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Lukas Bärfuss

Hundert Tage

Lukas Bärfuss

Hundert Tage

Roman

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Für Kaa, immer

Die historischen Tatsachen in diesem Buch sind verbürgt, die handelnden Personen erfunden.

Sieht so ein gebrochener Mann aus, frage ich mich, als ich ihm gegenübersitze und draußen der Schnee einsetzt, der seit Tagen erwartet wird und nun in feinen Flocken auf die grünbraunen Felder und in den Nachmittag fällt. Was genau gebrochen sein könnte, ist schwierig zu sagen – das Rückgrat jedenfalls nicht. Er sitzt aufrecht, wählt seine Worte mit Bedacht und ohne Hast, wirkt beinahe entspannt. Nur wie er die Tasse zum Mund führt, gemächlich, ein wenig zu gemächlich, zu geführt, könnte ein Hinweis auf seine innere Zerrüttung sein. Vielleicht fürchtet er, ein verschütteter Tropfen könnte ihn aus dem Gleichgewicht bringen. Ich weiß, ich müsste nicht mutmaßen, denn er ist ein gebrochener Mann, muss einer sein, nach allem, was er erzählt und – was noch wichtiger ist – nach allem, was er mir verschweigt.

Manchmal hält er in seiner Rede inne, oft mitten im Satz. Ich sehe in seinen Augen, wie er sich erinnert, nur erinnert und nicht spricht, vielleicht, weil er keine Worte dafür hat, sie noch nicht gefunden hat und wohl auch nicht finden will. Es scheint, als würden seine Augen den Ereignissen folgen, den Ereignissen in Haus Amsar, wo er die hundert Tage verbracht hat. Das Erstaunlichste an dieser Geschichte ist, dass gerade er sie erlebt hat, einer, der nicht dazu bestimmt schien, irgendetwas zu erfahren, das über das gewöhnliche Maß menschlicher Katastrophen hinausgeht: eine üble Scheidung, eine schwere Krankheit, ein Wohnungsbrand als Äußerstes. Aber ganz gewiss nicht, in die Wirren eines Jahrhundertverbrechens zu geraten. Nicht dieser Mann, nicht David Hohl, der mit mir zur Schule gegangen war und in dem ich noch den hoch aufgeschossenen Knaben erkenne, mit seiner leicht hängenden Unterlippe, von der sich, wenn ihn etwas zum Staunen bringt, ein Speichelfaden zu lösen scheint, obwohl das natürlich nie eintritt. Bloß ein wenig feucht ist diese Lippe, der man deutlicher als anderen ansieht, was Lippen tatsächlich sind, nach außen gestülpter Mundinnenraum nämlich.

Als Kind war er kein Draufgänger, hat niemals größeren Ärger riskiert, nicht aus Feigheit – die meisten Abenteuer und Mutproben schienen ihm einfach nicht lohnenswert. Ein durch und durch besonnener Bursche – abgesehen von seinen drei, vier Anfällen, aber die liefen außer Konkurrenz, einfach weil sie so selten vorkamen und man sich erst an den letzten erinnerte, als David schon erblasste, verdächtig still wurde, um gleich darauf rot anzulaufen und seine Flüche hervorzupressen und eine Schandrede auf die Ungerechtigkeit der Welt anzustimmen, in Worten, die man einem Jungen von zehn, zwölf Jahren nicht zugetraut hätte. Er besaß ein ausgeprägtes Gerechtigkeitsempfinden, um es vorsichtig auszudrücken, und es schien losgelöst von jener Vernunft zu funktionieren, die ihn sonst auszeichnete, keine Folge einer durchdachten Weltsicht zu sein, sondern reine Empfindung, ein Affekt. Ich erinnere mich, wie er sich von ein paar Kerlen aus den oberen Klassen windelweich prügeln ließ, bloß weil er zufällig gehört hatte, wie sie sich abfällig über einen Mitschüler ausließen, und er der Ansicht war, so etwas gehöre sich nicht. Nach der Pause setzte er sich mit der blutigen Nase an sein Pult, und als ihn der Lehrer zum Waschbecken schickte, weigerte er sich aufzustehen und meinte, er schäme sich nicht für seine Verletzung.

Wir hatten keine Ahnung, was ihn antrieb, aber wir vermuteten, David wolle mit seinem heldenhaften Einstehen für die gerechte Sache Eindruck schinden, vor allem bei den Mädchen. Und beunruhigenderweise hatte er damit Erfolg, weswegen wir ihn zwar für verrückt, aber nicht für vollkommen übergeschnappt hielten. Vielleicht hat ihn diese charakterliche Besonderheit in die späteren Schwierigkeiten gebracht, und ich frage ihn, ob er sich als Kämpfer für die Gerechtigkeit gesehen habe. Er lächelt und nimmt einen Schluck Kaffee, bevor er spricht, als bekenne er, einmal an fliegende Untertassen oder die Existenz von Atlantis geglaubt zu haben.

Ich habe an das Gute geglaubt, ich wollte den Menschen helfen wie alle von der Direktion, und nicht nur, um einen Einzelnen aus der Misere zu ziehen, sondern um die Menschheit weiterzubringen. Entwicklung hieß für uns nicht nur Entwicklung der Wirtschaft, Bau von Straßen, Aufforstung. Es war für uns die Entwicklung des menschlichen Bewusstseins hin zur universellen Gerechtigkeit.

