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Ralph Dutli

Fatrasien

Ralph Dutli

Fatrasien

Absurde Poesie
des Mittelalters

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Anonym:
Die Fatrasien aus Arras

1

Frost ohne Kälte

verlieh zu Wucherzinsen

wenig für gar nichts.

Kein Lebewesen

spannte Saphire

aus dem Orient auf die Folter.

Schönwetter aus Regen und Wind

und hellichter Tag bei finstrer Nacht

lieferten sich ein Turnier;

auf einer Handvoll saubersten Drecks

schmolzen sie Kupfer in Dinant.

Jaler sans froidure

Prestoit a usure

Auques por noient.

Nule creature

Metoit em presure

Safirs d’Oriant.

Biau tans de pluie et de vent

Et cler jor par nuit oscure

Firent un tornoyement;

Sor plain poing de neste ordure

Fondoient coyvre a Dynant.

Dinant: Stadt an der Meuse im heutigen Belgien, im Mittelalter bekannt für ihre Kupferwaren.

2

Ein Käse aus Wolle

trägt eine Woche

hin zum Sankt-Remigius-Tag,

und eine Strohpuppe

rannte über die Seine

auf anderthalb Fürzen;

die Welt spaltete sich mittendurch.

Eine Käsemade mit angezapfter Vene

sagte zu ihnen: »Bei meiner Seele,

ich habe einen Scheffel Hafer

in den Arsch einer Ameise gesteckt.«

Fourmage de laine

Porte une semaine

A la Saint Remi,

Et une quintaine

Couroit parmi Saine

Sor pet et demi;

Li siecles parti parmi.

Uns suirons sainiez de vaine

Leur dit:«Par l’ame de mi,

J’ai repost un mui d’avaine

Dedenz le cul d’une fremi».

Sankt-Remigius-Tag: der 1. Oktober, zu Ehren von Saint Rémy (um 437 bis 530 n. Chr.), Bischof von Reims; wichtiger Zahltermin.

3

Ein Brettspiel

besingt einen Kerker

aus hingebungsvoller Liebe.

Ein fliegendes Schloss

nähte mit einer weichen Birne

einen Ofen wieder zusammen.

Sie wären von ihrem Turm gestürzt,

wäre nicht ein Strohballen gewesen,

der sich vor Tageslicht bewaffnete

für ein Würfelspiel,

das den höchsten Turm zu Fall brachte.

Uns giex de nipole

Chante une jaiole

De loial amour.

Uns chastiaus qui vole

D’une poire mole

Recousoit un four.

Ja cheïssent de lor tour,

Ne fust une palevole

Qui s’arma devant le jour

Por le gieu de la grimole,

Qui minoit la maistre tour.

4

Eine Wurst aus Glas

machte ihr Gepäck bereit,

um nirgendwohin zu gehen.

Ein Flame aus Burgund

pupste, um besser zu furzen,

Lateinisches auf griechisch,

und ein Furz auf hebräisch

machte Humpen aus Jouarre;

er stürzte sich in große Unkosten,

als ein kleines Bündel Stroh

ein neues Spiel begann.

Andoille de voirre

Aprestoit son oyrre

Por aler nuleu.

Uns Flamens d’Auçuerre

Vessoit por miex poirre

De latin en grieu,

Et uns pez fait en ebrieu

I faisoit hanas de Juerre;

Molt em faisoit grant aleu,

Qant uns petis faiz de fuerre

Commença un noviau geu.

Jouarre: Kleinstadt, 65 km östlich von Paris.

5

Zwei Wucherer-Ratten

träumten davon,

ein Liedchen zu dichten.

Drei Blaufußfalken

stopften einen Korb voll

mit den »Versen vom Tod«.

Ein Stummer sagt, sie täten unrecht,

denn der Schatten eines alten Böttchers,

der einschläft, um besser zu wachen,

schrie ihnen zu: »Legt eure Rüstung an

und liefert ein erbarmungsloses Turnier.«

Dui rat userier

Voloient songier

Por faire un descort.

Troi faucons lanier

Ont fait plain panier

Des Vers de la Mort.

Uns muiaus dit qu’il ont tort

Por l’ombre d’un viez cuvier

Qui por miex villier s’endort,

Qui cria: »Alez lacier

Por tornoier sanz acort«.

»Verse vom Tod«: von Hélinant de Froidmont, 1197, christliche Mahnung an den Tod in 50 Strophen zu 12 achtsilbigen Versen. Ein Dichter aus Arras, Robert Le Clerc, schuf 1267 ein gleichnamiges Werk mit 312 Strophen. Beide sind Vorläufer der Totentanz-Dichtung des Spätmittelalters. »Vers de la Mort«, ein Wortspiel: Die Pluralform »vers« bedeutet auch »Würmer«.

