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Martina Hefter

Die Küsten der Berge

Roman

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© Wallstein Verlag, Göttingen 2008
www.wallstein-verlag.de

Vom Verlag gesetzt aus der Stempel Garamond
Umschlaggestaltung: any.way, Cathrin Günther
Foto: © Millennium/Images-LOOK-Foto
Druck: Friedrich Pustet, Regensburg

ISBN (Print) 978-3-8353-0330-0
ISBN (E-Book, pdf) 978-3-8353-0676-9
ISBN (E-Book, epub) 978-3-8353-2403-9

Imagining’s no shutter

against the absolute, incorrigible sunrise.

Vorstellungskraft ist keine Jalousie

gegen den absoluten, den unabänderlichen Sonnenaufgang.

Amy Clampitt, Berceuse

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Immer wieder dieselben Bilder einer zurückkehrenden, wenn auch nur ins Auto zurückkehrenden, Freundin; gerade vom Bezahlen aus dem Tankstellengebäude herausgekommen, steckt sie sich eine Zigarette an. Das brennende Streichholz schnipst sie rückwärts über die Schulter, und sie – von ihrem Platz auf dem Beifahrersitz aus – kann nicht sehen, ob die Flamme im Flug erlischt oder auf dem Boden noch eine Weile weiterglimmt.

Die Freundin: Eine, die den Ort längst verlassen hat, noch bevor sie außer Sichtweite ist; kurz vor dem Umdrehen des Zündschlüssels schon weit weg, und über dem Kiesweg vor dem Haus senkt sich eine Zeit lang der Staub.

Und sie? Wenn die Freundin ausstieg, blieb sie sitzen, auf dem Platz neben dem Steuer, drehte der Fahrerin Zigaretten. Unter den Autositzen lagen Straßenkarten, nachlässig zusammengefaltet, mit verdrehten Seiten, man musste achtgeben, dass sie, wenn sie nach vorn rutschten, unter den Schuhsohlen nicht vollends zerfledderten. Wenn die Freundin ausstieg und zu den Zapfsäulen ging, zog sie manchmal eine der Karten hervor, faltete auseinander, was noch auseinanderzufalten ging, und schaute über die verzeichnete Landschaft, auf die Verästelungen der Flüsse, nur noch mit dünnstem Strich vermerkte Nebenarme, die sich krümmten und schlängelten und an den weißesten Stellen der Karte verschwanden. Dabei befand sich ja in Wirklichkeit dort der Ursprung des Flusslaufs, die Quelle. Auf den Karten aber sah es aus, als wären an ihrem letzten dünnen Krickelkrakel die Flüsse zu Ende und versickerten in der Erde.

Oder sie verfolgte die dicken blauen Autobahnadern, die ringförmig um die Städte herumführten. Links und rechts davon, fein verteilt, die roten Flecken unterschiedlicher Größe, die kleine bis mittlere Städte irgendwo zwischen zwei Trassen kennzeichneten, dazu die schlafenden Ortschaften ohne sichtbare Verkehrsanbindung: Fliegenschiss-Sprenkel, darüber hauchdünn und flüchtig geschrieben die Ortsnamen. Dann gab es noch die Örtchen, nach denen man auf allen Landkarten vergeblich suchte, die im Städtesternbild unsichtbar blieben, wie P., das unverzeichnet irgendwo am Rand der Gebirgsfältelung lag.

Außerdem waren da noch die Flüsse, die mitten in ihrem Lauf untertauchten und weiterflossen unter der Erde, die Donau machte das zwischen Immendingen und Möhringen, wo ein großer Teil des Donauwassers im Boden versickerte und über Höhlen im verkarsteten Kalkstein zum über vierzehn Kilometer entfernten Aachtopf gelangte, und auf der Karte sah man nichts als zartestes Grün, angedeutete Wälder, haardünn gezeichnete Laubbaumwölkchen, über Furchen und Täler hinziehend, als habe es nie einen Fluss gegeben.

Oder Elstermühl- und Pleißemühlgraben in Leipzig, die so lange in unterirdischen Rohren, versteckt unter den Straßen, geflossen waren, eine einzige verästelte Zweitkanalisation, dass die Leute in der Stadt, nachdem man die Flüsse wieder ans Licht geholt hatte, aus der Straßenbahn heraus oder von den Gehwegen und Straßen auf die neuen Wasserbahnen schauten und von dem Geblinke der Wellen und von den stählernen Brückengeländern geblendet waren; niemand erkannte mehr die Stadt, die jetzt plötzlich in einem Netz aus Flüssen lag: Eine Wasser-, Hafen- und Schifffahrts-, sogar Dampfschifffahrtsstadt, mit einer Schifffahrts- und Wassersprache; neue Wörter gab es: Bugspriet, kieloben, achtern. Und alle verliefen sich, weil lauter neue oder neugeborene Flüsschen her und hin rauschten, und manche Straße war in ihrem Lauf zugunsten des Flusses geändert und bog jetzt scharf rechts ab statt wie vorher scharf links, und man landete im Wildpark, bei den eingemeindeten, befriedeten Hirschen und Rehen, beim Luchspaar, das auf einer Astgabel schlief, und nicht im Zoo, der in der entgegengesetzten Richtung lag. Ein Leipzig-Stadtplan war nicht unter den Straßenkarten im Auto der Freundin gewesen, und sie ahnte nichts von dem regen Flusswesen dort, das es später einmal geben würde; dass die Flüsse sich träfen, ineinanderflössen, sich wieder trennten; dass es in der Stadt rauschen und glucksen, dass es Inseln geben würde; das würden einmal die Stadtviertel sein. Zwischen Parthe, Pleiße und Mühlpleiße würden sie schwimmen, zwischen Weißer Elster, Kleiner und Neuer Luppe, zwischen Nahle, Floßgraben, Hundewasser und Bauerngraben, aber das wusste sie auf dem Beifahrersitz damals noch nicht.