Aber das erklärt nicht, weshalb du geblieben bist, wage ich einzuwenden, warum du nicht mit den anderen geflohen bist, als klar war, dass die Sache in einem Blutbad enden würde.

Er schaut hinaus in das Schneetreiben, jede Flocke ein Gedanke, und sagt, so sicher war das für mich nicht. Und ich wollte bei Agathe bleiben, aber manchmal denke ich, es lag nur an Pauls Schuhen. Wanderschuhe, mit roten Schnürsenkeln, gewichst, mit starkem Profil, Schuhe, die einen überall hintragen, auf die höchsten Gipfel, durch die tiefsten Schluchten. All die Jahre hatte der kleine Paul stets Sandalen getragen, feste, mit dicker Sohle, aber eben doch Sandalen, die auf ihre Weise ausdrückten, wie groß sein Vertrauen in dieses Land war. Keiner hatte etwas zu befürchten, nicht einmal die Füße. Und drei Tage vor unserer Evakuierung sah man ihn plötzlich in Wanderschuhen, die ihn heil aus diesem Land bringen sollten, und ich schämte mich bei dem Gedanken, dass die ganzen Jahre für den Notfall dieses gut gewichste Paar Schuhe in seinem Haus bereitgestanden hatte. Wir taten so, als wären die Ereignisse unvorhersehbar gewesen, als wäre aus heiterem Himmel die Hölle losgebrochen, aber dieser kleine Mann da, mein direkter Vorgesetzter, hatte seine Schuhe. Er war vorbereitet. Er hat es kommen sehen. Er hat gewusst, dass Sandalen eines Tages nicht mehr genügen würden, und hat sich ein Paar Wanderschuhe bereitgestellt. Für mich war es Verrat. Die Berechnung, die in der Wahl seines Schuhwerks zum Ausdruck kam, seine Planung in diesem Chaos, das nebenbei gesagt nur aussah wie ein Chaos, aussehen sollte wie eines, in Wahrheit aber eine perfekt organisierte Hölle war, ausgedacht, vorbereitet, durchgeführt, verletzte meine Ehre. Ich wollte kein Feigling in guten Schuhen sein, und als der Augenblick gekommen war, als ich die Tür von Haus Amsar verriegelt hatte und schon fast auf dem Weg zur Botschaft war, wo sie bereits warteten, da bin ich hinters Haus gegangen, bin hinters Notstromaggregat geschlüpft und habe mich nicht geregt. Der Konvoi würde Kigali um zwölf Uhr mittags in Richtung Bujumbura verlassen. Ich musste ein paar Stunden durchhalten, sie würden nicht warten können, der Boden war zu heiß geworden. Ich habe mich mit einer Wasserflasche und einer Schachtel Käsecracker in die Nische gedrückt, und irgendwann ist jemand gekommen. Hat nach mir gerufen, und beinahe hätte mich der Bussard verraten, weil er sich auf das Aggregat setzte und aufgeregt schrie, aber ich rührte mich nicht, und nach ein paar Minuten hörte ich, wie sich die Schritte auf der gekiesten Auffahrt entfernten. Dann war ich alleine. Ist es nicht erstaunlich, wie einfach das Konzept des Versteckens ist, wie einfach und wirkungsvoll?

Vor dem Fenster fallen die Flocken nun dichter, die dunklen Felder sind an manchen Stellen schon weiß bestäubt, wie ein Kuchen, den man noch warm mit Puderzucker bestreut. Eine elende Gegend, meint David, aber auch nicht elender als andere. Immerhin steht man sich hier nicht auf den Füßen, und antwortet damit auf eine Frage, die ich mir längst gestellt habe, warum er nämlich hierher gezogen ist, in das raue und feuchte Klima der Jurahöhen, wo die Winter hart sind und schneereich. Er sei einige Jahre durch das Land vagabundiert, hat er mir erzählt, habe nach einem Flecken gesucht, wo er in Ruhe leben könnte, aber nach ein paar Monaten sei er weitergezogen, von einem möblierten Zimmer in das nächste, und jetzt ist er hier, in einem von dunklen Tannen bestandenen Längstal, über das die kontinentalen Winde ziehen, ohne die kalte Luft aufzuwirbeln, die sich als Kältesee über das Land senkt, ein quadratkilometergroßer Eisschrank.

Ich wartete, bis es dunkel war, und dann schlich ich ins Haus. Wir hatten die Fenster unserer Häuser mit Brettern vernagelt, und ich beließ sie fürs Erste so und machte mich daran, ein Inventar zu erstellen. Viel besaß ich nicht, was in dieser Lage von Nutzen ist. Kaum Wasser, ein paar Dosen Baked Beans von Heinz, ein halbes Dutzend Kerzen, Zündhölzer, damit hatte es sich. Ich war deswegen nicht beunruhigt. Ein paar Tage bloß musste ich durchhalten, bis ich Agathe gefunden hatte, und dann würde sich alles Weitere finden. Sie sollte sehen, dass sie sich geirrt hatte und ich nicht weggerannt war, wie sie immer vorausgesagt hatte. Eines Tages wird die große weiße Maschine kommen, wie ein Engel im Himmel erscheinen und euch alle mitnehmen und fortbringen – das hat sie gesagt. Aber schon nach der ersten Nacht hatte ich die Hose voll. Sah meinen Fehler ein und wollte nur noch aus Kigali verschwinden. Ich wusste von einer Maschine der Air France, die am folgenden Sonntag die letzten Europäer ausfliegen sollte, und ich würde in diesem Flugzeug sitzen. Mit Agathe, der ich über meinen Gärtner Théoneste eine Nachricht in die Avenue de la Jeunesse bringen ließ. Ich packte, ich wusste, sie würde kommen. Dieser Spuk bliebe eine Episode in unserem Leben, über die wir schon bald unsere Scherze treiben würden. Doch sie kam nicht. Und ich blieb in Haus Amsar, hundert Tage blieb ich dort, und manchmal sitze ich immer noch in jenen Mauern, und die Angst befällt mich wieder, ich höre Schreie und den Kriegslärm, fühle den Hunger wieder und den Durst.

