †

Ma il coraggio di vivere
quello ancora non c’è.

Lucio Battisti
›Die Gärten im März‹

Daß ich mir so was doch verkneifen solle, sagte Zange, solche Unternehmen, solche Gefühle. Daß es geradezu unsolidarisch sei, sich an so was zu verzetteln, wo sie selbst oft nicht wüßten, wo die Zeit hernehmen für die Sache. Nein, er sagt nicht bloß ›unsolidarisch‹, er sagt ›objektiv unsolidarisch‹, die Chance läßt er mir, mich subjektiv im Recht zu fühlen, – ehrlich, was ich mir davon verspräche? Ponto: ein hoffnungsloser Fall, wem der denn nun wohl nütze, was denn daran wohl noch zu beweisen sei?

Wirklich, ein privatistischer Luxus, sagt Lea.

Immerhin, sage ich, wir waren Freunde.

Gut, sagt Zange, aber ob ich denn wirklich glaubte, daß das ausreiche, daß das irgend jemanden interessiere, wo doch die großen Themen auf der Straße lägen. Löhne, Preise, Mieten, Wohnraumvernichtung … Der drohende Abriß der Häuser hier, sagt Zange.

Ja, wen ich überhaupt damit erreichen wolle, sagt Lea.

Ich weiß es nicht, sage ich. Ich weiß nur, daß ich es zu Ende schreiben muß.

Da stehen sie, die beiden, schon in Mänteln. Sind eben aufgestanden, wollen gehen, nun, dann gehen wir wohl besser, da ist ja dann alles gesagt, sagt er, steht auf und schlüpft in den Mantel; ich bringe sie zur Tür. Einen Moment lang stehen wir schweigend im Flur. Zange hat die Pfeife zwischen den Zähnen. Aus Augen, die noch schmaler sind als sonst, späht er an mir vorbei; und als spüre er, daß ich noch etwas sagen möchte, – als gelte es, irgend etwas noch einmal um Verständnis Bittendes, Vertröstendes, einen Vorschlag zur Güte, irgendein in seinen Augen kompromißlerisches Gefühl gar nicht erst bei mir aufkommen zu lassen, lacht er auf einmal durch Zähne, die die Pfeife halten, dieses kurze stoßende Zange-Lachen, das immer wie ›Aha‹ und ›Siehst du‹ und ›Hab ich’s nicht gesagt?‹ und ›So nicht, mein Freund!‹ klingt. Nein, so nicht! sagt Zange, da müsse sich der Herr schon entscheiden, wo er stehe, da gäbe es halbe Sachen nicht. Kein ›Wenn und aber‹, keine Alleingänge und kein ›keine Zeit‹! Und Lea sagt: Ein schöner Freund, wirklich. Oder habe ich nicht recht, Rolf?

Aus dem Fenster sehend, durch die Scheibe, auf der eine blasse Sonne die Regenflecken abbildet, wenn ich aus dem Fenster sehe, schrieb er, Ponto, sehe ich hinter dem Garten, hinter den Apfelbäumen das flache Land sich hinziehn, Weiden und Äcker, in denen das Schmelzwasser steht, in die sich Wegschneisen legen, Koppelzäune, Gräben, die Luft ist ruhig, und auch ich bin ruhig jetzt, wo ich den Gartenweg hinuntergehe, vorbei am Schuppen, an den Holzstapeln und der umgestürzten Badewanne, die noch immer so liegt, wie er, Ponto, sie beschrieben hatte: umgestürzt und im tiefen Boden halb eingesunken; vorbei am Holundergebüsch, an den Kopfweiden bei der Pforte gehe ich, versuche ich seinem Blick von damals nachzugehen, hinein ins offene Land. Die Gräben sind übergelaufen. Noch am Tag zuvor, als ich im Dorf ankam, liefen hier die Kinder Schlittschuh, konnte man ihre Gesichter, die bunten Wollmützen hinter dem Reet, bis in den frühen Abend vorbeiflitzen sehen; jetzt steht das Wasser zwischen den Horsten alten Grases, naß, strähnig und verklebt liegt es da, die Weiden sind leer, er hatte von Vieh geschrieben, das hier von Grind und Schmutz überzogen, mit vom Fell halbentblößten Rücken und Flanken, den Winter über verkam, von einer Seuche, von glasigen Nebeln, von plötzlich hereinbrechendem föhnigem Sturm, der ihm das Herz abdrücke, sagte er, von den ständigen Schmerzen hinterm Brustbein und dem Wunsch, noch nicht sterben zu müssen, obwohl er nicht wisse, was ihn am Leben noch hielte, da ihn niemand vermisse, brauche, nicht einmal mehr, jetzt wo sie tot sei, seine Katze.

Hier also war er herumgewandert, am Tag, und nachts, wenn er nicht schlafen konnte, schließlich aufstand und draußen auf den vereisten Wegen bis zum Morgen herumtappte, ein kleiner schon etwas rundlicher Mann, der die Füße beim Gehen nach außen stellt, wie das kleine, etwas rundliche Männer so an sich haben, wenn sie sich besonders gerade halten wollen. Er hatte uns im Herbst verlassen, war mit einem Rest Erspartem hierher aufs Land gezogen und hatte sich noch einmal mit jenem ausgeklügelten System kleiner Zuwendungen und Rituale umgeben, mit dem er sich von dem, wie er sagte, ihm immer qualvolleren direkten Umgang mit Menschen unabhängig machen zu können glaubte, und in dem der Alkohol allemal und immer mehr die Rolle des größten Wohltäters spielte. Dinge, in denen ihm einmalige Zuwendung gewissermaßen auf Dauer gesetzt schien, alte Briefe und liebgewonnene Bücher, gebrannte und geschnitzte Tierfiguren, Fotos, Vogelnester und Steine finde ich und erkenne sie auf seinem Tisch wieder, jetzt, wo die Vermieterin mir das Zimmer aufschließt; ruhig, ein bißchen zu ruhig sei er ja gewesen, sagt sie. Sie bückt sich, sie hilft mir die über den Boden verstreuten Briefe beiseite räumen, damit wir nicht drauftreten. Er muß in diesen Briefen gelesen haben, muß die seit langem verschnürten und abgelegten Päckchen wieder geöffnet haben, bevor er alles stehen und liegen ließ, Hilfe darin gesucht haben, so als sei die ihm einmal darin entgegengebrachte Zuwendung noch immer lebendig, als sei er für die Absender nicht längst vergessen gewesen, eine Episode, unwiederholbare Vergangenheit, als sei Zuwendung eine magnetische Energie, die in diesen Dingen für Jahre überdauerte, in Briefpapier und Fotos, Spielsachen, Widmungen in Büchern und Steinen.

