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Lot Vekemans

Ein Brautkleid
aus Warschau

Roman

 

Aus dem Niederländischen

von Eva M. Pieper und

Alexandra Schmiedebach

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Originaltitel:

Lot Vekemans: Een bruidsjurk uit Warschau. Roman

© 2012 Cossee, Amsterdam; Lot Vekemans

 

Die Übersetzung dieses Buches wurde von der

niederländischen Stiftung für Literatur gefördert.

 

 

 

 

 

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

 

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese

Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;

detaillierte bibliografische Daten sind im Internet

über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

 

 

© Wallstein Verlag, Göttingen 2016

www.wallstein-verlag.de

Vom Verlag gesetzt aus der Stempel Garamond

Umschlaggestaltung: Eden und Höflich

unter Verwendung von Vektorgrafiken

© Victor Metelskiy, Irina Kostynk, aarows, shutterstock

Druck und Verarbeitung: Pustet, Regensburg

ISBN (Print) 978-3-8353-1601-0

ISBN (E-Book, pdf) 978-3-8353-2963-8

ISBN (E-Book, epub) 978-3-8353-2964-5

Inhalt

Erster Teil. Die Geschichte von Marlena

Zweiter Teil. Die Geschichte von Andries

Dritter Teil. Die Geschichte von Szymon

 
ERSTER TEIL
 
Die Geschichte von Marlena

 

1

Es war Juni und viel zu warm für die Jahreszeit. Wir hatten die Fenster des Autos von Nachbar Wiesław heruntergedreht, aber die Hitze schlug uns immer noch ins Gesicht. Ich saß mit meiner Mutter und meiner Schwester Irena auf dem Rücksitz, eine Pobacke schief gegen die Seitenwand des Autos gequetscht und mit gebeugtem Kopf, damit ich nicht bei jedem Schlagloch gegen die Decke stieß.

Neben mir saß meine Mutter, unsere Hüften waren aneinandergepresst, als wären wir dort miteinander verwachsen. Auf der anderen Seite meiner Mutter saß Irena. Ab und zu beugte sie sich vor, steckte den Kopf aus Nachbar Wiesławs Fenster und schrie allen Autos zu, die uns entgegenkamen. Mutter schlug ihr mit der flachen Hand auf die nackten Schenkel, um sie zum Schweigen zu bringen. Vergeblich. Auf dem Schoß hatten wir fünf gelbweiße Fahnen. Vor mir saß unsere Nachbarin Pola, breitbeinig, die Hände auf dem Armaturenbrett. Sie schrie Nachbar Wiesław zu, er solle achtgeben auf die Schlaglöcher, sich in Acht nehmen vor einer Kuh am Wegesrand oder vor einem alten Mann, der plötzlich auf die Straße lief.

Nachbar Wiesław schwieg. Undeutlich brummelnd verfluchte er meinen Vater, der im letzten Augenblick beschlossen hatte, nicht mitzufahren, weshalb wir plötzlich alle zusammen in seinem winzigen Fiat saßen. Mein Zicklein, nannte er sein Auto liebevoll. Das Ding war schon fünfzehn Jahre alt und im Laufe der Zeit von Rot zu Fahlrot verblichen, aber Wiesław war stolz darauf, als wäre es der neueste Volkswagen. Er wusch es jede Woche und berührte sein kleines Zicklein mit mehr Zärtlichkeit, als ich es ihn je bei Nachbarin Pola hatte tun sehen.

 

Wir waren auf dem Rückweg aus Warschau, wo wir den Papst gesehen hatten. Zusammen mit Tausenden von Menschen am Straßenrand hatten wir dem Papamobil mit den gelbweißen Fahnen zugewinkt. Aus den Lautsprechern, die an Laternenpfählen aufgehängt waren, erklang entlang der ganzen Straße das »Barka«, das Lieblingslied des Papstes. Irena hatte es lauthals mitgesungen. Ich sang nicht gern. Meine Mutter und Nachbarin Pola standen unter einem Regenschirm, der sie vor der prallen Sonne schützte. Meine Mutter klagte, der Papst sei viel zu spät dran, ihr Kleid sei zu eng und sie könne kaum etwas sehen. Nachbar Wiesław hatte sich auf einen Grünstreifen am Straßenrand gesetzt und schälte eine Birne. Was ihn anging, konnte der Zirkus so schnell wie möglich wieder vorbei sein. Mein Vater und mein Bruder Miłosz waren zu Hause geblieben. Sie hatten den Papst erst vor zwei Jahren gesehen. Mutter konnte damals nicht mit, weil sie sich den Knöchel verstaucht hatte. Bei jedem Schritt schrie sie vor Schmerzen. Es war passiert, als sie die Kellertreppe hinunterging, um Kartoffeln zu holen. Hunderttausend Mal war sie schon die Treppe hinuntergegangen, um Kartoffeln, Möhren oder Kohl zu holen. Und jetzt trat sie fehl. Sie stieß einen Schrei aus und lag am Fuß der Treppe im Keller. Miłosz war zu Hause. Er trug sie nach oben und wollte den Arzt holen. »Keinen Arzt«, sagte meine Mutter. Miłosz drückte vorsichtig auf ihren Knöchel, und Mutter schrie wie am Spieß. »Keinen Arzt!« Sie durfte den Fuß vier Wochen nicht belasten. Sie lief mit Krücken herum und fluchte, dass es eine wahre Freude war.