6

Ein Käse vom Kranich

niest in der Nacht

beim Bellen eines Hundes.

Ein Messer in Keulenform

springt auf und brüllt ihn an,

sagt ihm aber nichts.

Ein Mistkäfer segnet ihn,

als der Rücken eines Blutegels,

der einem Dachbalken die Beichte abnahm,

scheißen muss, so sehr prügelten sie ihn

laut Meinung der Ärzte.

Formaige de grue

Par nuit esternue

Sor l’abai d’un chien.

Uns coutiaus maçue

Saut et si le hue,

Si ne li dit rien.

Uns escharbos li dit bien,

Qant li dos d’une sansue,

Qui confessoit un mairien,

Ja chie, tant l’ont batue,

Dient cil fusicien.

7

Im Winkel einer Möse

sah ich einen Dachs

eine Goldstickerei weben,

und ein kleines Käppchen

lenkte die Landschaft Vermandois

mitten durchs Städtchen Laon.

Ich sagte ihnen auf schottisch:

»Könnte man fette Erbsen machen

aus den Hoden eines Schmetterlings?

Und aus dem Schwanz einer Weinbergschnecke

Schlösser und Glockentürme?«

En l’angle d’un con

La vi un taisson

Qui tissoit orfrois,

Et uns chapperon

Parmi Monloon

Menoit Vermendois.

Je lor dis en escoçois:

«Des coilles d’un papillon

Porroit on faire craz pois?

Et dou vit d’un limeçon

Faire chastiax et beffrois?»

Vermandois: Landschaft nördlich des Pariser Beckens. – Laon: Bischofsstadt auf einem Hügel in der Champagne, mit einer der ersten gotischen Kathedralen.

8

Ein Mörser aus Federn

trank den ganzen Schaum

des weiten Meeres aus,

aber ein Amboss,

der sehr mürrisch war,

tadelt ihn heftig.

Ein Kater fing an zu weinen

so sehr, dass das Meer Feuer fing.

An einem Donnerstag nach Abendbrot

wurde eine Feder gezwungen,

mit vier Säuen Hochzeit zu machen.

Uns mortiers de plume

But toute l’escume

Qui estoit en mer,

Ne mais une enclume

Qui molt iert enfrume

Si l’en va blamer.

Uns chas emprist a plorer

Si que la mer en alume.

Un Juedi aprés souper

La covint il une plume

Quatre truies espouser.

9

Ich sah einen Turm,

der auf einen Streich

bis zu den Wolken flog,

dann sah ich einen Halbtag

in einen Ofen kriechen,

vier Kranichen hinterher;

wenn nicht zwei Keulen

mit einer schweren Armbrust

zwei Nönnchen gefickt hätten,

wären vier zerschlissene Unterröcke

unwiederbringlich gestorben.

Je vi une tour

Qui a un seul tour

Vola duqu’a nues,

Si vi demi jour

Entrer en un four

Aprés quatre grues;

Se ne fussent deus maçues

Qui d’une arbaleste a tour

Orent deus nonnains foutues,

Mortes fussent sanz retour

Quatre cotes descousues.

10

Ich sah ein Kreuz

durch die Provinz um Arras reiten

auf einem Kochkessel,

und eine alte Hecke

lenkte die Landschaft Vermandois

mitten durch einen Stein.

Wäre nicht ein Kirchenfenster gewesen,

hätten zwei Weinbergschnecken, sogar drei,

zehn Engländer gezwungen,

von Paris bis nach Bayern

zu schreien: »Barbara und O-Gott-o-Gott«.

Je vi une crois

Chevauchier Artois

Sor une chaudiere,

Et une viez sois

Menoit Vermendois

Parmi une pierre.

Se ne fust une verriere,

Dui lymeçons, voire trois,

De Paris duqu’en Bauvere

Eüssent fait dix Anglois

Huchier: «Barbe et Godiere».

Barbara: jungfräuliche Märtyrerin und Heilige, im 3. Jahrhundert. Ein Fels tat sich auf, um sie aufzunehmen, als ihr Vater sie verfolgte. Schutzpatronin der Bergwerker und Steinmetzen.

11

Ich sah Saint-Quentin

Saint-Aubin packen

und damit auf Saint-Omer einschlagen,

sah Arras und Blangy

hinter Chauny

ihr Bündel hertragen;

eine Käsemade wollte sie ausrauben.