Théoneste versorgte mich alle paar Tage mit Wasser, brachte etwas gekochten Reis und manchmal eine Flasche Bier. Er war gut zu mir, auch wenn er nicht gut zu anderen war, aber das wusste ich da noch nicht. Wir spielten auf der Veranda Tufi, er brachte mir die Neuigkeiten über den Frontverlauf, über die Flüchtlingsströme und hin und wieder ein Gerücht, etwa dass Agathe die Stadt verlassen habe oder im Militärlager die Verwundeten pflege – das Gerede wechselte von Tag zu Tag. Sicher war nur, dass ihr Haus, der Stammsitz ihrer Familie, schon in den ersten Apriltagen von einer Granate getroffen worden war, aber niemand wusste, ob es Tote oder Verletzte gegeben hatte.

In den Ruinen hausten Flüchtlinge aus dem Norden, und wenn ich tagsüber auf das Dach stieg, konnte ich jenseits der Sümpfe des Nyabugogo die Stellungen der Rebellen sehen. Mit jedem Tag kamen sie näher, die Regierungstruppen kontrollierten nur noch die zentralen Hügel mit der Gendarmerie, dem Militärlager und den Ministerien, und es war klar, dass sie Kigali nicht würden halten können. Die Übergangsregierung verließ die Hauptstadt in den ersten Tagen nach dem Abschuss der Präsidentenmaschine, und genau genommen gab es für die Truppen nichts mehr zu verteidigen. Sie hielten bloß die Stellung, damit die Milizen mit ihrer Arbeit fortfahren konnten.

Und an dieser Stelle verstummt David, blickt sich in seiner Wohnung um, als könnte im nächsten Augenblick jemand aus dem Dunkel treten, das sich mehr und mehr ausbreitet.

Aber ich hatte andere Probleme. Théoneste tauchte manchmal tagelang nicht auf, und dann brachte er eine kleine Schüssel Reis, ein paar getrocknete Bohnen, die ich einlegen und dann roh essen musste. Ich stellte Töpfe in den Garten, um den Regen zu sammeln – aber es war in diesen Tagen nicht gut, in den Garten zu gehen. Gar nicht gut. Es roch wie bei der Kadaversammelstelle im Lerchenfeld, erinnerst du dich, wo man die tote Katze hinbringen musste, oder das Rind, das die Geburt seines ersten Kalbes nicht überlebt hatte. So roch es, nur unvergleichlich stärker, es war, als säße man selbst in einer der Wannen, in die sie damals die Kadaver legten. Anfangs hielt ich es keine Minute aus, ohne mich zu übergeben. Selbst im Haus war es zu riechen, und ich musste mich zwingen, das Regenwasser zu trinken. Ich hatte von den Leichen gehört, die den Nyabarango hinunter trieben, und ich wurde die Vorstellung nicht los, das Wasser, aus dem wir Menschen zu einem Großteil bestehen, könnte mitverdunsten. Der Regen bestand aus Leichenwasser, und ich hätte viel dafür gegeben, es wenigstens abkochen zu können.

Der Hunger und der Durst waren nicht das Schlimmste, das Schlimmste war die Dunkelheit, die Nacht, die pünktlich um sechs Uhr abends über das Land fiel und mich zudeckte, wie etwas Physisches, wie ein Tuch oder ein Schwall Pech. Das nächste sichtbare Licht war das der Sterne, und wäre ich ein Wanderer gewesen auf der Suche nach einem Nachtlager, ich hätte mich an sie halten müssen, an den Prokyon im Kleinen Hund, an Ras Alhague im Sternbild des Schlangenträgers. Ich war nicht haushälterisch, schon bald hatte ich meinen Vorrat an Kerzen aufgebraucht und verbrachte die Nächte in vollkommener Finsternis. Es war, als würde ich jeden Abend in ein Fass schwarzer Tinte getaucht, und wenn zwölf Stunden später die Sonne aufging, stechuhrengleich am Horizont, blieb ich als schwarzer Fleck übrig, ein wandelnder Teerbatzen. Ich wagte nicht, in den Spiegel zu blicken, ich fürchtete, die Finsternis sei an mir kleben geblieben wie der Ruß unter den Augen eines Minenarbeiters, wenn er nach seiner Schicht aus dem Schacht steigt.

