Fatrasien
Absurde Poesie
des Mittelalters
Frost ohne Kälte
verlieh zu Wucherzinsen
wenig für gar nichts.
Kein Lebewesen
spannte Saphire
aus dem Orient auf die Folter.
Schönwetter aus Regen und Wind
und hellichter Tag bei finstrer Nacht
lieferten sich ein Turnier;
auf einer Handvoll saubersten Drecks
schmolzen sie Kupfer in Dinant.
Jaler sans froidure
Prestoit a usure
Auques por noient.
Nule creature
Metoit em presure
Safirs d’Oriant.
Biau tans de pluie et de vent
Et cler jor par nuit oscure
Firent un tornoyement;
Sor plain poing de neste ordure
Fondoient coyvre a Dynant.
Dinant: Stadt an der Meuse im heutigen Belgien, im Mittelalter bekannt für ihre Kupferwaren.
Ein Käse aus Wolle
trägt eine Woche
hin zum Sankt-Remigius-Tag,
und eine Strohpuppe
rannte über die Seine
auf anderthalb Fürzen;
die Welt spaltete sich mittendurch.
Eine Käsemade mit angezapfter Vene
sagte zu ihnen: »Bei meiner Seele,
ich habe einen Scheffel Hafer
in den Arsch einer Ameise gesteckt.«
Fourmage de laine
Porte une semaine
A la Saint Remi,
Et une quintaine
Couroit parmi Saine
Sor pet et demi;
Li siecles parti parmi.
Uns suirons sainiez de vaine
Leur dit:«Par l’ame de mi,
J’ai repost un mui d’avaine
Dedenz le cul d’une fremi».
Sankt-Remigius-Tag: der 1. Oktober, zu Ehren von Saint Rémy (um 437 bis 530 n. Chr.), Bischof von Reims; wichtiger Zahltermin.
Ein Brettspiel
besingt einen Kerker
aus hingebungsvoller Liebe.
Ein fliegendes Schloss
nähte mit einer weichen Birne
einen Ofen wieder zusammen.
Sie wären von ihrem Turm gestürzt,
wäre nicht ein Strohballen gewesen,
der sich vor Tageslicht bewaffnete
für ein Würfelspiel,
das den höchsten Turm zu Fall brachte.
Uns giex de nipole
Chante une jaiole
De loial amour.
Uns chastiaus qui vole
D’une poire mole
Recousoit un four.
Ja cheïssent de lor tour,
Ne fust une palevole
Qui s’arma devant le jour
Por le gieu de la grimole,
Qui minoit la maistre tour.
Eine Wurst aus Glas
machte ihr Gepäck bereit,
um nirgendwohin zu gehen.
Ein Flame aus Burgund
pupste, um besser zu furzen,
Lateinisches auf griechisch,
und ein Furz auf hebräisch
machte Humpen aus Jouarre;
er stürzte sich in große Unkosten,
als ein kleines Bündel Stroh
ein neues Spiel begann.
Andoille de voirre
Aprestoit son oyrre
Por aler nuleu.
Uns Flamens d’Auçuerre
Vessoit por miex poirre
De latin en grieu,
Et uns pez fait en ebrieu
I faisoit hanas de Juerre;
Molt em faisoit grant aleu,
Qant uns petis faiz de fuerre
Commença un noviau geu.
Jouarre: Kleinstadt, 65 km östlich von Paris.
Zwei Wucherer-Ratten
träumten davon,
ein Liedchen zu dichten.
Drei Blaufußfalken
stopften einen Korb voll
mit den »Versen vom Tod«.
Ein Stummer sagt, sie täten unrecht,
denn der Schatten eines alten Böttchers,
der einschläft, um besser zu wachen,
schrie ihnen zu: »Legt eure Rüstung an
und liefert ein erbarmungsloses Turnier.«
Dui rat userier
Voloient songier
Por faire un descort.
Troi faucons lanier
Ont fait plain panier
Des Vers de la Mort.
Uns muiaus dit qu’il ont tort
Por l’ombre d’un viez cuvier
Qui por miex villier s’endort,
Qui cria: »Alez lacier
Por tornoier sanz acort«.
»Verse vom Tod«: von Hélinant de Froidmont, 1197, christliche Mahnung an den Tod in 50 Strophen zu 12 achtsilbigen Versen. Ein Dichter aus Arras, Robert Le Clerc, schuf 1267 ein gleichnamiges Werk mit 312 Strophen. Beide sind Vorläufer der Totentanz-Dichtung des Spätmittelalters. »Vers de la Mort«, ein Wortspiel: Die Pluralform »vers« bedeutet auch »Würmer«.