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Kein Morgendunst, der die Sicht beschränkt hätte, war über der Stadt zu sehen, als der Frühzug die innerstädtische Gleisstrecke durchfuhr. Nur wieder dieses Leuchten, das sich bis ins Abteil schob; das waren die verglasten Bürogebäude zu beiden Seiten der Eisenbahnbrücke, die sich gegenseitig anstrahlten: die Fenster in den oberen Stockwerken warfen das Oktobersonnenlicht auf die Fenster gegenüber, und die brachten es wieder zurück. Das Licht bildete eine Röhre aus Sonnenglast, die alle Umgebung aufhellte; die Wartenden an der nächsten S-Bahnstation sah man, von den Fenstern des langsam durchfahrenden Zuges aus, sich in einem Lichtstreif drängeln, der aus einer ganz unmöglichen Richtung auf den Bahnsteig fiel. Ein anderes Mal, auf dem Weg nach Chemnitz, kurz nachdem der Zug den Hauptbahnhof verlassen hatte, war ein Saatkrähenschwarm durch den schrägen Sonnenrückstrahl geflogen, der das verspiegelte Kraftwerk hinter dem Bahnhof mit der Innenstadt verband, und für einen Moment schienen die Tiere aus dem Takt gebracht. Die gleichmäßigen Abstände zwischen den Vögeln gerieten in Unordnung, und zwei oder drei, die zuletzt hinterhergeflogen kamen, wurden aus der Spur geworfen. Sie scherten aus dem Schwarm aus und flogen einen Viertelbogen über die Nordvorstadt, hielten sich dann links, nahmen die Sanktnimmerleinsroute Richtung Reudnitz (wie sie es nannten), auf die östlichen Stadtteile zu, gefährlich tief über langsam schwenkende Kranarme hinweg.

Als sie wieder zurückkamen, zwei Wochen nach dem Aufbruch durch den Leipziger Herbstsonnenglast, war es schon dunkel, das glatte Gegenteil des Aufbruchs in jeder Hinsicht, und sie entdeckte in den Fenstern zuerst nichts anderes als ihr eigenes Gesicht, und das von M., und die beiden kleinen Fuchsgesichter der Kinder, die durch die Scheibe in dem mal mehr, mal weniger spärlichen Lichtergetüpfel und im Schatten alter Backsteingebäude etwas erkennen wollten, einen kleinen Anhaltspunkt, wo genau sie sich befänden. Links neben ihnen, gerade noch vorübergehuscht, der kahl gewordene Auwald, ein Gewirr aus Stangenbäumen, das eine Ahnung vom Abendhimmel durchscheinen ließ, und Weiße Elster und Pleiße flossen in ihren Betten, manchmal überspannt von den verschränkten Ästen einiger Weiden, die am Ufer einander gegenüberstanden. Und immer die Frage, wo das Messehochhaus nun endlich sei. Mama, wann kommt endlich das Hochhaus? Irgendwann tauchte es tatsächlich auf, man sah plötzlich den leuchtenden Kreis, in den das Doppel-M gespannt war – immer so unvermittelt, dass sie jedes Mal ein bisschen erschrak, als hätte es das Messehochhaus bisher nur in ihrer Vorstellung und in der ihrer beiden Mädchen gegeben, und nun wäre einmal das Unmögliche geschehen und das erträumte Hochhaus hätte seinen Weg in die wirkliche Stadt gefunden. Der Anblick war zugleich das Signal, die verstreut auf den Sitzplätzen und auf dem Tisch herumliegenden Sachen zusammenzupacken und die Jacken anzuziehen. Dann standen sie auch schon in dem grauen Raum vor den Zugtüren, die Kinder lehnten sich an ihre und an M.s Beine, und wie sie so aneinandergeschmiegt standen, konnte sie ganz genau spüren, wie sie gemeinsam jede Neigung des Waggons nach links oder rechts mitvollzogen, wenn der Zug sich in die Kurven legte, die die Gleise hier kurz vor dem Hauptbahnhof beschrieben.

