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EMMY HENNINGS

GEFÄNGNIS

DAS GRAUE HAUS

DAS HAUS IM SCHATTEN

 

Herausgegeben und kommentiert von

Christa Baumberger und Nicola Behrmann

 

Unter Mitarbeit von Simone Sumpf

 

Mit einem Nachwort von Christa Baumberger

 

     WALLSTEIN VERLAG

GEFÄNGNIS

DAS GRAUE HAUS

DAS HAUS IM SCHATTEN

Zu dieser Ausgabe

Abkürzungen und Siglen

Kommentar

Wirkungsgeschichte von Gefängnis

»Ich bin gewiss nicht unschuldig.« Emmy Hennings und das Gefängnis. Nachwort von Christa Baumberger

Literaturverzeichnis

Dank

 

 

 

Gestaltung: Cornelia Feyll und Friedrich Forssman

Gesetzt vom Verlag in der Tisa Pro und Tisa Sans Pro

Druck: Hubert & Co, Göttingen

Fotoporträts Emmy Hennings aus dem Nachlass Hennings (SLA)

 

Die Deutsche Bibliothek – CIP-Einheitsaufnahme

Ein Titeldatensatz für diese Publikation

ist bei der Deutschen Bibliothek erhältlich.

 

ISBN (Print) 978–3-8353–1834–2

ISBN (E-Book, pdf) 978-3-8353-2943-0

ISBN (E-Book, epub) 978-3-8353-2944-7

EMMY HENNINGS Werke und Briefe

Kommentierte Studienausgabe

 

Herausgegeben im Auftrag

des Schweizerischen Literaturarchivs

und des Vereins zur Förderung

des Schweizerischen Literaturarchivs

 

 

GEFÄNGNIS

 

 

Hugo Ball zugeeignet.

 

 

ERSTER TEIL

Inzwischen sind drei Monate vergangen.

Ich habe noch keine Vorladung zur Hauptverhandlung bekommen.

Ich bin nach M. zurückgekehrt. Ich wage nicht, ein Engagement ins Ausland anzunehmen. Ich bin besorgt, meine eventuelle Verurteilung könnte eine sofortige Entlassung aus dem Engagement zur Folge haben.

Ich halte meine Angelegenheit geheim. Warum?

Ich müßte mich erklären; begründen müßte ich .. von Anfang an … aber wer fragt nach mir? Sollte jemand nach mir fragen .. Oh das Interesse! Restlos wollte ich mich bekennen. Aber die Angst, nicht verstanden zu werden, läßt mich schweigen.

Nur angehört werden, und alles wäre gut. Das ist es: angehört werden. Ich glaube, erstaunt und beglückt würde ich fragen: »Lieben Sie mich denn? Neugierig sind Sie nicht; denn wer kann neugierig sein, das Unglück des andern zu hören?«

Warum kann ich nicht sprechen? Abends singe ich; trete in einer Künstlerkneipe auf.

Man sagt mir manchmal am Abend: »Sie haben famose Schlager.« Oder: »Sie sorgen wirklich für Abwechslung im Programm.«

Dann fällt mir mein Prozeß ein. Das Programm; meine Zukunft. Zukunft? Klingt das nicht anspruchsvoll? Welche Zukunft kann jemand haben, der für die Unterhaltung des Publikums sorgt? Ach, die Zukunft wird kommen. Aber welche Zukunft?

Ich will meinen Prozeß beschleunigen. Will ich mein Unglück abkürzen? Umgehen? Muß ich denn da hindurch? Gelingt mir keine Schiebung? Ich möchte mein Leben wohl arrangieren nach meinem Gefallen. Ich versuche. Und ich schreibe an das Königliche Amtsgericht folgenden Brief:

»Sehr geehrter Herr!

Da ich für vier Wochen nach Paris reisen möchte, bitte ich Sie höflichst, mir mitzuteilen, ob es nicht möglich ist, die Verhandlung entweder in diesen Tagen oder nach meiner Zurückkunft aus Frankreich anzusetzen. Dankbar wäre ich Ihnen für baldige Antwort.