Wir sind nicht gemacht für diese Nächte, ich und alle anderen von der Direktion, wir entstammen der Zone der Dämmerung. Wir bedürfen der Übergänge, des Zwielichts, wir sind auf die Rhythmen des Lichts angewiesen, die unser Leben begleiten, einmal mit fahlem Sonnenschein zu Beginn des Herbstes, ein andermal mit harten Schatten wie im April. In unseren Breiten kann man nie mit letzter Sicherheit sagen, ob zu einer bestimmten Stunde noch Morgen oder vielleicht schon Mittag ist. Wann beginnt die Nacht, und wann endet sie? Wir bewegen uns im Ungefähren, aber dort, zwei Breitengrade südlich des Äquators, gewährt die Sonne keinen Spielraum. Die Nacht fällt wie ein Fallbeil, ohne Dämmerung, bloß ein kaum merkliches Torkeln der Sonne kündigt das Ende des Tages an. Die Natur dreht den Schalter um, kein Moment wird gestundet, und kein Zwielicht gestattet, dass du auch nur eine Minute schindest. Vom ersten Augenblick an herrscht eine vollkommene, diskussionslose Dunkelheit, und das ist es, was Europäer zermürbt. Mir kam es manchmal vor, als läge ich im Innern der Erde, als säße ich in einem stinkenden Ungeheuer, das dann und wann einen Rülpser von sich gab, mit lautem Furz Verdauungsgase abließ, die all den verschlungenen Leichen entstiegen. Der nächtliche Kriegslärm kümmerte mich nicht, im Gegenteil, er war mir vertraut, schließlich sind wir damit aufgewachsen, nicht wahr, sagt David und steht auf. Und ich erinnere mich an die endlosen Panzerkolonnen, die auf der Landstraße in die Berge fuhren, an das Donnern der Haubitzen, das Knattern der Maschinengewehre vom Übungsplatz. Wenn man wie David und ich in einer Garnisonstadt aufwächst, besorgt man sich sein Spielzeug im Zeughaus – die Funkerbatterien mit einer Spannung von hundertundzwei Volt, von denen wir immer zwei mit Isolierband zusammenklebten und in die Elritzenschwärme warfen. Einen Moment lang trieben sie bäuchlings, wir schöpften sie aus dem Wasser und warfen sie an Land, wo sie wieder zu sich kamen, hilflos zuckend, bis Kiesel an ihren silbrigen Bäuchen klebten. Wir wussten nie, was wir mit dem Fang anstellen sollten, die Elritzen waren zu klein, man konnte sie nicht essen. Manchmal machten wir uns mit den Taschenmessern an ihnen zu schaffen, drückten auf ihnen herum, bis die Därme aus dem Leib spritzten, manchmal, großherzig, warfen wir sie zurück in den See.

Er steht auf, dreht eine Herdplatte an, auf der ein Topf steht, und während er wartet, bis das Essen warm ist, trägt er Teller und Besteck auf. Die kleine, vom Fett gelbe Lampe am Dampfabzug ist das einzige Licht im Raum, und draußen wird die Welt nun blau, während es weiter schneit und ein weißes Vlies das Fensterbrett bedeckt. David schöpft mit einer Suppenkelle, und ich sehe, es sind Kutteln, die er auftischt, fertig zubereitet beim Metzger gekauft, die besten Kutteln, die er je gegessen habe, wie er beteuert, bevor er herzhaft zugreift, mit einem beinahe unanständigen Appetit seine Portion verschlingt. Ich hätte erwartet, dass er nach allem, was er erlebt hat, vegetarisch leben würde, er aber isst nicht nur Fleisch, er isst sogar Innereien, Kuhmagen, und ich frage mich, ob er mir damit etwas zu verstehen geben will, über seine Konstitution vielleicht, seine Unversehrtheit, dass ihn die ganze Sache, so schrecklich sie auch gewesen sein mag, nicht daran hindert, Eingeweide an einer roten Soße zu essen.

Nein, fährt David fort, nachdem er sich den Mund abgewischt hat, der Kriegslärm hat mich nicht gekümmert, übel war einzig das Geschrei der Milizen. Von Tagesanbruch bis Sonnenuntergang dröhnte ihr Grölen von der Avenue des Grands Lacs, wo sie eine Straßensperre errichtet hatten, dazu die stupiden Melodien Simon Bikindis, zu deren ewig gleichen Rhythmen sie ihr Handwerk verrichteten, solange die Sonne ihnen Licht gab. Denn kaum wurde es dunkel, flohen sie in ihre Häuser und überließen die Straßen den regulären Truppen. Die Mörder fürchteten sich vor der Dunkelheit – das war der feine Humor, den Kigali in jenen Tagen zu bieten hatte.

In der ersten Zeit hielt ich tagsüber die Läden geschlossen, aber dann teilte mir Théoneste mit, dass die Milizen längst über den Umuzungu Bescheid wüssten, der in Haus Amsar festsitze. Er habe ihnen gesagt, dass ich Schweizer und also auf ihrer Seite sei. Wäre ich Belgier gewesen, sie hätten mich ohne viel Federlesen totgeschlagen, aber diese Mörder, die jeden umbrachten, der in seiner Identitätskarte unter Ubwoko die falschen drei Einträge gestrichen hatte, hielten mich für einen Verbündeten ihrer Sache, einen Mitarbeiter wie alle Schweizer in den dreißig Jahren zuvor, seit wir in dieses Land gekommen waren. Warum sollte sich daran etwas geändert haben, nur weil sie jetzt Frauen die Brüste abhackten und Schwangeren die ungeborenen Kinder aus dem Leib schnitten? Schließlich waren wir es gewesen, die ihnen die Verwaltung beigebracht hatten, das Wissen, wie man eine Sache von dieser Größe angeht, und es spielt keine wesentliche Rolle, ob man Ziegelsteine oder Leichen abtransportiert. Ja. Sie ließen mich in Ruhe.