An die Dachschräge der Mansarde heftet er Postkarten, kleine Drucke, Fotos von Menschen, Gesichtern von Freunden und Fremden, die alle eins gemeinsam haben: von wo er sie auch betrachtet, sie sehen den Betrachter an.

Seit Herbst, schrieb er, wohne ich jetzt hier, im Haus der Eltern, in dem Haus, in dem ich aufgewachsen bin, aber niemand weiß das, nicht einmal die jetzige Besitzerin, daß es mein Zuhause war und ist. Das heißt: ich selbst bin dies Zuhaus. Zum Wohnen genügt mir die Dachkammer, das, was früher der Hängeboden war, die Abstellkammer, hier standen und lagen Koffer von vor dem Krieg und alte Matratzen, das von Motten zerfressene Klavier war hier abgestellt und ausgediente Gemälde, aus denen wir Höhlen bauten; wir stellten Bilder und Matratzen gegen die Dachschräge, krochen dahinter und hörten dem Regen auf den Dachpfannen zu, ich meine, schreibt er, dies aufregende Gefühl, zugleich bedroht und geschützt zu sein: ob ich ihn verstehen könne? Ob ich verstehen könne, weshalb er sich hier eingenistet habe? Daß dieses Haus gewissermaßen in ihm aufgeteilt sei, eine Form des Gedächtnisses, in der er zu sich selbst kommen müsse?

Ich gebe Lisa den Brief. Sie sagt, jetzt ist er übergeschnappt. Und ich: Wir müssen ihm helfen.

Helfen? sagt sie. Adoptier ihn doch! Da hat der Junge ein Brüderchen!

Er hatte es sich so gedacht: Sich selbst auf die Spur kommen, indem er dem Kind auf die Spur kommt, das er gewesen war. Aber die Kindheit überlebte den Versuch, sie zu beschwören, nicht. Er kehrt zurück, die Jahre hinab, in ein Gelände, das er größer, weitläufiger und von magischen haltgebietenden Grenzen umgeben in Erinnerung hat. Ja, er glaubt, jede Böschung, jeden Wurzelstock, jede Baumhöhle, ja sogar die Abdrücke seiner Gummistiefel von damals wiederzuerkennen, nur puppenhaft, zwergenhaft dies alles, jetzt. In den Ausmessungen und Höhenunterschieden seiner Kindheit hatte das Land in seinem Gedächtnis überlebt: ›Ich laufe herum wie Gulliver bei den Liliputanern‹, schrieb er. Aber die Dimensionen des Gedächtnisses wichen denen, die das Auge neu vermaß: ›Das Land liegt wie abgeschieden da. Wie die Einbildung eines Fremden.‹ Und dann: ›Das Haus fällt mir über dem Kopf zusammen!‹

Aha, sagte Zange. Und ich kann ihm nicht widersprechen; denn das Wort, das er jetzt zwischen Zähnen und Pfeifenstil hat, macht das Rechthaben leicht, so leicht, daß er selbst es sich verkneift und es Lea überläßt, und die sagt dann: Entfremdung.

Nicht wahr, Rolf, so sagt man doch, das wolltest du doch sagen? Dann bleiben Briefe und Anrufe aus.

Es sind jetzt zwei Monatsmieten, sagt die Vermieterin, die er mir schuldet. Sie gibt mir zum Abschied die Hand, so als könne ich ihr das Geld beschaffen. Ich kenne weiter keine Angehörigen, sage ich. Das Beste ist, Sie packen seine Sachen in einen Karton und warten, bis er wieder auftaucht. Wenn Sie keinen Platz haben, nehme ich ein paar Sachen mit zu mir. Inzwischen können Sie wieder vermieten. Auf der Straße kommt mir Lisa mit dem Jungen entgegen. Es ist ein schöner Tag im Frühjahr geworden, wie damals vor knapp einem Jahr, bevor Ponto dann verschwand. Die Luft ist erdig kühl. Der Himmel noch niedrig und kaum unterscheidbar von den rauchigen klinkerfarbigen Wolken, die am Horizont feststehen. Wir gehen ein bißchen. Wind ist aufgekommen, von der See her, und überall stehen Lerchen in der Luft. Es war Ponto, der einmal zu dem Kind sagte, daß Lerchen gar keine richtigen Vögel seien, sondern nur welche zum Aufziehen. Wenn sie aufsteigen und zwitschern, läuft eine Walze ab, weißt du, wie in einer Spieluhr. – Aber Lisa sagte, erzähl ihm nicht so was. – Das war damals. Jetzt fragt es, wie eigentlich der Wind entsteht. Ich habe es mir selbst nie vorstellen können. Daß keine Kraft dahinterstehen sollte, sondern daß die Kraft erst ausgelöst würde durch das Zurückweichen von anderer Kraft. Aber ich versuche es ihm so zu erklären. Mit den warmen aufsteigenden Luftschichten, dem Sog und so. Selbst wenn er es noch nicht begreift. Ponto hätte eine Geschichte erfunden.

