image

Jörg Albrecht

Drei Herzen

Roman

Jörg Albrecht

Drei Herzen

Roman

Image

GERTRUDE STEIN schreibt,

We need only realize our parents,

remember our grandparents and

know ourselves and our history is complete.

ROLF DIETER BRINKMANN sagt,

Das stumme Atmen als Erzählen,

das Abhören der Geräusche,

die gelöschten Bänder einer vergangenen Unterhaltung, nochmal und nochmal

TOCOTRONIC singen,

eines ist doch sicher / eins zu eins ist jetzt vorbei / wir sind wie Agenten / jetzt ist es soweit

0

Von innen ist die Welt kleiner

[Embryonalphasenmix]

 

Auf Power schalten. Den roten Knopf drücken. Den roten Knopf gedrückt lassen. Den LCD ausklappen. Das Bild auf dem LCD abwarten.

Wie es sich aufhellt, wie es sich abdunkelt. Dazwischen verschwommene Konturen. Das Bild im Mutterleib. Vielleicht kennen wir da schon den verschwommenen Ausblick. Vielleicht haben wir unsere Worte da schon. Vielleicht ist die Welt da schon klein.

Die RECORD-Anzeige blinkt. Die RECORD-Anzeige ist rot. Der Ton ist verzerrt, das Bild verschwommen.

Nur die Tonspur läuft. Nur die Bildspur läuft. Nur die Hautzellen sind noch nicht abgestumpft. Jede Berührung ein elektrischer Schlag, jede Berührung das Aufleuchten eines Bildes. Bis sich Berührungen aneinanderreihen. Jede Berührungsserie ein Aufblinken von Bildern, jede Berührungsserie ein Film. Jeder Film fängt irgendwann an. Jeder Film hört irgendwann auf. Dazwischen das kleine Beben der Bilder. Was sagt der Seismograph.

Die RECORD-Anzeige bleibt rot, die RECORD-Anzeige blinkt.

Erst zwei hellblaue Punkte und eine Fläche aus Schwarz. Erst verschwommen, dann klar. Joshs Augen und Pitjes Haare. Erst in Bildbruchstücken, dann hochaufgelöst. Pitje sagt, Nur von innen. Josh fragt, Filmst du schon. Pitje hält etwas Hellgrünes aus Plastik vor sein Gesicht. Pitje hält etwas Hellgrünes aus Plastik vor seine schwarzen Augen.

Davor ist das Bild unscharf. Davor ist das Bild zu dunkel. Davor ist das Bild schwarz.

Wir müßten klein sein, sage ich und knie mich hin. Neben einem orangen Telefon ohne Kabel mein hellgrüner Märchenfernseher. Neben dem hellgrünen Märchenfernseher meine Kniescheibe unter Kord. Neben meiner Kniescheibe unter Kord Josh und Pitje. Josh und Pitje sortieren aus einem Schuhkarton die schönsten Aufkleber der Siebziger und die schrecklichsten Aufkleber der Achtziger aus. Neben den schrecklichsten Aufklebern der Achtziger und den schönsten Aufklebern der Siebziger ein vergilbter Karton. Unter dem vergilbten Karton die PVC-Platten des Dachbodens meiner Eltern.

Wir müßten klein sein, sage ich und bleibe stehen und zoome an die PVC-Platten heran. Auf den PVC-Platten des Dachbodens meiner Eltern liegen japanische Zeichen. Die japanischen Zeichen der Kameragebrauchsanweisung liegen hier, wenn ich nah genug an die PVC-Platten heranzoome.

Der Zoom ist zu stark, der Zoom ist zu schnell. Das Bild verschwimmt. Joshs hellblaue Augen und Pitjes schwarze Augen gehen ineinander auf.

Fünf Jahre früher passiert das zum ersten Mal. Fünf Jahre früher sehen wir von der alten Halde hinunter auf unsere kleine Stadt. Nach dem Konzert von Samba singen wir, Es war schon so eine Sensation, wie du in meinen Kopf reinkamst. Dann hält Josh seine Lomo irgendwo neben uns. Es ist doch dunkel, sage ich, und Josh sagt, Goldene Regel der Lomographie Nummer 3. Drei Sekunden später blute ich aus der Nase. Drei Sekunden, nachdem Josh gedrückt hat. Auf dem Bild drei Köpfe, die übereinanderliegen. Drei Augenpaare, die übereinanderliegen. Hellbraun, schwarz, hellblau. Da gehen unsere Blicke ineinander auf. Da verschränken sich unsere Blicke.

Das erste Mal das Bild der Lomo sehen, das erste Mal die verschränkten Blicke. Durch die Haut die Nervenstränge der anderen sehen, durch die Haut meine Adern pulsieren sehen, mein Herz, durch die Haut Blut in die Nase schießen sehen.

Das Blut über den japanischen Zeichen der Kameragebrauchsanweisung oder dem Muster der PVC-Platten trocknen sehen. Die Angst, Blut könnte in die Kamera gelaufen sein. Josh sagt, Wenn der Blutpegel zu hoch ist, schwappt es über. Wenn der Blutpegel zu niedrig ist, hört das Herz auf zu schlagen. Mit dem Blutpegel sinkt die Frequenz. Jedes Herz fängt irgendwann an. Jedes Herz hört irgendwann auf. Dazwischen das Anschwellen und das Zusammenziehen. Was sagt der Bewegungsmelder.

Das Blut auf den PVC-Platten in eine Richtung zeigen sehen. Die Ausläufertropfen auf dem vergilbten Karton entdecken. Die Ausläufertropfen zählen. Den vergilbten Karton bewundern. Pitje fragt, Noch mehr Aufkleber. Josh fragt, Auch von innen.

Ist die Bandgeschwindigkeit da noch Short Play. Ist die Bandgeschwindigkeit da schon Long Play. Ist die Zoomgeschwindigkeit da schon verlangsamt.