Ich weiß nicht, ob ich Agathe je geliebt habe. Vielleicht habe ich in den vier Jahren, die ich sie kannte, auch nur versucht, unsere erste Begegnung zu vergessen, diese Verletzung zu tilgen, die sie mir zugefügt hat, damals, am Flughafen in Brüssel. Sie sollte begreifen, dass ich nicht der dumme Junge war, für den sie mich gehalten hatte, als ich mich bei der Passkontrolle für sie einsetzte.

Es war meine allererste Flugreise, Ende Juni neunzehnhundertneunzig. Ich war auf dem Weg, meinen Posten bei der Direktion in Kigali anzutreten. Man erwartete mich, und wie ich hörte, gab es eine Menge Arbeit, weil mein Vorgänger eine ziemliche Unordnung hinterlassen hatte. Ich reiste in offizieller Mission. Ich fühlte mich wichtig. Und da ich, aus Zürich kommend, in Brüssel in die Maschine der Sabena umsteigen musste, hatte ich die belgische Passkontrolle zu passieren. Da stand sie. Eine afrikanische Frau in europäischer Garderobe, Caprihosen, die ihre schlanken Fesseln sehen ließen, offene Schuhe, rot lackierte Zehennägel, etwas, das ich noch nicht allzu oft gesehen hatte. Unter den Arm hatte sie einen neckischen Sonnenschirm mit einem Entenkopf als Knauf geklemmt. Es gab Probleme mit ihren Papieren, das heißt, ihr Pass war vollkommen in Ordnung, wie ich später erfuhr, das Problem war ihre Nationalität, und die belgischen Zöllner schikanierten sie einzig aus diesem Grund: weil sie Staatsbürgerin einer ehemaligen Kolonie war. Sie blätterten wieder und wieder in den Papieren, stellten aufdringliche Fragen. Einer der beiden, der mit den dicken Tressen und dem Trinkergesicht, verschwand für lange Minuten. Die Leute hatten sich längst in eine andere Reihe gestellt, nur ich war stehen geblieben und blieb es weiterhin, bewegte mich nicht, weil ich die Frau nicht diesen Scheusalen überlassen wollte. Sie selbst blieb gelassen, ließ die Sache an sich vorbeigehen, aber ich geriet von Minute zu Minute mehr in Wallung, und während ich noch zögerte, ob ich nicht besser hinter der Linie bleiben sollte, so wie es mir die blatterige Schrift auf dem Fußboden befahl, ließ der eine Zollbeamte jenen niederträchtigen Ausdruck aus der portugiesischen Sklavenhändlersprache hören, dessen Ursprung und Bedeutung ich weniger als einen Monat zuvor im Ausreisekurs, im Modul zur interkulturellen Kommunikation, gelernt hatte, ein Schimpfwort, das Identität durch Pigmentierung herstellt.

Vor meinem inneren Auge erschienen die drei Totenköpfe, mit denen dieser Begriff auf dem Arbeitsblatt gekennzeichnet gewesen war, zum Zeichen der vollständigen Tilgung aus dem Wortschatz eines Mitarbeiters der Direktion für Entwicklungszusammenarbeit und humanitäre Hilfe.

Damit war der Kriegsgrund gegeben, die gelbe Linie wurde zum Rubikon, und ich überschritt ihn im nächsten Moment ohne das geringste Zögern. Ich würde den rassistischen Idioten klarmachen, dass andere Zeiten angebrochen waren. Auch nach dreißig Jahren hatten diese grau uniformierten Scheusale den Verlust ihrer Kolonien nicht überwunden, und ich hatte von ihren Museen gehört, draußen vor den Toren Brüssels, in Tervuren, erbaut von Leopold dem Zweiten, dem Vater aller rassistischen Scheusale. Dort huldigten sie unverhohlen den Verbrechen der Force Public, nannten den Meuchelmörder Stanley einen großen Mann und zeigten den Koffer seiner Kongoreise als Reliquie in einer Heldenvitrine. Sollten sie das tun, aber sie mussten merken, dass sie das Weltgewissen gegen sich hatten, und ich fürchte, dass ich in unserer Muttersprache einige Flüche in ihre Richtung schleuderte.

Im nächsten Augenblick wurde ich von zwei vorher unsichtbaren Sicherheitsbeamten gepackt und in die Luft gehoben, was nicht nur schmerzte, sondern mir in den nächsten Tagen und Wochen die Lebensfreude nehmen sollte und schließlich sogar meine Mission gefährdete. Wenn ich ehrlich bin: Was als Schatten über den vier Jahren lag, die ich in Kigali verbrachte, war nicht dieser rüde Griff, nicht die Brutalität, mit der die Männer mich in eine entfernte Ecke des Flughafens zerrten – es war das Gesicht der schönen Afrikanerin, um die Nase von Sommersprossen gesprenkelt, hellgraue Augen, darüber Brauen, die geschwungen waren wie zwei Bassschlüssel. Ich blickte nicht länger als eine Sekunde in dieses Gesicht, und im ersten Viertel dieser langen Sekunde konnte ich ihren Blick nicht deuten, ihre Augen schauten unbeteiligt wie zuvor. Im zweiten Viertel machte sich ein Lächeln breit, stolz, voller Verachtung für die Welt, was mich aufmunterte und bestärkte. Ich wollte ihr mit einem Augenaufschlag zu verstehen geben, dass sie sich keine Sorgen machen musste; selbst wenn sie mich dem Henker zuführten, sei die Verteidigung der Menschenwürde dieses Opfer zehn Mal wert.