 

Der Papst kam zum siebten Mal in unser Land. Man sagte, Kwaśniewski habe ihn gebeten, ihn bei seinem Bestreben zu unterstützen, Polen in die Europäische Gemeinschaft zu bekommen. Andere meinten, er wäre aus eigenem Antrieb gekommen, um Solidarność zu einem Comeback in der Politik zu verhelfen. Einige wenige behaupteten, der Papst habe immer noch Angst, dass die Kommunisten in Polen wieder das Sagen bekämen. Aber das war Unsinn. Der Kommunismus lag hinter uns, und Polen war schon seit zehn Jahren frei. Mein Vater freute sich nicht darüber. »Was hat man von der Freiheit«, sagte er, »wenn sich dadurch nichts bessert.« Mein Vater meinte, alle Veränderungen hätten ihm rein gar nichts gebracht.

Er fragte nur: »Was kostet ein Brot, was kosten die Kartoffeln, was kostet ein Teller Sauerteigsuppe in der Kantine von Janusz?« Ich hasste die Sauerteigsuppe. »Eine gute Bauernmahlzeit«, sagte meine Mutter. In Polen waren alle Bauern arm. Aber Hunger hatten sie nie. »Außer in dem Jahr, in dem du geboren wurdest. Das war eine einzige Missernte.« Mein Vater hatte damals die Kartoffeln, die Möhren und den Kohl vergraben. In einer Grube dicht hinter unserem Haus. Er hatte eine kleine Holztür gezimmert und sie mit Gras und Moos abgedeckt. Wenn man es nicht wusste, war die Grube unauffindbar.

 

Auf dem Rückweg von Warschau hielten wir bei einem Restaurant, um Mittagspause zu machen. Meine Mutter fand es unsinnig, sich für eine Mahlzeit in ein Restaurant zu setzen. Wir konnten genauso gut am Straßenrand auf einer Decke Brot mit Wurst und kalte Suppe essen. Aber Nachbarin Pola musste auf Biegen und Brechen in das Restaurant, das großartige amerikanische Hamburger servierte, wie sie fand. »Amerikanische Hamburger! Wer geht denn schon in ein Restaurant mit amerikanischen Hamburgern!«, behauptete meine Mutter. »Das ist doch kein richtiges Essen.« Nachbarin Pola drohte ihr mit dem Zeigefinger. »Warte nur ab, bis du die Hamburger probiert hast. Dann will ich dich noch mal hören.« Nachbar Wiesław nickte. Er gab seiner Frau nicht oft recht, aber diesmal konnte er nur nicken. Wenn sie nach Warschau fuhren, aßen sie immer in diesem Restaurant. Und immer Hamburger.

 

Er fiel mir sofort auf. An einem schmalen Tisch in einer Ecke der Terrasse. Man sah ihm an, dass er nicht von hier war. Seine Kleider, die perfekt passten, als seien sie für ihn maßgeschneidert, die Haare glatt nach hinten gekämmt und länger, als es bei uns üblich war. Die Ärmel seines Hemdes bis zur Hälfte der Unterarme hochgekrempelt. Und dann die Sonnenbrille. Mit verspiegelten Gläsern. So eine hatte ich schon mal in einer Illustrierten gesehen. Bei uns trug niemand so eine Sonnenbrille. Außer Tomek, aber Tomek war ein Wichtigtuer. Und ein Aufreißer. Wie er die Sonnenbrille aufsetzte und dann auf einen zukam, die Hände in den Taschen. Er stieß seine Beine nach vorn, aus der Hüfte heraus. Und wenn er dann ganz nah bei dir war, schaute er über den Rand seiner Sonnenbrille und sagte: »I wanna fuck you. I wanna fuck you!«

Natürlich wusste ich, was das bedeutete. Józef hatte es mir erklärt, als wir zusammen am Schwimmbecken lagen und er seine Hand auf meinen Slip legte. Ich erschrak. Ich wollte Józef nicht. Józef war der Sohn von Mietek, und Mietek trank. Alle tranken, aber Mietek konnte im Suff bösartig werden. Wenn er getrunken hatte, fluchte er auf alles und alle und nach dem Fluchen schlug er um sich. Einfach so. Weil die Suppe nicht heiß genug war, weil die Wohnung nicht sauber genug war oder weil noch Matsch an seinen Stiefeln klebte. Matsch an seinen Stiefeln! Wer konnte denn etwas dafür? Der Matsch? Den Matsch konnte er nicht schlagen, also schlug er seine Frau, seinen Sohn oder wer ihm auch immer unter die Augen kam.

»Józef ist nett«, sagte meine Mutter. »Józef ist ein guter Mann.« Józef war ein guter Mann, aber ich wollte Józef nicht. Als er also im Schwimmbad seine Hand auf mein Bikinihöschen gelegt und mir gesagt hatte, was »I wanna fuck you« bedeutet, schlug ich seine Hand weg. Viel zu hart. Davon erschrak er. Es war nicht meine Absicht, ihn so hart zu schlagen, oder vielleicht doch, denn danach hat er seine Hand nie mehr auf mein Höschen gelegt. Wir gingen zwar noch schwimmen, aber nicht mehr zu zweit. Ich nahm immer noch jemanden mit. Ewa oder Hanna oder eines der anderen Mädchen aus dem Dorf.