Dann öffnen wir den vergilbten Karton, oder öffne ich den vergilbten Karton, oder öffnen meine blutverklebten Hände den vergilbten Karton. Der Pegel steigt, die Nase pulsiert. Schade, kein Pantonstuhl, sagt Pitje. Schade, keine Adidastasche, sagt Josh. Mein Herz schwillt an, mein Herz zieht sich zusammen, mein Herz schwillt an. Mit einer Frequenz von neunzig Megahertz. Mit einer Frequenz von neunzig Gigahertz. Mit einer Frequenz von neunzig Terahertz.

Die RECORD-Anzeige blinkt zu schnell, die RECORD-Anzeige blinkt nicht mehr, die RECORD-Anzeige bleibt rot. Die Zoomgeschwindigkeit bleibt hoch.

Der verschwommene Blick durch die Digitalkamera, wenn der Zoom zu stark ist. Der verschwommene Blick durch das Fruchtwasser. Die verschwommene Erinnerung an die erste Embryonalphase.

Neunzig Terahertz. Einundneunzig Terahertz. Zweiundneunzig Fotos im vergilbten Karton. Das oberste Foto, ein Sommerfoto, geschossen von meiner Großmutter väterlicherseits. Ein See, vier Jungen in Baströcken, Zigaretten im Mund. Rückseite: Sommer 1942. Oder aber: Das oberste Foto, ein Hochzeitsfoto. Mein Vater im schwarzen Anzug, mit schwarzer Brille, mit schwarzem Haar, geht meiner Mutter entgegen, meine Mutter im weißen Kleid, mit weißem Blumenstrauß und weißem Haar. Rückseite: Mai 1973. Oder aber: Das oberste Foto, ein Geburtstagsfoto. Mein achtzehnter Geburtstag, Kathryn, Nora, Pitje, Josh und ich, mit Malzbierflaschen und zu engen T-Shirts, im Hintergrund Joshs Kofferplattenspieler, auf dem sich eine Langspielplatte dreht. Rückseite: August 1999. Oder aber: Das oberste Foto, ein Bild im Mutterleib. Zwei Augen und ein schwarzes Haar. Rückseite: ohne Datum. Ist das das oberste Foto.

Auf der obersten Tonspur: Ich möchte Teil einer Jugendbewegung sein. Auf der obersten Bildspur: Pitjes Gesicht, Joshs Gesicht, mein Gesicht, die ineinander übergehen, digital.

Die verschwommene Erinnerung an die erste Embryonalphase. Die verschwommene Erinnerung an die erste Fötalphase. Die verschwommene Erinnerung an die erste Säuglingsphase. Die klarer werdende Erinnerung an später. Das leichter werdende Erinnern. Das Kopfhörerkabel als Nabelschnur. Das Kratzen der Nadel auf Vinyl als Stillgeräusche. Immer mehr als eine Tonspur. Immer mehr als eine Bildspur. Immer mehr als eine Spur auf der Haut, die Haut nur durchlässig für Schweiß und Zigarettenrauch.

Da ist die Bandgeschwindigkeit schon lange Long Play. Da ist die Bandgeschwindigkeit lange nicht mehr Short Play. Die RECORD-Anzeige blinkt nicht mehr. Die Zeitanzeige ist weiß.

Dann öffnen wir den vergilbten Karton. Dann öffnen wir den vergilbten Karton nicht nur. Dann schütten wir den vergilbten Karton aus. Wir lösen die Tonspuren auf. Wir lösen die Bildspuren auf. Wir lösen mit unseren Blicken aus und zerlegen den Film in ein Bild und noch eins und noch eins. Kleiner und kleiner. Wir wollen klein sein. Nur von innen, fragt Pitje.

Ein Bild fällt und noch eins und noch eins. Bis der vergilbte Karton leer ist. Bis alle Bilder übereinanderliegen. Eins plus eins gleich drei. Aber eigentlich müssen wir doch subtrahieren.

Ein Foto weniger. Einundneunzig Fotos. Einundneunzig Terahertz. Neunzig Terahertz. Meine vom Nasenbluten blutigen Finger halten ein Bild. Du zoomst zu schnell, sag ich. It’s cool to be überquick, sagt Pitje. Josh drückt auf seine Lomo und sagt, Goldene Regel der Lomographie Nummer 6. Ein Foto mehr.

Ein Foto weniger. Ein schwarzweißes Foto. Meine Großmutter väterlicherseits, an eine Hauswand gelehnt. Auf der Hauswand Buchstaben aus Kreide, die ich nicht erkennen kann. Sie lacht nicht, sie lächelt nicht, sie will nicht fotografiert werden. Sie trägt lange Strümpfe, die bunt sein könnten, sie trägt eine Baskenmütze, sie trägt einen Fotoapparat um den Hals, sie trägt einen Bauch. Rückseite: März 1945. Meine Großmutter väterlicherseits sabotiert den nationalsozialistischen Staat, sie verteilt keine Flugblätter, sie versteckt keine Menschen, sie fotografiert. Fotografien von einem Land, das bald nicht mehr da sein wird. Von innen wird das Land kleiner. Von innen wird der Körper größer. Im Bauch meiner Großmutter väterlicherseits mein Vater. Da ist die erste Embryonalphase schon vorbei.

Die zweite Embryonalphase. Die zweite Fötalphase. Die zweite Säuglingsphase. Denn eigentlich wollen wir klein sein, klein sprechen, kleine Worte, kleine Bilder. Eigentlich schlagen unsere Herzen mit immer weniger Frequenz. Eigentlich sollten wir uns subtrahieren, ein Lidschlag weniger, ein Atemzug weniger, ein Wort weniger. Die Welt kleiner machen. Guck in den Märchenfernseher.

Die zweite Embryonalphase. Die zweite Fötalphase. Das Ohr als Nabel, der angeschlossen sein will. Der Körper als Körper. Nach vierzig Wochen beträgt das Gewicht dreitausendzweihundert Gramm. Nach vierzig Wochen wird der Fötus zum Neugeborenen. Wer kappt die Nabelschnur.