Ich sage ›zuhaus‹ und ›Sportlerschanze‹ und versuche, ihn mir im Gedächtnis wieder aufzubauen dahin, wo er damals stand, an der Rundung des Tresens, gegen das Fenster hin, schwarzhaarig, nicht groß, aber breit in den Schultern, ein Gesicht, das hier nicht zuhaus war, aber auch nicht in die Studentenkneipen der Umgebung paßte, von wo sich manchmal ein paar Bärte hier herumdrückten in der Hoffnung, uns ausfragen, abkochen zu können. Reviergefühle vor fast schwarzen Augen unter glatten, zu den Schläfen hin merkwürdig auseinanderfließenden Brauen, kleines Kräftemessen über den Tresen weg: ich erinnere mich, ›einen unrasierten David‹ nannte Pocher, die hanseatische Hoffnung, ihn später; aber nichts davon, nichts von der florentinischen Schwuchtel, nicht einmal die schmale schöne Nase, die weder fleischig noch knochig war, sondern einfach die haushälterischste Lösung in einem Gesicht, das still und aufmerksam war wie das eines kleinen Tagraubvogels in Gefangenschaft … Und bei ihm, dick und schwer angetrunken, den Ring aus Silber im Ohr und auf dem Kopf wie immer die ortsbekannte Ballonmütze, mit Platz für dreizehn Brötchen, dazu die Bierflasche wie zur Balance am ausgestreckten Arm: der ›Baron‹, wie wir ihn nannten, ein Maurerpolier, der hier den Thekenkönig machte in der ›Schanze‹, wo wir uns wochenends trafen, nach dem Fernsehn, für ein paar Korn vor dem Schlafengehen, oder wie Ponto dann sagte: ›Für einen Kopfschuß.‹

Die Schanze gehörte zu den vielen Wirtschaften im Viertel, die von ihrem Stammpublikum fast allein existierten. Schon ein Stamm von zirka zwanzig Gewohnheitstrinkern – vorausgesetzt sie zahlten prompt – genügte, um einen Laden dieser Art über Wasser zu halten. Alfred, der Wirt, ein Mann wie ein Knorpel, ein Gesicht glasig grau wie ein ausgekochter Gelenkknorpel, hatte sich extra ein Schrotgewehr und zwei Schäferhunde angeschafft, damit wir uns bei ihm wohlfühlten. Und wer solche Vorsicht übertrieben fand, dem erzählte er gern die Geschichte seines Vorgängers, der eines Tages Ausländer reingelassen habe. Türken, Griechen, Jugoslawen. Die Serben schlugen sich mit den Kroaten. Und die Griechen, sagt Alfred, gingen sich gegenseitig in die Pomade. Also war der Mann erst seine Stammkundschaft los; und dann haben sie ihn auf der Müllkippe gefunden – in einen Teppich gewikkelt. Nu, was ich nu dazu sagen würde? fragt er. Er behaupte ja gar nicht, daß das Türken gewesen seien. I wo, das sei fern von ihm. Zugestoßen habe vielmehr der Liebhaber der Wirtin, und der sei ein Loddl gewesen, von hier, der Geld wollte.

Aber hätt ja auch anders kommen können, oder?

Und ob das hier vielleicht ein Kriegsschauplatz sei? Kreta? Saloniki? Weißt du, sagt er, ich sage denen immer: das Amselfeld ist nicht hier. Nix da! Hier gibts nur Amselfelder. Vino kosovsko, ponimajo? Verstehn? Und das kapiern die gleich, – und schieben ab, die Zwockel!

Ich sage ›zuhaus‹ und ›Sportlerschanze‹ und ›Alfred‹, der glaubt nicht anders überleben zu können, obwohl ihm doch Rentner im Wert von ein paar tausend Mark Zechschulden pro Jahr wegsterben, deutsche; und das sieht er schon: daß auf die Nationalität kein Verlaß ist. Gib mir zwanzig gutverdienende Türken, stille Trinker mit festem Wohnsitz: und ich schmeiß das ganze Gelumpe raus, sagt er, das deutsche, das mich nur Geld kostet! Aber so? ›Feierabend!‹, wenn jemand in der Tür steht, der in gebrochenem Deutsch die Tageszeit wünscht. – Und gleich die rote Karte hinterher! Das verstehn sie, das ist international.

Hilft aber auch das nicht, sind mit diesem unbeschreiblichen Geräusch, das Hundeklauen auf Linoleum machen, Alfreds Schäferhunde an der Tür.

Eine Vitrine mit Eisbein und Aspik, Dauerwurst und Piccolos. Darauf eine Lampe mit einer Sektflasche als Fuß. Eine Sparbüchse in Form eines Schiffes für Spenden zur Rettung Schiffbrüchiger. Im Paneel links Gewürze, dünnhalsige Flaschen für Essig, Öl und Maggi. Eine Brotschneidemaschine. Ein Stapel Tabletts, Plastik, holzgemasert. Würfelbecher aus Leder, Kaffeefilter. Ein Foto von den Hunden in goldlackiertem Rahmen. Ein Wimpel des Sparclubs ›Hohe Kante‹. ›Sup di vull und fred di dick – un hol din Mul von Politik‹ als Mahnung in Holz gebrannt vor den Regalen mit den Likören, Weinbränden und Schnäpsen: Du hast das hundertmal gesehen und irgendwann siehst du es nicht mehr. Aber es gibt eine Art von Müdigkeit, die hellhörig macht: irgendwann, wenn sich ihre Bedeutung nicht mehr fassen läßt, sammeln sich alle Geräusche auf einem einzigen Horizont um dich. Das Platzen der Schaumbläschen auf dem Bier, das kleine Rauschen, das lange anhält; denn Alfred schenkt gut ein, das ist seine Art, Ehre einzulegen: daß wir auf seinem Bier Platz nehmen können. Ich höre Sätze wie ›der König kam von dir‹; und sie enthalten die Nachricht, daß ich sie hören kann, nichts weiter. Die Rede ist von reinschmeißen, reinschmieren, einen Fuchs fangen, von einer Ziege, die man nicht mit nach Hause nehme, von brotloser Kunst und Kleinvieh, das Mist macht. ›Pfunde‹ werden angekündigt, eine Belle, eine Terz. Jemand sagt: Da geht er hin und singt nicht mehr! Gewerkschaft! sagt jemand, geh mir los mit Gewerkschaft! und: ob nun alles klar sei? Da ist das Klickern der Würfel im Becher und das Scheppern der Groschen, wenn sie in die Tülle des Rotomaten fallen. Und plötzlich vom Ende des Tresens her die Stimme des Barons, laut, Schleim schleppend und um jene Idee zu hochdeutsch, die bei einem Typen wie ihm Gefahr bedeutet: Ob er da wohl richtig gehört habe? rief er; und ich habe sie heute wie damals im Ohr, die Stimme, im kaputten Ohr, zwischen dem Sausen, dem Schwindel, dem bohrenden Kopfschmerz klingt sie mir nach: Ob er das wohl gefälligst mal wiederholen möchte, der Herr, diese Beleidigung; denn das sei ja wohl eine Beleidigung gewesen, geradezu, gegen seine Frau. – Und dabei stößt er dem Schwarzhaarigen neben sich den Kopf vors Gesicht.