Wären nicht zwei Küken gewesen,

die ein Engländer ausbrüten sollte,

wäre Saladin verraten worden

am Eingang zum Meer.

Je vi Saint Quentin

Qui de Saint Aubin

Feri Saint Omer,

Arras et Blangi,

Derierre Chauni

Lor trossiax porter;

Uns surons les voust rober.

Se ne fussent dui poucin

C’uns Anglois devoit couver,

Traïs fust Salahadins

A l’entree de la mer.

Saint-Quentin, Saint-Aubin, Saint-Omer: Ortsnamen um Rouen und Beauvais, die weit auseinander liegen und nichts miteinander zu tun haben. – Saladin: Sultan von Ägypten und Syrien (1137-1196), eroberte 1187 Jerusalem zurück, das die Christen seit dem Ersten Kreuzzug 1099 besetzt hielten.

12

Katzen mit abgezogenem Fell

brannten darauf,

Knoblauch zu schälen;

zwei ersoffene Säue

waren deswegen sehr aufgebracht

und ergriffen zwei Prügel.

Wäre nicht ein graues Kälbchen gewesen,

wären zwei verbannte Mäuse,

die aus Cîteaux kamen,

schon längst entschlossen,

Paris nach Meaux zu tragen.

Chates escorchies

Erent enragies

Por peler blans aus;

Deus truies noïes

S’en sont couroucies

S’ont pris deus pestaus.

Se ne fust uns gris veäus,

Deus suris forspaïsies

Qui venoient de Cytiax

Estoient ja conseillies

De porter Paris a Miax.

Cîteaux: im Jahr 1098 von Robert de Solesme gegründete Abtei im Burgund, die zur strikten Befolgung der Ordensregel des Heiligen Benedikt zurückkehren wollte; Ursprungsort des Zisterzienser-Ordens. – Meaux: Bischofsstadt an der Marne, 45 km östlich von Paris.

13

Ein totgeborener Greis

mit einer kurzen Nase

trug eine Mühle.

Ein völlig verdrehter Kater

kleidete sich schön

mit zwei Leinenlaken.

Ein voller Topf Schmalz

hätte sie alle überrumpelt

am Eingang zu einem Garten,

als eine Ratte die Fürze

eines alten Tataren dorthin entführte.

Uns viellars mors nez

Qui avoit court nez

Portoit un molin.

Uns chas bestornés

C’est bien atornés

De deus dras de lin.

Plain possonnet de saïn

Les eüst touz estonnez

A l’entree d’un jardin,

Qant uns ras i a menez

Les pez d’un viez Tartarin.

14

Knoblauchsoße aus Stroh,

Käse aus Brot

und Bohnen aus Erbsen,

und Kiesel aus Korn

und Steine aus Heu

und ein französischer Schotte.

Ein Griechisch sprechender Kater

trug Herrn Alain davon,

was ihm großen Ärger bereitete,

als zwei Affen als Schlossherren

auf der Landschaft Vermandois ritten.

Aillie d’estrain,

Formage de pain

Et feves de pois,

Et kailleus de grain

Et pierres de fain

Et Escot françois.

Uns chas qui parloit griois

Emportoit seignor Alain,

Dont ce fu trop grans anois,

Qant dui singe chastelain

Chevauchoient Vermendois.

Herr Alain: ein Unbekannter, vermutlich lokales Original.

15

Ein Seidenstoff aus Wolle

hatte große Mühe,

eine Erbse zu krümmen.

Dass ihm Blut abgezapft werde,

kam Babylon herbei,

Französisch zu lernen.

Ihm entgegen die Landschaft Vermandois,

die atemlos wieherte

auf einem großen Pferd mit Goldrand.

An einem Tag außerhalb der Woche

ergriffen vierzehn Monate die Flucht.

Uns cendaus de laine

Estoit en grant paine

De corber un pois.

Por sainier de vaine

Venoit Babiloine

Apenre françois.

Encontre vint Vermendois

Qui hanissoit sans alaine

Sor un grant cheval d’orfrois.

Par un jour hors de semaine

S’emfuient quatorze mois.

Babylon: die Stadt in der Bibel (1. Buch Mose, 11, 1-9), wo Gott zur Strafe für die Überheblichkeit der Menschen, die einen himmelhohen Turmbau errichten wollten, die Sprachen »verwirrte«, auf dass »keiner des andern Sprache verstehe«; im Mittelalter oft mit der Stadt Kairo verwechselt.

16

Senf von einer Ente

trug die Stadt Damiette

hinters Abendland hinaus.

