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Laura Doermer
Trappentreu
Roman einer Familie

Laura Doermer

Trappentreu

Roman einer Familie

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation
in der Deutschen Nationalbibliografie;
detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über
http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© Wallstein Verlag, Göttingen 2007
2. Auflage 2007
www.wallstein-verlag.de

ISBN (Print) 978-3-8353-0206-8
ISBN (E-Book, pdf) 978-3-8353-0673-8
ISBN (E-Book, epub) 978-3-8353-2375-9

Für Bichette, meine Mutter

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ADAM 1875

Der junge Mann blickt gehorsam nach links, an der Kamera vorbei, so wie es ihm der Fotograf gesagt hat. Er ist sichtlich beeindruckt von der Prozedur, auf die er sich eingelassen hat. Fotograf Carl Holzer aus der Münchner Schommerstraße 17a hat das oval ausgeschnittene Konterfei auf einen dafür vorgesehenen rechteckigen Karton geklebt und auf der Rückseite vermerkt, Nachbestellungen könnten billiger angefertigt werden. Eine fein gezeichnete, ehemals goldene Zierlinie umgibt das Oval und findet sich noch einmal zwei Millimeter innerhalb des äußeren Randes.

Obwohl das Brustbild unter dem fünften Messingknopf endet, kann man ahnen, dass es sich um einen hoch aufgeschossenen, schmächtigen jungen Mann handelt. Seine Schultern sind schmal, sein Gesichtsausdruck wirkt sehr kindlich, ein Eindruck, der durch den spärlichen Flaum auf der Oberlippe noch unterstrichen wird. In seiner unteren Hälfte mutet dieses Gesicht fast aristokratisch an, auf jeden Fall aber hochmütig, wegen des langen Abstandes zwischen dem feinen, wohlgeformten Kinn und der etwas zu kurz geratenen Nase. Der Eindruck wird zunichte gemacht durch den einfältigen Blick aus kaum bewimperten Augen, die man sich wacher und entschlossener gewünscht hätte, und die lächerliche Frisur, die das ohnehin lange Gesicht optisch noch weiter in die Länge zieht.

Der zweiundzwanzigjährige Adam Fassbender hat sich einen Mittelscheitel gezogen und das blonde Haar unter Zuhilfenahme von reichlich Brillantine seitlich aus dem Gesicht und nach oben gekämmt, wobei er nicht versäumt hat, mit Hilfe seiner Handkanten eine markante Welle zu formen. Das gibt ihm ein strizzihaftes Aussehen, das ihm zu gefallen scheint, und vermutlich auch den Mädchen.

Die Uniform, in der er steckt, ist nichts weiter als eine Art Fastnachtskostüm, das die meiste Zeit im Schrank hängen wird. Denn Adam ist nie in den Krieg gezogen. Zu Beginn des Ersten Weltkrieges wird er bereits zu alt sein, Gott sei Dank, denn die einfachen Füsiliere waren nichts weiter als Kanonenfutter, und Adam mit seinen 1 Meter 90 und seinem verschlafenen Blick wäre vermutlich ein ideales Ziel gewesen.

Vor einem Jahr war er in Oberlustadt, seinem Geburtsort, aufgebrochen, hatte sich bei Germersheim über den Rhein setzen lassen und war die fast 400 Kilometer über Stuttgart, Ulm und Augsburg bis München zu Fuß gewandert. In seiner Heimat war kein Platz mehr für ihn. Das kleine Weingut, das seine Vorfahren über Generationen bewirtschaftet hatten, ernährte immer nur einen, den Ältesten. Die anderen mussten, wenn der Tod sie nicht vorzeitig von der Liste strich, weggehen, heiraten, auswandern. Das war seit Jahrhunderten Gesetz.

Es hatte Streit zwischen seinem Vater Daniel und dessen Bruder Elias gegeben, Streit ums Erbe. Ein streng protestantischer Glaube und die Tatsache, dass alle in der Familie alttestamentarische Namen trugen, hatte sie nicht davor bewahrt, sich bis aufs Blut zu entzweien. Daniel und seine Frau Barbara wanderten nach Amerika aus und ließen Adam auf dem alten Kontinent zurück, denn das Geld für die Überfahrt reichte nur für zwei.

Adam zog es nach München. Er hatte gehört, dass in München Arbeitskräfte gesucht würden, denn die Stadt wuchs rasch, und überall da, wo die Städte rasch wuchsen, fanden Handwerker ihr Auskommen. In seinem Ranzen befand sich neben ein paar Mark Zehrgeld ein Zeugnis über eine abgeschlossene Lehre als Schreiner. Da es Herbst war und er durch fruchtbare Gegenden kam, konnte er sich von Obst und auf dem offenen Feuer gebratenen Erdäpfeln ernähren. Er schlief in Heuschobern und bekam auch hin und wieder ein Stück Brot mit Speck geschenkt. Als er nach drei Wochen in München ankam, waren zwar seine Sohlen durchgelaufen, aber er war am Ziel seiner Wünsche.

Sein Leben in München begann er im Winter 1874 als frierender Zimmerherr in der Schleißheimer Straße Nummer 34, zufällig im gleichen Haus, in dem Adolf Hitler vier Jahrzehnte später sein Münchner Abenteuer beginnen würde.

Er fand rasch Arbeit als Schreinergeselle bei der Königlich Bayerischen Bahn. Nachdem 1840 die Strecke nach Augsburg fertiggestellt worden war, sollte nun auch der Osten durch eine eingleisige Bahnlinie erschlossen werden. Die Bauarbeiten waren in vollem Gang, als Adam seine Arbeit antrat. Die neue Linie verließ die Stadt zunächst in Richtung Westen, zweigte dann von der Augsburger Linie ab und umfuhr die Stadt in einem südlichen Bogen. In dem engen Winkel zwischen der westlichen und der östlichen Bahnlinie lag das Westend.

Um einen langen Arbeitsweg zu vermeiden, gab er das Zimmer in der Schleißheimer Straße auf und mietete sich am Marsfeldweg ein, dort, wo fünfundsiebzig Jahre zuvor noch ein Galgen gestanden hatte, an dem die Hingerichteten zur Abschreckung der Bevölkerung tagelang zu sehen gewesen waren. Es war ein übel beleumdeter Ort, so wie das ganze Westend nicht den allerbesten Ruf hatte. Niemand wohnte gerne am Marsfeld, deshalb waren die Zimmer billiger als anderswo. Er wohnte in der Nähe der Stelle, wo das aus Brettern erbaute Bahnhofsprovisorium gestanden hatte, das 1847 ein Raub der Flammen wurde, sehr zur Erleichterung der Münchner, die sich über den primitiven Bau lustig gemacht hatten. Jetzt wuchsen dort Brennnesseln und Berge von Unrat. Doch es wurde auf dem Gelände der alten Königlichen Schießstätte schon an einem neuen Bahnhof gebaut, der sich bald zu einem der größten Bahnhöfe Deutschlands ausweiten sollte.