Aber der dreht nur die Nase ein bißchen aus der Schnapsfahne und sagt: Ich habe niemand beleidigt. Ich habe nur gesagt: Deine Frau ist still und bescheiden – und sie hat eine gute Figur!

Nicht, daß eine Schlägerei gleich im Anzug gewesen wäre. Krücken, wie sie in der Schanze saßen, taten sich nicht mehr ernsthaft weh. Und wenn es einmal wirklich etwas setzte, pfiff Alfred die Hunde. Lokalverbot aber konnte sich hier keiner mehr leisten; denn nach Alfred kam nichts mehr. Von Alfred erwartete nur Kredit, wer woanders keinen mehr bekam, nicht mal mehr im ›Goldenen Handschuh‹. Und der Baron wußte das. Wenigstens, solange er nicht versuchte, die Endsilben zu betonen. Klang seine Stimme aber im Suff plötzlich nüchtern, hochdeutsch, konnte man wetten, daß er schon von Sinnen war vor Wut.

Ich jedenfalls, den er mit seinen Endsilben aus dem Dösen aufgeschreckt hatte, bekam – ménièresche Symptome hin und her – im Lauf der Zeit ein Ohr dafür. Und ich bin nicht sicher, heute, wo ich daran zurückdenke, ob nicht auch ich dir eins aufs Maul gewünscht habe, damals, für deine Antwort, Ponto. Denn jeder im Karree kannte den Baron, jeder seine Frau. Und jeder wußte, wie es um beide stand. Er hatte eine Affäre mit der Witwe, der die meisten Häuser in der Straße gehörten; und er versuchte, seine Frau mit Prügeln daran zu gewöhnen. Er schlug sie, wenn er nachts betrunken nach Haus kam. Hinter dem beleuchteten Fenster hörten wir sie sich anschreien. Daß er ihr keine Ruhe lassen werde. ›Bis du so aussiehst, daß dich niemand mehr anguckt!‹ Beim Krämer sah Lisa sie ein ums andere Mal, blaugeschlagen. Aber sie riß ihm immer wieder aus, blieb manchmal tagelang weg. Die Telefonnummer unseres Reviers hatte sie sich ins Handgelenk geschrieben, sie zeigte sie herum. Daß er sie einmal aus dem Fenster werfen würde, war ziemlich sicher. Aber was wußtest du, damals mit all dem dunklen Bock, den du schon auf dem Block hattest, Ponto, unter soviel gestandenen Schluckern?

Den Film komplett haben. Den ganzen Heimatfilm. Die gediegenste Versammlung von Einzelgräbern im Viertel, wie Alfred sie nannte, der es wissen mußte; denn er pflegte sie. Sie saßen da und standen wie jeden Abend. Heinz voran, Fischereifachmann: daß Heringe von Westamerika einundvierzig Gräten mehr haben, erzählt er jedem, der es nicht hören will. Sein Anzug ist neu, ein unerhörtes Blau, ein Azur wie Leuchtfarbe, er trägt den Garantieschein für fünfundvierzig Prozent Wolle immer bei sich, er zeigt ihn mir. Dazu das kanariengelbe Hemd. Und um den Hals die Riesenfliege noch einmal in Blau, mit gelben Punkten drauf. Weißt du, sagt er zu Jupp, daß Neufundländer die einzigen Hunde mit Schwimmflossen sind? Aber Jupp hört nicht und macht ein Gesicht dazu, als träume er seinen Zähnen nach, die er bei Cherson verloren hat, durch Skorbut, bis auf einen – sagt er –, den hat er im Portemonnaie, und wer will, kann ihn sehen; aber Gebiß behält er nicht bei sich, da muß er kotzen. Is ja nun wohl auch nicht nötig, wo er sich nur noch flüssig ernährt, sagt Alfred. Ich sehe Tatjana, die aus Reval sein will und nichts kann außer ›Kalinka‹ singen, das aber auswendig; und ihren Mann daneben, dessen Salär sie ausgibt; denn er ist ein geborener Glockmann, von Glockmann & Söhne, ein Wikingergesicht, ein Wotan auf Rente – aber wenn er den Mund aufmacht, kommt nur Gebell. He, Glockmann! ruft Tatjana. Und er bellt. Und das hieß: ›Laß meinen guten Namen in Ruh!‹ Blieb Bodo, zwei Bier weiter, mit einer Reederei für Seebestattungen eben in Konkurs gegangen, Bodo mit den ewig blütenweißen Rollkragenpullovern, den gemusterten Westen und gestickten Hemden: ein kleines vertrocknetes Gesicht. Das Wassergrau der zu vielen Schnäpse schien ihm durch die Haut geschlagen, eine Haut wie Zellophan, das auf einem Einmachglas Falten zieht, Bodo: unverständliche Sätze auf einen nassen Zigarrenstummel kauend, während er sich mit einem Bürstchen die Nägel poliert: Wirklich, es waren alle an Deck. Und Achim, ganz außen, den sie ›Achse‹ nannten, schläft wie immer der Frühschicht entgegen, pro Bier ein Stündchen.