»Warum kommt Józef nicht mehr?«, fragte meine Mutter. »Józef hat sich verlobt«, sagte meine Schwester Irena, »mit der Tochter von Marek, der bei der Polizei ist.« Das war schlau von Józef. Die Tochter eines Polizisten. Mietek würde sich nicht trauen, sie einfach so zu schlagen, und wenn er es doch täte, käme es ihn teuer zu stehen. Meine Mutter brummte: »Die Tochter von Marek, die Tochter von Marek, was ist an meiner Tochter denn verkehrt?« Ich schwieg. »Den Ersten, der dich will, den nimmst du«, sagte meine Mutter. »Du bist schon fast sechsundzwanzig.«

 

Der Erste war er. Der Erste, der mich anschaute und mich mit seinen Augen nicht mehr losließ. »Entschuldigung«, sagte ich, als ich auf dem Weg zur Toilette aus Versehen gegen seinen Tisch stieß. Die Suppe schwappte über den Tellerrand. »Nicht schlimm«, sagte er, »ich habe sowieso keinen Hunger mehr.« Er nahm die Sonnenbrille ab und sah mich an. Ich stand dort wie festgenagelt. Am Tisch hinter mir wurde es still. »Marlena, was machst du?«, rief meine Mutter. Sie stand auf und packte mich unsanft am Arm, wodurch ich noch einmal gegen seinen Tisch stieß. Und wieder schwappte die Suppe über den Rand seines Tellers. Mutter schlug die Hände zusammen, als wolle sie eine Fliege töten. »Es tut mir leid, mein Herr.« Er lachte. »Das macht nichts, gnädige Frau, ich war schon fertig.« Und er streckte seine Hand aus und stellte sich vor. Natan. Mutter nahm die Hand nicht an, als spürte sie, dass dieser Mann eine Geschichte in Gang setzen würde, die ihr nicht gefiel. Wie ein rettender Engel kam Nachbarin Pola dazu, nahm Natans schwebende Hand und schüttelte sie lange auf und ab. Sie lud ihn an unseren Tisch. »Kommen Sie, ich bestelle Ihnen einen Hamburger. Haben Sie die schon probiert? Die besten Burger, die ich jemals gegessen habe. Kommen Sie, kommen Sie und setzen Sie sich hin. Vergessen Sie Ihre Suppe. Wenn man hier ist, isst man Hamburger.« Und sie zog Natan auf einen Stuhl.

Mutter setzte sich auch.

Ich ging weiter zur Toilette. Dort saß ich bestimmt zehn Minuten. Irena holte mich, weil wir weiterfuhren. Beim Gehen gab Natan mir die Hand, und in seiner Hand war ein Zettel. »Ruf mich bitte an!«, stand da und darunter eine Telefonnummer.

Den ganzen Weg nach Hause habe ich kein Wort mehr herausgebracht. Nachbarin Pola machte darüber bestimmt zwanzig Bemerkungen. »Du bist aber still. Ist etwas los? Sie ist ja so still!«

»Ach«, meinte meine Mutter, »die sagt nie viel. Der muss man jedes Wort aus der Nase ziehen. Manchmal gehen wir zusammen einkaufen, und dann sagt sie die ganze Zeit keinen Ton. Nein, Irena dagegen, die redet wie ein Wasserfall. Vom ersten bis zum letzten Schritt wird gequasselt. Zum Glück weiß ich, dass alle beide von mir sind und dass ich sie zu Hause geboren habe und sie also nicht im Krankenhaus verwechselt wurden, denn sonst …« Den Satz beendete sie nicht. Nachbarin Pola lachte. »Im Krankenhaus verwechselt. Wie kommst du bloß auf so etwas. Das wäre was. Im Krankenhaus verwechselt.« Sie legte eine Hand auf das Bein von Nachbar Wiesław, und der lachte jetzt auch.

2

Drei Tage nach unserer Begegnung rief ich Natan aus einer Telefonzelle am Bahnhof an. Die Nummer, die er mir gegeben hatte, gehörte zu einem Hotel. Der Besitzer ging an den Apparat. Er hatte eine freundliche und sanfte Stimme. Ich hörte, wie er Natan rief. Das Herz schlug mir bis zum Hals.

Wir verabredeten uns auf dem Bahnhof in Warschau. Die Zugfahrt war eine Qual. Alles dauerte endlos. Der Moment, in dem sich die Türen zur Abfahrt schlossen, das Pfeifen des Schaffners bei jedem Halt, sogar die Landschaft schien schleppender an mir vorüberzuziehen als sonst. Ich stand im Gang, den Kopf gegen das Fenster gelehnt, und blickte auf die verwilderte Landschaft. Minutenlang zählte ich jede Sekunde, um sicher zu sein, dass die Zeit weiterlief, dass ich mich Warschau näherte.

Natan wartete wie verabredet am Ausgang. Er las eine Zeitung. Als ich ihn sah, blieb ich stehen. Für den Bruchteil einer Sekunde erwog ich, umzukehren. Die Treppe hinunter zurück zum Bahnsteig, zurück in den Zug, zurück nach Hause, zurück zu allem, was ich schon seit Jahren verlassen wollte. Wenn ich jetzt auf ihn zuging, seinen Namen aussprach, wenn er jetzt aufschaute, mich ansah, die Zeitung zusammenfaltete, mich wie auch immer begrüßte, dann würde sich alles ändern. Ich stand wie angewurzelt da.

»Natan?«, sagte ich leise.

Er konnte mich unmöglich gehört haben, aber er schaute auf. Er faltete seine Zeitung zusammen und lachte. Mit ein paar Schritten stand er vor mir. Er nahm meine Hände.

»Da bist du.« Ja, da war ich.

Wir verließen gemeinsam den Bahnhof.

»Wohin willst du?«, fragte Natan.

Ich sah mich um.

»Sollen wir einfach spazieren gehen?«, fragte ich und zeigte auf den Palast der Wissenschaft und Kultur.

»Okay«, sagte Natan. »Kennst du dich aus?«

»Nein«, antwortete ich. »Du?«

»Ein bisschen.«

Auf dem Platz vor dem Palast kaufte mir Natan ein Eis. Wir setzten uns auf eine Bank. Es war viel los. Einige Frauen verkauften Kleidung und gestrickte Pantoffeln.

Natan fragte, ob ich es nicht verrückt gefunden hätte, den Zettel mit seiner Telefonnummer.

»Warum denn?« Jetzt sah ich seine Unsicherheit, aber vielleicht wollte ich mir das auch nur gern einbilden.