Der Schwanzprügel eines Wägelchens

klopfte das Jungfernhäutchen

eines Korbs voller Wind.

Ein Kater, der den Mond verkauft,

springt her und schubst mit dem Ärschchen

zehn Ameisen in ein Kloster,

so dass Paris davonflattert

von Akko bis zum Abendland.

Moustarde d’anete

Portoit Damiete

Derier Occident.

Uns vit de cherete

Batoit l’entrepete

Plain panier de vent.

Uns chas qui la lune vent

Saut avant et si culete

Dix fremis en un couvent,

Si que Paris en volete

D’Acre duqu’en Occident.

Damiette: Stadt im östlichen Nildelta, im 6. Kreuzzug 1249 vom französischen König Ludwig dem Heiligen erobert, der sie jedoch aufgeben musste, um sein Lösegeld zu zahlen, nachdem er in Mansurat geschlagen und gefangengesetzt worden war; heute das ägyptische Dumyat. – Akko: in der Antike Ptolemais, 1104 von Kreuzfahrern erobert, ab 1191 Hauptstadt des als Reststück verbliebenen »Königreichs Jerusalem«, nachdem Jerusalem 1187 durch Saladin wieder muslimisch wurde; heute in Israel.

17

Der Klang eines Blashorns

aß zu saurem Wein

das Herz eines Donners,

als ein toter Schnabel

mit der Vogelfalle

den Lauf eines Sterns einfing.

In der Luft flog ein Roggenkorn,

als das Bellen eines Hechts

und ein Stummel Leinwand

einen Furz beim Ficken fanden

und ihm das Ohr abschnitten.

Li sons d’un cornet

Mengoit a l’egret

Le cuer d’un tonnoire,

Qant uns mors bequet

Prist au trebuchet

Le cours d’une estoile.

En l’air ot un grain de soile,

Qant li abais d’un brochet

Et li tronçons d’une toile

Ont trové foutant un pet,

Si li ont coupé l’oreille.

Das Ohr abschnitten: Strafe, die Vagabunden und Dieben zugefügt wurde.

18

Fette weiche Steine

hielten Schule ab,

um Fürze in den Schlaf zu wiegen.

Zwei alte Zithern

leerten kleine Fläschchen,

um Fliegen auszupupsen.

Ich besitze, was ich begehre.

Jetzt beginnen Ringeltänze

ganz behaglich Lobgesänge

und Kyrieeleison zu singen,

die sie soeben durchgeknetet haben.

Crasses pierres moles

Tenoient escoles

Por pes endormir.

Deus vielles cytoles

Vuidoient fioles

Por mouches vessir.

J’ai bien ce que je desir.

Or commencent les quaroles

Si avoient bon leisir

(…) laus kyrioles

Qui venoient de pestrir.

19

Ein Drache von Hühnchen

wurde zur wilden Bestie,

um an Geld zu kommen.

Ein Hering kämmt sich,

um Hass zu ernten

von ganz verschiedenen Leuten.

Sehr schön und vornehm lebte

ein Jemand, der ihre Absichten kannte.

Ein Kloster schwamm herbei,

das seinen Urin vorgezeigt hatte

von Akko bis zum Abendland.

Dragons de geline

Devenoit ferine

Por avoir argent.

Uns herens se pingne

Por avoir haïne

De dyversses gent.

Molt se vivoit bel et gent

Cil qui savoit lor covine.

Uns mostiers i vint nagant

Qui avoit moustré s’orine

D’Acre duqu’en Ocident.

20

Auf der Erde lebende Aale

machten großes Kriegsgeschrei,

um zur Beichte zu gehen.

Aber England aß

einen ganzen Stein auf,

um seine Seele zu retten.

Ein toter Mann ließ sich hintragen,

und eine Tür, die aufging,

wollte übers Meer fahren

mit einem Rosenkranz aus Efeu

an einem Donnerstag nach Abendbrot.

Anguiles de terre

Fesoient grant guerre

D’eles comfesser,

Ne mais Engleterre

Mengoit une pierre

Por s’ame sauver.

Uns mors hom s’i fist porter,

Et uns huis qui se desserre

Voloit aler outremer

Atout un chapelet d’ierre,

Le juedi aprés souper.

21

Ein Strohballen

machte einen Mühlstein drehen

aus Porphyr-Marmor,

und ein Fressmäulchen

kam aus der Schule

vom – was wohl? – Lesen.

Ein Katzenhut als Arztperson,

soeben aus der Schule zurück,

sagte ihm Gemeinheiten.

Die Nacht schlief mit ihrer Urgroßmutter