… wacht aber im Moment auf und bestellt für sein warmgewordenes ein frisches, während der Baron die aus wässernden Bluträndern heraustretenden Augen noch immer auf den Neuen neben sich gerichtet hat. Es arbeitet in ihm. Er pumpt wie ein Maikäfer. Er kommt überhaupt nicht zu sich. Ganz weiß ist er schon im Gesicht. Sogar die roten Trinkerflecken um den Nasenrükken sind daraus verschwunden. Ob er noch was zu beichten hätte, der Herr Spaßvogel, sagt er und schiebt sich mit der Flasche den Hut aus der Stirn. Ob das sein letztes Wort gewesen sei? Er schwankt. Er fällt vornüber und kriegt noch im Fallen seinen Gegenüber beim Revers: Sag das noch einmal! Das hast du nur einmal gesagt. Oder du hast ein Pfund zwischen die Augen.

Aber der zupft nur die fremden Hände von der Jakke als seien es Flusen, und einen Augenblick später sitzt der Baron wieder still auf seinem Hocker.

Es war ein Handumdrehn. Die reinste Hexerei. Wie bringt man zwei Zentner Baron zur Hochstrecke? Nicht einmal die Zeit, um unser Bier in Sicherheit zu bringen, hätten wir gehabt. Nur Bodo hat einen Satz vom Bock gemacht. Aber jetzt hockt er schon wieder oben, zieht sich die Bügelfalten stramm und fängt an, sich mit einer kleinen Schere die Haut von den Halbmonden seiner Nägel zu schneiden. Er zeigt mir die Fingerspitzen: Ob er vielleicht ein Neger sei? Na bitte!

Und Tatjana reklamiert ›Max zwei‹. Und am Tisch wird wieder gemischt und gegeben. Und Alfreds Hunde haben die Augen wieder zu, genauso wie der Baron. Er hat den Kopf aufgestützt. Er bedeckt das Gesicht mit den Händen. Dann betrachtet er seine Handflächen, als habe er sein Gesicht darin. Er hat plötzlich Tränen in den Augen. ›Still.‹ ›Bescheiden‹, sagt er, ›gut …‹ Meine Frau ist nicht gut. Aber wenn einer sagt, sie ist ein Miststück, dann bin ich das. Also: Sie ist ein Miststück, verstanden? Und dann wirft er die Mütze auf den Tresen und schlägt mit der Flasche drauf, bis alles, Mütze, Tresen und der ganze Platz für dreizehn Brötchen, in Bier und Splittern liegt.

Stillhalten und warten können, bis es einen vom Sitz zieht, das ist das wichtigste bei dunklem Bock. Oder besser: Stehenbleiben – man fällt dann nicht so hart vom Hocker. Natürlich kann man sich auch gleich einen Sack Zucker an den Kopf werfen lassen, das wirkt schneller. Jedenfalls trinkt niemand dunklen Bock ohne dunkle Absichten gegen sich selbst. Untertauchen, sich in einer klebrigen Stimmung ertränken, dabei Bier trinken wie ein Mann, aber ohne ständig pissen gehen zu müssen wie bei normalem Hellen: Diesen Himmel eröffnet einem nur dunkler Bock.

Der Baron hielt den abgebrochenen Flaschenhals in die Höhe: Wollte noch jemand was? – Niemand wollte was.

Alfred, noch zwei Flaschen auf meine Rechnung. Für mich und den Schmalzjungen da.

Alfred, der im Hinterzimmer zu tun gehabt hatte, stieg über seine Hunde weg hinter den Tresen zurück.

Flaschen – für welche Flaschen?

Ponto, sagte der Schwarze, ich heiße Ponto.

Also Ponto, ich bin der Baron. Und jetzt stoßen wir an: Nieder mit dem Kommunismus. Nieder mit der Gewerkschaft! Ponto versteht nicht gleich: Erst die Frau, dann der Kommunismus – und jetzt die Gewerkschaft. Verstehn Sie das? fragt er mich. Ich schüttle den Kopf.

Du hältst dich raus! sagt der Baron. Und zurück zu Ponto: Los, heut ist Stimmung! Heut wird gesoffen. Und du bist auch ’n bißchen fröhlich, verstanden? Sonst krachts!

Ja, sagt Ponto, gern. Aber wieso Gewerkschaft?

Weil ich fertig bin mit denen. Weil ich ausgetreten bin. Und das wird jetzt gefeiert, klar?

Ja, aber das ist nicht gut. Ich meine, es geht mich ja nichts an, aber dann stehst du allein. Wer soll dich vertreten?

Der Baron winkelt den Arm an, daß die Jackennähte krachen, macht eine Faust. Dann schlägt er mit der Hand auf den gespannten Bizeps: Vertreten? Ich kann mich selbst vertreten. Ich mach die Tarife. Bei meinem Chef bin ich der King!

Ja, vielleicht jetzt mit vierzig, sagt Ponto. Aber in zehn Jahren, wenn du so alt bist, wie du jetzt schon aussiehst! Wenn sie dich nicht mehr brauchen können, und du saugst am Strumpf – wer hilft dir dann?

Helfen?

Der Baron greift nach einer der Flaschen, die Alfred ihm hingestellt hat: Ich höre immer ›helfen‹. Mir hilft niemand. Und mir hat noch niemand geholfen. Ich kann mir selbst helfen! ›Gewerkschaft‹! Er tritt gegen die Tresenwand. Funktionäre durchfüttern! Fettlebe! Kollegen. Ich höre immer ›Kollegen‹! Die kennen doch nur sich selbst!