»Machst du das öfter?«, fragte ich.

»Nein, nie.«

Ich lachte.

»Wirklich nicht«, sagte er.

»Ich glaube dir.«

Wir schwiegen einen Moment.

»Woher kommst du eigentlich?«, fragte ich.

»Wieso?«

»Du hast einen merkwürdigen Akzent.«

»Ach ja?«

»Ja.«

»Ich komme aus Amerika. Aus der Nähe von Chicago. Highland Park, um genau zu sein.«

»Ja, ja.«

»Glaubst du mir nicht?«

»Nein.«

Natan zog ein schwarzledernes Etui aus seinem Rucksack und nahm einen blauen Reisepass heraus. »Schau.«

Ich nahm seinen Pass. United States of America stand auf der Vorderseite. »Aber du sprichst Polnisch«, sagte ich.

»Meine Großeltern kamen aus Polen. Und mein Vater eigentlich auch, aber er war noch ganz klein, als er Polen verließ.«

Ich wollte den Pass öffnen, aber Natan nahm ihn schnell wieder an sich.

»Das Foto darfst du nicht anschauen«, sagte er. »Es ist schrecklich.«

Natan stand auf. »Sollen wir ein Stück weitergehen?«

Er nahm meine Hand und zog mich von der Bank.

»Etwas weiter in der Richtung ist ein Park. Wir können uns ins Gras legen, auch wenn das hier niemand tut. Es hat mich überrascht, dass hier niemand im Gras liegt. Wieso eigentlich nicht? Ist das verboten?«

»Ich weiß nicht«, sagte ich.

»Ich finde Warschau großartig«, sagte Natan. »Und du?«

»Ich bin nicht so oft hier«, meinte ich. »Meine Mutter kann Warschau nicht ausstehen.«

»Warum nicht?«

Ich zuckte mit den Schultern. »Einfach so.«

Ich wollte die Straße überqueren, aber Natan hielt mich zurück. »Nicht hier«, sagte er. »Da hinten ist eine Unterführung.«

Er nahm wieder meine Hand. »Ich halte dich lieber fest«, sagte er. Ich traute mich nicht, etwas zu sagen, aus Angst, er würde sie vielleicht loslassen. Es war wunderbar, so neben ihm zu gehen, und ich wünschte mir, alle würden glauben, wir wären ein Paar.

Wenig später lagen Natan und ich im Gras des Sächsischen Gartens. Wir schauten in die Blätter der Bäume. Ich zeigte auf eine Taube. »Gleich kackt sie, und dann fällt alles genau auf uns«, sagte ich. »Tauben kacken nie direkt nach unten«, meinte Natan.

»Nein?«

»Nein.«

»Woher weißt du das?«

»Erfahrung«, meinte er.

Ich musste lachen. »Das ist ein Witz, oder?«

»Ja«, sagte Natan.

Er rollte sich auf die Seite und sah mich an. Ich hoffte, er würde mich küssen. Aber nichts geschah.

»Schaust du mich an?«, fragte ich.

»Ja.«

Hinter uns hörten wir Kinder an einem Springbrunnen kreischen. Es herrschte reges Treiben im Park.

Ältere Leute unterhielten sich auf den Bänken und aßen geflochtene Brotkränze, von denen sie den Dutzenden gurrenden Tauben hin und wieder ein Stückchen zuwarfen.

»Darf ich ein Foto von dir machen?«, fragte Natan.

»Ein Foto?«

Er holte einen kleinen Fotoapparat aus seiner Tasche.

»Ein Foto von mir?« Ich setzte mich auf.

»Ist das so verrückt?«

Ich wusste es nicht. Bei uns fotografierte nie jemand. Nur zu offiziellen Anlässen. Zur Kommunion oder Firmung und auf Hochzeiten natürlich.

»Ich habe keine Ahnung, wie ich aussehe«, sagte ich.

»Du siehst großartig aus.«

Natan stand auf und machte ein paar Schritte rückwärts.

»Soll ich lachen?«, fragte ich.

»Wie du willst.«

Er knipste.

»Hast du es etwa schon gemacht?«

»Das war nur ein Versuch. Jetzt kommt das richtige.«

Ich versuchte zu lachen, aber es gelang nicht.

»Ich kann nicht auf Kommando lachen.«

»Macht nichts.«

Er drückte noch ein paar Mal ab.

»Darf ich eins von dir machen?«, fragte ich.

»Von mir?«

»Ja.«

»Was soll ich mit einem Foto von mir?«

»Das schickst du mir dann«, sagte ich.

Natan zögerte, gab mir jedoch den Fotoapparat. Er erklärte, auf welchen Knopf ich drücken musste und wie ich scharfstellen konnte. Ich schaute durch das Objektiv. Er schien viel weiter weg zu stehen. Als ob ich ihn aus weiter Entfernung anschaute.

»Hast du es schon gemacht?«, fragte Natan.

»Noch nicht«, sagte ich. »Jetzt lach schon.«

Natan lachte. Ich drückte auf den Knopf und hörte ein Klicken. Ich wollte noch ein Foto machen, aber das zweite Mal geschah nichts. »Du musst erst weiterspulen«, sagte Natan. Er nahm den Fotoapparat, drehte rechts oben an einem kleinen Hebel und gab ihn mir zurück. Er setzte sich wieder ins Gras. Ich betrachtete ihn durch das kleine Viereck des Apparates.

Er sah jetzt sehr ernst aus. Plötzlich summte es in meinen Ohren, und ich hörte das Blut durch meine Adern strömen.

»Was ist?«, fragte Natan.

»Nichts«, sagte ich. Ich hörte das Klicken der Kamera. Unwillkürlich hatte ich gedrückt.