Ein Käse vom Kranich
niest in der Nacht
beim Bellen eines Hundes.
Ein Messer in Keulenform
springt auf und brüllt ihn an,
sagt ihm aber nichts.
Ein Mistkäfer segnet ihn,
als der Rücken eines Blutegels,
der einem Dachbalken die Beichte abnahm,
scheißen muss, so sehr prügelten sie ihn
laut Meinung der Ärzte.
Formaige de grue
Par nuit esternue
Sor l’abai d’un chien.
Uns coutiaus maçue
Saut et si le hue,
Si ne li dit rien.
Uns escharbos li dit bien,
Qant li dos d’une sansue,
Qui confessoit un mairien,
Ja chie, tant l’ont batue,
Dient cil fusicien.
Im Winkel einer Möse
sah ich einen Dachs
eine Goldstickerei weben,
und ein kleines Käppchen
lenkte die Landschaft Vermandois
mitten durchs Städtchen Laon.
Ich sagte ihnen auf schottisch:
»Könnte man fette Erbsen machen
aus den Hoden eines Schmetterlings?
Und aus dem Schwanz einer Weinbergschnecke
Schlösser und Glockentürme?«
En l’angle d’un con
La vi un taisson
Qui tissoit orfrois,
Et uns chapperon
Parmi Monloon
Menoit Vermendois.
Je lor dis en escoçois:
«Des coilles d’un papillon
Porroit on faire craz pois?
Et dou vit d’un limeçon
Faire chastiax et beffrois?»
Vermandois: Landschaft nördlich des Pariser Beckens. – Laon: Bischofsstadt auf einem Hügel in der Champagne, mit einer der ersten gotischen Kathedralen.
Ein Mörser aus Federn
trank den ganzen Schaum
des weiten Meeres aus,
aber ein Amboss,
der sehr mürrisch war,
tadelt ihn heftig.
Ein Kater fing an zu weinen
so sehr, dass das Meer Feuer fing.
An einem Donnerstag nach Abendbrot
wurde eine Feder gezwungen,
mit vier Säuen Hochzeit zu machen.
Uns mortiers de plume
But toute l’escume
Qui estoit en mer,
Ne mais une enclume
Qui molt iert enfrume
Si l’en va blamer.
Uns chas emprist a plorer
Si que la mer en alume.
Un Juedi aprés souper
La covint il une plume
Quatre truies espouser.
Ich sah einen Turm,
der auf einen Streich
bis zu den Wolken flog,
dann sah ich einen Halbtag
in einen Ofen kriechen,
vier Kranichen hinterher;
wenn nicht zwei Keulen
mit einer schweren Armbrust
zwei Nönnchen gefickt hätten,
wären vier zerschlissene Unterröcke
unwiederbringlich gestorben.
Je vi une tour
Qui a un seul tour
Vola duqu’a nues,
Si vi demi jour
Entrer en un four
Aprés quatre grues;
Se ne fussent deus maçues
Qui d’une arbaleste a tour
Orent deus nonnains foutues,
Mortes fussent sanz retour
Quatre cotes descousues.
Ich sah ein Kreuz
durch die Provinz um Arras reiten
auf einem Kochkessel,
und eine alte Hecke
lenkte die Landschaft Vermandois
mitten durch einen Stein.
Wäre nicht ein Kirchenfenster gewesen,
hätten zwei Weinbergschnecken, sogar drei,
zehn Engländer gezwungen,
von Paris bis nach Bayern
zu schreien: »Barbara und O-Gott-o-Gott«.
Je vi une crois
Chevauchier Artois
Sor une chaudiere,
Et une viez sois
Menoit Vermendois
Parmi une pierre.
Se ne fust une verriere,
Dui lymeçons, voire trois,
De Paris duqu’en Bauvere
Eüssent fait dix Anglois
Huchier: «Barbe et Godiere».
Barbara: jungfräuliche Märtyrerin und Heilige, im 3. Jahrhundert. Ein Fels tat sich auf, um sie aufzunehmen, als ihr Vater sie verfolgte. Schutzpatronin der Bergwerker und Steinmetzen.
Ich sah Saint-Quentin
Saint-Aubin packen
und damit auf Saint-Omer einschlagen,
sah Arras und Blangy
hinter Chauny
ihr Bündel hertragen;
eine Käsemade wollte sie ausrauben.