Während in vielen Großstädten das Westend wegen des dort frisch vom Land kommenden Windes ein Viertel der Wohlhabenden war, wurde das Münchner Westend aufgrund des Eisenbahnbaus innerhalb weniger Jahrzehnte zu einem dichtbesiedelten Arbeiterviertel. Auch eine Reihe von Fabriken und Kleinbetrieben, nicht zu vergessen die großen Brauereien, boten reichlich Arbeitsplätze. Das sprach sich herum. Aus ganz Deutschland, vor allem aus ländlichen Gebieten, strömten die Menschen herbei. Sie nahmen auch schwere, minderwertige Tätigkeiten an, für die sich die Münchner zu fein waren. Die schlechte Luft, es dürfte die schlechteste in ganz München gewesen sein, nahmen sie wohl oder übel in Kauf. Es stank abwechselnd nach Schwefelsäure, Leim oder Teer.

Die Landarbeiter blieben oft über lange Zeit Fremde in der Stadt. Sie hatten den falschen Glauben oder sprachen den falschen Dialekt, wie auch Adam, der in München das große Glück suchte und nicht fand.

Er hobelte Eichenbalken für die Bahnschwellen und schälte Rundstämme für die Signalpfosten. Sein Platz war neben den Gleisen, auf denen sich die nahenden Züge ankündigten wie ein Donnergrollen. Wenn die Lokomotiven ihr Tempo drosselten, um langsam in die Stadt einzufahren, schnaubten sie noch einmal wie erschöpfte Rösser. Eingehüllt von einer Wasserwolke, atmete er den fremden Geruch von Ferne, die zu dieser Zeit noch Augsburg oder Holzkirchen hieß.

In der kleinen Holzhütte, in der er zusammen mit den anderen Arbeitern sein Pausenbrot verzehrte, herrschte babylonisches Dialektgewirr. Münchnerisch sprachen die wenigsten. Viele seiner Kollegen kamen aus Franken, manche aus Hessen oder gar aus Böhmen. Ob einer in der neuen Heimat schon eine Frau gefunden hatte, war daran zu erkennen, dass sein Brot mit Wurst belegt und liebevoll in ein Schnupftuch verpackt war. Adam musste sich seine Brotzeit bei einem Metzger in der Arnulfstraße holen. Im Winter hatten die anderen warmen Tee dabei, aber im Sommer tranken sie Bier. Auch Adam, der in seiner Heimat ab und zu ein Gläschen Wein getrunken hatte, trank jetzt Bier.

»Hast noch immer kein Weibsbild gefunden, Adam?« neckten ihn die Kollegen.

»Zum Unglücklichwerden hab i noch Zeit«, erwiderte er und hob abwehrend die Hände.

Er tat so, als ob ihn die Frauen nicht interessierten, in Wahrheit aber saugte er begierig jedes Wort auf, das sich um Frauen drehte, und in der kleinen Hütte drehten sich die meisten Gespräche um Frauen. Er hörte, während die Gesichter seiner Kollegen hinter Pfeifenqualm verschwanden, von den Kokotten am Gärtnerplatz, die mit dem Schlüsselbund klirrten, sobald sich ihnen ein Mann näherte, und dem berüchtigten Winkelbordell am Sebastiansplatz, wo die Mädchen es ›auf französisch‹ trieben.

Mit der Liebe hatte er noch keine Erfahrung gemacht. Sein Verdienst reichte kaum aus, um Essen und Unterkunft zu zahlen, wie sollte er sich da eine Frau leisten können? Frauen waren teuer. Sie wollten ausgeführt werden – zum Tanzen, in den Biergarten, ins Café. Außerdem waren sie auf Geschenke erpicht – Kopftücher, Seidenstrümpfe, Konfekt und weiß der Teufel was noch alles. Wenn er ehrlich war, und an manch einsamem Tag war er ehrlich zu sich selbst, dann musste er sich eingestehen, dass er überdies zu schüchtern war, um eine Frau anzusprechen. Noch immer fühlte er sich als Fremder in der Stadt. Wenn er den Mund aufmachte und die Einheimischen seinen badensischen Dialekt hörten, fragten sie nicht selten: »Wos moanst?«

Aber dann siegte eines Tages die Neugier über seinen Geldbeutel, seine Schüchternheit und alle moralischen Bedenken. Am Karsamstag wusch er sich von Kopf bis Fuß in der Waschschüssel, schmierte sich Brillantine ins Haar und bürstete seine Augenbrauen. Er steckte fünf Mark in die Rocktasche seines Sonntagsanzugs und machte sich auf zum Sebastiansplatz. Am Karsamstag liegt Jesus Christus im Grab, und Gott hat die Augen verschleiert vor Tränen. Er wird seinen Blick nicht auf die Sünder richten. Obwohl Adam es mit seinem Glauben nicht so genau nahm wie diese stockkatholischen Münchner, empfand er doch Skrupel, ein stadtbekanntes Bordell aufzusuchen, wo sie es ›auf französisch‹ machten.

In Nummer 4 stieg er klopfenden Herzens eine abgetretene Treppe zum ersten Stock hinauf. Auf sein zaghaftes Klopfen öffnete eine Frau mit blonden Haaren, die sie mit einer rosaroten Schleife zu einem Turm hochgebunden hatte. Rosarot waren auch ihre Wangen und die Spitzen ihres Morgenrocks. Sie stand da wie in einem rosaroten Heiligenschein, und das kam von den rosaroten Vorhängen, durch die das nachmittägliche Sonnenlicht schien. Es roch nach Rosenöl und süßem Gebäck.

»Da schau her, so ein feiner junger Herr«, sagte sie und bat ihn in die Wohnung.

Hinter ihr wurden noch fünf Mädchen sichtbar, die um einen Kaffeetisch versammelt waren. Auf dem Tisch stand ein angeschnittener Napfkuchen. Anscheinend war am Tag vor der Auferstehung des Herrn kaum mit Besuch zu rechnen, weshalb die Mädchen aus lauter Langeweile einen Kuchen gebacken hatten. Er musste sich dazusetzen und bekam Kaffee eingeschenkt.

»So ein schöner, schlanker Herr«, begann diejenige, die er für die Chefin hielt, von neuem. »Bist wohl noch fremd in der Stadt. Bist am End gar ein Student?«

Er brachte vor Aufregung kein Wort hervor. Die Mädchen in ihren bonbonfarbenen Kleidern schienen sich nicht um ihn kümmern zu wollen. Sie zupften sich gegenseitig die Augenbrauen aus, manikürten sich die Fingernägel oder stopften Strümpfe. Er wusste nicht, wie er sein Anliegen vorbringen sollte. Am Ende hatten ihm die Kollegen einen Bären aufgebunden und es handelte sich hier um eine höchst ehrenwerte Gesellschaft von Damen.

Während er noch seinen Gedanken nachhing, sagte die Frau im rosa Morgenrock: »Für einen so großen Herrn müssen wir ein großes Fräulein aussuchen. Die großen Herren haben meistens einen langen Stammbaum.«

»Wer lang hat, lässt lang hängen«, sagte eines der Mädchen, und alle fingen zu kichern an.

Er wagte kaum, sie anzuschauen. Wenn er sich eine aussuchen müsste, er wüsste nicht, welche er nehmen sollte. Deshalb war er froh, dass ihm die Chefin die Entscheidung abnahm.

»Eva, geh du mit dem Herrn. In Nummer 6 is’ frisch auf’bett.«

Eva zog kurz eine Schnute, bevor sie den Faden an ihrem Nähzeug abbiss und es weglegte. Sie erhob sich mit der Trägheit einer eben erwachten Hauskatze, lockerte sich, indem sie ihre Hände zum Plafond streckte, und bedeutete Adam mit einer geschäftsmäßigen Kopfbewegung, ihr zu folgen.