Von innen ist die Welt kleiner, sage ich, oder sagt Josh das oder sagt Pitje das, wo sind wir, wann ist das. Wir stehen nicht auf dem Dachboden, wir tanzen im kleinen Club mit Teppich, der Schweiß läßt meine Strähnen an den Schläfen kleben, von den Schläfen bis zum Hals. Dann ist mein Kopf zu klein. Von innen ist der Kopf größer, denke ich, als Pitje und Josh und ich am DJ-Pult stehen und uns Neues vom Trickser wünschen. Von innen sehen wir unsere Bewegungen nicht, dafür brauchen wir ein Mädchen mit schwarzen Haaren, das uns sagt, Eure Bewegungen machen euch einander ähnlich. Ist Nora das Mädchen mit den schwarzen Haaren oder Kathryn oder. Im Halbschatten sind sie kaum zu unterscheiden.

In der Embryonalphase sind wir kaum zu unterscheiden. In der ersten Embryonalphase. Dann das differenzierende Wachstum. Dem Embryo beim Wachsen zuhören. Nach drei Wochen beginnt das Urherz zu schlagen. Nach drei Monaten mißt der Embryo neun Zentimeter. Nach drei Monaten ist der Embryo kein Embryo mehr. Wie langsam der Embryo wächst.

Wie langsam die Bilder fallen, sagt Josh. Kannst du Zeitlupe einstellen, fragt Pitje. Ein Bild fällt und noch eins. Während die Bilder in Zeitlupe fallen, werden Josh und Pitje auf dem LCD immer größer, bis sie die Bilder und den vergilbten Karton verdecken.

In der Embryonalphase decken sich unsere Bilder fast. In der zweiten Embryonalphase haben wir noch fast dieselbe Haarfarbe, fast dieselben Frisuren. In der zweiten Embryonalphase tragen wir alle ein zu enges T-Shirt mit Rückennummer. Dann das differenzierende Wachstum. Josh hält seine Lomo vor sein linkes Auge. Pitje hält den Gitarrenakkord. Ich halte die Digitalkamera mit meiner rechten Hand und meine linke vor die Nase. Die Tonspur zeichnet das Wachsen auf.

Den anderen beim Wachsen zuhören. Den anderen in den Kopf hineinhören. Den Engrammen beim Bilden der Erinnerungen zuhören. Den Erinnerungen erst in Mono zuhören, dann in Stereo. Dem Kopf beim Wachsen zuhören. Den Kopf in den Kopfhörer hineinwachsen fühlen.

Von innen ist der Kopf größer, denke ich. Von innen ist die Welt, die wir betrachten, die Welt, von innen sind die anderen einfach da. Es war schon so eine Sensation, wie du in meinen Kopf reinkamst, singt Pitje. Von innen ist die Welt kleiner, sagt Josh, guck auf das Ultraschallbild, hör auf den Ultraschallton.

Auf der mittleren Tonspur: Wir brauchen mehr als nur eins zu eins. Auf der mittleren Bildspur: Verschwommene Oberkörper und Köpfe auf Super 8.

Ist die Bandlaufgeschwindigkeit schneller als bei Super 8. Ist die Zoomgeschwindigkeit schneller als bei Super 8. Ist der Blick in den hellgrünen Märchenfernseher vergleichbar mit Super 8.

Von innen ist die Stadt kleiner, sagt Pitje und hält sich den hellgrünen Märchenfernseher vor sein schwarzes Auge. Von innen sehen wir das Dickicht nicht, dann können wir den Wald aus Zeichen zu einer Stadt aus Zeichen machen. Pitje senkt den hellgrünen Märchenfernseher und schaut mich an. Ich schaue ihn durch die Kamera an. Josh drückt auf die Lomo.

Die zehn goldenen Regeln der Lomographie, 1: Lomographie ist Teil deines Lebens, 2: nimm die Kamera mit, wo immer du gehst, 3: benutze sie Tag und Nacht, 4: bring die gewünschten Objekte so nah wie möglich an die Linse, 5: denk nicht, 6: sei schnell, 7: es ist vorher nicht wichtig zu wissen, was du auf Film gebannt hast, 8: erst recht nicht nachher, 9: schieß aus der Hüfte, 10: denk nicht über Regeln nach.

Wie viele Bilder hast du mit deiner Lomo in deinem kurzen Leben gemacht, fragt Pitje. Wie viele Bilder hast du mit deinem Kopf in deinem kurzen Leben gemacht, fragt Josh. Ein Bild fällt und noch eins und noch eins. Bis der vergilbte Karton leer ist. Bis alle Bilder übereinanderliegen.

Da sind meine Großeltern, da sind meine Eltern, da bin ich. Eins plus eins gleich drei. Was sagt das Stratometer.

Auf der untersten Tonspur: Wo fing das an und wann. Auf der untersten Bildspur: Der musikalische Embryo. Was sagt das Stratometer. Was sagen die Engramme. Was sagt der Ultraschall.

1

Neuronenschaltung //

Magnetophonbänder No. 1 & 2

 

RECORD. In den Augen. AUFNAHME. In den Ohren. Welche Taste für die Neuronen. Welche Farbe. Ein rotes, blinkendes Licht. Ein rauschendes Band. Und dahinter. Ohren und Augen verschließen sich gern wie Wunden, aber. Hinter den Störgeräuschen ist immer etwas zu hören. Hinter der RECORD-Anzeige [störend] ist immer etwas zu sehen. Irgend etwas staut sich an. Etwas Rotes zum Beispiel. Etwas Lautes zum Beispiel. Etwas Pulsierendes. Einfach hindurch sehen. Einfach hindurch drehen. Mit den Augen. Über die Neuronen der Netzhaut. Was da auftrifft. Was da eintritt, mit dem Anfang des Bandes. Und dahinter. Dahinter eine Fotosammlung. Dahinter eine blutende Nase. Und als Schablone an der Fensterscheibe der Winter 1978. Kein Wunder, daß hier ein Blitz zuschlägt.