Durch das Glas der Zugtür sah sie das Schattenspiel des künstlichen Strandes, Sand in zahllosen Hügeln und Mulden, aufgeschüttet zu einem künstlichem Paradies, hinter den Fenstern der heruntergekommenen Fabrikhalle in der Nähe des Bahnhofs, unmittelbar neben den Gleisen, man konnte die Waden der Beachvolleyballer erkennen, wie die Muskeln sich im Sprung anspannten und die Füße aus dem Sand hochschnellten; wie warm konnten sie die Halle im Oktober noch halten, und wie lange ließ sich das Beachvolleyball-Spiel in den Winter dehnen? Einen Moment lang wusste sie nicht mehr, ob sie wirklich gerade nach Leipzig zurückkehrten, oder ob sie nicht doch weit über das Ziel hinausschossen, nicht nur an der Stadt, sondern auch und vor allem an der richtigen Uhrzeit vorbei, weit vorausfuhren – vielleicht waren sie auf dem Weg in die Zukunft.

Die Bewohner des gläsernen Kuppeldachs, einige Tauben, die von ganz oben, vom höchsten Punkt des Gewölbes, aus unsichtbaren Nisthöhlen herausglitten und eine Weile über den Bahnsteigen segelten, mit den Luftströmen spielten, dann niederkreiselten, mit herausgefahrenen Krallen direkt vor ihren Füßen landeten und ihnen ruckend vorangingen bis hinüber zu den Rolltreppen – sie waren die ersten, die sie begrüßten. Diesmal liefen die Kinder den Tauben nicht nach, um sie durch einen schnellen Sprung in die Nähe ihrer Schwanzfedern zu erschrecken, sie waren zu müde. Außerdem waren sie ihrer eigenen Reisezeit so weit vorausgefahren, eigentlich -geprescht, dass sie, zwei Wochen älter geworden, ihren Weg geradliniger und zielsicherer als sonst fanden. Die Eltern trugen das Gepäck durch die rechte Bahnhofshalle und dann über die Ampel zu den Straßenbahnhaltestellen, jeder ein Kind an der Hand, es ging eigentlich viel zu schnell und ohne Unterbrechungen. Da waren sie also wieder, soeben heimgekehrt, als Erstes auf den Straßenbahnsteig und in das übliche Nicht-Wetter bei Nacht in der Stadt; unter keinen Regenhimmel jedenfalls, sondern eher unter ein unbestimmbares, nichtrabenschwarzes Dach, das seine Sternbilder nicht preisgab. Heimgekehrt in die Nähe dünner, bis über die Handgelenke und hinter den Ohren tätowierter Zwölfjähriger, die sich neben dem Abfallbehälter, außerhalb der Überdachung, in einem unordentlichen Sitzkreis niedergelassen hatten und eine Flasche mit glasklarem Inhalt herumgehen ließen. Ihr eher ruhiges Zusammensitzen wurde ab und zu von hell auffahrendem Gackern, einer Art Gelächter, unterbrochen, und dann stoben die Tauben außerhalb der Bahnhofshalle auf, und die Leute schauten zu den Sitzkreis-Kindern hinüber. Einmal stand eines von ihnen auf, ein Junge, und öffnete den Reißverschluss seiner Jeans, um gegen die Schmalseite des Fahrkartenautomaten zu pinkeln, und plötzlich schien er mitten in diesem Pinkeln zu stocken. Fast war es, als hielte der dünne gelbe Bogenstrahl inne, gefröre in der Bewegung, und der Junge starrte nach unten auf den Automatensockel, hielt den Blick lange dort. Dann zog er überstürzt – viel zu früh, dachte sie – den Reißverschluss wieder hoch, wandte sich zu dem Sitzkreis hin und begann nach den Seinen zu rufen, sofort, schleunigst, sollten sie alle mal herkommen! Zwei oder drei standen tatsächlich auf, schlurften zum Automaten herüber, man konnte jetzt erkennen, wie klein sie noch waren: eher Zehnjährige, mit schräg über die Augen fallenden Ponyfransen und Totenkopf-Gürtelschnallen. Und als auch ihre ältere Tochter sich von ihrer Hand riss und zum Automaten rannte, zu dem Pinkler, der sie mit schwarz umrandeten Augen musterte – oder schon begrüßte!, da konnte sie nicht rechtzeitig reagieren. Sie sah vorn am Automaten ein paar Kinder stillstehen und auf irgendetwas hinabschauen, das sich zwischen dem Bahnsteigpflaster und dem Automatensockel befand, und als sie näherkam, entdeckte sie, dass in dem Spalt, der sich dort gebildet hatte, eine wilde Getreideart wuchs, oder jetzt eher verdorrte: Dürr und grau gewordene Ähren, bewehrt mit borstigen Spelzen, auf Dreikantstengeln, Hafer könnte es sein, irgendeine nutzlose Nebenart. Sie kannte das Gewächs schon längst, ein zäher Haferbruder, er zwängte sich auch in ihrer Straße aus den Ritzen zwischen den Gehwegplatten, oft bis in den späten November war er zu sehen, bevor er sich in Staub aufzulösen schien, oder er wucherte in den Gebäudeabschlusskanten dicht an den Hauswänden. Sie hatte schon im Sommer in einer verlassenen Toreinfahrt in der Nähe ihrer Wohnung etwas wie einen armseligen Rucola schießen sehen, Rosetten tief eingebuchteter Blätter, aber verwildert zu überkrustetem Gewächs, in das die Hunde pinkelten – von den bis ins Herz grün durchgefärbten Kamillen ganz zu schweigen, die große Polster mitten im Gehweg bildeten und im Sommer überschwebt von schillernden Fliegen waren; oder auch zu schweigen von dem Halb-Lavendel, der im Juni seine Tüpfelblüten den guten Diensten der Bienen hinhielt, in der Mitte des Kreisverkehrs in ihrem Viertel, wo sie außerdem einen verirrten Wacholder gepflanzt hatten, ein Gestrüpp mit Stachelblättern, in dem alle Blicke der Passanten sich zu treffen schienen.