Mit vorzüglicher Hochachtung usw.«

Ich hoffe, daß ich jetzt alles gut erledigt habe. Habe ich nicht einen Weg gefunden, meinen Prozeß zu beschleunigen oder hinauszuschieben? Die verzwickte Situation bestimmt meine Handlungen, scheint mir, nicht ich.

Gleichviel. Ich werde meine Sachen packen. Ich werde nach Paris fahren. Etwas paßt mir nicht.

Daß ich immer wegfahre, wenn mir etwas nicht paßt. Ich habe ein Telegramm bekommen. Nächste Woche werde ich in Paris erwartet.

Es vergehen zwei Tage. Ich bin müde vor Aufregung. Vielleicht habe ich Reisefieber. Aber das ist gleichgültig. Warum sollte ich kein Reisefieber haben?

Ich bleibe zu Bett. Da kann mir wohl nichts passieren, denke ich …

Es ist acht Uhr früh. Es klopft. Ob ich die Tür wohl verschlossen habe? Soll ich aufstehen, um nachzusehen? Es steht doch jemand vor der Tür …

Es klopft schon wieder. Ich gebe keine Antwort. Nicht um alles in der Welt. Wenn es aber die Antwort vom Amtsgericht ist? Es bleibt mir nicht viel Zeit zum Ueberlegen. Soll ich sagen: »Bedaure, bin soeben verrückt geworden?« Oder: »Ich bin im Begriff zu sterben?« Das Gesicht zur Tür gewandt, riskiere ich, halblaut zu äußern »Der Tod entschuldigt alles.«

Ein Herr tritt ein. Tür war nicht verschlossen. Natürlich nicht …

»Also, ich komme da von der Polizei. Tag.«

»Ach so.«

Ich richte mich ganz frisch in die Höhe. »Das ist aber nett! Bringen Sie mir vielleicht die Antwort auf meinen Brief? Nun, wie steht’s?«

»Ja, das weiß ich auch nicht. Kommen Sie mal … na sagen wir … bis zehn Uhr aufs Polizeipräsidium. Zimmer 144. Dann können Sie ja sehen.«

»Ja, das kann ich … ja … gewiß … warum nicht? Also um zehn Uhr sagten Sie? Um zehn Uhr … also … ja … sagten Sie nicht: um zehn Uhr Polizeipräsidium?«

»Ja. Wissen Sie, wo das ist? Sie fahren mit der Linie 6, steigen am Bahnhofsplatz um in die 9, dann fahren Sie direkt drauf los.«

Ich fange an nachzudenken: … dann fahre ich direkt drauf los …

»Ja, ich weiß nicht, wo es ist, aber das ist das wenigste. Das finde ich schon mit der Zeit.«

Der Herr sagt bedenklich:

»Ja, daß Sie aber auch pünktlich kommen.«

»Das ist doch selbstverständlich. Ich werde mich sofort auf den Weg machen.«

»Nein, das ist nicht nötig. Es ist erst zehn Minuten nach acht.«

Das finde ich wunderbar. Erst zehn Minuten nach acht? Ich rechne blitzschnell und immer falsch: sechzig Minuten sind ein Jahr, dreiviertel Minuten bis neun … bald Weihnachten; fünfzehn Minuten … März … es wirbelt … selbst mein Irrtum hat noch Gesetze. Meine Hände kleben. Ich krampfe unter der Bettdecke meine Fußzehen zusammen. Das kann ich ganz gut, aber es geht doch nicht auf die Dauer. Wenn der das sieht, denkt er Wunder was. Ob ich ihn mal frage, warum er denn noch immer dasteht, während mein Wecker auf die widerlichste Weise unbarmherzig tickt?