Wir gingen in die Altstadt. Natan fotografierte mich überall. Ich fing an, mich daran zu gewöhnen.

»Bist du etwa Fotograf?«, fragte ich.

»Journalist«, sagte er.

»Und worüber schreibst du?«

»Über alles, was hier geschieht.«

»Nicht über mich, hoffe ich.«

»Nein, über dich würde ich lieber ein Gedicht schreiben. Oder ein Lied. Wenn ich es könnte.«

»Kannst du das denn?«, fragte ich.

»Nein«, sagte er. »Ich kann nur über schwierige Sachen schreiben.«

Er küsste meine Hand. Ich wollte, dass er mich auf den Mund küsste.

Am Spätnachmittag brachte mich Natan zurück zum Bahnhof. »Sehe ich dich wieder?«, fragte er. Ich nickte.

»Wann?«

»Wann du willst.«

»Morgen«, sagte er.

Ich lachte. »Nein, nicht morgen. Nächste Woche.«

Bei unserem zweiten Treffen war Natan schweigsam. Wir gingen in die Altstadt und setzten uns in ein Straßencafé. Wir tranken Bier. Ich wagte nicht, Natan zu fragen, was los sei. Ich hatte riesige Angst, dass er mich nicht mehr sehen wollte.

Natan sah mich plötzlich sehr ernst an. Er sagte, er sei das letzte Mal nicht ganz ehrlich gewesen. Ich spürte, wie sich die Muskeln in Po und Beinen anspannten, als mache sich alles in mir auf etwas gefasst.

»Das ist egal«, sagte ich.

»Das ist nicht egal«, erwiderte Natan. »Ich will gern ehrlich zu dir sein.«

Ich dachte, er würde sagen, er habe schon eine Freundin oder er wäre verheiratet. Stattdessen erzählte Natan, dass er nicht als Journalist hier war, sondern um über seine Familie zu schreiben. Sein Vater und seine Großeltern waren Juden und mussten im Krieg fliehen. Er war in Polen, weil er wissen wollte, woher er ursprünglich kam. Während er es erzählte, hielt er meine Hand fest.

Ich war erleichtert.

»Ist das alles?«, fragte ich.

»Ja.«

»Ich dachte, du würdest mir etwas Schlimmes sagen.«

Er lächelte.

Ich fragte, woher seine Großeltern kamen. »Aus Tykocin«, sagte Natan. Er war in der Hoffnung dorthin gefahren, mit Leuten reden zu können, die seine Großeltern gekannt hatten. Doch alle, die er traf, schüttelten den Kopf. Schließlich war er beim Frisör gelandet, und der hatte ihm die ganze Geschichte erzählt. Von den Deutschen, die im Wald außerhalb des Dorfes drei Meter tiefe Gruben hatten ausheben lassen. Alle hatten darüber gesprochen und es hatte viel Unruhe gegeben, vor allem unter den Juden. Wochenlang lagen die Gruben da, ohne dass etwas geschah. Manche hatten sich schon daran gewöhnt, bis überall Plakate mit der Mitteilung aufgehängt wurden, alle Juden hätten sich am nächsten Morgen um zehn Uhr auf dem Markt zu versammeln. Der Frisör war selbst noch ein Kind gewesen, konnte sich aber noch sehr gut daran erinnern, wie die gesamte jüdische Bevölkerung am nächsten Morgen mit dicken Mänteln, Decken und Koffern auf dem Markt erschienen war. Nur ein paar Leute hatten sich geweigert, dem Aufruf Folge zu leisten.

Es dauerte zwei Stunden, bis etwas geschah. Manche glaubten an ein Missverständnis und wollten schon wieder nach Hause gehen. Die Ersten hatten ihre Koffer in die Hand genommen, als die Deutschen mit großen Militärlastwagen auf den Marktplatz fuhren. Alle Juden wurden aufgefordert, einzusteigen. Niemand von ihnen kam zurück.

Im Dorf hörten sie die Schüsse. Zwei Tage später waren die Gruben zugeschüttet.

Natan sagte, er habe sich an einem Stuhl festgehalten, um nicht zusammenzubrechen, als der Frisör ihm die Geschichte erzählte. Tykocin sei nie mehr dasselbe gewesen, meinte der Frisör.

Als Natan geendet hatte, schwiegen wir lange. Wir bestellten noch ein Bier.

»Warum willst du diese Geschichten wissen?«, fragte ich nach einer Weile.

»Ich will einfach wissen, woher ich komme«, sagte er. Ich war mir nicht sicher, ob ich verstand, was er meinte.

»Warum erzählst du mir nicht von deiner Familie«, bat Natan. Ich schüttelte den Kopf. Nicht jetzt. Beim nächsten Mal vielleicht.

Natan nahm wieder meine Hand und streichelte die Finger. »Du hast schöne Hände«, sagte er. »Als ob du Klavier spielst.« Ich musste lachen und zog die Hände zurück. Ich hatte noch nie Klavier gespielt, nicht einmal eines berührt.

 

Den ersten Kuss gab mir Natan unter einer Linde am Rand der Altstadt. Wir hatten uns auf ein Mäuerchen gesetzt und schauten auf den Fluss. Natan zeigte auf das Stadion, das auf der anderen Seite der Weichsel lag.

»Weißt du, dass das Stadion schon seit Jahren nicht mehr benutzt wird?«

Ich legte den Zeigefinger auf seine Lippen.

»Sag nichts.«

Natan schaute mich an. »Küss mich!«, dachte ich. »Küss mich, küss mich, küss mich!«

Ich nahm seine Hand und schloss die Augen. Es dauerte einige Sekunden, bis ich seinen warmen Atem auf meiner Wange spürte. Ich wandte den Kopf und öffnete die Augen. Er sah mich direkt an. Sehr ernst.