Keine Explosion. Keine Detonation. Nur ein elektrischer Blitz. Dann ein Lichtblitz. Dann eine Tausendstel Sekunde. Und dann. Meine Großmutter väterlicherseits, gebeugt über ihre Fotosammlung. Im Hintergrund ein zugeschneites Fenster. Im Vordergrund tränende Augen und Blut. Die Nase meiner Großmutter väterlicherseits blutet. Sie kann nicht anders als zu bluten. Zum wievielten Mal in ihrem Leben, das eineinhalb Stunden später endet, blutet sie. Alle Orte, an denen meine Großmutter väterlicherseits aus der Nase blutet, in einer Landkarte, als rote Tropfen. Der See im Grünen zum Beispiel. Die Dunkelkammer zum Beispiel. Der Fußboden mit der ausgebreiteten Fotosammlung. Meine Großmutter väterlicherseits sitzt auf einem Hocker über der Fotosammlung, vollkommen in Farbe. Die Fotosammlung liegt vor ihr, vollkommen in Schwarzweiß. Der Aufbau eines Schwarzweißnegativfilms. Der Aufbau eines Farbnegativfilms. Vielleicht liegt da einfach der Unterschied. Der Unterschied, den die Nase nicht aushält. Irgend etwas reißt oder knirscht. Wie einmal gefrorenes Eis.

Blitzeis hin, Blitzeis her, sagt eine Stimme in den Apparat. Diesmal liegen die Fotos im Hintergrund. Die Nase blutet nicht mehr. Die Augen laufen nicht mehr aus. Die Augen sind wieder bereit, etwas aufzunehmen. Die Schneehügel vor dem Fenster. Die eingefrorenen Bahnweichen. Nur nicht die gefrorenen Blutkörper an der Nase oder an den Gefäßen im Hirn. Irgend etwas staut sich an, auch wenn die Kamera noch in der braunen Ledertasche liegt. Die erste Ultraschalluntersuchung, sagt eine zweite Stimme, im Telefonhörer. Auch wenn die Magnetophonbänder dieses Telefongespräch nicht aufzeichnen. Der Ultraschall und die weißen Flächen, sagt meine Großmutter väterlicherseits in den Telefonhörer hinein. Die Schallwellen im Wasser, nicht im Schnee, sagt mein Vater im Telefonhörer. An das Herz denken sie nicht. An die Rhythmen denken sie nicht. An das Kammerflimmern denken sie noch nicht. All die weißen Flächen, sagt meine Großmutter väterlicherseits. Und dann geht sie.

Im Hafen türmen sich Eisschollen, der Straßenverkehr ist am Ende, Menschen erfrieren und werden erst in drei Monaten gefunden. So ist der Winter 1978. Zumindest in der Stadt im Norden. An deren Rand leben meine Großeltern väterlicherseits, bis 1979. Nicht in der kleinen Hauptstadt dieses mehr oder weniger unbekannten Landes. In der Mitte dieser viel zu kleinen Hauptstadt leben meine Eltern, bis 1983. Bei fünf bis sieben Grad fahren sie. Sie fahren nicht durch Schneegestöber, sondern Regen. Die warme Flüssigkeit bereitet sie vor. Sie fahren. Sie warten in einem hellen Zimmer. Sie warten im Warmen. Sie warten, um meinen Bruder im Fruchtwasser zu orten, um Körperflächen abtasten zu lassen. Die meiner Mutter. Und die meines Bruders. Bei der Bilderzeugung kann es zu Bildfehlern kommen. Alle Bildfehler [störend / nicht störend] auf einem einzigen Bild versammelt. Abbildung: Auch nach vier Monaten ist der Fötus kein Embryo mehr. Abbildung: Auch nach vier Tagen fiel in die Städte noch meterhoch Schnee. Abbildung: Bei solchen Schneemengen [oben] war es kein Wunder, wenn manche Dächer und Wände nachgaben [unten].

Wenn die Herzmuskeln nachgeben. Wenn die Sehkraft des rechten Auges nachgibt. Wenn sich hinter dem Auge etwas staut / löst. Da die Pupille sich ständig weitet. Da die Pupille sich lieber verengen würde. Die Pupille zuckt. Zwischen den leeren Bäumen. Mitten in all dem Weiß. Mitten im Schnee des zu Ende gehenden Jahres 1978. Meine Großmutter väterlicherseits geht trotzdem. Das Dunkel ist schon hereingebrochen, die Straßenlaternen geben kein Licht, die durchgerissenen Stromkabel sind nicht einmal zu sehen. Der Schnee ist weiß, und sie sieht Sterne, nicht die Schneekristalle [sternförmig], nicht mit unbewaffneten Augen. Meine Großmutter väterlicherseits geht dem Schnee entgegen, mit ihrer Fotokamera, die braune Ledertasche über dem blauen Mantel, Blutreste an der Nase, nicht am Kinn, Blitzlichter, fehlgezündet, in den Augen. Irgend etwas passiert. Irgend etwas passiert nicht. Und dann. Ein Schneesturm. Sechzehn Stunden. Dreiunddreißig. Fünfundvierzig. Achtundsiebzig Stunden Schnee. Irgendwo unregelmäßige Herzschläge. Irgendwo ein einziger elektrischer Blitz, der mit den Herzschlägen zusammen hin- und herspringt. Zwischen Glaskörper und Schneekristallen. Und dann. Wieder Nacht. Sehr lange Nacht. Ein Tausendstel. Einhundert Tausendstel. Einhunderttausend Tausendstel. Und dann. Umschalten.

Image

RECORD. Nachtsicht. Die Nacht ist grün. Am Anfang rauscht es. Auf beiden Bändern. In beiden Ohren. Mitten im Anfang. Jeder Anfang trägt ein Rauschen in sich. Jedes Rauschen trägt alle möglichen Filme in sich. Jeder Film trägt sein eigenes Ende in sich. Was nun folgt, ist der Anfang. Was folgt, sind drei Stimmen. Was folgt, ist eine Anstauung von Bildern, zuerst auf dem Asphalt, dann auf dem LCD, dann in der rechten Hirnhälfte. Die Neuronen schalten sich parallel, die Körpertemperatur sinkt. Kann nicht mal jemand vorspulen, frage ich und bleibe stehen, kann nicht mal jemand die richtige Stelle finden.