Ich ziehe den Wecker auf. Ich tue ganz unbefangen. Ich stelle den Wecker auf das Nachttischchen zurück. Dort liegen so vornehm meine Bücher. Ja, die liegen sehr vornehm da … Aber das Polizeipräsidium … Steige in die Linie 9, fahre direkt drauf los …

»Bitte, sagen Sie mir, aber wirklich, frei heraus, ob ich verhaftet werde. Das möchte ich sehr gerne wissen. Es nützt mir ja alles nichts. Das muß ich wissen. Danach muß ich mich richten. Das wäre nämlich das Schlimmste, was mir passieren könnte. Bitte, nehmen Sie doch Platz. So. Ja, sehen Sie, das Verhaften könnte ich nicht vertragen … Ich kann Ihnen das nicht so schnell erklären.«

»Tja, ich verstehe Sie vollkommen, Fräulein.«

Der Herr sieht mich lauernd von der Seite an.

Wie von selbst kommen mir die Worte:

»Ich will nicht mißtrauisch sein, aber sprechen Sie mit mir. Sagen Sie mir, ob ich verhaftet werde. Vielleicht ist es für Sie nicht so wichtig wie für mich. Verzeihen Sie, ich wollte Sie nicht verletzen. Denken Sie sich, Sie würden verhaftet … Verzeihen Sie, wenn das so unmöglich ist … dann allerdings … Ich meinte nur so. Ich dachte immer, es gibt nichts, was unmöglich ist. Ja, sehen Sie: vielleicht werde ich sogar verhaftet. Sogar? Ich bin nichts Besonderes, bin gar nichts, ein Mensch, nein, es ist nicht wahr. Ich muß etwas anderes sein. Sagen Sie: werden andere auch aus dem Bette geholt, um verhaftet zu werden? Daß ich daran nie gedacht habe! … Sie haben keine Zeit zur Unterhaltung? Ja, ich begreife, aber das ist keine Unterhaltung, glauben Sie mir doch … Ach, Sie sehen sich meine Postkarten an? Bromsilber. Kosten dreißig Pfennige das Stück.«

»Sie sind Sängerin, Fräulein?«

Der Herr wühlt in meinen Bildern, die auf meinem Tisch liegen. Riecht an den halbwelken Rosen, die man mir gestern abend geschenkt hat.

»Wo treten Sie denn auf, Fräulein?«

Er setzt sich und kreuzt dabei die Beine.

Es kribbelt mir in den Fingerspitzen.

»Wo ich auftrete? Ach, ich weiß gar nichts. Verzeihen Sie, ist das nicht alles gleichgültig? Ueberflüssig? Wird man mich heute früh verhaften? Bitte, sagen Sie es gleich auf der Stelle.«

Der Herr blättert in einem Buch, sagt, indem er mich ansieht, langsam:

»Warum sollten Sie denn verhaftet werden?«

»Ja, ich weiß ja auch nicht …«

Dann steht er plötzlich auf, wendet sich zum Gehen.

»Also Sie werden nicht verhaftet, Fräulein. Davon ist gar nicht die Rede.«

»Ach, warum haben Sie das nicht gleich gesagt? Ja, da sieht man’s –.« Ich muß lächeln. »Ich hatte schon Angst, Angst hatte ich …«

Der Herr lächelt auch: »So so«.

»Ja, Angst hatte ich, aber jetzt ist alles gut. Ich werde pünktlich kommen, freilich, und vielen Dank.«

»Adieu.«

Dann kleide ich mich rasch an.

Kaum habe ich meine Toilette beendet, klopft es schon wieder.

Ein Herr tritt ein: Gesprenkelter Schnurrbart, beleibt, derber Anzug, solider Regenschirm aufgerollt, als wolle der Herr eine Landpartie machen.

Er grüßt eilig, wendet stumm den Rockaufschlag und zeigt eine dort befestigte Marke.

Ich halte den Herrn für das Mitglied eines geheimen Bundes, das an die falsche Adresse geraten ist.

Ich sage:

»Sie irren sich wohl.«

Er zeigt eindringlicher auf seine Marke.

Ich:

»Was soll das? Ich bin in Eile.«

»Bin von der Kriminalpolizei. Sie müssen sofort aufs Polizeipräsidium kommen.«

»Das weiß ich ja schon. Bin schon im Begriff. Es war doch jemand hier, der mich unterrichtet hat.«

Der Beamte sieht überrascht aus. Wie mir scheint, ist er enttäuscht.