»Jetzt küss mich schon«, sagte ich.

Und dann küsste er mich, genauso wie ich es schon hundert Mal geträumt hatte. Natan. Ich war verliebt in Natan, und Natan war verliebt in mich. Ich wollte bei ihm bleiben, ich wollte ihn heiraten, ich wollte Kinder mit ihm haben, ich wollte alles.

Man weiß es sofort, wenn es wahre Liebe ist. Sie steht sicher und fest wie ein Felsen in der Mitte eines Flusses und weicht selbst dem wildesten Toben nicht. Es ist, als sei man größer als man selbst. Als wohne man im Herzen statt das Herz im Körper. Ja, genauso fühlte es sich mit Natan an.

 

Zu Hause merkten sie, dass sich etwas an mir verändert hatte. Ich klopfte beim Essen nervös mit den Nägeln auf die hölzerne Tischplatte und starrte beim Wäschefalten minutenlang nach draußen. Manchmal noch mit einem Hemd oder T-Shirt in der Hand. »Was ist bloß los, Marlena?« Meine Mutter riss mir das T-Shirt aus den Händen. »So dauert es Jahre, bis alles im Schrank liegt.«

Natürlich wusste sie es. Was los war. Alle Mütter wissen so etwas, aber sie traute sich nicht zu fragen. Aus Angst, es wäre der falsche Junge. Sie hatte noch keinen Jungen in der Nähe unseres Hauses gesehen, also war sie sich sicher: Der ist nicht von hier.

Nein, er ist nicht von hier. Er kommt aus Amerika. Ihr würde das Herz stehenbleiben, wenn ich es ihr sagte. Amerika! Was willst du mit einem Jungen aus Amerika!

Ich wusste es nicht. Ich wusste nicht, was ich mit Natan wollte, aber ich wusste, dass es nur einen Platz auf der Welt gab, an dem ich sein wollte, und der war neben ihm, mit ihm, bei ihm.

Es war nicht einfach, Natan zu treffen, ohne dass meine Mutter argwöhnisch wurde. »Musst du schon wieder nach Warschau?«, fragte sie. Ich log, dass ich einer Freundin half, ein Brautkleid auszusuchen. »Ein Brautkleid aus Warschau? Wer kauft denn in Gottesnamen ein Brautkleid in Warschau?« Kopfschüttelnd lief sie die Kellertreppe hinunter. »Sei vorsichtig«, rief ich noch. »Sei du bloß vorsichtig.« Mehr sagte sie vorläufig nicht dazu.

»Meine Mutter wird misstrauisch«, erzählte ich Natan.

»Warum sagst du ihr nicht die Wahrheit?«, fragte er.

Die Wahrheit! Das war absurd. Wenn ich meiner Mutter die Wahrheit sagte, würde sie mich im Haus einsperren und einen der Nachbarsjungen mit einem Luftgewehr vor die Tür setzen und mit dem Auftrag, auf mich zu schießen, wenn ich den Hof verlassen wollte. »Warum?«, fragte Natan. Schon seine Frage machte mir klar, dass ich es ihm nicht erklären konnte.

»Und wenn du eine Arbeit hättest? In dem Hotel, in dem ich wohne. In dem wir uns begegnet sind. Hotel Europa.«

Ich sah ihn an.

»Wieso eine Arbeit in dem Hotel?«

»Als Küchenhilfe«, sagte Natan. »Ich kenne den Besitzer. Szymon. Er ist ein Cousin meines Vaters.«

»Aber ich kann überhaupt nicht kochen.«

»Dann lernst du es eben.«

Und so begann ich, in der Küche des Hotelrestau-rants zu arbeiten, in dem ich Natan begegnet war. In der Küche, in der die besten Hamburger des ganzen Landes gemacht wurden, wie Nachbarin Pola meinte. Meine Mutter hielt zu Anfang nichts davon, aber Nachbarin Pola war völlig aus dem Häuschen. Der Gedanke, ich würde lernen, echte amerikanische Hamburger zu machen und wer weiß was sonst noch alles! Sie zwang meine Mutter geradezu, der Arbeit zuzustimmen. »Wenn du Marlena nicht gehen lässt, gucke ich dich nie wieder an.« Ich weiß nicht, ob das für meine Mutter die schlimmste Vorstellung war. Auf jeden Fall ließ sie mich gehen, unter der Bedingung, dass ich jeden Montag nach Hause käme, um ihr zu helfen. Nur widerwillig hatte ich zugestimmt. »Wo schläfst du?«, fragte sie noch. »Es gibt ein Zimmer über der Küche«, sagte ich, »mit einem Bett, einem Tisch, einem Stuhl und einem Schrank.« »Mehr brauchst du auch nicht«, brummte sie. Mehr brauchte ich auch nicht.

Drei Monate lang war ich fast jeden Tag mit Natan zusammen. Wir gingen gemeinsam im Wald spazieren und lagen manchmal stundenlang auf einer Decke im Moos zwischen den Farnen. Natan brachte mir amerikanische Wörter bei, und ich erzählte ihm polnische Geschichten. Zwischendurch half ich in der Küche oder machte die Hotelzimmer sauber. Szymon war zufrieden. »Marlena ist eine gute Hilfe«, sagte er zu seinen Stammgästen. Ich mochte ihn.