Doch irgendetwas missdeutete ich an diesem Blick, denn die beiden letzten Viertel dieser langen Sekunde enthüllten, wie die Frau in Wahrheit dachte. Ihre Verachtung betraf nicht die Welt, sie betraf allein mich. Und um dies zu verdeutlichen, drückte sie die Zunge an die obere Zahnreihe, erzeugte am Gaumen einen Unterdruck und ließ im selben Augenblick die Luft einströmen, worauf dieses Schnalzen ertönte, der internationale Laut der Missbilligung. Sie hielt mich für den Idioten, nicht etwa die Zollbeamten, die ihr abschätziges Grinsen übernommen hatten und mich anfeixten wie den letzten Dummkopf. Selbst der Entenkopf an ihrem Schirm verhöhnte mich, und dann wurde ich an den gaffenden Reisenden vorbei durch die Sicherheitsschranke gezerrt.

Sie warfen mich in eine handtuchgroße Zelle, eine Koje, in der zwei Stühle und ein Tisch standen. Ich schwitzte vor Erregung. Nie in meinem Leben hatte ich eine größere Ungerechtigkeit erfahren. Zudem vermisste ich meinen Koffer, aber als ich mich etwas beruhigt hatte, sagte ich mir, dass sich die Sache bestimmt schnell klären werde. Ich war ja nicht irgendein Reisender, ich war ein Mitarbeiter des Außendepartments, der Direktion, ein Administrator, unterwegs in offizieller Mission. Und ich hatte Zeit, mein Anschlussflug ging erst in zwei Stunden.

Doch es kam niemand, dem ich mich erklären konnte. Kein Beamter erschien, nicht nach einer, und auch nicht nach anderthalb Stunden. Und erst als die Minute gekommen war, da mein Flieger abheben sollte und dann natürlich weg war, entdeckte ich, dass die Tür zu meiner Zelle kein Schloss hatte. Ich drückte die Klinke, die Tür öffnete sich, und vor mir stand, wie ein treuer Hund, mein brauner Koffer. Ich trat hinaus in den Korridor, es war niemand zu sehen, und ich ging in die Richtung einer Glastür, die hinaus ins Freie führte. Da stand ich nun auf einem Dienstparkplatz am Brüsseler Flughafen, über mir zog dröhnend eine Maschine der Sabena in den Himmel, und ich fand, ich bedürfe nun der diplomatischen Fürsorge.

Ein Taxi brachte mich zur Schweizer Vertretung. Der Botschaftsrat, ein gepflegter Mann mit großen Zähnen, die er nach jedem Satz zu einem Lächeln entblößte, nahm sich meiner an. Dies sei nicht das Ende der Welt, tröstete er mich, und auch nicht das Ende meiner Karriere. Er gab mir Geld zur Überbrückung der nächsten Tage, bis der nächste Flug nach Kigali ging, und buchte für mich ein bescheidenes Hotelzimmer. Gleich Montag früh wollte er den Kollegen in Kigali Bericht erstatten. Der Mann war so freundlich, mich mit touristischen Tipps zu versorgen, aber ich hatte keine Lust, das Atomium oder die Musées Royaux des Beaux-Arts anzusehen.

Die Schrunden an den Oberarmen verheilten rasch, doch die Kerbe, die diese Frau in meine Seele geschlagen hatte, schmerzte lange. Ich war vierundzwanzig Jahre alt, und ich hatte die Autoren der Négritude gelesen, Césaire und Senghor und wie sie alle heißen. Roots von Haley, über die Suche nach seinen Vorfahren, die als Sklaven aus Gambia nach Nordamerika verschleppt wurden: Dieses Buch war meine Bibel. Ich hatte die Leiden der Verschleppten miterlitten, die Knechtung, die tausendundeine Spielart der Unterdrückung. Durch die Lektüre hatte ich begriffen, weshalb man den Anfängen wehren musste und sich Zivilcourage nie auf einen passenderen Zeitpunkt verschieben ließ. Sie war jetzt gefordert, im Augenblick des Unrechts, und es lag nur an der Feigheit eines jeden Einzelnen, die diese Welt in weiten Teilen zu einem Schweinekübel machte. Daran glaubte ich mit jeder Faser meines Herzens, aber was waren diese Ideale wert, wenn die Schwachen sich nicht helfen lassen wollten und die Hand zurückwiesen, die ich ihnen reichte?