Wir laufen im Dunkeln. Wir laufen, ohne die Stelle zu finden. Wir laufen und schauen uns an. Nur bei Nachtsicht kann uns das Licht nicht blenden. Nur im Nachtlicht der Kamera können wir genauso leicht laufen wie im Dunkeln, nur. Was sagt uns die grüne Nacht. Vor allem nicht zucken, vor allem nicht stürzen, vor allem nicht stoppen. Das Tonband läuft, das Mikrophon angeschaltet, das Mikrophon immer in der Hand. So laufen wir.

Wir laufen vorbei an S-Bahn-Brücken mit dürren Bäumen, an den Überresten eines Bunkers, an den Mauern des kleinen Stausees. Wir laufen auf den Kieswegen der alten Zeche, überwachsen von Gras. Wir laufen vorbei an Hauswänden, auf die Liedzeilen gesprüht sind. [Daß man drüber hinwegkommt, wie man früher einmal war, zum Beispiel. Daß es kracht wenn man die Augen wieder aufmacht, zum Beispiel. Daß wir beide Schatten sind.] Auch die Liedzeilen sind grün. Die Nacht ist grün. Die Nacht ist groß.

Kann nicht mal jemand zurückspulen, fragt mein Bild auf dem LCD und bleibt stehen. Kann nicht mal jemand den Anfang finden. Wir schauen uns an, wir drücken die Knöpfe, wir schieben die Köpfe auf den LCD. Die abgeschnittenen Köpfe. Die grün belichteten Wangen. Die grünen Netzhäute hinter den Pupillen, kann nicht mal jemand zurückspulen, sagen unsere Köpfe. Gerade das Zurückspulen war uns schon immer zu schwierig. Gerade das Zurückspulen hat uns schon immer gefallen.

RÜCKLAUF. STOP. AUFNAHME. Das Knacken der Tasten, das Quietschen und Schleifen der Bänder, die Schritte, die nur im Dunkeln zu sehen sind, die auch im Nachtlicht der Kamera einer nach dem anderen zu sehen und zu hören sind. All dieser Lärm in den Straßen. All dieser Lärm im Atmen. All das Heben und Senken. Das Schwenken der Kamera. Irgendwo laufen Joshs und Pitjes Turnschuhe mit den drei Streifen. Irgendwo laufen zwei Tonbänder [BASF und AGFA]. Irgendwo läuft immer eine Kamera. Wo sind die Geräusche der Schritte auf den Bändern. Wo sind die Bänder zu beschädigt, um speichern zu können. Wo sind die Ränder dieser Nacht.

Die rote RECORD-Anzeige. Die grüne Nacht. Das Zucken der Glieder beim Einschlafen. Das Zucken der Kniegelenke und Zehen beim Einschlafen. Das Zucken der Nasenspitze bei trockener Luft oder Luftveränderung. Es ist Nacht, zu wenig Nacht, das hält uns nicht ab. Das Toben der Stille, das Zucken der Glieder, und dann verwackelt die Stadt. Die Stille kracht. Die Fotos im vergilbten Karton verwackeln, verwackeln wir mit. Ich wackle, verwackle, wann hört das auf.

RECORD. Nachtsicht. Vom einen Ende der Nacht aus durch eine verwackelte Stadt. In einer Ecke drei Jungen mit langen Strümpfen, karierten Hemden und weißen Blumen am Kragen. In einer Ecke drei Jungen mit Hornbrillen, mit Schlaghosen und blauen Büchern unter den Armen. In einer Ecke drei Jungen mit Werbe-T-Shirts, Schweißbändern und einer Polaroidkamera in den Händen. In einer Ecke das Telefunken Magnetophon Fünfzehn meines Großvaters mütterlicherseits [fünfzig Hertz, BASF Tonspule]. Kann nicht mal jemand auf Play drücken.

Eine Kamerafahrt durch die Fotos, von einer Ecke des Kartons / der kleinen Stadt in die andere. Dann Zoom weg vom Karton, weg von uns, wir werden unscharf, der Karton wird unscharf, nur die Fotos bleiben deutlich im grünen Licht der Straßenlaterne. Ist das die Aufgabe für diesen Sommer, frage ich für den Ton. Meine Hand wird sichtbar und blättert die Fotos aus dem vergilbten Karton vom Dachboden meiner Eltern durch. Ein Foto. Zwei Fotos. Drei Fotos. Auf denen geblutet wird. Auf Anhieb drei Fotos, sagt Josh, irgend etwas stimmt da doch nicht oder.

Veränderung der Schärfentiefe. Erst dann schaltet jemand um. Die Liedzeilen auf den Hauswänden werden rot und gelb und blau. Unsere Augen bekommen wieder verschiedene Farben. Nur auf den Bildern im vergilbten Karton vom Dachboden meiner Eltern können wir die Farben nicht einfach einschalten. Pitje blättert einen schwarzweißen Stapel durch, Vorderseite und Rückseite, Bild und Datum. Pitje blättert das Gesicht meiner Mutter vom April 1971 über zwei Frotteebadehosen mit Blumen vom Juli 1970. Seltsam, sagt mein Gesicht, wo sind nur die Farben hin, ich kann mir nicht vorstellen, daß jemand durchhält, wenn es keine Farben / Farbfilme gibt. Seltsam daß irgend jemand nur die schwarzweißen Fotos gesammelt hat, sagt Joshs Mund, die Siebziger waren doch viel bunter.