Aber die Kinder, ihre große Tochter eingeschlossen, standen hingerissen da. Zwei der Mädchen aus dem Sitzkreis gingen in die Hocke und beugten die Köpfe über die Pflanzen und unterhielten sich leise dabei, zwei Forscherinnen, die über das forschten, was von der Forschung übrig geblieben war und ausgeschlossen von jeder Botanik.

In irgendeinem vorbeifahrenden Auto, oder oben am erleuchteten Fenster einer ankommenden Straßenbahn, sah sie jetzt jene Freundin sitzen; hier im Profil ihr Gesicht, und dort ihr Halbprofil, in einer raschen Wendung des Kopfes vom Fenster, von den Straßenkindern weg, fort von dem undomestizierten Hafer. Einmal flog sie auch an einer Kreuzung über die Fußgängerampel, inmitten lauter in Mäntel und Herbstjacken gekleideter Unbekannter, aus deren Menge sie sofort herausstach – sie sah aus den Manteltaschen die Enden kahler Zweige ragen, und drei oder vier Kastanien fielen aus ihren Ärmelsäumen auf die Straße und kullerten unter die heranrollenden Autos. Oder dort drüben, an der spiegelnden Fensterwand der Hotellobby, hinter der nie ein Mensch zu sehen war, keine Schemen an der Bar, dort ging sie gerade vorbei in ihrer langen Lederjacke und streifte mit dem linken Jackenzipfel die Scheibe, oder dort, die Frau, die den schmalen weißen Hund, eine Afghanenart, in den Streifen der Grünanlage führte – man konnte nur seine Längsseiten betrachten, ein Vorne und ein Hinten gab es nicht, so schmal war er –, war sie’s nicht?, und wenn ja, dann wäre es auch egal; die Person verschwand so oder so in der Menschenmenge, hörte nicht, sah nicht, schleierte davon, verschwand im Innenstadtgewühl, und mit ihr verschwand der Hund. Wie in der alten Allgäu-schwäbischen Sage, eine von vielen, die sie gerne mochte, jener weiße, einen nächtlichen Feldweg entlangpilgernde Hund sogleich verschwand, wenn nur ein zufällig vorbeikommender Mensch ihm in die Augen zu sehen versuchte.

Es war nach dreiundzwanzig Uhr gewesen, als sie die Wohnungstür aufschlossen, und sie trugen als erstes die Kinder in ihre Betten. Die hatten mit halb offenen Mündern schon in ihren Armen gehangen, als sie von der Straßenbahnhaltestelle die letzten Meter nach Hause gingen, und sie schliefen bereits, als sie sie zudeckten; sie blieb noch im Zimmer, am Kopfende des Doppelstockbetts, horchte auf den Atem ihrer Töchter, Käferatem, der in das Zimmer pulste. Der Raum kam ihr größer vor als noch vor der Reise, vielleicht weil er zwei Wochen nicht in Gebrauch gewesen und halbwegs aufgeräumt war; sie sah in einiger Vergrößerung und Verzerrung die Schatten der Fichtenzweige auf den Wänden tanzen, der Fichte, die im Gründungsjahr der DDR, wie die Nachbarn sagten, direkt vor ihrem Balkon gepflanzt worden war, und zwar von ihnen, den Nachbarn.

Auf einem Stuhl neben dem Bett saßen, in ihren Silberkleidern, die Barbiepuppen, zwei Blondinen, und hinter ihnen, fast verborgen, hilflos liegend, ein Ken: steif und stumm, die Arme vom Körper gestreckt – eine inständige Bitte, hochgehoben zu werden. Mit seinem zwischen allen Seelenlagen angesiedelten, unentschiedenen Gesicht entdeckte man den Ken immer ganz zuletzt unter den weiblichen, ausdrucksstärkeren Puppen; sie fragte sich oft, ob es von der Spielzeugfirma so beabsichtigt gewesen war: keinen eindeutigen Charakter zu schaffen. NichtGesichter, Niemand-Anblicker. Ausweichlinge. Vielleicht würde eines Tages eine Verschwörungstheorie auftauchen, was das Ken-Gesicht betraf – welchem US-Politiker zu gleichen Ken – eben doch! – vorgesehen war (das hatten sie und M. sich einmal zusammengesponnen, als sie an einem Montagvormittag das Kinderzimmer aufräumten). Der Ken sehe aus wie John F. Kennedy, sagte M., aber sie fand das nicht, dessen Gesicht war doch viel zu charakteristisch, unverwechselbar, die weißen, übergroßen Zähne, das Panzerlächeln. Im Haus ihrer Eltern, auf der Kommode im Wohnzimmer, hatte eine Kennedy-Biographie gestanden, ein Buch in großem Format, von der Vorderseite lachte der junge Präsident Tag und Nacht in den mal stillen, mal lebhaft bevölkerten Raum. Es war mit der Rückseite gegen die Zimmerwand gelehnt, wie gerahmte Fotos von Familienangehörigen manchmal auf Kommoden präsentiert werden, von einer Stütze hinten am Rahmen in sachter Neigung gehalten.