Als er hinter ihr herging, bemerkte er, dass sie sehr groß war, wenn auch nicht so groß wie er, und dass ihr relativ schmaler Oberkörper in einen breiten Hintern mündete.

In Nummer 6 angekommen, fragte sie ihn nach seinem Namen, und nachdem er ihn stotternd hervorgebracht hatte, bekam sie einen Lachanfall.

»Adam und Eva. Adam und Eva im Paradies. Was sagst denn dazu?«

Seine Kehle war wie zugeschnürt, er konnte nicht antworten, und als sie sagte »Z’erst das G’schäftliche. Was bin ich dir wert?«, fasste er in seine Rocktasche und reichte ihr die fünf Mark.

Inzwischen hatte er auf dem durchgelegenen Bett Platz genommen. Er konnte den Blick nicht von ihr abwenden. Ihr Hintern erinnerte ihn an die voluminösen Kürbisse, die im Herbst auf den Komposthaufen reiften. Die fünf Mark wären für die Zimmermiete gewesen. Aber was bedeutete schon ein Zimmer gegen ein Mädchen?

Eva rückte ihrem strengen Körpergeruch zu Leibe, indem sie mittels eines Parfumzerstäubers Maiglöckchenduft in ihre Achselhöhlen sprühte. Dabei summte sie unbekümmert vor sich hin. Sie schälte sich aus ihrem Mieder, ließ die lange Rüschenunterhose über ihre Hüften gleiten und rollte die Strümpfe bis zu den Fersen. Plötzlich verzog sie das Gesicht und ging mit einem Handspiegel zum Fenster. Sie schien Zahnschmerzen zu haben, denn sie fischte eine Haarnadel aus ihrer Hochfrisur und stocherte damit in ihrem Mund herum.

Als sie sich umdrehte und sich dem Bett näherte, wippten ihre kleinen Brüste auf und ab. Breitbeinig vor ihm stehend, fragte sie ihn nach seinen Vorlieben. Er murmelte etwas von »französisch«, ohne zu wissen, was das genau bedeutete.

»Da hab’ i mi ganz umasunst auszog’n. Französisch kost’ no amoi a Mark extra.«

»Später, später«, stieß er hervor.

Sie kniete vor ihm nieder und knöpfte seine Hose auf. Das Glied, aus seinem Gefängnis befreit, schoss hervor, ihren geschminkten Lippen entgegen und wurde sofort von ihren warmen, erfahrenen Händen umklammert. Vergleiche fielen ihm in diesem Moment ein. Wie eine Monstranz. Wie eine Posaune. Wie ein Glas warme Milch. Ihr intensiver Schweißgeruch und das Maiglöckchenparfum, ihre makellosen Schultern, die im Kontrast zu dem vor Sünde triefenden Bett standen, waren zu viel für seine aufgestaute Erwartung. Noch bevor der erste Akt begann, schoss sein Samen hervor und traf ihr Kinn. Ein kurzer schleimiger Faden zog sich herunter und tropfte auf ihre Brust.

»Ui jegerl. G’hörst wohl zu de Kavallerieschütz’n!«

Sie schien nicht weiter verärgert zu sein, sondern wischte sich in aller Ruhe die Bescherung vom Kinn. Er hatte das Gefühl, dass sie wegen ihrer Zahnschmerzen über die schnelle Abwicklung sogar erleichtert war. Er brauchte auch die Mark Aufschlag nicht zu zahlen.

Als sie zu der kleinen Napfkuchen-Gesellschaft zurückkamen, zwinkerten sich die Mädchen vielsagend zu. Eva machte ein Zeichen, das die andern zu verstehen schienen. Für diese Handbewegung hätte er sie am liebsten geohrfeigt. Die Chefin zwitscherte: »Sind der Herr zufrieden gewesen?«

Er murmelte etwas Unverständliches und bemühte sich, den neugierigen Blicken auszuweichen. Mit einem Mal kam ihm alles sehr schäbig vor. Die Sonne hatte sich hinter den Wolken versteckt. Was noch vor einer Viertelstunde rosa gewesen war, war jetzt in einem schmutzigen Nebel versunken, weil eine vermutlich von einem Kunden zurückgelassene Tabakspfeife die Runde machte. Die Kleider wirkten schmuddelig. Aus dem rosa Pantoffel der Chefin schaute durch ein Loch ein lackierter großer Zeh. Der Kaffeetisch wurde abgeräumt, die Tischdecke mit den Kuchenbröseln durch das geöffnete Fenster ausgeschüttelt. Eines der Mädchen wippte ungeduldig mit dem Fuß auf und ab, während es rasch eine Illustrierte durchblätterte. Eva faltete das Tischtuch zusammen und wischte sich mit einem Zipfel verstohlen noch einmal übers Kinn. Durch den Flur kam ein weißer Bauernspitz gelaufen, kläffte den Besucher an und sprang aufs Kanapee. Die Chefin klirrte mit einem Schlüsselbund, als könnte sie es nicht erwarten, den Kunden loszuwerden.

»Kommen S’ bald wieder«, flötete sie, während Eva ihm eine in seinen Augen flüchtige, nichtssagende Kusshand zuwarf.

Wieder auf der Straße, gab er einem im Rinnstein liegenden Holzscheit mit dem Fuß einen Tritt. Das Holz flog in scharfem Tempo auf die andere Straßenseite, prallte am Bordstein ab und kullerte zur Straßenmitte. Mit fünf weiteren Stößen beförderte er es zum Oberanger. In seiner Hosentasche klimperten noch ein paar Münzen. Er kehrte in eine Wirtschaft ein und trank eine halbe Maß Bier. Als er wieder auf die Straße trat, lag das Holz noch vor der Eingangstür. Es erinnerte ihn an die erlittene Demütigung. Es erinnerte ihn auch an die Prügel, die er als Kind vom Vater bezogen hatte, und daran, dass er es nur zum einfachen Schreiner gebracht hatte. Er beschloss, sich auf dem Nachhauseweg nicht mehr von ihm zu trennen. Jeder Fußtritt eine Heimzahlung. Der Prügel schoss, von seinem Fuß angetrieben, völlig unberechenbar übers Kopfsteinpflaster. Manchmal blieb er in einem Gully hängen oder schlug an eine Hauswand. Die Leute schimpften hinter ihm her. Allmählich gewöhnte er sich an die klebrigen Verhältnisse in seiner Unterhose. Er trieb seinen Begleiter gnadenlos voran, über den Marienplatz und durch die vornehme Theatinerstraße.

Am Karolinenplatz spazierte eine schlanke, gut gewachsene Frauensperson in einem weinroten Kostüm vor ihm her. Sie hatte eine rosa Federboa um den Hals geschlungen und führte einen Foxterrier an der Leine. Die rosa Farbe entfachte seine Wut aufs Neue. Das Holzscheit flog, von einem kräftigen Schuss angetrieben, haarscharf am Hund vorbei, prallte an einem Hydranten ab und änderte seine Richtung. Der vom Jagdfieber ergriffene Terrier sprang ihm kläffend nach und wickelte bei seinen Versuchen, der Beute habhaft zu werden, seine Leine um die Röcke der Dame. Er zog sie praktisch hinter sich her. Sie ruderte mit den Armen, um das Gleichgewicht zu halten und einen Sturz zu vermeiden. Plötzlich lag sie auf dem Boden, während der Hund den Prügel apportierte und neben ihr fallen ließ, wobei er sichtlich auf ein Lob wartete.