Er setzt die Flasche an. Aber das Bier fließt ihm über die Lippen ins offene Hemd. Er dreht sich vom Tresen weg, beugt sich vor, um sich den Kragen auszuschütteln, und fällt vornüber in den nächsten Tisch. Mitten zwischen Flaschen und Gläser. Glas splittert. Gäste springen weg. Er räumt ab. Er montiert ab, wie ein Hubschrauber im Heu. Die Flasche kreist über seinem Kopf. Von seinem schütteren Haar fließt ihm das Bier übers Gesicht. Lokalverbot! ruft Alfred, Peterwagen! Er hat die Hunde schon startklar. Aber gemeinsam kriegen wir den Umsichschlagenden an den Tresen zurück. Ein bißchen dümpelt er noch. Schaukelt von den Zehenballen auf die Hacken und zurück. Er hat Ponto am Revers – aber hält er sich fest oder ihn? Ponto greift nach den Händen an seiner Jacke, von denen die Schwielen wie Beulen herabhängen, er hält sie dem Baron vors Gesicht: Kennst du die? fragt er. Gut. Dann kannst du sie auch krummachen, was? So, sagt er und zählt ihm die gekrümmten Finger einzeln über den Thekenwulst. So … wunderbar! Und nun halt dich fest. – Alfred, die Rechnung!

Scheißpolitik am Tresen, sagt Alfred. Immer dasselbe. Es tut mir leid, sagte Ponto, aber ich geh ja schon. Und dann, während er zahlt, zu mir herüber, mit einem schiefen Lächeln, das eine Auge zugekniffen, eine fast zierliche Verbeugung: Ich bin, müssen Sie wissen, nämlich total betrunken.

Ah, hau bloß ab, Milchjunge.

Der Baron hielt sich noch immer an der Theke fest, als Ponto, die Füße nach außen gestellt, mit kleinen suchenden Schritten, ein Tänzer mit Hexenschuß, die Schanze verließ. Der Baron war gewohnt, Freundschaften mit der Keule zu schließen. Jetzt drehte er sich um, hinein ins Lokal: Wollte jemand noch was? Hatte hier vielleicht jemand noch eine Frage? Berber! ruft er, sind wir vielleicht Berber? Ich hab im Pferdestall übernachtet. Ich hab mir auf die Hände pissen lassen, damit sie mir nicht erfrieren. Er legte den Kopf auf die Theke. Er wird einschlafen, denke ich. Aber kaum, daß ich mich ihm zugedreht habe, stützt er sich schon wieder auf, als bitte er um etwas, nein, nicht um Zuspruch, aber doch wenigstens um Notiznahme durch mich, so daß er ›Is was?‹ fragen kann. Is was? fragt der Baron. Sein Gesicht, das Haar, ist bierverklebt, und alles hing ihm darin herunter, die Augenlider, die Bakken, der Mund, das Kinn, schwer, beulig, häutig, wie an einem Haken aufgehängt. Ich schüttle den Kopf. Pfeife! Stinkstiefel. Bruchbückel der, Türke, sagt er. War doch auch so ’n Türke, oder?

War kein Türke, sagt Alfred, hätt ich gar nicht reingelassen.

– Na, aber doch auch so einer.

Der Baron legte den Kopf auf die Arme zurück. Der Ring am Ohr lag auf seinem Handrücken. Aber daß er mich aus halbgeschlossenen Augen weiterbeobachtete. Und – eine alte Diva, die sich irrtümlich erkannt glaubt – die Augen aufmachen und ›was guckst du?‹ fragen würde, sobald ich in seine Richtung sah: ich hatte so meine Erfahrungen mit ihm. Wer, wenn nicht ich, konnte ihm jetzt noch seine Wunden lecken? Was guckst du? fragte er. Er holte eine Uhr aus der Tasche: Weißt du, was das ist? Das ist keine Sore. Das ist massiv Gold. Dupont. Französisch. Kannst du Französisch?

In der Box lief ›Mendocino‹ aus. Ich hörte das Umsetzen der Platten. Das kleine Rumpeln im Kasten beim Einrasten der neuen Nummer. Das Knacken der metallenen Gelenke. Das kleine Rauschen des Saphirs. ›Ich‹, sagte die ›Schicksalsmelodie‹, ›bin die Schicksalsmelodie.‹ Die Musik roch nach altem Frittenfett und erzählte von einmaligen Schicksalen, die in diesem Moment überall auf der Erde wie wir sich an der Theke festhielten und Humphrey Bogart neben sich einen Fünf-Groschen-Jungen sein ließen. Es war kalt und die Kälte stank. Heinz fragte: Lebt die Boulette noch? Alfred spuckte in die Hände, zog die linke Hand unter der rechten Achsel durch und die rechte unter der linken. Dann fing er an zu kneten: Du weißt doch, wie ich sie mache. – Ôra di pois ära prära! rief Tatjana; das sei lettisch und heiße: Teufelsjunge, halt die Schnauze! – Der alte Glockmann bellte. Bodo zerdrückte seinen längst verglimmten Stummel, daß das Wasser herauslief. Er betrachtete seine Halbmonde. Er sah an sich herunter: Ich seh immer gut aus, nicht wahr? Ich kann alles tragen, was ich will. Sogar Ascheimer. Zahlst mir ’n Korn? fragte Jupp, kriegst ’ne Juno! ›Achse‹ ließ sich sein warmgewordenes Bier wegschütten und bekam ein neues hingestellt. Wenn man vorm Tod soviel Angst hat wie vor zu Hause, wird jedes Halbe zur Ewigkeit.

Nun guck dir das an, sagte Alfred und zeigte auf den Baron, trägt ’n Ring im Ohr, der ihm Glück bringen soll, kriegt dreizehn Mark die Stunde und ist so ’n unglücklicher Mensch.