M. hatte sich irgendwann geschlagen gezeigt, also gut, der Ken sehe Kennedy eben nicht ähnlich; und eh scheißegal, wen er nun darstellen solle – niemanden, einen Schauspieler, oder einen bestimmten politischen Kreisen missliebigen Menschen, irgendeinen armen Teufel, der der Ähnlichkeit mit Ken preisgegeben werden sollte. Sie hatten damals gelacht, aber es war eine kleine Unsicherheit mitgeschwungen: in dem Auf und Ab der Lachsalven mehrere totenstille Feuerpausen. Wer wusste schon, wie alles wirklich war.

Später sahen sie fern, die Nachrichten – wobei »fernsehen« das falsche Wort war, weil sie gar kein Fernsehgerät besaßen. Die Nachrichten luden sie als Podcast auf den Laptop, fast jeden Abend, dann stellte M. sein aufgeklapptes Gerät auf den Wohnzimmertisch und sie fläzten sich auf das Sofa und verfolgten, manchmal sogar mit zwei Flaschen Bier vor sich auf dem Tisch, ganz so, wie man es vor dem echten Fernsehgerät oft machte, die Zwanzig-Uhr-Nachrichten – immer in kleinerer oder größerer zeitlicher Verschiebung zur wirklichen Sendung. Männer schüttelten sich in Großaufnahme die Hände, ein Hubschrauber landete mit zum Kreisrund verschwimmenden Rotorblättern sehr sorgfältig mitten in staubigem oder sandigem Gebiet. Und der Wind der Rotorblätter wirbelte Sandschichten sowie die Haare einiger umherstehender Leute auf, und sie entdeckte unter ihnen jetzt wieder die Freundin; eine schweigsame Zuschauerin am Rand der Gruppe; oder war es die, die sich aus der Menge löste und winkend auf den Hubschrauber zugelaufen kam, das Gesicht leicht verstaubt? Wann war das gewesen? Sogar die Tagesthemen waren ja fast schon wieder vorbei. Aber hier war gerade erst der Zwanzig-Uhr-Bildschirm aufgesprungen, die Figur des Tagesschausprechers erschien, dazu das erste Bild links über der Schulter des Sprechers: ein Auto stand da, oder eher das, was einmal ein Auto gewesen sein könnte, eine Metallkiste, von Flammen bewohnt. Sie züngelten aus den Fensteröffnungen und schlugen über der Motorhaube und über dem Dach zusammen, es war das graue Feuer eines Schwarz-Weiß-Fotos. Auch das Auto war grau, ein mit Asche eingestäubtes, von Qualmschwaden umgebenes Gefährt, das die Marke nicht erkennen ließ, so sehr wurde die Form des Wagens, wurden seine hervorstechenden Merkmale, eine besondere, dynamische Rundung der Motorhaube etwa oder ein ganz bestimmter Schwung, den die Kotflügel nach hinten hin nahmen, von dem Fraß der Flammen eingeebnet zu einer nichts als viereckigen Form; ein Auto, wie es die Kinder manchmal zeichneten, kantig, fast comicartig. Aber es ist gar kein Schwarz-Weiß-Bild!, hörte sie sich sagen. Nein, war es nicht. Nur viel Qualm überall, viel Ruß, so dass man keine Farben erkennen konnte. Die Feuerwehrmänner haben rote Streifen an den Mänteln, sagte M., siehst du das nicht. Ach ja, die Feuerwehrmänner. In schwarzen Umhängen standen sie vor den schwarzen Wolken aus Rauch. Schaumiges Löschmittel spritzte aus den Feuerwehrschläuchen und beschrieb große Bögen, die vom unteren Bildrand bis ungefähr in die Mitte des Platzes reichten, wo das Auto stand. Inzwischen war aus dem kleinen Foto über der Schulter des Sprechers ein Film geworden, der die gesamte Monitorfläche ausfüllte, aber der Unterschied war nicht bedeutend: immer noch nichts anderes als ein vollkommen stillstehender Wagen, aus dem heraus die Flammen nach Ausbreitung lechzten, und hin und her rennende Feuerwehrmänner, ihre vergebliche Ausrichtung auf den Brandherd hin. Die kraftlosen Strahlen des Löschschaums. Sonst nicht viel.