Adam hatte die Szene beklommen beobachtet, ohne dass er Gelegenheit gehabt hätte, den Unfall zu verhindern. Als er sich bemühte, der Dame auf die Beine zu helfen, fühlte er eine kühle, schmale Hand in der seinen. Aus einem blassen Gesicht feuerten zwei graue Augen vorwurfsvolle Pfeile auf ihn ab.

»Pass doch auf, du Dodl«, hörte er in unverwechselbarem Fränkisch.

Sie strich sich die Röcke glatt, ohne ihn noch eines Blickes zu würdigen, und marschierte davon. Da sich der Weg, den sie einschlug, mit seinem Nachhauseweg deckte, konnte er sie unauffällig verfolgen. Aus einigem Abstand beobachtete er, wie sie in der Nymphenburger Straße ein Gartentor aufsperrte und in einer ansehnlichen Villa verschwand. Auf einem kleinen, sorgfältig geputzten Messingschild las er den Namen »von Lanzinger«. Mit dem geschulten Auge des Handwerkers entdeckte er ein reich verziertes Spalierholz, an dem sich Rosen emporrankten, einen Marmorspringbrunnen und einen sich drehenden, vergoldeten Wetterhahn auf dem Dach.

Er konnte das Fräulein nicht vergessen. Diesen Blick aus grauer Iris, von dem er nicht hätte sagen können, ob er verzweifelt oder belustigt gewesen war – auf keinen Fall aber völlig abweisend. Ein Funken Bereitschaft, bildete er sich ein, sei da zu erkennen gewesen.

»Du Dodl«, hatte sie gesagt. Er fragte einen Hausbewohner aus Franken, was das Wort bedeute. »Depp«, antwortete dieser.

Adam überlegte, wie er es anstellen sollte, sie noch einmal zu sehen. Schließlich lieh er sich von einem Kollegen eine Mark und kaufte einen Blumenstrauß. Eine Entschuldigung war ein guter Grund, sich ihr noch einmal zu nähern. Die Miete musste er ohnehin schuldig bleiben, da spielte eine Mark wahrlich keine Rolle mehr.

Am nächsten Sonntag stellte er sich vor der Villa auf, die eine Woche lang Inhalt seiner Träume gewesen war. Punkt zwei öffnete sich die Tür. Dreimal in der Woche führte Marie Heim, so hieß die junge Frau, den Foxterrier von zwei bis fünf spazieren. Marie mit der Betonung auf der zweiten Silbe, so wie das in Herrschaftshäusern üblich war. Nicht so, wie die Münchner den Namen aussprachen, der dann, wenn man den ordinären Ton außer Acht ließ, wie das italienische »mare« klang.

Marie trug eine himmelblaue Robe mit weißen Taftblenden und schützte ihr Gesicht mit einem En-tout-cas vor der Frühlingssonne. Sie schien Adam auf den ersten Blick wiederzuerkennen und nahm den Blumenstrauß mit einem huldvollen Nicken ihres Kopfes entgegen. Während sie ins Haus zurückging, um ihn mit frischem Wasser zu versorgen, musste er Sonnenschirm und Hundeleine halten. Das erschien ihm wie ein vielversprechender Beginn, als ein untrügliches Zeichen von Vertrautheit. Sie hatte auch nichts dagegen, dass er sie auf ihrem Spaziergang in den Hirschgarten begleitete.

Unterwegs erfuhr er, dass sie im Lanzingerschen Haushalt als eine Art Kammerzofe arbeitete. Eigentlich sei sie an Lichtmess vor drei Jahren als Stubenmädchen eingestellt worden und habe sich eine Art Vertrauensstelle bei der gnädigen Frau erarbeitet. Damit fand sich auch eine Erklärung für ihre elegante Garderobe, die ausnahmslos aus abgelegten Stücken ihrer Dienstherrin bestand. Auf diese angesprochen, legte sich ein Zug von Nachdenklichkeit über das Gesicht seiner Begleiterin, so wie überhaupt die ganze junge Person ständig zwischen Schalk und Traurigkeit zu schwanken schien. So fragte sie ihn zum Beispiel, ob er seinen Prügel dieses Mal nicht dabeihabe. Ihr linkes Knie wolle sich ebenfalls einen blauen Flecken holen. Mit diesen Worten zog sie ihre Röcke hoch und zeigte ihm völlig ungeniert ihr lädiertes rechtes Knie, wobei Tränen in ihre Augen traten.

Adam war hingerissen von ihr. Er konnte es nicht verstehen, dass sie einem Kerl wie ihm erlaubte, sie zu begleiten. Dass er neben einer Frau auf der Straße spazieren ging, erschien ihm wie ein Wunder. Sie tranken zusammen eine Waldmeisterbowle, und als er in seiner Hosentasche nach den letzten Münzen suchte, griff sie blitzschnell in ihr Handtäschchen und bestand darauf, dass er ihr Gast sei. Das nächste Mal dürfe er bezahlen.

»Das nächste Mal?« fragte er, und sein Herz begann wild zu schlagen. Mit ihren grauen Augen schaute sie ihn kurz an. »Oder wollen’s mi nimma sehn?«

Die ganze Woche über dachte er an sie. Keine Sekunde lang ging sie ihm aus dem Sinn. Er war in die Modellschreinerei der Zentralwerkstätte versetzt worden und arbeitete nun im ersten Stock des Mittelbaus der riesigen Werksanlage. Es war ein moderner, lichter Raum mit Gaslampen an den Wänden, direkt neben dem neuen Eisenbahnmuseum. Tag für Tag sägte, hobelte und schmirgelte er das Material, mit dem er von Kind auf durch die Tätigkeit des Vaters vertraut war: Holz. Unter seinen Händen entstanden die Modelle, nach denen die Schlosser ihre Radnaben, Speichen und Achsen gossen. Er wünschte, sie könnte ihn sehen, wie er so tüchtig seinen Mann stand. Sein Gehalt wurde um 1 Mark 35 aufgebessert, ein Zeichen dafür, dass es mit ihm bergauf ging. Das Zimmer, in dem er schlief, war hingegen ein einziges Chaos, und er wusste nicht, wovon er die Miete bezahlen sollte. Er lieh sich noch einmal Geld von einem Kollegen und kaufte einen geblümten Überwurf für sein Bett. Es könnte ja sein, dass sie einmal zu Besuch käme.

Es spielte sich so ein, dass er nun jeden Sonntag um zwei Uhr vor ihrer Tür stand und sie nichts dagegen hatte, wenn er sie auf ihrem Spaziergang begleitete. Zu zweit sei es nicht so langweilig, sagte sie. Sie betonte aber, dass sie sich nicht binden wolle und er sich folglich, was ein Verhältnis mit ihr beträfe, keine Hoffnungen machen dürfe.

Der Frühling schritt voran. Wenn sie im Hirschgarten unter den Kastanien saßen, leuchteten ihnen weiße Blütenkerzen und fielen ihnen schwerfällige Maikäfer in den Schoß. Sie erzählte, dass sie im Juni neunzehn Jahre alt werde und sich allmählich nach einem Mann umsehen müsse. Ihre Schwester Vroni habe ihren ehemaligen Dienstherrn geehelicht, nachdem er Witwer geworden war. Und statt weiterhin Kindermädchen für dessen drei Kinder zu sein, verfüge sie nun selber über Dienstpersonal und sei die gnädige Frau Bankdirektor Fürholzer. Ihrer Schwester Vroni wolle sie, Marie, um keinen Deut nachstehen.