»Ach so, war denn der Schulze II schon hier?«

»Ich kenne keinen Schulzen.«

»So. Na, dann kommen Sie, bitte, sofort. Der Herr auf Nummer 201 hat nur bis elf Uhr Dienst. Aber, daß wir uns darauf verlassen können.« Er hebt mahnend den Regenschirm empor. »Ganz bestimmt, Fräulein.«

»Ja, ja, habe selbst das größte Interesse.«

Ich öffne ihm die Tür. Er geht.

* * *

Fünf Minuten später bin ich bereit, das Haus zu verlassen. Unwillkürlich bekreuzige ich mich. Das tue ich aber manchmal, ist nichts Besonderes. Vielleicht nehme ich den Rosenkranz mit? Schaden kann das nicht. Vielleicht nehme ich Geld mit? »Sie müssen immer Gold bei sich tragen. Gold bringt Glück.« Wo habe ich das doch gelesen?

Ich habe eine Menge Markstücke in meiner Tonbadschale, und ein Zwanzigmarkstück. Das werde ich mitnehmen.

Ich krieche unter den Schrank, wo die Tonbadschale steht. Das Goldstück liegt so hübsch glänzend zwischen den Markstücken! Und eigentlich brauche ich doch das Goldstück für die Reise; denn ich will doch reisen … Ich bürste den staubigen Rock ab. Wecker tickt. Gott im Himmel, die Zeit, die Zeit! Zweiundzwanzig Minuten vor zehn! Ich eile, und die Treppen hinunter …

Und draußen ist Sonne und tiefblauer Himmel. Ich bin in größter Eile, aber wer dieses Frühlingswetter nicht bemerkt, der ist überhaupt kein Mensch. Bei solchem Frühlingswetter wird nicht verhaftet! An solchem Tage muß sich die ganze Welt lieben. Ich erwäge es genau. Um der Sonne willen; weil der Himmel so wunderbar blau ist … Um des Himmels willen. Um Himmelswillen: »Auto!«

»Schnell: Polizeipräsidium!«

Ach ist das schön, Auto zu fahren! Und das erste Grün der Bäume! Wie freundlich sieht alles aus! Klar und hell … So hell …! Das muß jeden Menschen verführen. Wie wäre es möglich, sich nicht zu lieben bei solchem Wetter! Und so brennend zu lieben, daß es bis über die Regenzeit anhält. Entweder liebt man sich oder man liebt sich nicht … Halbe Sachen gibt’s überhaupt nicht.

Es gibt Veilchen auf der Straße. Menschen in hellen Kleidern. Das Auto hält. Ich steige aus.

»Soll ich warten?« fragt der Chauffeur höflich.

»Ja, gerne, wenn Sie wollen. Sie können auch weiterfahren, wenn Sie wollen. Ganz wie Sie wollen, aber das Geld will ich Ihnen geben.«

»Danke vielmals. Danke sehr. Grüß Gott, Fräulein.«

Ach, das klingt!

»Grüß Sie auch Gott! Djö!« und fliege die sonnenbestrahlte Freitreppe hinan.

Ach das saubere Haus! Alles gefällt mir. Alles entzückt mich: Die sauberen grauen Türen, hellgrau lackiert. Gewiß frisch gestrichen. Die blank geputzten Messingtürklinken! Wer das wohl alles beaufsichtigt, damit alles so adrett bleibt? In meiner Pension ist doch alles so schmuggelig! Hier sich ein Zimmer mieten!

Nummer 140 … Eine Treppe höher … 143 … Hier 144.

Ich klopfe schnell, resolut. Da drinnen werde ich erwartet.

Ein Schreibstuben-»Herein«. Hat so beschäftigt geklungen. Gleichviel: ich öffne.

Ein sonniges, sauberes Bureau. Hohe Fenster. Und diese Ordnung! Unendlich viele Fächer an den Wänden. Helles Holz, Bücherregale, viele, und dabei diese Ordnung! Staunenswert.

Habe ich eigentlich schon gegrüßt?