Sie ging, nach dem Ende der Nachrichten, noch mal ins Kinderzimmer, blieb neben dem Pfosten des Doppelstockbetts stehen, horchte. Ob sich etwas geändert hatte? Mit jeder Stunde änderte sich ja so vieles. Wer konnte wissen, ob das Auto, sein übrig gebliebenes Gerippe, zur Stunde noch immer zumindest ein wenig glühte? Oder war es längst zu einem Klumpen aus geschmolzenem Metall und Kunststoff verbacken? Und die Kinder vom Bahnsteig schliefen vielleicht jetzt auch einmal. Sie erinnerte sich, sie hatten die Haferhalme am Fahrkartenautomaten dicht über dem Erdboden abgerissen und sie zu einem großen Strauß arrangiert, und der Anführer, also derjenige, der gepinkelt hatte, trug sie in den Armen, so wie man ein Baby trägt, als seine ganze versammelte, sich überschlagende, zerfetzte Bande bei Rot über den Ampelübergang in Richtung Innenstadt rannte, knapp vor einer Welle aus heranheulenden Fahrzeugen und lachend, so wie man lachend auf eine große Wiese hinausrennt.

Morgen würden sie früh aufstehen müssen, die Schule begann nach zwei Wochen Herbstferien, man durfte keinesfalls verschlafen. Vor nichts hatten alle Kinder, die sie kannte, so sehr Angst wie vor dem Zuspätkommen; weil man die Stunden nicht aufholen könne, hatte ihre ältere Tochter einmal gesagt, man sei dann den ganzen Vormittag aus der Zeit und niemand wolle mit so einem zu tun haben. Aber sie waren doch sowieso aus der Zeit gefallen, dachte sie, im Zug waren sie eine ganze, riesige Zeitspanne der Stadt und der Schule und dem Aufstehen vorausgeeilt, sie waren aus dem Zug ausgestiegen und beinahe in den Stadthafer getreten, eine unmögliche Pflanze, die es noch gar nicht geben konnte. Die Schatten der Fichtenzweige wippten noch immer an der Wand, und von oben, vom Balkon der Nachbarin her, fiel Licht auf ihren Balkon und ein wenig davon zu den Fenstern ins Kinderzimmer herein über die alten, zerschrammten Dielen. Die ganze Zeit schauten die Barbiepuppen und Ken an ihr vorbei in die Luft, und es ließ sich nicht sagen, ob ihr Gesichtsausdruck einer war, der Missbilligung oder Zustimmung verriet. Keine Veränderungen. Nur das sanfte Nachglühen mehrerer Bilder, wenn sie die Augen schloss; man konnte sie kaum auseinanderhalten.

Wo befand sie sich? Der Stadtteil hatte auf dem Stadtplan die Form eines langen Dreiecks mit etwas krakelig gezeichneten, nach außen gebogenen Längsseiten, eine sanfte Zacke, die sich in den Auwald schob; und je spitzer das Viertel nach unten zulief, desto wohlhabender wurden die Straßen, desto teurer die Wohnungen, bis schließlich, in der kleinen Speerspitze tief unten im Grünen, keine Mietshäuser mehr standen, sondern nur noch frei stehende Villen, weit hinten auf den Grundstücken sah man manchmal das Weiß einer Hauswand versteckt zwischen den Gebüschen und Bäumen hervorlugen. Am Ende gab es sogar nur noch Gärten. Nur Rhododendren und Thujen anstelle eines Hauses. Am oberen Rand der Zacke, an der Dreiecksbasis, waren dagegen keine Gärten; da verlief eine Straße, die man nicht überqueren konnte, weil der Autostrom nie abriss; und es gab ein Einkaufszentrum, vor dem die Bewohner an vier, fünf in ein Mäuerchen einbetonierten Metallhaken neben dem Eingang ihre lästig gewordenen Hunde anzubinden und nicht wieder abzuholen pflegten. Man konnte dort an einem Einkaufsmorgen immer neue Pitbulls sitzen sehen, und wenn man zufällig abends ein weiteres Mal vorbeikam, waren sie immer noch da, außerdem Kreuzungen aus Staffordshire- und Bullterrier mit abwärts gebogenen Schnauzen, die morgens jeden Vorbeikommenden flehend anschauten, abends aber wegsahen, sobald jemand sich näherte. Dabei griff, wenn man aus dem Einkaufszentrum herauskam oder da hineinging, immer gerade irgendwer zum Handy und rief im Tierheim an. An der nächsten, gegenüberliegenden Häuserecke hatte Sony einen Flagshipstore in einem Jugendstilgebäude untergebracht, das einzige sanierte Gebäude in dem Straßenabschnitt, es hatte große, geschwungene Pfauenaugenfenster, und immer wenn sie vorbeikam, sah sie drinnen, einigermaßen undeutlich durch die größte der Schaufensterscheiben, einen einzigen Verkäufer, einen dünnen jungen Mann in hellem Anzug pausenlos vor einer verspiegelten Wand Ballettpirouetten üben; immer wieder neu setzte er an, rückte die Arme zurecht, beugte die Knie, um dann hochzuschnellen und auf dem Vorderfuß zu kreiseln, drei Mal, dann knickte er ein, begann von vorn; die Spiegelwand bildete einen immer neuen Hintergrund vor dem halb durchlässigen Fenster – und sie, draußen auf dem Gehweg, fand sich darin nie wiedergegeben. Wenn sie auch direkt hinter dem Übenden stand, da war nicht ihre Gestalt in dem Spiegel. Und auch der Übende bemerkte nichts, scheute vor nichts zurück, was in einem Spiegeleck widerscheinen könnte; er fand sowieso, oder auch deswegen, nicht mehr aus dem Üben heraus.