Ihm schnitten solche Reden ins Herz. Er ahnte, nein, er war sich sicher, dass er nie genug Geld besitzen würde, um es mit einem Bankdirektor Fürholzer aufzunehmen. Voller Verzagtheit legte er seine Hand auf die ihre. Sie zog sie rasch weg und stieß hervor: »Allmächt, die Leut könnten reden.«

Das Jahr ging dahin mit diesen harmlosen Spaziergängen, bei denen er unentwegt überlegte, wie er sie zu einem Besuch in seinem Zimmer überreden könnte. Er hatte sich in der Frankschen Buchhandlung in Würzburg für sechzig Pfennige in Briefmarken das Buch »Vollständige Beseitigung männlicher Schwäche« von Dr. Xavier besorgt und dessen Ratschläge befolgt. Diese bestanden im Wesentlichen aus Wechsel-Sitzbädern, für die er seine armselige Waschschüssel benutzte, und dem täglichen Verspeisen eines hartgekochten, mit Pfeffer bestreuten Hühnereis. Außerdem riet Dr. Xavier zu einer Teemischung aus Wiesenbocksbart und Frauenmantel.

Schließlich fühlte Adam sich in jeder Hinsicht gerüstet. Allein, das Fräulein alberte mit ihm herum, ließ sich auch ab und zu einen flüchtigen Kuss rauben, war aber im Übrigen auf seine Jungfräulichkeit bedacht. Es meinte, Verehrer seien noch lange keine Begehrer. Sie würde sich erst dann einem Mann hingeben, wenn sie einen Trauring am Finger trüge, das habe sie ihren Eltern versprochen. Es gebe genug ledige Mütter in der Stadt, die ihre Bankerte alleine aufziehen müssten.

Er wusste nicht, was er von ihr halten sollte. Einerseits kam er mit ihr keinen Schritt weiter, andererseits glaubte er in ihren Reden Signale erkennen zu können, die ihn ermutigten. So zum Beispiel, wenn sie von ihrem Heimatort Allersberg erzählte und ihn fragte, ob er nicht einmal ihre Eltern kennenlernen wolle.

Mittlerweile war es wieder April geworden, und es wäre wohl noch eine Weile so weitergegangen, hätte ihm nicht eines Tages der Foxterrier bei einer übermütigen Balgerei im Nymphenburger Schlosspark einen Triangel in die Hose gerissen. Marie schlug die Hände über dem Kopf zusammen und meinte, so könne er nicht herumlaufen und ob er zu Hause Nähzeug habe, sie würde ihm die Hose flicken.

Nein, wo denke sie hin, Nähzeug habe er natürlich nicht. Aber er könne seine Vermieterin fragen.

Sein unaufgeräumtes Zimmer versetzte sie in helle Aufregung. Er hatte sich allerhand erwartet von ihrem Besuch, hatte ihn monatelang herbeigesehnt, und nun lag er mit einem Triangel in der Hose auf seinem Bett und schaute zu, wie sie erst einmal Ordnung machte. Schwaden von Staub stiegen auf, als sie den Teppich aus dem Fenster schüttelte. Sie trug seine Waschschüssel zum Ausguss im Flur und leerte sie aus. Dann bückte sie sich, wobei sie das Volant ihres Rockes raffte, und kehrte mit einem Handbesen die Asche vor seinem Öfchen auf eine Schaufel. Dabei sagte sie ein ums andere Mal: »Wie kann man nur in einem solchen Saustall hausen, Adam? I tät mi schämen.«

Schließlich griff sie zu Nadel und Zwirn und beugte sich über ihn. Aus Scham behielt er seine Hose an. Er spürte ihre Hantierungen auf dem derben Stoff wie Liebkosungen, die ihm die Augen zufallen ließen. Sie tat sehr geschäftig, aber er merkte, dass sie verlegen war. Als ihr Blick auf die Ausbuchtung in seinem Schritt fiel, wurde sie knallrot. Wie im Traum umfasste er ihren Kopf, zog sie zu sich herunter und knöpfte ihr Kleid auf. Sie leistete kaum Widerstand, oder nur so viel Widerstand, wie es die Sitte gebot. Sie weiter langsam entkleidend, wurde ihm plötzlich bewusst, dass auch sie auf diesen Augenblick gewartet haben musste. Warum gerade er es war, den sie an sich heranließ, war ihm immer noch ein Rätsel. Aber er wollte nicht weiter darüber nachdenken, nicht in diesem Moment. Aus ihrer Wäsche stieg ein leichter Duft nach Kernseife. Es war eine feine, wenn auch aus zweiter Hand stammende Unterwäsche aus weißem Linnen. Ein jungfräulicher Busen fiel ihm entgegen, als er mit ungeschickten Händen ihr Mieder aufschnürte. Endlich bekam er seine Geliebte zu fassen. An seinem Ohr vernahm er ein gehauchtes »Lass mi doch erst dei Hos’n fertig nähen«. Aber es klang halbherzig.

Als er in sie drang, auf die Kraft von Wiesenbocksbart und Frauenmantel vertrauend, gab sie einen leisen Wehlaut von sich. Der Akt war kurz und endete mit einem Seufzer aus seinem Mund, einem erleichterten Seufzer, so als hätte sich eine unbezwingbare Aufgabe endlich von selbst erledigt. Er wunderte sich, dass sie so still geblieben war. Ihm schien, als hätte sie seine Ekstase nicht geteilt. Was macht man mit einer Frau, die wie leblos unter einem liegt? Er wusste es nicht. In seiner Hilflosigkeit fragte er: »Bin ich dir zu schwer gewesen?« Er war verlegen und ratlos, und als sie sich unter ihm hervorwand und neben dem Ofen betend auf die Knie fiel, da glaubte er, etwas falsch gemacht zu haben. »Heilige Maria, Mutter Gottes, bitt für mich arme Sünderin, jetzt und in der Stunde meines Todes. Amen«, betete seine Geliebte. Sie tat gut daran, ihre Schutzherrin anzuflehen, denn sie war, was sie nicht ahnen konnte, von diesem ersten Sündenfall schwanger geworden.

Sie trafen sich nun jeden Sonntagnachmittag in Adams unaufgeräumtem Zimmer. Den Fox banden sie im Treppenhaus an. Die Besucherin sagte, sie fühle sich von ihm beobachtet. Sie beklagte sich jedes Mal über die Unordnung und räumte auf. Sie sagte, sie könne es nicht mit ihm treiben in solch einer Schlamperei. Adam wartete voller Ungeduld, bis er sie aus den Röcken schälen konnte. Es war ihm einfach unbegreiflich, dass sie gerade ihn als Geliebten ausgesucht hatte. Es gab ansehnlichere Burschen in der Stadt. Sein halbblinder Spiegel über der Waschschüssel hielt ihm ein längliches Gesicht entgegen, über dessen Bedeutsamkeit er sich keine Illusionen machte. Außerdem hatte Marie den in seinen Augen größten Charakterfehler noch nie zu spüren bekommen: seinen Jähzorn. Ja, seine Friedfertigkeit, die auf dem Boden einer simplen Bequemlichkeit gewachsen war, konnte unversehens maßlosem Zorn Platz machen. Er brauchte nur an die Angelegenheit mit dem vom Sebastiansplatz zum Karolinenplatz gejagten Holzscheit zu denken. Dass er Marie am Ende dieser Zornesstrecke kennengelernt hatte, erschien ihm Glücksfall und böses Omen zugleich.