Pocher war ein untersetzter Mann mit kurzen roten Locken, die ihm wie ein Schwamm um den Kopf standen, und einem ebenso roten Backenbart. Er schielte; aber er hatte dies Gebrechen zu einem fürchterlichen Machtmittel entwickelt. Denn von seinem Silberblick fühlte sich nicht nur auf demütigende Weise übersehen, wer mit ihm redete; es war auch unmöglich, ihn selbst ins Auge zu fassen, geschweige denn zu fixieren. Mit Pocher reden hieß beschäftigt sein mit der Frage, mit wem er nun tatsächlich sprach, mit einem selbst oder mit jemand nebenan. Ein Handikap, das ihm erlaubte, im Gespräch immer ein paar Gedanken voraus zu sein; und das hieß bei Pocher: ein paar Gemeinheiten.

Es gab Leute, die glaubten, sie müßten besonders freundlich zu ihm sein; sie meinten, sie täten ihm einen Gefallen damit, ihm, dem Glotzer. Mit ihnen trieb es Pocher am übelsten: Denn wenn er etwas haßte, war es Schwäche, und besonders die aus Menschenfreundlichkeit; und Platz, den man ihm machte, nutzte er, ganz ungebrochen.

Pocher kennt diesen Blick, der zu seinen Augen geht, als wären da keine Augen, sondern halbverhungerte Hündchen. Er lehnt sich vor, er stößt einem den dicken Kopf ins Gesicht, bis man glaubt, man habe das eigene vor sich, nur in einer Weihnachtskugel gespiegelt. Dann läßt er, langsam wie Lancaster, die Zähne kommen und sagt: Sie müssen nicht extra ein dummes Gesicht machen, nur weil ich schiele. Sie gucken auch ohne das schon dumm genug.

Und dabei lacht er, ein trocknes Lachen aus dem Stand, als ob Kugeln in die Tülle eines Billardtisches kollern. Nein, eigentlich überhaupt kein Lachen, sondern ein Signal, das ›Hier bin ich. Und wo seid ihr?‹ bedeutet, und ›War ich nicht gut? Na bitte!‹ Dazu ein schneller Blick über die Runde: denn seine Leute um sich, seine Gefolgschaft, die hatte er beisammen, Pocher; auf sein Lachen hörten sie alle wie auf ein Kommando.

Ich sah Pocher zum erstenmal an einem Abend im Winter, als er, der Schriftsetzer aus Kaiserslautern, gemeinsam mit anderen seine Gedichte vortrug, auf dem totesten Platz der City, den die Stadt dafür genehmigt hatte. Es war das Jahr der Unruhen unter den Studierenden, und ich erinnere mich an ein Gedicht von ihm, es hieß ›Börse‹, das heißt, ich hätte mich nicht daran erinnert, hätte Pocher es nicht mit einer so unverschämt leisen Stimme vorgetragen, daß nicht einmal Lisa und ich, die wir zufällig vorbeigekommen waren, vorn in der ersten Reihe etwas davon verstanden. Man unterbrach ihn. Pfeife! riefen sie von unten. Penner! Man lachte gleich bei seinen ersten Worten: Lauter! Flüsterpropaganda! Leisetreter! – aber Pocher, unbeirrt oben auf dem Lastwagen, den man als Tribüne hergefahren hatte, hauchte die letzte Zeile fast nur noch ins Mikrofon. Dann bückte er sich erst mal zum Bierkasten, griff sich eine Flasche heraus, fingerte ein Taschenmesser vom Gürtel, riß sie auf und trank, als hätte sie keinen Boden. Es war klar: im nächsten Moment würde er ohne Jacke dastehn, mit aufgekrempelten Ärmeln, und sich einen der Schreier heraufbitten. Die Schiebermütze vom Kopf nehmen und sie umständlich über die Flasche hängen: er beließ es dabei. Dann rief er laut, aber ohne eine Spur von Erregung in der Stimme. Sperrt gefälligst die Ohren auf, ihr Krücken!

Daß sie ihn ausgepfiffen hätten, daß sie ihn gar nicht mehr hätten reden lassen, einen Augenblick später; versteht sich. Aber der Veranstalter nutzte die erste Überraschung. Er sprach von dem ›beschämenden Schauspiel, daß hier der einzige Vertreter des Proletariats drohe niedergeschrien zu werden‹ (er sagte ›drohe‹! Als ob Pocher gedroht hätte!). Er bat um eine Wiederholung des Gedichts. Und auf einmal war es hier still wie sonst nur am Tag.

Ein Grund für Pocher, nun leutselig zu werden? Nein, ein Mann wie Pocher läßt sich bitten, und zwar zweimal, mindestens. Oben auf der Kippe, im Licht der Scheinwerfer, vor der ungeduldig ihre Instrumente kraulenden Beat-Band, walzte er herum, ein Gewichtheber, der eben zwei Kilo mehr hatte auflegen lassen. Er rieb ein neues Bier zwischen den Händen, als sei es Magnesia. Mit den Füßen schien er nach dem besten Stand vor dem Mikrofon zu scharren. Und als er von vorn anfing, las er kaum lauter als vorher. ›Börse‹, gestern war sie freundlich / heute ist sie verstimmt / morgen wird sie / lustlos oder erholt sein. / Stimmungen, / sagt mir der Dreher am Tresen, / kann ich mir nicht leisten.

Pocher hatte nach der ersten Zeile eine neue Flasche Bier aufgemacht. Nach der zweiten alberte er ein bißchen mit dem Lead-Gitarristen, bot ihm einen Schluck an, trank dann selbst. Während der dritten und vierten setzte er seine Mütze wieder auf. Er machte nach dem Wort ›Stimmungen‹ eine Handbewegung, als wolle er eine Fliege hinter dem Mikrofon wegfangen und beendete die sechste und letzte Zeile frei ins Publikum sprechend, wobei er aus jeder Silbe fast ein Wort für sich machte, Silbe um Silbe mit den Füßen auswippend.