Ihre Wohnung befand sich ungefähr in der Mitte des Dreiecks, in jeweils gleich bedrohlicher Nähe zu der breiten Basis oben wie zu der Lanzettenspitze, die im Südwesten in den Auwald stach. Draußen war es weder hell noch dunkel. In den Erdgeschoss-Fenstern der Häuserreihe gegenüber waren die Rollläden herabgelassen. M. war ins Bett gegangen, der Laptop zusammengeklappt in dem Rollschränkchen im Flur verschwunden. Sie war irgendwann wieder aufgewacht und hatte nicht mehr einschlafen können, und nach langem Umherwälzen auf ihrer Hälfte des Bettes war sie aufgestanden, hatte sich mit einer Tasse Tee an den Wohnzimmertisch gesetzt, direkt vor das große Fenster. Wie spät? So spät, dass bald die Zeitungsfrau ihren Wagen durch die Straße karren würde, dann könnte man das Scheppern der Briefkastenklappen vom unteren Ende der Straße her näherrücken hören. Und der Zusteller der Privatpostfirma würde auch bald kommen, es hieß, er komme immer gegen fünf, noch vor der Zeitungsausträgerin. Manche aus der Nachbarschaft wollten ihn schon gesehen haben, einen jungen Mann in fliederfarbener Kapuzenjacke, der ein ebenso fliederfarbenes Fahrrad schöbe, eine wuchtige Zugmaschine eher, so sagte man, mit angebautem Behälter für die Posttaschen, ähnlich wie die Zustellerfahrräder der normalen, gelben Post – wahrscheinlich waren es tatsächlich solche, ausgemustert und billig aufgekauft, dann umlackiert –, und niemand habe je sein Gesicht gesehen, hieß es auch – und vielleicht, sagten sie sich im Viertel, war er es, dieser Briefzusteller, der frühmorgens manchmal den lauten, heiseren Gesang, ein Gebrüll eher, eine langsame, nicht wiedererkennbare Melodie, aus dem Auwald herüber mitten in den Schlaf der Anwohner schickte, sofern sie bei offenem Fenster schliefen –, obwohl die Nachbarin aus dem ersten Stock sagte, es sei ein uralter Junkie, der da singe, er habe schon zu DDR-Zeiten im Wald gelebt und nachts, aus Einsamkeit, aus Weltverdrossenheit, wer wollte es so genau wissen, eben gesungen. Man habe ihn nie zu Gesicht bekommen. Die offiziellen Schreiben, Rechnungen der Stadtwerke, Wurfreklame der Banken, wurden meist von der Privatpostfirma überbracht, sie selber hatten einmal eine Zahnarztrechnung bekommen – am frühen Morgen einen Brief zwischen den Zeitungsseiten gefunden, ein Kuvert mit einem aufgestempelten Tier, ein Känguru?, ein Strauß mit seinen Läuferbeinen? Vielleicht läge morgen früh der Brief von der Hauswaltung im Kasten, die längst überfällige Mahnung, endlich die Nebenkosten zu bezahlen. Seit einem Jahr warteten sie. Als ihnen damals die Abrechnung ins Haus gekommen war, hatten sie gerade zu wenig Geld gehabt, um bezahlen zu können, und wollten nur zwei Wochen warten, ein winziges Aussitzen wäre es gewesen. Dann aber, als Geld hätte fließen können, hatten sie vergessen, die Überweisung vorzunehmen; als sie später wieder daran dachten, war wieder zu wenig Geld da usf. Und jedes Warten beanspruchte einen, man saß in seinem Wohnzimmersessel und hörte über sich immer dieselben Schritte, hörte draußen auf der Straße gleichmäßig die Fahrgeräusche der Autos heranrollen und wieder abziehen; hörte, wie sich der eigene Herzschlag mal verlangsamte, mal schnell und panisch wurde bei der kleinsten Unregelmäßigkeit. Auch die Nachbarn wollten, wie sie einmal beiläufig, durchaus nicht mit Verschwörermiene, erzählten, seit vier Monaten keine Miete bezahlt haben, und niemand habe sich bisher deswegen gerührt. Und im Haus nebenan war es genauso, mehrere Mieter waren in leichtem oder schwerem Verzug, und die Familie im dritten Stock hatte sämtliche nichttragenden Wände, ohne zu fragen, aus der Wohnung gehauen. Zwei Warane wurden drei Häuser weiter in einem zum Terrarium umgebauten Wohnzimmer gehalten, die Kinder wollten die Tiere schon gesehen haben, als sie in diesem Haus eine Freundin besuchten. Anscheinend bewegten sie sich unter mehreren Infrarotlampen durch das Zimmer, krochen zwischen den Stuhlbeinen herum, und ihre Farbe ließ sich nicht bestimmen, weil alles in dem Raum in Rot getaucht war. Der alte, gebeugte Herr aus dem Haus schräg gegenüber hatte seinen Balkon zu einer Vogelvoliere umgebaut, wie man gut sehen konnte, denn der Balkon lag zu einer Seitenstraße hin. Er war rundum und bis hinauf zum darüberliegenden Balkon mit feinem Drahtgitter abgeschlossen, das jeden Regenschauer durchließ, jeden Wind, und man sah, außer im Winter, bunte, langgeschwänzte Häher, oder Sichler, inmitten dicht gepflanzter Gummibäume schillern, dünne Schnäbel, die sich im Luftzug drehten. Und alle paar Minuten schickten sie ihre Krächzer in die Gegend. Das Vogelhaus war den Vermietern sicher bekannt. Eine bunte Rappelkiste, die in keines Menschen Zuständigkeit fiel, die bloß Schulterzucken und Abwenden hervorrief. Alle Briefe würden – irgendwann ankommen. Eines Tages, wenn keiner mehr damit rechnete, zerfleddert vom Wind, vom Regen durchnässt – wenn sie überhaupt jemals abgeschickt worden waren.