Als sie ihm nach drei Monaten eröffnete, dass sie guter Hoffnung sei, überkam ihn neben dem Stolz, ein Kind gezeugt zu haben, der Schock der Verantwortung. Wie sollte er, dem das Geld unter den Händen zerrann, Frau und Kind ernähren? Er trieb ständig einen kleinen Schuldenberg vor sich her. Da er bei seinen Kollegen wegen seiner Großzügigkeit und jugendlichen Unbekümmertheit wohlgelitten war, fand er immer wieder Leute, die ihm kleinere Beträge liehen, mit denen er die alten Löcher stopfte. Es hatte sich herumgesprochen, dass er seit neuestem ein Weibsbild ausführen musste. Ihn quälte die düstere Vision, dass er nie in der Lage sein würde, die Schulden zu tilgen, dass er nie aus seiner verfluchten Behausung herauskommen, dass er es nie im Leben zu etwas bringen würde. Deshalb nahm er die Nachricht nicht mit der Begeisterung auf, die Marie von ihm erwartet hatte. Ihre grauen Augen füllten sich mit Tränen, als sie hervorstieß, es bliebe ihr wohl nichts anderes mehr übrig als ins Wasser zu gehen, jetzt, da sie entehrt sei und einen Bankert am Hals habe. Sie habe von ihm erwartet, dass er sie in solch einer Situation nicht im Stich lasse.

Er fühlte sich in die Enge getrieben. Wenn sie sonntags zu ihm kam und er hilflos zusehen musste, wie sie erst einmal das Mittagessen in seine Waschschüssel erbrach, wurde er von Mitgefühl übermannt. Aber wenn sie dann weinend am Fenster saß und ihm vorwarf, er sei ein Schuft, er sei um keinen Deut besser als andere Männer, dann packte ihn oft der Zorn, und er sagte Dinge, die er lieber nicht gesagt hätte. Er hatte nicht aufgehört, sie auf seine ungeschickte Art zu lieben, aber er hasste solche Szenen. Wo war sie geblieben, die unbeschwerte Zeit? Der Schalk in den Augen seiner Geliebten? Ihr Liebreiz? Das Kind, so unsichtbar es auch war, hatte sie verändert. Manchmal erinnerte sie ihn an einen weiblichen Drachen, der mit Feuer und Schwefel seine Brut verteidigt. Sie wollte ein Nest, wollte Sicherheit. Er hingegen liebte diese sonntäglichen Nachmittage. Er begehrte die Frau, aber nicht das Kind. Das Kind war in ihrem Leib eingenistet, nicht in seinem. Das hatte die Natur so gewollt. Er fühlte sich zu jung zum Heiraten. Aber er war kein Schurke und wollte sich nicht aus der Verantwortung stehlen. Bei ihm daheim, sagte er, würde erst geheiratet, wenn der Mann der Frau ein Zuhause bieten könne. In diesem Zimmer könnten sie unmöglich zu dritt leben. Sie solle ihm bitte Zeit lassen.

Einige Monate später fuhr Marie nach Allersberg zu ihren Eltern und brachte dort nach zwei Wochen einen Sohn, Georg, zur Welt. Sie ließ ihn gegen ein Kostgeld von zehn Mark monatlich bei den Großeltern und kehrte blass und schlank zu ihrer Herrschaft zurück. Sie bildete sich ein, dass ihre Schwangerschaft beim Hausherrn und dem Personal unentdeckt geblieben war. Sie dachte darüber nach, wie sie den Druck auf den Kindsvater verstärken könne. Sie wollte eine Heirat. Eine katholische Hochzeit in Weiß. Ordentliche Verhältnisse.

Die Heirat ließ vier Jahre auf sich warten. Der Bräutigam war achtundzwanzig und die Braut fünfundzwanzig Jahre alt, als sie von einem evangelischen Pfarrer in der Matthäuskirche getraut wurden. Adam trug einen geliehenen schwarzen Anzug, dessen Ärmel und Hosenbeine zu kurz für ihn waren. Sein Gesicht zeigte einen Anflug entschlossener Männlichkeit, was nicht zuletzt einem sorgfältig gebürsteten und an den Enden nach oben gezwirbelten Schnurrbart zu verdanken war. In der linken Hand hielt er einen Zylinder, den er keine Sekunde lang aufsetzte.

Marie war in das letzte Geschenk ihrer Dienstherrin gekleidet, ein schwarzes Taftkleid mit Puffärmeln, das sie drei Wochen später ins Pfandhaus bringen würde. Ein weißer Tüllschleier, mit Hilfe eines künstlichen Maiglöckchenstraußes im Haar befestigt, reichte bis zum Boden. Ihren Dienst in der Nymphenburger Straße hatte sie quittiert. Ein großer Teil ihrer Ersparnisse war bei einer dubiosen amerikanischen Anleihe verlorengegangen, zu der sie eine Zufallsbekanntschaft überredet hatte.

Bis zuletzt hatte sie sich gegen eine protestantische Trauung gewehrt. In ihrer Familie sei man von jeher katholisch, nicht umsonst trage sie den Namen der Jungfrau Maria. Auch wenn sie dem Namen mit ihrer verlorenen Jungfernschaft keine Ehre gemacht habe, fühle sie sich doch ihrem Glauben verpflichtet, überdies seien ihr die Matthäuskirche und erst recht der Pastor in seinem schwarzen Talar auf deprimierende Weise fremd.

Adam entgegnete, er könne mit diesem Jungfrauenschwindel nichts anfangen. Ginge es nach ihm, so würden sie nur standesamtlich heiraten. Wenn sie aber auf einer kirchlichen Trauung bestehe, dann komme für ihn nur eine protestantische in Frage. Die Reformation vor dreihundert Jahren sei schließlich aus gutem Grund erfolgt.

Sie rächte sich für solche Reden, indem sie oft stundenlang kein Wort mit ihm sprach. In den Jahren, in denen sie auf sein Jawort gewartet hatte, hatten sich ihre Positionen gewandelt. Ihre anfänglich starke Rolle als Hüterin des großen, unbekannten Arsenals weiblicher Geheimnisse, in das einzudringen sein Ziel gewesen war, war durch die Gewohnheit geschwächt, war durch die Mutterschaft abgebröckelt. Er hingegen war in der Verweigerung gewachsen. Sie kam kaum mehr gegen ihn an. Am Ende erwies er sich immer als der Stärkere. Nicht nur, dass sie in der Matthäuskirche landeten, er setzte auch durch, dass der kleine Georg eine protestantische Taufe erhielt.

Ihre erste gemeinsame Wohnung befand sich im dritten Stock der Maillingerstraße Nummer 5. Adam wollte im Westend bleiben, um sich einen langen Arbeitsweg zu ersparen. Wenn sie die Fenster geöffnet hatten, konnten sie die Züge in den Hauptbahnhof einfahren hören. Obwohl das Haus von außen einen ansehnlichen Eindruck machte, waren die Wohnverhältnisse entwürdigend. Das junge Paar, das den Sohn zu sich geholt hatte, teilte sich mit zwei anderen Parteien eine Wohnung. Die Familie verfügte über eine Wohnküche und eine Schlafkammer und teilte sich die Wasserstelle und das Klo im Zwischenstock mit den Leuten aus dem gleichen Stockwerk.