Der Eindruck war ungeheuer. Pocher hatte für das ganze Gedicht mit allem Drum und Dran neunzig Sekunden gebraucht; aber die Lokalzeitung traf die Stimmung, wenn sie schrieb, daß ›sein Vortrag zu keiner Sekunde langweilig gewesen wäre, so daß auch politisch Andersdenkende voll auf ihre Kosten gekommen wären‹. Ja, man glaube, der Geburtsstunde eines Dichters beigewohnt zu haben, der endlich einmal die Interessen der Werktätigen nicht nur im Munde führe, sondern ›aus dem Bauch der Städte selbst schreibt‹. ›Börse‹ wurde für Wochen das Gedicht schlechthin, das sich einrücken ließ. Einmal, in Elmshorn, soll er damit sogar auf über zwei Minuten gekommen sein. Ponto bezweifelt das.

Siehst du, sagt Pocher, du mußt sie erst mal das Zuhören lehren, wenn du willst, daß sie gehorchen, wenn du sie dann anschreist. Und kriechen sie erst mal vor dir, werden sie es dir danken, wenn sie aufstehn dürfen. Und die Intelligenz voran!

Ach ja, Pocher, was du so Intelligenz nanntest. Die armen Studentinnen vielleicht, die mit dir, dem Proleten, schliefen im Glauben, sie hätten den neuen Menschen im Arm, bevor du sie rauswarfst, morgens, noch vor dem Frühstück, ›Schlampen‹, wie du sie nanntest, wenigstens ›nichts Reelles!‹, keine zum Heiraten darunter, keine, die wußte, ›was sich schickt‹? Ponto und Zange jedenfalls: ich erinnere mich nicht, daß sie jemals zu den Eisenspänen gehört haben, die du – ob per Lachen oder Blick – magnetisch um dich herumsortiertest. Ponto? Für ihn war und blieb Pocher der ›Suggestividiot‹, wie er ihn bezeichnete noch am Abend, als ich die beiden zusammenbrachte. Und mit Zange hatte Pocher im Laufe der Jahre allenfalls so etwas wie ein Gleichgewicht des Schreckens zustande gebracht, einen waffenklirrenden Respekt, spätestens seit jener Nacht in der ›Schanze‹, als Zange ihn ›Schmierengenie‹ und ›Weltmeister in Verzweiflung‹ nannte und Pocher Zange ›Wackelkopf der Weltrevolution‹. Niemanden machte so wenig Alkohol so laut wie Pocher. Während Ponto schnell und gezielt vor sich hin schluckte, kündigte Pocher, der große Pocher, seinen roten Schwamm auf dem Kopf schüttelnd, jedes neue Glas Korn an wie den einmaligen Kraftakt einer zutiefst irischen Seele.

Nur einmal, in der ›Schanze‹, war ihm sein ewiges politisches Gehakel mit Zange zu einem Duell mit Lagen ausgeartet; wobei er an den Rand dessen geriet, was er für das tägliche Natur-Schauspiel Pocher für nötig hielt. Aber am Schluß hatten sie sich doch verbrüdert, jedenfalls für diesen Abend, und insgesamt auf Pontos Kosten, der zwischen ihnen hatte vermitteln wollen. Aber: Hier iebt es keie Verbrührung! (Zange). Und: Hier steht Übezeuhng je’n Übezeuhng. Männer! Stehn und falln! Immer geradeaus! (Pocher). Es war ein abgeschmacktes Gerangel. Das Bier schoß ihnen beim Anstoßen aus den Gläsern auf die Jacken. Der alte Glockmann bellte. Alfred drohte mit den Hunden. Sogar Achse wachte auf. Und Ponto schüttelte nur den Kopf: Nicht die Spur von Bierkultur! Und dann fragte er leise: Sagt mal, warum fickt ihr eigentlich nicht miteinander? Man hat schließlich schon Pferde kotzen sehen!

Und seitdem haben sie sich zwar nicht untereinander, aber wenigstens über Ponto geeinigt. Seitdem hängt er zwischen ihren Schützengräben im Stacheldraht, als ständige Mahnung für beide, daß es Schlimmeres für einen richtigen Mann gibt als den Feind im Visier, Schlimmeres als den Ungläubigen: den Ketzer.

Als Pocher in der Hansestadt alle ihm erreichbaren ›schlechten Mädchen‹ durchprobiert hatte, heiratete er etwas Reelles, nämlich das von Haus aus nicht unbegüterte Minchen. Minchen war Beamtin, Studienrätin, und das bedeutete für Pocher zunächst einmal fast unbegrenzte Kredite. Die Wohnung, die sie darauf im Universitätsviertel bezogen, war groß, hell, teuer und dank Minchens Tüchtigkeit fast im Handumdrehn mit allem Komfort eingerichtet. Pocher, der inzwischen seinen Arbeitsplatz aufgegeben hatte, wählte den großen Raum nach hinten für sich. Den Schreibtisch, den er sich dafür ausgesucht hatte, zog man an der Fassade hoch.

Das Jahr drauf blieb Pocher verschwunden. Aber im Winter erschien er wieder auf den alten Wildwechseln und begann das Viertel aufzumischen mit dem Mut eines Mannes, dessen Frau in der Klinik liegt. Denn ›schlechte Mädchen‹, wie Pocher sie suchte, gab es immer noch genug, besonders im Universitätsviertel, ›Flintenweiber‹, ›geil wie Dreck‹, ›Intelligenzlerinnen‹, denen man die ›Schnauze mit dem Schwanz stopfen‹ muß. Bei ›Fritz und Frieda‹, in der Bredowstraße, wo ein vom ›sauren Paul‹ nahezu verblödeter Wirt einen Betrieb in irischer Folklore durchzog, dröhnte Pocher herum, von ›fünf Pfund Vorfotze‹, wo er erst mal habe blättern müssen, von ›Politflittchen‹, die ihm ein Kind andrehn wollten. Von wegen Trick siebzehn, – aber da kennen sie Pocher nicht!