Wären nicht zwei Küken gewesen,
die ein Engländer ausbrüten sollte,
wäre Saladin verraten worden
am Eingang zum Meer.
Je vi Saint Quentin
Qui de Saint Aubin
Feri Saint Omer,
Arras et Blangi,
Derierre Chauni
Lor trossiax porter;
Uns surons les voust rober.
Se ne fussent dui poucin
C’uns Anglois devoit couver,
Traïs fust Salahadins
A l’entree de la mer.
Saint-Quentin, Saint-Aubin, Saint-Omer: Ortsnamen um Rouen und Beauvais, die weit auseinander liegen und nichts miteinander zu tun haben. – Saladin: Sultan von Ägypten und Syrien (1137-1196), eroberte 1187 Jerusalem zurück, das die Christen seit dem Ersten Kreuzzug 1099 besetzt hielten.
Katzen mit abgezogenem Fell
brannten darauf,
Knoblauch zu schälen;
zwei ersoffene Säue
waren deswegen sehr aufgebracht
und ergriffen zwei Prügel.
Wäre nicht ein graues Kälbchen gewesen,
wären zwei verbannte Mäuse,
die aus Cîteaux kamen,
schon längst entschlossen,
Paris nach Meaux zu tragen.
Chates escorchies
Erent enragies
Por peler blans aus;
Deus truies noïes
S’en sont couroucies
S’ont pris deus pestaus.
Se ne fust uns gris veäus,
Deus suris forspaïsies
Qui venoient de Cytiax
Estoient ja conseillies
De porter Paris a Miax.
Cîteaux: im Jahr 1098 von Robert de Solesme gegründete Abtei im Burgund, die zur strikten Befolgung der Ordensregel des Heiligen Benedikt zurückkehren wollte; Ursprungsort des Zisterzienser-Ordens. – Meaux: Bischofsstadt an der Marne, 45 km östlich von Paris.
Ein totgeborener Greis
mit einer kurzen Nase
trug eine Mühle.
Ein völlig verdrehter Kater
kleidete sich schön
mit zwei Leinenlaken.
Ein voller Topf Schmalz
hätte sie alle überrumpelt
am Eingang zu einem Garten,
als eine Ratte die Fürze
eines alten Tataren dorthin entführte.
Uns viellars mors nez
Qui avoit court nez
Portoit un molin.
Uns chas bestornés
C’est bien atornés
De deus dras de lin.
Plain possonnet de saïn
Les eüst touz estonnez
A l’entree d’un jardin,
Qant uns ras i a menez
Les pez d’un viez Tartarin.
Knoblauchsoße aus Stroh,
Käse aus Brot
und Bohnen aus Erbsen,
und Kiesel aus Korn
und Steine aus Heu
und ein französischer Schotte.
Ein Griechisch sprechender Kater
trug Herrn Alain davon,
was ihm großen Ärger bereitete,
als zwei Affen als Schlossherren
auf der Landschaft Vermandois ritten.
Aillie d’estrain,
Formage de pain
Et feves de pois,
Et kailleus de grain
Et pierres de fain
Et Escot françois.
Uns chas qui parloit griois
Emportoit seignor Alain,
Dont ce fu trop grans anois,
Qant dui singe chastelain
Chevauchoient Vermendois.
Herr Alain: ein Unbekannter, vermutlich lokales Original.
Ein Seidenstoff aus Wolle
hatte große Mühe,
eine Erbse zu krümmen.
Dass ihm Blut abgezapft werde,
kam Babylon herbei,
Französisch zu lernen.
Ihm entgegen die Landschaft Vermandois,
die atemlos wieherte
auf einem großen Pferd mit Goldrand.
An einem Tag außerhalb der Woche
ergriffen vierzehn Monate die Flucht.
Uns cendaus de laine
Estoit en grant paine
De corber un pois.
Por sainier de vaine
Venoit Babiloine
Apenre françois.
Encontre vint Vermendois
Qui hanissoit sans alaine
Sor un grant cheval d’orfrois.
Par un jour hors de semaine
S’emfuient quatorze mois.
Babylon: die Stadt in der Bibel (1. Buch Mose, 11, 1-9), wo Gott zur Strafe für die Überheblichkeit der Menschen, die einen himmelhohen Turmbau errichten wollten, die Sprachen »verwirrte«, auf dass »keiner des andern Sprache verstehe«; im Mittelalter oft mit der Stadt Kairo verwechselt.
Senf von einer Ente
trug die Stadt Damiette
hinters Abendland hinaus.