Und dass sie hierhergekommen war, lag womöglich auch nur an einem, wer weiß, zu spät abgeschickten Brief, an Frau N.N., tief in den Alpen, in dem Örtchen P., ein Brief, der sie vor zehn Jahren in P. erreicht hatte, ganz überraschend. Sie hatte damals das Kuvert aufgerissen, ohne das Anschreiben herauszunehmen, und war in den Keller gestiegen, denn schlechte Nachrichten musste man im Keller lesen. Ein paar blaue Müllbeutel standen in einem Eck, darin befand sich ordentlich zusammengelegte Kleidung, ihre Farbigkeit durch die blaue Plastikfolie verfälscht. Kleidung, die zwischengelagert worden war, für einen späteren Sommer, für einen Winter irgendwann, von wem? Von der Freundin, zu deren Wohnung der Keller gehörte. In dem trüben Licht hatte sie die getippten Buchstaben auf dem Brief nicht gut erkennen können, sie hatten sich erst nach und nach zu einem sinnvollen Miteinander zusammengefügt. Fast war es, als wäre der Brief mit Zitronensaft geschrieben worden, wie jene geheimen Briefe, die sie sich früher gegenseitig geschickt hatten; man musste sie eine Weile auf einen Heizkörper legen, damit die Wörter sich allmählich aus der Weiße des Papiers arbeiteten und bräunlich wurden und lesbar. In einer Art von Geheimschrift war auch dieser Brief geschrieben, den sie hier im Keller lesen wollte. Am Ende nämlich, und nicht durch Wärme, sondern nur und erst durch das Lesen, war die Nachricht hinter der Nachricht sichtbar geworden, und sie war gar nicht so schlecht geraten wie die Oberflächenschrift. Sie hielt jetzt eine Auf- oder Ermunterung in den Händen, dabei war es ursprünglich fast so etwas wie eine Aufforderung gewesen, wenn nicht ein Befehl. Der Befehl, endlich aus dem Haus fortzugehen; sofort, heute noch, ein Rausschmiss. Und zwar ein Rausschmiss niemand anderem zuliebe als sich selbst, die in dem Haus schon nicht mehr mit dem Bleiben aufhören konnte.

Über ihr knarrte der Boden, die Nachbarin war genauso schlaflos wie sie. Die Wohnung war schlecht saniert, es gab keine nachträglich eingebaute Trittschalldämpfung, so dass man immer mitverfolgen konnte, wo da oben sich ungefähr das Leben abspielte oder wo es still blieb in einem unbetretenen Raum. Der Morgen regte sich schon ein bisschen, sie sah draußen ein paar närrische Spatzen viel zu früh durch die Straße fliegen, und als sie das Fenster öffnete, um zu horchen, ob sich nicht vielleicht ein Gewitter ankündigte – was die frühen Spatzen gerechtfertigt hätte –, hörte sie bloß die Häher und Sichler drüben in der Voliere mitten aus ihrem Vogelschlaf aufkrächzen in irgendeinem mildem Protest; morgen würden sie bestimmt in ihr Winterlager kommen, weshalb waren sie eigentlich nicht schon längst dort? Und der Gesang des Junkies – oder wer es auch sein mochte, der jetzt langsam, stotternd, immer wieder von neuem ansetzend, drüben im Auwald, zwischen langen dünnen Eschen und den vielen elefantenhäutigen Buchen, sein eines, einziges Lied zu grölen begann –, der Gesang stieg über dem sich allmählich ausdünnenden Blätterdach des größten zusammenhängenden Auwaldgebietes in Europa auf, hielt sich, seine eigenen zahllosen Echos miteinander verflechtend, lange über dem Viertel und verebbte, noch bevor die ersten größeren Waldvögel und die bunten Häher aus dem Käfig und überhaupt alle Spatzen und Amseln und Finken reagieren konnten; man hörte keinerlei Gezwitscher in der plötzlichen Stille. Mochten die Vögel, die Konkurrenten des Junkies, in ihren Nestern, Blätterverstecken, Zweiggewirren sitzen und noch dem Gesang nachhorchen, die Köpfe allzu lange in Vogelneigung gehalten.

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