Umkehrung der Schnittebenen. Erste Schnittebene, der Blick von vorn. Zweite Schnittebene, von der Seite. Dritte Schnittebene, Ansicht von oben. Auch diese Einstellung hat noch zu viel Abstand. Irgendwo unter der Schädeldecke staut sich etwas, irgendwo verschalten sich Neuronen. Und dann. Dann wieder erste Ebene, die Nase, aus der schon wieder achtzig bis einundachtzig Tropfen Blut fließen. Wenn nicht die Fotos da wären, wenn nicht das Gesicht meines Vaters vom März 1972 das Blut auffangen würde. Endlich bekommt das Gesicht meines Vaters doch Farbe. Nur die Hornbrille bleibt schwarz. Nur die Augen bleiben schwarz und weiß. Mein Blut sammelt sich um die Nasenspitze meines Vaters vom März 1972 an. Bis eine Hand das Gesicht umdreht und nur das Datum bleibt, in schwarzer Tinte.

Umschlag des Bildes. Ein Sommer. Der Sommer, in dem ich unser Familienalbum aufklappe, jedes Mal an anderen Stellen. Der Sommer, in dem mir die anderen helfen, die Bilder zusammenzuschneiden. Der Sommer, in dem alle Bilder zusammenfallen, das schwarzweiße Bild und das Super 8-Bild und das digitale Bild. In dem die Orte zusammenfallen und alle Städte diese kleine Stadt sind. In dem die Menschen zusammenfallen. Zum Beispiel: Nora und meine Mutter und meine Großmutter väterlicherseits. Der Sommer, in dem wir am Stadtrand liegen und sich die Fotos aus dem vergilbten Karton vom Dachboden meiner Eltern an uns vorbeispulen. Im Spulen aussuchen und später schneiden, das ist die Aufgabe dieses Sommers.

RECORD. Zoom. Dann alle Fotos abfilmen, dann die Rückseiten aller Fotos abfilmen. Und dann. Die Fotos liegen auf dem Rasen. Josh, Pitje und Nora liegen neben den Fotos. Das ist deine Familiengeschichte, sagt Nora. Wenigstens in Schwarzweiß, sagt Josh. Wenigstens auf zwei Seiten, sagt Pitje und hält meine Mutter gegen das Licht. Auf der Rückseite: August 1968. Das Foto drehen und wenden. Rückseite, Vorderseite, Deine Mutter sieht ein bißchen aus wie Nora, sagt Pitje. Nur wegen der Punkte auf dem Badeanzug, sagt Nora. Meine Mutter an einem See an einem Tag im August. Neben ihr der Philips-Kofferplattenspieler, den sie mir dreißig Jahre später schenkt.

Mein Philips-Kofferplattenspieler mit rotem Plattenteller von 1961 mit vier Stufen. [Sechzehn Umdrehungen, dreiunddreißig Umdrehungen, fünfundvierzig Umdrehungen, achtundsiebzig Umdrehungen.] Den Tonarm nach rechts drehen, um den Plattenteller in Bewegung zu bringen. Den Tonarm nach rechts drehen, ohne ihn zu brechen. [Den Tonarm brechen als bleibende Erinnerung.]

Der Philips-Kofferplattenspieler von 1961 mit meiner Mutter, meine Mutter in Schwarzweiß neben dem roten Kofferplattenspielerteller. Auf dem Teller dreht sich die Magical Mystery Tour. Doch es ist nur ein stickiger Tag, ein schwüler, stickiger Tag in der Lüneburger Heide. Die Beine meiner Mutter neben denen einer Freundin an einem kleinen See im Wald. Der Oberkörper meiner Mutter in einem gepunkteten Badeanzug, der auch rot sein könnte, so rot wie der Plattenteller. Sie wünscht sich meinen Vater und die Super 8-Kamera meines Vaters und den Katzenfellmantel meines Onkels väterlicherseits. Sie wünscht sich langlebige Batterien für ihren Kofferplattenspieler. Die Batterien neigen sich dem Ende zu, und der Plattenteller bremst die Platte aus. [The record starts, the record ends.] Ohne Vorwarnung zieht meine Mutter ein blaues Buch aus ihrer Tasche. Die Freundin meiner Mutter öffnet den Mund. Ulrike, das ist ja ein rotes Buch, sagt die Freundin. Das Buch ist doch blau, sagt meine Mutter, senkt den Blick und tastet die Substantive ab. Sie wünscht sich den Mund meines Vaters herbei, damit er die Substantive ausspricht. Sie wünscht sich meinen Vater, der die Substantive und Dinge verkleinert. Am Abend hat sie einen Sonnenstich und fährt Schlangenlinien mit dem Fahrrad. Als würden die Panzer in Tschechien die Erde über fünfhundert Kilometer hinweg bis zu ihr erschüttern. Als würden sie ihren Kopf erschüttern. Dreizehn Jahre später erschüttert ein Beben das Wasser um mich herum, und ich bin da.

Ja, sagt meine Mutter, 1968 sind die roten Bücher noch dick und blau. 1968, sagt meine Mutter, sind die Bilder noch schwarzweiß. 1968 sind Farbfilme noch teurer als Schwarzweißfilme, noch teurer sind nur Super 8-Filme. Sie zeigt auf die Schublade. Durch das Holz hindurch sehe ich die schwarze Ledertasche. Durch das schwarze Leder hindurch sehe ich die grauschwarze Universa Junior Super 8 [fünf Wetterlagen, fünf Stufen]. Das ist die erste Kamera deines Vaters, sagt sie, das erste Mal, daß wir die Magnetophonbänder zur Seite legen und vor allem sehen. Was sie nicht sagt: Auch Super 8 hat irgendwann Ton mitgebracht. Was sie nicht sagt: Erst Super 8 hat Farbe in die Geschichte gebracht. Was sie nicht sagt und nie sagen würde: Geschichte ist nur, wie erzählt wird, nicht mehr.