Da sitzt ein Herr ganz geduckt am Schreibtisch. Er sieht nicht von seiner Arbeit auf.

»Guten Morgen.«

»Tag. Sie wünschen?«

»Sie haben gebeten, zu kommen. H. ist mein Name.«

»So? Na, da können Sie sich einen Augenblick setzen.«

»Danke sehr.«

Der Herr schreibt noch eine Weile weiter. Dann besinnt er sich, sucht auf dem Schreibtisch einher und holt einen Brief aus einer reichlich gefüllten Mappe.

»Haben Sie diesen Brief geschrieben?«

Ich erkenne meine Handschrift, freudig erregt. Jetzt geht doch etwas vorwärts. Es wird endlich etwas erledigt.

»Ja, das ist mein Brief. Und wie ist es nun, kann ich reisen? Es wäre mir sehr angenehm.«

Der Herr antwortet nicht, sieht mich zum ersten Male richtig an über die grellen Brillengläser hinweg. Er hat ein überanstrengtes Gesicht. Ein Beruf, der immer sitzend vor sich geht, kann auch nicht gesund sein. Und ich entschuldige seinen strengen Ausdruck.

Der Herr blättert flüchtig eine Aktenmappe durch, von der ich annehme, daß sie mein Schicksal enthält.

Er interessiert sich nur einen Augenblick, klappt plötzlich die Mappe zusammen, erhebt sich, geht ans Telephon, kurbelt und ruft:

»Nummer 7 soll kommen!« hängt den Hörer ein, setzt sich wieder, und ich warte.

Warte und werde ein wenig unruhig. Beruhige mich wieder. Man scheint hier sehr beschäftigt zu sein.

Es ist so still im Zimmer.

Wenn der Herr doch ein Wort sagen möchte!

Fliegen summen am sonnigen Fenster.

Schade, daß ich hier so lange warten muß … Ist das ein herrlicher Sommertag!

Ich sehe nach meiner Armbanduhr. Zwanzig Minuten bin ich schon da.

Ich entschließe mich:

»Verzeihung, ich habe wenig Zeit. Dauert es noch lange?«

»Nein, dauert nicht mehr lange.«

Er stempelt schon minutenlang.

Ich habe die abgestempelten Zettel sorgfältig gezählt. Ich sehe immer zu, was dieser Herr tut. Er hat bis jetzt dreizehn Zettel abgestempelt. Das muß ein Befugter sein, denke ich mir.

Jetzt klopft es ganz stark. O, bekomme ich da Herzklopfen! Das wird derjenige sein, der mir die Antwort auf meinen Brief bringt.

Ein großer Schutzmann tritt ins Bureau. Bleibt nach kurzem militärischem Gruß an der Tür stehen.

Der Herr am Schreibtisch gibt ihm einen Zettel. Der Schutzmann grüßt noch einmal und sagt: »Jawohl.«

Dann wendet sich der Herr an mich:

»Also Sie sind verhaftet.«

»Ah!«

»Vorläufig. Wegen Fluchtverdachts. Jetzt können Sie mit dem Herrn gehen.« Er deutet auf den Schutzmann.

… Ich kann mit dem Herrn gehen? Vorläufig? Und verhaftet?! Was ist das! Das kann nicht stimmen …

»Das ist ein Irrtum. Das muß ein Irrtum sein! Wohin wird mich dieser Herr führen?«

Ich bekomme keine Antwort auf meine Frage. Oder doch?

»Machen Sie keine Umstände! Sie sind wegen Fluchtverdachts verhaftet.«

»Wer, ich? Ich bin doch nicht fluchtverdächtig! Weiß Gott, Sie tun mir Unrecht! Wie kann man nur so etwas sagen? Es tut mir leid, aber das muß ich doch sagen; ich habe Ihnen doch meine Absicht mitgeteilt. Wie kann ich nur verdächtig sein? Ich bin freiwillig zu Ihnen gekommen, um eine Antwort abzuholen, und Sie verhaften mich? Sie tun mir Unrecht!«

»Lassen Sie das! Hat gar keinen Sinn, was Sie sagen. Ihre Beschwerde können Sie im Untersuchungsgefängnis vorbringen.«

Dieser Mensch hat es eilig, und er macht ein verärgertes Gesicht, als sei ich ihm sehr lästig.