In meinem Hotelzimmer, das ich während der folgenden Woche nur verließ, um im Restaurant an der Ecke eine hastige Mahlzeit zu verzehren, zerbrach ich mir den Kopf über meine Zukunft, und ich weiß noch, wie ich am ersten Abend ein Bad einließ, um mir die erlittene Schande vom Leib zu waschen. Es würde wohl das Beste sein, diese Afrikaner in ihrer Scheiße sitzen zu lassen, stattdessen Menschen zu suchen, die meinen Einsatz zu schätzen wussten. In Osteuropa brachen zu jener Zeit die Imperien wie Kartenhäuser zusammen, und weshalb? Weil die Menschen aufbegehrten. Weil sie nicht still waren. Wer sich nicht gegen das Unrecht erhebt, der hat dieses Unrecht verdient, das war meine Überzeugung, derer ich mich immer wieder versicherte, denn in meinem Kopf dröhnte dieses höhnische Schnalzen. Das erstbeste aufgetakelte Fräulein hatte meine Ideale gemeuchelt. Was hätte diese Frau ein Zeichen gekostet, eine winzige Geste der Wertschätzung? Im Moment, als jemand schwächer war als sie, hatte sie sich auf die Seite der Starken geworfen, auf die Seite der Unterdrücker. Ihretwegen saß ich in einer mir feindlich gesinnten Stadt, einer verkommenen, fetttriefenden Ansammlung vergammelter Häuser, in einem lausigen Hotelzimmer, einer zu kurzen, kalkfleckigen Badewanne. Ich tröstete mich, indem ich mir einredete, dass sie überhaupt keine Afrikanerin sei. Keine richtige. Bestimmt war sie von irgendwelchen Innenarchitekten adoptiert worden, die sich ein schokoladenbraunes Baby ins Interieur stellen wollten. Ihr war das fehlende soziale Bewusstsein nicht vorzuwerfen; sie verleugnete ihre Herkunft wie jeder Paria, der zum Parvenü geworden ist, und im Moment, als sie akzeptiert hatte, dass man sie Negerin nannte, war sie genau dazu geworden, zu einem Menschen, der jede Selbstachtung verloren hatte. Als ich den Stöpsel zog, sah ich ihr Gesicht vor mir, ein unglückseligerweise schönes Gesicht, und in Gedanken schimpfte ich sie eine Negerin, verschämt zuerst, dann deutlicher, bis meine Lippen das Wort formten, noch ohne Atem, bis ich schließlich wagte, diesem Laut eine Stimme zu geben. Negerin. Negerin. Negerin.

David wiederholt das böse Wort wie eine Beschwörung, er beugt sich über den Tisch, bevor er sich wieder zurücklehnt, in das fahle, immer spärlicher werdende Licht des Zimmers. Er wirkt blass, farblos, eine graue Gestalt, und es fällt mir nicht schwer, ihn mir in dieser Badewanne vorzustellen, fröstelnd, alleine, gekränkt.

Die Fußballweltmeisterschaft, die zu jener Zeit in Italien stattfand, sie hat mich gerettet, die Mannschaft der unbezwingbaren Löwen aus Kamerun, um genau zu sein. Im Auftaktspiel hatten sie Argentinien geschlagen und waren dann Gruppenerste geworden. Und kurz bevor ich abflog, warfen sie im Achtelfinale Kolumbien aus dem Turnier. In jener Woche im Brüsseler Hotelzimmer sah ich viele Spiele an, aber auf nichts wartete ich mit größerer Spannung als auf das Viertelfinale Kamerun gegen England. Die Afrikaner führten lange Zeit, und erst in der Verlängerung verloren sie durch einen läppischen Elfmeter. Ich wäre am liebsten aus dem Fenster gesprungen. Ein weiteres Mal gingen die weißen Herren als Sieger vom Platz, und den ewigen Habenichtsen blieb nur die Ehre der stolzen Verlierer. Aber gleichzeitig lag in meiner Enttäuschung auch meine Rettung, bewies sie doch meine intakten Gefühle für die richtige Seite, für die Underdogs nämlich. Ich beschloss, die Vorfälle am Flughafen auf sich beruhen zu lassen, das niederträchtige Verhalten der Frau nicht dem gesamten schwarzen Kontinent anzulasten und den Afrikanern eine zweite Chance zu geben.

Wenn ich klug genug gewesen wäre, hätte ich die Lektion gelernt und meine Ideale und die Gründe, aus denen ich mich dieser Arbeit widmen wollte, in Zweifel gezogen. Aber ich war dumm, ich war blind, ich sah nur, was ich sehen wollte, und vor allem hatte ich die kindliche Sehnsucht, mein Leben einer Sache zu widmen, die größer war als ich selbst.

Ein Jahr vor meiner Abreise hatten die Stürme der Weltpolitik einige Ausläufer in unser Land geschickt. Es gab Demonstrationen, ich lief mit, trug Transparente und schrie Parolen, aber schon einige Wochen darauf erlahmten die Proteste, und der Mehltau der bestehenden Ordnung legte sich wieder über die Zustände. Mir war mein Land über geworden, seine Kleinkrämer mit ihrem notorischen Vergessen, und das Leben war mir zu kostbar, um mich wie die meisten meiner Freunde in eine Nische zu verkriechen, die Haare wachsen zu lassen und in irgendeinem besetzten Pferdestall revolutionäre Postillen zu drucken, auch zu schade, um mich auf die andere Seite zu schlagen, als gewöhnlicher Bürolist meinen Teil des Reichtums einzufordern und zuzusehen, wie ich den Mund nur möglichst voll bekommen konnte. Ich wollte mich nicht als Kanonenfutter in den Schützengräben des Kapitalismus verschleißen lassen; wenn ich mich opfern sollte, dann nur für eine große Sache, und dazu musste ich weggehen. Mein Land brauchte mich nicht, doch dort, in Afrika, war noch ein Tausendstel meines bescheidenen Wissens ein Reichtum, und diesen wollte ich teilen.

So setzte ich meine unterbrochene Reise fort und kam eines Abends in Kigali an. Das Erste, was ich wahrnahm, war der Geruch von Holzfeuern, und dazu diese Schwärze. Zu Fuß überquerten wir das Flugfeld, traten dann in das spärlich erleuchtete Flughafengebäude, und ich war ein wenig befangen, als ich an die Zollabfertigung trat, befürchtete, die Belgier hätten ihre Kollegen in Kigali unterrichtet.