RECORD. Zeitlupe. Und dann die technischen Fakten. Zum Beispiel mein Philips-Kofferplattenspieler mit rotem Plattenteller von 1961. Wie viele Umdrehungen pro Minute. Zum Beispiel die Super 8-Kamera meines Vaters von 1968, wie viele Stufen für wie viele Wetterlagen. Zum Beispiel meine Grundig-Stenorette 2000 mit grüner Verpakkung und Schaltplan von 1975. Mich interessieren nur diese technischen Fakten, zum Beispiel, wie viele Fotos, welche Lichtempfindlichkeit, welche Belichtungszeit.

RECORD. Zeitraffer. Alle Fotos aus dem vergilbten Karton nacheinander, auf einem Videoband. Nur die Vorderseiten. / Nur die Rückseiten. / Nur die Knicke an den Rändern oder in der Mitte. Man kann sie drehen und wenden, wie man will. Dann wieder eine Sekunde. Und dann noch eine. Und noch eine. Neben mir stehen Josh und Pitje. Der vergilbte Karton liegt in Noras Händen, in meinen Händen die Digital 8. Was hat deine Mutter eigentlich zum Nasenbluten gesagt, fragt Pitje. Dann Zeitraffer, in der ich erzähle, was meine Mutter erzählt hat. Dann wird die Bildfrequenz wieder herabgesetzt. [Who turned it down.] Alle schauen mich an, vielleicht fragend. Irgendwo eine Fahrradklingel. Von welchen Magnetophonbändern hat deine Mutter eigentlich gesprochen, fragt Josh, er fragt sehr langsam. Ich lege etwas auf den Grill, noch langsamer, die Bildfrequenz wird immer weiter herabgesetzt. Dann Luftveränderung. Und dann das Zucken der Nase und das Zucken der Glieder der Stadt. Und dann das verwackelte Bild.

Und dann trockene Luft als Luftveränderung. Im Sonnenlicht sichtbare staubige Luft, die uns den Weg weist. Diesmal brauchen wir keine Bluttropfen aus meiner Nase. Das von Staub überdeckte Magnetophon Fünfzehn auf dem Dachboden meiner Eltern direkt neben der Aufklebersammlung der Siebziger und Achtziger im Schuhkarton. Daß wir das übersehen haben, sagt Pitje. Daß wir das übergehen konnten, sagt Josh. Das ist die Stelle, an der der vergilbte Karton stand, sagt Nora. Ihr Finger zeigt auf die PVC-Platten. Die Spitze ihres Zeigefingers zeigt auf einen rechteckigen Abdruck auf dem Fußboden. Die Spitze meines Zeigefingers steckt bis zur Mitte im Staub. Dann bremst irgend etwas meinen Zeigefinger aus. Zwei rote Quadrate mit konzentrischen Kreisen. Zwei mal ein Magnetophonband BASF, Doppelspielband Double Playing Tape, 730 m 2400 feet. Zwei Magnetophonbänder auf dem Magnetophon Fünfzehn meines Großvaters mütterlicherseits.

Es ist egal, welche Bänder herumliegen. Was diese Bänder erzählen, könnte uns näher heranbringen, sagt Josh. Wieso blutet deine Großmutter auf jedem zweiten Foto aus der Nase, fragt Pitje. Vielleicht hat sie sich nur mit blutender Nase fotografieren lassen, sagt Nora. Was weißt du überhaupt über deine Großmutter väterlicherseits, fragt Josh. Er hält das Foto vor die Linse von Pitjes Digital 8, er schiebt das Foto auf den LCD, das Foto vom März 1945, meine Großmutter väterlicherseits, in ihrem Bauch mein Vater und dahinter eine Stadt. Mehr ist nicht zu sehen, und noch nicht einmal das ist klar. Irgend etwas wackelt. Das wackelnde Foto oder die wackelnde Kamera.

Das verwackelte Bild, das ziemlich verwackelt und ein bißchen blutig ist. Zwei mal zwei Füße nebeneinander. Zwei mal ein Kopf mit Haaren, dahinter Wasser und Kies und ein paar Halme Gras. Und jemand, der das alles sieht. Meine Großmutter väterlicherseits, Blick durch ihre Voigtländer Vito I, das Rädchen ist auf die rote Sonne gestellt, nicht auf die rote Glühbirne, Blick auf die Haare, Auslöser, Blick auf die Hüften mit Baströcken, Auslöser, Blick auf die Zigaretten im Mund, auf die Zigaretten zwischen den Lippen, auf die Lippen, die Rauch einatmen und Liedzeilen ausstoßen, Auslöser, Voigtländer Vito I, Nasenbluten, es muß meine Großmutter väterlicherseits sein. Oder mein Vater, Blick durch seine Universa Junior Super 8, Focus fünfzehn Millimeter, made in Germany, made in Wetzlar, Stufe Sechzehn, See und Schnee sea and snow mer et neige, Blick auf die Haare, Schnitt, Blick auf den Hals eines Mädchens [meiner Mutter], Schnitt, Blick auf ihre roten Schuhe, Schnitt, Blick auf die blauen Bücher im Gras, Schnitt, Blick auf meinen Onkel väterlicherseits, auf seine orange Badehose, auf seinen Katzenfellmantel, auf dem er bei zweiunddreißig Grad schläft, Schnitt, Universa Junior Super 8, Nasenbluten, es muß mein Vater sein. Oder ich, Blick durch Pitjes Sony Digital 8, ohne Nachtsicht, Blick auf die schwarzen Haare, Zoom, Blick auf die schwarzen Augen, die Pitje gehören, Zoom, Blick auf den Bauchnabel, der Josh gehört, Zoom, Blick auf den roten Kofferplattenspielerteller, auf das Gras, auf das Wasser des Stausees, Blick auf die Sonne, die im Wasser des Stausees gespeichert ist, Zoom, Sony Digital 8, Nasenbluten, das muß ich sein, [who brought me here]. Wer von uns dreien blickt. Hauptsache, Blut aus der Nase, Hauptsache, Neuronen, die sich verschalten, Hauptsache, Kamera, dann sind wir da. Da sind meine Großeltern, da sind meine Eltern, da bin ich.