Der Schwanzprügel eines Wägelchens
klopfte das Jungfernhäutchen
eines Korbs voller Wind.
Ein Kater, der den Mond verkauft,
springt her und schubst mit dem Ärschchen
zehn Ameisen in ein Kloster,
so dass Paris davonflattert
von Akko bis zum Abendland.
Moustarde d’anete
Portoit Damiete
Derier Occident.
Uns vit de cherete
Batoit l’entrepete
Plain panier de vent.
Uns chas qui la lune vent
Saut avant et si culete
Dix fremis en un couvent,
Si que Paris en volete
D’Acre duqu’en Occident.
Damiette: Stadt im östlichen Nildelta, im 6. Kreuzzug 1249 vom französischen König Ludwig dem Heiligen erobert, der sie jedoch aufgeben musste, um sein Lösegeld zu zahlen, nachdem er in Mansurat geschlagen und gefangengesetzt worden war; heute das ägyptische Dumyat. – Akko: in der Antike Ptolemais, 1104 von Kreuzfahrern erobert, ab 1191 Hauptstadt des als Reststück verbliebenen »Königreichs Jerusalem«, nachdem Jerusalem 1187 durch Saladin wieder muslimisch wurde; heute in Israel.
Der Klang eines Blashorns
aß zu saurem Wein
das Herz eines Donners,
als ein toter Schnabel
mit der Vogelfalle
den Lauf eines Sterns einfing.
In der Luft flog ein Roggenkorn,
als das Bellen eines Hechts
und ein Stummel Leinwand
einen Furz beim Ficken fanden
und ihm das Ohr abschnitten.
Li sons d’un cornet
Mengoit a l’egret
Le cuer d’un tonnoire,
Qant uns mors bequet
Prist au trebuchet
Le cours d’une estoile.
En l’air ot un grain de soile,
Qant li abais d’un brochet
Et li tronçons d’une toile
Ont trové foutant un pet,
Si li ont coupé l’oreille.
Das Ohr abschnitten: Strafe, die Vagabunden und Dieben zugefügt wurde.
Fette weiche Steine
hielten Schule ab,
um Fürze in den Schlaf zu wiegen.
Zwei alte Zithern
leerten kleine Fläschchen,
um Fliegen auszupupsen.
Ich besitze, was ich begehre.
Jetzt beginnen Ringeltänze
ganz behaglich Lobgesänge
und Kyrieeleison zu singen,
die sie soeben durchgeknetet haben.
Crasses pierres moles
Tenoient escoles
Por pes endormir.
Deus vielles cytoles
Vuidoient fioles
Por mouches vessir.
J’ai bien ce que je desir.
Or commencent les quaroles
Si avoient bon leisir
(…) laus kyrioles
Qui venoient de pestrir.
Ein Drache von Hühnchen
wurde zur wilden Bestie,
um an Geld zu kommen.
Ein Hering kämmt sich,
um Hass zu ernten
von ganz verschiedenen Leuten.
Sehr schön und vornehm lebte
ein Jemand, der ihre Absichten kannte.
Ein Kloster schwamm herbei,
das seinen Urin vorgezeigt hatte
von Akko bis zum Abendland.
Dragons de geline
Devenoit ferine
Por avoir argent.
Uns herens se pingne
Por avoir haïne
De dyversses gent.
Molt se vivoit bel et gent
Cil qui savoit lor covine.
Uns mostiers i vint nagant
Qui avoit moustré s’orine
D’Acre duqu’en Ocident.
Auf der Erde lebende Aale
machten großes Kriegsgeschrei,
um zur Beichte zu gehen.
Aber England aß
einen ganzen Stein auf,
um seine Seele zu retten.
Ein toter Mann ließ sich hintragen,
und eine Tür, die aufging,
wollte übers Meer fahren
mit einem Rosenkranz aus Efeu
an einem Donnerstag nach Abendbrot.
Anguiles de terre
Fesoient grant guerre
D’eles comfesser,
Ne mais Engleterre
Mengoit une pierre
Por s’ame sauver.
Uns mors hom s’i fist porter,
Et uns huis qui se desserre
Voloit aler outremer
Atout un chapelet d’ierre,
Le juedi aprés souper.
Ein Strohballen
machte einen Mühlstein drehen
aus Porphyr-Marmor,
und ein Fressmäulchen
kam aus der Schule
vom – was wohl? – Lesen.
Ein Katzenhut als Arztperson,
soeben aus der Schule zurück,
sagte ihm Gemeinheiten.
Die Nacht schlief mit ihrer Urgroßmutter