Georg holte sich in dem noch feuchten Neubau einen hartnäckigen Husten. Der Arzt meinte, er sei überhaupt schwach auf der Lunge. Georg weinte seinen Großeltern in Allersberg nach, die er für seine wahren Eltern hielt. Marie war ihm lange Zeit fremd, und erst recht dieser große Vater, dessen Kopf oben am Plafond zu hängen schien und aus dessen Mund manchmal zornige Worte drangen. Georgs Welt war der Küchenboden aus hölzernen Dielen, die die Mutter einmal in der Woche mit Bohnerwachs einrieb. Unter dem hölzernen Firmament des Küchentischs liegend, reihte er die von seinem Vater aus der Schreinerei mitgebrachten Klötzchen zu einer Eisenbahn aneinander. Oder er ließ sie in der Waschschüssel schwimmen. Sie waren dann Schiffe, die im Sturm kenterten, wobei die aus Reißnägeln bestehende Mannschaft, deren Kapitän sein Vater Adam war, gnadenlos unterging.

Wenn die Eltern am Tisch saßen und leise über irgendetwas redeten, das er nicht verstehen sollte, nahm Georg diese fremde Erwachsenenwelt einzig über die raschelnden Röcke seiner Mutter und die mit feinem Sägemehl bestäubten Schuhe seines Vaters wahr. Er fürchtete den Moment, da ihn der Vater am Schlafittchen hochziehen und fragen würde, was er denn den ganzen Tag getrieben habe.

Die Zeit der Kindheit verging nur langsam. Die Spuren, die sie auf ihrem Weg zurückließ, waren für Georg kaum wahrnehmbar. Erst allmählich summierten sich die Zeichen. Ein zuerst kaum erkennbarer Kratzer im weißen Lack des Tischbeins füllte sich mit Küchenruß. Farbe blätterte ab, Holz dunkelte nach. Die Fugen im Küchenboden wurden breiter und füllten sich mit dem Dreck, der dem Besen entwischt war. Die Röcke der Mutter fransten aus. Die durchgelaufenen Schuhe des Vaters wurden durch neue ersetzt. Die abendlichen Reden der Eltern über dem Tisch wurden heftiger. Meistens ging es ums Geld, das irgendwo auf rätselhafte Weise verschwunden war. Der Vater sagte, die Mutter könne nicht haushalten. Die Mutter erwiderte voller Bitterkeit, er würde es zum Fenster rauswerfen.

Eines Tages fischte sich Marie ihren Sohn unter dem Tisch hervor und sagte, er sei nun sechs Jahre alt und müsse zur Schule. Bei Tanzmaier kaufte sie ihm eine kurze graue Wollhose, gestrickte Wollstrümpfe und eine beige Jacke mit weißem Bubikragen zum Zuknöpfen. Dazu schwarze Winterstiefelchen mit einer Reihe glänzender Knöpfe. Sie schnitt seine Nägel und wusch das Haar. Ihr Kind sollte sich nicht schämen müssen.

Ein paar Wochen später hielt Adam ein Foto in Händen, auf dem fünfzig offenbar für diesen Anlass besonders herausgeputzte männliche Erstklässler mit ihrem Lehrer Donaubauer zu sehen sind. Dieser hat eine geballte Faust auf den Oberschenkel seines angewinkelten rechten Beines gelegt. Das Bild wird von eiserner Disziplin beherrscht. Erschrockene, ernste Vorstadtkinderaugen sind auf den Fotografen gerichtet, der unter einer schwarzen Decke hinter seinem Apparat verschwunden ist.

Einige der Knaben, die man gewöhnlich barfuß und in schadhafter, ärmlicher Kleidung auf den Straßen herumtollen sieht, haben ein Tüchlein um den Hals gebunden oder tragen wie Georg über dem Kragen ihrer Wolljacke einen weißen Bubikragen. Ein harmonisches Bild, das das denkwürdige Ereignis festhalten sollte, wenn die Erinnerungen längst verblasst, wenn die Kinder ihrer kleinen Anzüge entwachsen und Herr Donaubauer zu Grabe getragen sein würden.

Georg steht an prominenter Stelle in der Mitte der obersten Reihe und blickt mit einem auf Gehorsam programmierten Augenpaar ins Objektiv. Er fällt unter den fünfzig Knaben dadurch auf, dass sein weißer Kragen wegen eines fehlenden Knopfes zwischen Schultern und Kinn auf eine hilflose Art in der Luft zu schweben scheint. Es ist, so wirkt es, dem kleinen Georg buchstäblich der Kragen geplatzt.

Als Adam das Foto in die Hand bekam, legte er seinen Sohn übers Knie, zog die Hose straff und verabreichte ihm eine Tracht Prügel. Zwanzig Pfennige hat diese Fotografiererei gekostet, fast zehn Mark die neue Schulkleidung, und was ist zu sehen? Ein geplatzter Kragen. Die Strafe musste sein. Seine eigene Schwäche, die Unfähigkeit, in seiner Umgebung Ordnung zu halten, wollte er nicht in seinem Sohn fortgesetzt sehen. Hinterher tat es ihm leid, den Kleinen geschlagen zu haben. Er ging ins Wirtshaus, um die Erinnerung an den kleinen Hintern, der sich so zerbrechlich angefühlt hatte, mit einer Maß Bier wegzuschwemmen.

Er ging jetzt manchmal ins Wirtshaus, weil Marie die kleine Küche in eine Bügelstube verwandelt hatte. Einmal in der Woche wusch sie, um das Haushaltsgeld aufzubessern, im Waschhaus die Wäsche der Hausbesitzerin und bügelte sie auf dem Küchentisch. Beim Anblick ihrer rissigen, früher so feinen Hände wurde er jedes Mal von schlechtem Gewissen übermannt. Das Bügeleisen, gefüllt mit glühenden Kohlen, fuhr wie eine fauchende Lokomotive über das mit Wasser besprengte Leinen. Auf den Stühlen türmten sich Tischtücher, Bettlaken und gestärkte Herrenhemden, die ganze Küche roch nach dem Dampf fremder Wäsche. Er konnte den Anblick seiner für fremde Menschen arbeitenden Frau nicht ertragen. Nie wurde er das Gefühl los, dass sie eigentlich für ein besseres Leben bestimmt war und allein er die Schuld daran trug, dass dieses bessere Leben in immer weitere Ferne rückte.

Die Unzufriedenheit mit sich selbst ließ ihn ungerecht gegen Marie werden, die sich in seinen Augen immer mehr in eine duldsame Tyrannin verwandelte. An den Tagen, an denen die Küche von ihrem demonstrativen Leiden erfüllt war, machte er nicht selten kehrt und ging ins Wirtshaus, wobei er zwischen den Zähnen hervorstieß: »Kohlen fürs Bügeleisen statt für eine warme Suppe!« Spät in der Nacht kehrte er reumütig und schwankenden Schritts zurück, in der Hand ein blumiges Zeichen der Versöhnung: einen aus einem Vorgarten geklauten Jasmin- oder Fliederzweig.