Aber alles ging glatt, mein Gepäck hatte ich schon nach wenigen Minuten, und es dauerte nicht lange, bis ich in der Ankunftshalle einen Mann entdeckte, der ein Schild mit meinem Namen trug. Als ich auf ihn zuging, fiel mir auf, dass dieser Mann zu alt für seine langen Haare war, die er zu einem Pferdeschwanz gebunden hatte, zu alt für die Korallenkette um seinen Hals, zu alt und zu untersetzt für die enge Lederhose.

Er stellte sich vor, Missland hieß er, begrüßte mich in der Kronkolonie, wie er mit einem breiten Grinsen sagte, und dann fuhr er mich über eine dunkle Straße nach Kigali. Er schwieg, stellte keine Fragen, schien mit den Gedanken bei seinen eigenen Angelegenheiten. Der Wagen war erfüllt von seinem Aftershave und dem Geruch der Halsbonbons, die er in seinem Mund hin und her drehte, und nach einer halben Stunde hielt er vor der Herberge der Presbyterianer, wo ich für die nächsten Tage bleiben sollte, so lange, bis die reguläre Unterkunft von den Spuren meines Vorgängers gereinigt war. Das ebenerdige Zimmer lag zuhinterst in einer offenen Laube. Die Möblierung war einfach, klösterlich, wie es sich für eine christliche Herberge gehörte. Es gab einen Stuhl, einen Tisch und einen Schrank, und an der Decke surrte eine Neonröhre. Das war alles. Missland überreichte mir einige Unterlagen, einen Stadtplan und eine Notiz, wie ich den Weg in die Botschaft finden konnte; dann verabschiedete er sich mit knappen Worten.

Die Verwalterin bot mir eine Mahlzeit an, Kochbananen, die ich nie vorher gegessen hatte, dazu einen trockenen Ziegenspieß, den ich mit starkem Tee hinunterspülte. Bier und alle anderen alkoholischen Getränke waren in dieser Herberge nicht erlaubt, aber die Frau wies mich auf eine Kneipe am Ende der Straße hin, eine gute Gelegenheit, ein erstes Mal die lokale Luft zu schnuppern. Die leicht abfallende Straße war dunkel, an ihrem Ende entdeckte ich einen farbigen Schimmer, den ich für das Wirtshausschild hielt. Ein Hund bellte, und dieses Bellen klang tief und böse, und ich dachte, es sei vielleicht besser, den Kneipenbesuch auf einen anderen Tag zu verschieben und zurück in mein Zimmer zu gehen.

Der Schlaf ließ auf sich warten, ich war zu aufgeregt, meine Seele befand sich noch irgendwo über der Sahara, und wenn ich kurz einschlief, dann riss mich das Stromaggregat, das sich alle paar Minuten hinter dem Haus in Betrieb setzte und dann wieder verstummte, aus schweren Träumen, in denen grinsende Entenköpfe die Hauptrolle spielten.

Ich war fest entschlossen, die Sache in Brüssel zu vergessen, aber die Wunde blieb, und das Leben, das mich in Kigali erwartete, war nicht dazu angetan, mich auf andere Gedanken zu bringen. Ich hatte mir Abenteuer ausgemalt, ich hoffte darauf, täglich mit dem größten menschlichen Elend fertig werden zu müssen, aber tatsächlich bestand meine Arbeit darin, Adresslisten nachzuführen, Projektanträge zu tippen, Drucksachen und frische Stempelkissen zu bestellen. Ich tütete Einladungen für den Empfang zum jährlichen Entwicklungstag ein und bemerkte tagsüber selten, dass ich zwei Grad südlicher Breite saß. Das ehemalige Botschaftsgebäude, in dem das Koordinationsbüro der Direktion untergebracht war, glich einem Vivarium, einem Würfel mit künstlich hergestellten heimatlichen Bedingungen. Die schweren Gardinen dämpften die tropische Sonne, und oft hatte ich das Gefühl, ich sitze in der Stube meiner Großmutter, die bis zu ihrem Tod im Oberland im Schatten einer Fluh gelebt hat und keine fünf Monate im Jahr die Sonne sah. Es war seltsam still, und wer immer in das Koordinationsbüro kam, senkte unwillkürlich seine Stimme, als betrete er eine Kirche oder das Wartezimmer bei seinem Arzt.

In diesen ersten Tagen wagte ich es einmal, dem kleinen Paul, der seinen Arbeitsplatz in einem Zimmer am anderen Ende des Korridors hatte, eine Frage zuzurufen, doch bekam ich keine Antwort, sondern sein Kopf erschien in der Tür, rot vor Zorn, und ich musste mir beibringen lassen, dass ich gefälligst meinen faulen Hintern in Bewegung zu setzen und an seinen Schreibtisch zu treten hatte, bevor ich ihn ansprechen durfte. Falls es einmal eilen sollte, dann durfte ich auch das Telefon benutzen, aber es eilte nie, wie ich bald begreifen sollte.

Es war Paul, stellvertretender Koordinator und zweiter Mann in Kigali, der mich in die Arabesken des Dienstweges einführte, in die verschlungenen Geheimnisse der korrekten Abwicklung eines operativen Vorganges, in das Universum der weißen, blauen und grünen Kopien, und wenn er die korrekte Tabulatorenbreite bei der Aufstellung eines Projektantrages zu Händen der operationellen geografischen Sektion erläuterte, dann hielt ich den Atem an, nicht, weil die Sache so spannend war, einfach, damit ich Pauls Ausführungen einigermaßen verstehen konnte.