Umschlag des Bildes. Ein Sommer vielleicht. Die alte Zechensiedlung, in der mein Großvater väterlicherseits lebt ab 1979, am Rande der kleinen Stadt. Was sehen wir. Da gibt es Kleingartenanlagen, da gibt es Trinkhallen, da gibt es Vereins- und Jugendfreizeitheime. Da gibt es Autobahnbrücken und Tunnel, Kanäle und Stauseen mit Schlauch- oder Tretbooten. Da gibt es Grillen und Werkeln. Da gibt es Gebäude aus rotem Backstein, die inzwischen Museen sind. Da gibt es eine Stadt über Tage und eine Stadt unter Tage, und je genauer wir messen, desto größer wird die Stadt. Vergleiche die alte Zechensiedlung mit der kleinen Siedlung in der Stadt im Norden, in der meine Großeltern väterlicherseits bis 1979 leben, bis an einem Tag im Dezember 1978 meine Großmutter väterlicherseits Schnee fotografiert.

Mit dem Fotoapparat in der Hand steht Nora da. Sie trägt lange, geringelte Strümpfe. Sie trägt den Fotoapparat um den Hals. Sie trägt Schatten über dem linken und rechten Lid. Das muß festgehalten werden, sagt Nora. Pitje schaut sie kurz an, dann wieder auf das aufgeschraubte Magnetophon Fünfzehn. Josh dreht einen Schraubenzieher und sagt, etwas leise, Alles in Ordnung mit den Spulen / Spuren. [Unzutreffendes bitte streichen.] Die roten Schachteln mit konzentrischen Kreisen [Made in W. Germany] aufklappen. Die beiden Magnetophonbänder in einer Papphülle, Kassette Nr. / Spool Box No. / Cassette No. 1. Die 1 ist ausgeschrieben, mit roter Schrift. Von wem. Von meinem Großvater mütterlicherseits. / Von meiner Großmutter väterlicherseits. / Von meinen Eltern. Spur Eins, Datum 28. Juli 1969, Thema Verbrennungen dritten Grades, Zählwerkanzeige unausgefüllt, Geschwindigkeit unausgefüllt, Laufzeit unleserlich, Badische Anilin-& Soda-Fabrik AG Ludwigshafen am Rhein. Nur eine Spur, sage ich. Zwei Spulen zwei Spuren, sagt Josh. Zwei Magnetophonbänder vom Juli 1969. Eine Fotoserie aus dem vergilbten Karton vom August und September 1944. Vergleiche Magnetophonbänder und Fotoserie.

Vergleiche Fotoserie mit Pitje, Nora, Josh und mir. Ob sie ihre Lieder genauso lieben wie wir unsere, fragt Josh. Ob die Seitenscheitel genauso gut sitzen wie unsere, fragt Pitje. Ob der Blitz am Fotoapparat genauso oft blitzen kann, bis er ausfällt, fragt Nora. Ein Foto vom August 1944, ein Waldweg, im Hintergrund hohe Tannen. Links meine Großmutter väterlicherseits, die Gitarre von der rechten Schulter aus über die Brust gehängt. Sie trägt ein dunkles Kleid mit Stickereien am Saum, sie trägt lange Strümpfe, die sehr weiß sind, sie trägt langes Haar. Rechts ein anderes Mädchen, eine Tasche über ihrer rechten Schulter, ein helles Kleid über ihrem Körper, die Haare halb hochgesteckt. In der Mitte ein Junge in sehr kurzer Hose, das kurze Hemd in der sehr kurzen Hose, er schaut meine Großmutter an, eine Zigarette in der Hand. Auf der Rückseite nur das Datum. Auf der Rückseite keine Namen. Und doch kenne ich das Gesicht des Jungen. Das ist mein Großvater väterlicherseits, sage ich, Nora und Josh schauen mir über die rechte Schulter, und Pitje filmt über die linke Schulter das Foto ab.

Ein Foto und noch eins. Und noch eins. Bis sich alle Neuronen verschalten, bis die Nase wieder blutet. Das Foto vom März 1945, auf dem meine Großmutter väterlicherseits ihre Voigtländer Vito I um den Hals trägt. Keine zehn Zentimeter entfernt schlägt schon das Herz meines Vaters. Wer die Kamera wohl hält, in der dieses Bild entsteht. Vielleicht eine Freundin, vielleicht mein Großvater väterlicherseits, der kurz danach Vater wird. Was mein Großvater meiner Großmutter sagt, bevor er auf den Auslöser drückt. Vor allem lächeln. / Vor allem nicht blinzeln. / Vor allem nicht bluten. Und doch hebt sie eine Hand. Die rechte Hand liegt seitlich an ihrem Bauch, aber die linke Hand schnellt in Richtung Gesicht. Könnte es sein, daß. Könnte, wenn man genauer hinsieht. Könnte an der Nasenspitze.

Hier ist schon wieder Blut oder, sagt Josh. Pitje und Josh schauen Nora über die Schulter. Ich drehe meinen Kopf weg und dann wieder hin. Nora mit einem Foto in der Hand, zwischen Pitje und Josh. Das Blut ist ganz schwarz, sagt Nora. Das müssen wir im Auge behalten, sagt Pitje. Josh hält das Bild direkt in das Sehfeld meines linken Auges. Im Hintergrund Bäume und ihre Schatten, im Vordergrund meine Großmutter väterlicherseits mittig zwischen zwei Jungen. Die Jungen in kurzen Hosen und karierten Hemden, direkt an einer Feuerstelle, auf der Feuerstelle ein Topf, neben der Feuerstelle eine Gitarre. Hinter den Köpfen der beiden Jungen [störend] ist noch etwas zu sehen. Der Kopf meiner Großmutter väterlicherseits, nach unten geneigt, mit einer Hand an der Nase, Rückseite: 1944. Auf den Monat verzichtet die schwarze Tinte. Meine Großmutter vor den Schatten der Bäume. Sie fängt an zu zucken. Die Nase fängt an zu zucken. Warum.