»Untersuchungsgefängnis?!« Ich wünsche sehnlichst, mich verständlich zu machen. »Das ist es ja gerade, was ich nicht will. Damit kann ich doch gar nicht erst anfangen! Wer läßt sich denn das gefallen! Das ist doch keine Manier! Verzeihen Sie, ich kann nicht anders darüber denken. Was habe ich denn nur getan? Machen Sie eine Ausnahme mit mir! Man muß doch mit jedem Menschen eine Ausnahme machen! Hören Sie!«

Er hört gar nicht.

Der Schutzmann steht wie angegossen; obgleich ich ihn immer ansehe. Er sieht aus, als wäre er taubstumm.

Ich bekomme grenzenlos Angst und gehe in die äußerste Ecke des Zimmers. Mir ist, als sollte ich ermordet werden. Aber ich habe noch soviel Geistesgegenwart, zu überlegen, ob es Sinn hat, mich zu verteidigen.

»Also vorwärts! Marsch!« ruft der Schutzmann.

Der Kerl geht auf mich los. Dolche springen mir aus den Augen. Mein Blut zischt vor Wut. Ich bin gerissen, ich fliege in die Ecke des Zimmers neben der Tür.

Blitzschnell: will weg, rechts den langen Korridor entlang … scharfe Ecken schneiden … Treppengeländer hinunterrutschen … Los! Ich reiße die Tür auf … Drei Schritte nur … Der Beamte von heute früh fängt mich direkt auf. Ich zische: »Schweinehund! Loslassen! Es geht noch! Weg von mir! Weg! Los! Ich schreie! Los! Weg!«

Ach, der Kerl hat mich am Arm, ich weiß nicht wie lange.

Und es überfällt mich mit einemmal: es ist alles aus, alles aus. Und schluchze, gehe zwischen dem Herrn von heute früh und dem Schutzmann. Ich gehe, gehe folgsam, betäubt und wirblig … schluchzend … und doch denke ich: ich will mich sammeln. Ich will es nicht aufgeben. Werde frei sein. Will mich nur erholen. Eine Minute. Zwei Minuten. Will alles versuchen und sei es das Raffinierteste.

Könnte ich doch das Haus umwerfen! Allmacht her! Ich habe nichts, was schneiden könnte … keine Nagelschere, kein Lysol, kein Vitriol. Und – alle Apotheken sind voll davon angefüllt. Und hier ist nichts … ich kann mich nicht verwandeln … ich bin ohnmächtig. Kein Gedanke, kein Glaube kann Berge versetzen. Und wir gehen weiter und weiter. Und ich weine nicht mehr, bin leer und immer leerer.

»Na, wie kann man auch so dumm sein, einen solchen Brief zu schreiben! Das haben Sie gut gemacht!«

Wer hat das gesagt? Wer hat da gekichert? Ach so, der Herr von heute früh! Ich höre:

»So was schreibt man doch nicht erst!«

Ich zische:

»Das weiß ich jetzt auch, Sie! Das brauchen Sie mir nicht zu sagen, Sie!«

Dann ekelt es mich, daß ich mich mit dem Menschen einlasse, und schweige.

Wir sind bei dem Portal angelangt, das nach der Straße führt. Der Beamte verläßt uns, »Grüß Gott!«, geht durch das offene Portal, und da sehe ich einen Teil der hellen Straße, und es flammt in mir auf. Ach, die Sonne! Ich werde die Sonne nicht vergessen können. Es tut mir leid um die Sonne. Ich werde sie nicht entbehren können. Und ich denke, wie es sein wird, wo ich hinkommen werde, und will den Schutzmann fragen, ob es sonnig ist im Gefängnis.

Wenn er dann aber nein sagt?