Szymon leitete das Hotel zusammen mit seiner Cousine Basia. Sie waren beide Juden und hatten einander über vierzig Jahre nach Kriegsende zufällig wiedergefunden. Natan erzählte, Szymon sei in Holland geboren, weil seine Mutter zu Beginn des Krieges dorthin geflohen war. Szymons Eltern wollten eigentlich nach Amerika, genau wie Natans Großeltern, doch das Vorhaben scheiterte, als Szymons Vater eines Morgens in Warschau verhaftet wurde und ins Gefängnis kam. Szymons Mutter war völlig verzweifelt und wollte auf ihren Mann warten, doch die Nachbarn überredeten sie, so schnell wie möglich fortzugehen. Sie war damals im zweiten Monat schwanger. Wie geplant, war sie erst nach Holland gegangen. Dort sollte sie in Rotterdam auf das Schiff nach Amerika steigen. Doch so weit kam sie nicht. Natan erzählte, sie sei in Holland in einem Flüchtlingslager gelandet. Mit Ausbruch des Krieges wurde es zum Konzentrationslager. Szymons Mutter war damals zum Glück schon untergetaucht. Ich hatte Natan überrascht angeschaut, als er die Geschichte erzählte. »Hat Szymon dir das erzählt?«, fragte ich. Er wisse es von seiner Großmutter, meinte er. Szymon erwähnte lieber nichts aus dieser Zeit.

Ich fragte Natan, wann Szymon wieder nach Polen gekommen sei. »Irgendwann Anfang der neunziger Jahre«, sagte er.

»Warum?«, fragte ich.

Natan zuckte die Schultern. »Es hat anscheinend etwas mit Basia zu tun«, meinte er.

Ich sah Natan an und gab ihm einen Kuss auf den Mund. Wir saßen draußen auf einer Holzbank hinter dem Hotel. Da war es morgens noch angenehm kühl, weil die Sonne dort noch nicht hinkam. Ich wollte wissen, ob er auch mit Basia verwandt sei, doch er verneinte. »Ich zeige es dir«, sagte er. Er riss ein Blatt aus einem Schreibheft und nahm den Stift, der neben ihm auf der Bank lag. Er zeichnete seinen Familienstammbaum. In dem Durcheinander von Namen sah ich, dass Szymon auf derselben Linie mit Basia und Natans Vater stand, doch die eine war mit Szymons Vater und der andere mit Szymons Mutter verwandt. Es war kompliziert. Natan zog auf dem Blatt einen Strich von Szymons Mutter zu seiner Oma. »Die beiden sind Schwestern«, sagte er. »Verstehst du?«

Ich nahm ihm den Stift aus der Hand und schrieb meinen Namen neben seinen auf das Papier und dazwischen ein Herz. Unter unsere Namen zeichnete ich eine Figur. »Und wer ist das?«, fragte ich.

Natan sah mich an. Ein Feuerball schoss mir vom Bauch in den Kopf. »Was ist?«, fragte ich. »Was glaubst du?«, sagte er. Er nahm meine Hand und zog mich von der Bank. Während wir zusammen die Treppe zu dem kleinen Zimmer hochstiegen, das ich über der Küche bewohnte, stockte mir der Atem in der Kehle. Ich hatte furchtbare Angst, Szymon oder Basia würden uns sehen, doch im Hotel war es still. In meinem Zimmer legte ich mich angezogen aufs Bett. Ich bat Natan, die Gardinen zu schließen. Es wurde dämmrig im Zimmer. Natan zog sein T-Shirt über den Kopf und warf es über den Stuhl. Als er seine Hose auszog, schwankte er kurz. Ich lachte und schlüpfte aus Bluse und Rock. Einen Augenblick betrachteten wir einander. »Erst du«, sagte ich. Ohne Zögern streifte er die Unterhose ab. Ich hakte den BH auf, schob den Slip über die Füße und warf ihn auf den Boden, auf die anderen Kleidungsstücke. Natan stand jetzt neben mir. Ich nahm seine Hand und zog ihn zu mir. Und als ich wenig später spürte, wie seine Lippen über meinen ganzen Körper glitten, hatte ich ein Gefühl, von dessen Existenz ich nicht das Geringste geahnt hatte.

 

Natan musste unerwartet nach Hause zurückkehren. Er sagte, seine Mutter habe mit der Nachricht angerufen, seinem Vater sei etwas passiert. Er wusste nichts Genaueres. Er erzählte es mir, als wir zusammen auf einer blauen Decke auf einer Lichtung im Wald lagen. In ein paar Tagen müsse er fort. Ich spürte seine Unruhe. »Du fliegst also fort«, sagte ich.

»Ja«, sagte er.

»Wohin?«

»Nach New York und dann nach Chicago.«

Ich drehte mich auf die Seite und streichelte ihm mit dem Zeigefinger über die Stirn, an der Nase entlang, über den Mund, zum Hals und hielt bei der kleinen Kuhle unterhalb seines Halses an.

»Ich käme gern mit dir nach New York.«

»Ich kann dir davon erzählen.«

»Darf ich denn nicht mit?«

»Später, wenn zu Hause alles geregelt ist.«

Ich fragte ihn, was denn alles geregelt werden müsse, und er lachte.

»Alles Mögliche«, sagte er.

Wir schwiegen eine Weile.

»Und dann kommst du mich holen, und dann heiraten wir?« »Dann komme ich dich holen, ja.«

Ich rollte mich wieder auf den Rücken.