Sie kamen, so sehr sie sich auch abstrampelten, auf keinen grünen Zweig. Adams Lohn – er wusste nicht, wo er blieb. Georgs schwache Lunge verschlang viel Geld. Einmal mussten sie den Buben für ein Vierteljahr in die Berge schicken, aber er kam um keinen Deut gesünder zurück.

Manchmal sah Adam seine Frau am Fenster stehen und in Richtung Nymphenburger Straße blicken. Er wusste dann, dass sie an das Haus mit dem vergoldeten Wetterhahn dachte, und er ahnte, dass diese Ehe eine Enttäuschung für sie war. Warum nur? Es gab Arbeiterfrauen im selben Haus, die mit ihrem Leben nicht unzufrieden waren. Einzig Marie ging mit diesem stummen Vorwurf herum, der sich aus ihren grauen Augen wie ein Bannstrahl auf ihn richtete. Stumm? Ja, sie sprachen kaum mehr miteinander, die unausgesprochenen Worte hingen wie Bleigewichte vom Plafond und berührten von Zeit zu Zeit ihre Köpfe: Dong Dong Dong.

Längst waren die Träume verflogen, das Westend zu verlassen und in ein besseres Viertel zu ziehen. Aus der Wohnung in der Maillingerstraße, die als ein Provisorium nur zum ›Trockenwohnen‹ gedacht war, konnten sie nicht einmal dann in eine größere ziehen, als Marie erneut schwanger wurde und eine Tochter zur Welt brachte, die sie Therese nannten. Im Schlafzimmer wurde es eng. Das Bettchen stand neben den schwarzen Ehebetten, der Vater konnte wegen des Geschreis seiner Tochter nachts nicht schlafen und torkelte am Morgen todmüde zur Arbeit. Er fand, dass der Nachwuchs nicht nötig gewesen wäre. Marie blieb vom Wäschespülen im kalten Wasser die Milch weg. Man schrieb den Dezember 1887. Therese wurde von einem Gemisch aus verdünnter Milch und Haferschleim ernährt. Das erste Bild, das sie von der Außenwelt wahrnahm, waren Eisblumen am Fenster. Dreimal zog die Familie in den nächsten Jahren innerhalb der Maillingerstraße um, von einer gedrittelten Wohnung in die nächste. Das letzte Mal, als die kleine Emma geboren wurde, die nur achtundzwanzig Tage auf der Welt blieb.

1894, im selben Jahr, in dem Therese eingeschult wurde, zeichnete Prinzregent Luitpold von Bayern den alten Josef Weinberger von der Modellschreinerei mit einer Bronzemedaille des Michael-Ordens aus, für lange, treue Betriebszugehörigkeit. Im Eisenbahnmuseum der Zentralwerkstätte half Adam beim Anbringen einer metallenen Gedenktafel, die an den hohen Besuch erinnern sollte. Die Tafel fiel mit ihrem ganzen Gewicht auf seine linke Hand und schnitt Ringfinger und kleinen Finger haarscharf von der Mittelhand ab.

Obwohl er seine Arbeit nach einigem Umlernen auch mit drei Fingern ausführen und seine Stelle behalten konnte, fühlte er sich von diesem Tag an minderwertig, als Krüppel. Er hatte das Gefühl, dass alle nur auf seine linke Hand schauten, auch Marie, auch die Kinder. Er wurde unleidlich, hielt es zu Hause nicht mehr aus. Die einzigen, in deren Gegenwart er sich wohlfühlte, waren seine Saufkumpane und die Prostituierten vom Sebastiansplatz. Es waren längst nicht mehr dieselben wie damals, als er sich so blamiert hatte. Die Mädchen trugen jetzt türkische Pluderhosen und rauchten Zigaretten, deren Asche sie mit eleganter Gebärde in eine Blumenvase schnipsten. Manchmal kam ihm Eva in den Sinn und er fragte sich, wo sie wohl gelandet sein mochte. Er besuchte das Bordell weniger aus Gründen der Lust, sondern weil er an alte Zeiten anknüpfen und sich mit den Mädchen unterhalten wollte.

1902 zog die kleine Familie in ein neu erbautes Haus in der Trappentreustraße. Die Wohnung bestand zwar auch nur aus einem Zimmer und einer Wohnküche, aber sie hatte ein eigenes Klo und einen Ausguss im Flur. Auch diese Wohnung musste erst ›trockengewohnt‹ werden, bevor sich ein Gefühl von Erleichterung, ein Gefühl von Luxus einstellen konnte.

Die Trappentreustraße war benannt nach Johann Baptist Trappentreu, dem Braumeister vom Sternecker Bräu im Tal, der im Jahr 1878 für das Westend 9000 Gulden, 100 000 Ziegelsteine, drei Glocken sowie Kupfer fürs Dach der Schrenkkirche gestiftet hatte. Als Adam und Marie dort wohnten, gab es auf der kurzen Strecke zwischen Heimeranplatz und Westendstraße elf Wirtshäuser, angefangen beim »Gasthaus zur neuen Unterfahrt« bis zum »Burenstübl«. Die Wirtshäuser waren noch vor allem anderen dagewesen, vor den Kirchen, den Postämtern, den Schulen und den Geschäften. Es hatte den Anschein, als wollten die großen Brauereien sich das Geld, das sie ihren Arbeitern zahlten, wieder zurückholen, indem sie sich um eine satte Versorgung mit Bier bemühten, von dem es ohnehin hieß, es sei das Brot des armen Mannes.

Die Wirtschaften waren aufgestellt wie Fallgruben, in die die Männer nach der Arbeit fallen sollten, dunkle, süße, klebrige Fallgruben. Halb betäubt vom Dunst dahinschmorenden Sauerkrauts, würzigen Schweinsbratens und polnischer Würste, eingehüllt in den Qualm ihrer Pfeifen, saßen die Männer hinter den grauen Maßkrügen, die mit einem Zinndeckel gekrönt waren, und tranken Karten spielend und laute Reden führend das schäumende Bier. Das Bier machte sie friedlich oder rauflustig, je nach Temperament, aber es vereinte sie in Glückseligkeit. Das Bier ließ sie ihre Dialekte vergessen und mit schweren Zungen Bayrisch daherreden. Es verwischte auch ihre Herkunft, ihre Kümmernisse und die Gedanken an zu Hause, wo die Frau aufs Wirtschaftsgeld wartete. Zu Hause konnte keine Gemütlichkeit aufkommen. Wie denn?

Inmitten der bierseligen Gesellschaft saß auch Adam mit den drei Fingern. Sein Schnurrbart war aufgezwirbelt, denn er hielt auf sich, und die Augen waren vom Rauch gerötet. Nicht, dass er ein dem Alkohol Verfallener gewesen wäre! Er war sich durchaus seiner Pflichten bewusst. Von Zeit zu Zeit zog er seine Taschenuhr aus der Weste, ließ die versilberte Kette durch die Finger gleiten und sagte: »I muaß hoam!«

»A geh, Adam, oa Spui noch.«

Sie spielten Schafkopf oder Skat, und Adam war wohlgelitten, weil er, im Gegensatz zu daheim, ein verträglicher Mensch war, der ab und zu eine Runde Bier zahlte. Wenn er ins Wirtshaus kam, zog er vor jedem Tisch den Hut und sagte: »Habe die Ehre! Habe die Ehre! Habe die Ehre!«