»Gut, dann darfst du mir von New York erzählen.«

Natan griff nach einem Weidenzweig, der auf dem Boden lag, und pulte die Rinde ab. Dabei redete er. Ich schloss die Augen. Er erzählte von der Freiheitsstatue im Hafen von New York, die eigentlich für den Suezkanal in Ägypten gebaut worden war. Er erzählte von der Weitläufigkeit im Central Park, von den Düften in Chinatown, dem Essen bei Silvio’s Famous Food, dem besten Italiener der Stadt, wie man sagte. Es sei nur ein kleiner Laden, doch die Leute stünden tagtäglich Schlange. Silvio, so erzählte er, war ein italienischer Emigrant, der Anfang der dreißiger Jahre vor der Krise im eigenen Land geflohen und auf das Schiff nach Amerika gestiegen war. Mit einundzwanzig Jahren hatte er damals keine Ahnung, was ihn erwartete. In New York angekommen, fand er Arbeit als Tellerwäscher in einer Küche, die kein Sonnenstrahl erreichte. Dort arbeitete Silvio zwölf Stunden am Tag, von zwei Uhr mittags bis zwei Uhr nachts. Nur mittwochs hatte er frei. Dann ging er zum Hafen, um sich die Freiheitsstatue auf Liberty Island anzuschauen. Mit diesem Bild vor Augen dachte er an seine Heimat, an seine Mutter und das Essen, das sie kochte. Er vermisste das Essen. Ihre Spaghetti, ihre Gnocchi, ihre Lasagne und ihr Ossobuco. Verglichen mit dem, was in der Küche zubereitet wurde, in der er jetzt arbeitete, war das Essen seiner Mutter himmlisch. Wenn er die Augen schloss, konnte er ihre Gerichte förmlich riechen und schmecken. Das frische Basilikum, den zerdrückten Knoblauch, das Olivenöl, die frisch gemahlenen Mandeln, die gegrillten Paprika. Er konnte das Brutzeln der Töpfe auf dem Feuer hören. Es war, als säße er jeden Mittwochnachmittag bei ihr in der Küche auf einem Hocker neben dem Herd. Er sah, wie sie die Zwiebeln schnitt, die Tomaten pellte, wie das Öl in den Topf glitt. Und jeden Mittwochnachmittag nährten diese Erinnerungen seine Sehnsucht nach ihren Gerichten.

So kam es, dass er eines Tages selbst anfing zu kochen. Genauso wie er es in Gedanken bei seiner Mutter sah. Er begann vorsichtig mit einer Suppe. Nach der Suppe kamen die Spaghetti Bolognese, und nach der Bolognese übte er sich in der Zubereitung von Lamm mit Lorbeer, Rotwein und frischem Oregano. Nach dem Lamm gab es keinen Weg zurück. Eines Tages betrat er ein Restaurant, an dessen Fenster ein Zettel hing: »Koch gesucht«.

Zwei Jahre später übernahm er das Restaurant von dem betagten Besitzer. Er entfernte das Aushängeschild und malte mit zierlichen Buchstaben Silvio’s Food auf die Fassade. Er kochte dort, wie seine Mutter kochte, und im Nu war sein Restaurant jeden Tag voll.

Silvio starb 1983. Er hatte drei Söhne. Der jüngste übernahm das Geschäft und veränderte seinem Vater zu Ehren den Namen des Restaurants in Silvio’s Famous Food.

Ich hörte Natan gern zu. Wenn er erzählte, war es, als läge ich mit dem Kopf auf einem weichen Kissen. »Woher weißt du all diese Dinge?«, fragte ich.

»Ich habe den jüngsten Sohn letztes Jahr für ein kulinarisches Magazin interviewt«, antwortete er.

Natans Leben war deutlich abenteuerlicher als meins. Manchmal machte ich mir Sorgen, was er mit einem polnischen Mädchen wie mir anfangen sollte, das noch nie über die Landesgrenzen hinausgekommen war und nur sehr mäßig Englisch sprach. Als ich das einmal ansprach, nahm er mich fest in die Arme und sah mir tief in die Augen. »Liebe hat nichts damit zu tun, wer du bist oder was du tust oder wo du gewesen bist! Liebe ist eine Sache des Herzens, und das Herz trifft keine falschen Entscheidungen.« Das gefiel mir sehr, und die Art, wie er es sagte, beruhigte mich.

Ich konnte mir kaum vorstellen, dass Natan in ein paar Tagen wirklich weg sein würde. »Ich werde dir schreiben«, sagte er. »Sooft ich kann.« Wir verabredeten, dass er seine Briefe an das Hotel schicken würde, damit meine Mutter sie nicht fände. Er würde mir Bescheid geben, wie ich ihn in Amerika erreichen konnte.

»I love you«, flüsterte er mir ins Ohr.

»I love you too«, antwortete ich.

3

Einen Monat nach Natans Abreise stellte sich heraus, dass ich schwanger war. Ich war wieder zu Hause, weil es nach dem Sommer zu wenig Arbeit für mich im Hotel gab. Meine Mutter merkte es als Erste. Mir war oft schlecht und ich war müde, wagte aber nicht, mir vorzustellen, dass ich schwanger sein könnte. Ich behauptete allen gegenüber, ich sei wahrscheinlich einfach etwas krank.

Eines Morgens nahm mich meine Mutter mit zum Arzt. »Ihre Tochter ist schwanger«, sagte er nach einer Untersuchung, die keine zehn Minuten dauerte.

Schweigend gingen wir nach Hause. Ich hatte meiner Mutter nie von Natan erzählt.

Ihre Lösung war simpel: Innerhalb der nächsten zwei Monate heiratest du Cousin Janek.

Janek war der Sohn von Onkel Konrad. Bei seiner Geburt war etwas schiefgegangen, niemand konnte sagen, was es war. Janek war fünfunddreißig, benahm sich aber wie ein achtjähriger Junge. Er hatte kurze Arme und Beine und riesige Hände und Füße. Wenn er bei uns daheim am Tisch saß, kicherte er die ganze Zeit. »Janek ist ein guter Junge«, sagte mein Onkel und schlug ihm dabei auf die Schulter. »Janek will ein Mädchen«, sagte Janek dann, und Onkel Konrad lachte. Und meine Mutter lachte und mein Vater. Ein Mädchen, ja, ein Mädchen, das wollen alle Jungs.