Wäre ich nur nicht an solchem Tage in dies Haus geraten! Es könnte doch Gewitter sein, ebensogut Gewitter. Aber die Sonne …

Unterdessen steigen wir Steintreppen hinab. Es wird kühler und dunkler. Wie merkwürdig ist das doch alles eingerichtet! Wer mag sich das ausgedacht haben? Es kann kein Zufall sein, daß man einen Gefangenen allmählich vom Licht ins Dunkle, Kalte führt. Ein riesiger Eisschrank fällt mir ein. Kühlraum zum Aufbewahren. Ob man hier frisch bleibt?

Eiserne graue Türen mit schwarzem, noch derberem Eisen beschlagen. Diese Stabilität! Nein, da gibt es keinen Weg mehr! Eine Tür neben der andern. Immer mehr Türen. Und still ist es hinter diesen Türen … Ob jemand dahinter ist? Aber so still? Wenn nun doch Menschen da sind? … Wie kann man nur so still sein? Wie in Grabkapellen so still?

Und dann dieser endlos lange Korridor …

Ich sehe den Schutzmann an. Fragen brennen auf meinen Lippen. Das unberührte Gesicht des Schutzmanns läßt sie ersterben.

Schlau will ich sein; will an die Sonne denken, und an die Straßen, und an … ja … ich weine still.

»Was ist denn?« fragt der Schutzmann und bleibt stehen.

»Ach, es ist zu traurig. Ich will nach Hause. Ich bin auch müde. Es könnte genug sein. Ich möchte nach Hause.«

»Das geht nicht.«

»Warum denn nicht?«

Er läßt wenigstens mit sich reden.

»Seien Sie doch vernünftig. Sie sind doch kein Kind mehr. Wir haben schon andere Verbrecher gehabt wie Sie.«

»Ja?«

»Na, was glauben Sie! Kann’s denn so schlimm werden? Die Zeit, ich weiß ja nicht wie lange, werden Sie schon noch runterreißen. Daran stirbt man nicht.«

Daran stirbt man nicht? Spricht er mir nicht gut zu? Könnte er es nicht gut mit mir meinen? Und ich will es versuchen, bleibe stehen, will vorerst nicht weitergehen.

Der Schutzmann: »Na, was ist jetzt?«

»Herr Schutzmann, lieber Herr! Sagen Sie mir, um was ist es Ihnen zu tun? Was haben Sie davon, wenn Sie mich in diesen Keller bringen? Gibt es denn gar nichts anderes für Sie? Glauben Sie mir, was Sie machen, bringt Ihnen kein Glück. Verzeihen Sie – aber Schutzmann sein, das ist doch gar kein Beruf!«

Er unterbricht mich: »Jetzt hören Sie aber auf!«

Jetzt soll ich aufhören, wo ich anfangen will?

»Nein, ich bitte Sie, warum wollen Sie nicht mit mir sprechen? Ich bin so gut und so schlecht wie Sie. Ach nein, hören Sie! Kein Mensch sieht uns. Lassen Sie mich gehen. Wollen Sie? … Vielleicht meine Armbanduhr? Es gibt nichts, was ich Ihnen nicht geben will. Alles gehört Ihnen. Bücher … Interessieren Sie sich vielleicht für Nietzsche? »Wille zur Macht«? Können Sie haben. Alles, was Sie wollen.«

»Jetzt hören Sie aber auf. Das ist Bestechungsversuch. Das will ich nur gesagt haben. Und damit Schluß.«

Wir gehen weiter.

Ein Mensch kommt uns entgegen in marineblauer Wolljacke. Schirmmütze und Schlüsselbund. Er pfeift durch die Zähne, sorglos und mir vollkommen unbegreiflich. Der kann pfeifen!

Plötzlich möchte ich auch pfeifen. Aber das würde sich wohl nicht passen. Ich möchte sehr, sehr gerne pfeifen; aber ich beherrsche mich, und dabei empfinde ich mich unnatürlich. Während ich so ans Pfeifen denke, gibt der Schutzmann dem andern in der blauen Jacke den Zettel und mich dazu. »Wie geht’s?« fragt er.

»So so. ’s wär’ besser zu fahren,« sagt der blaue Mann. Der ist ganz nett. Der Schutzmann läßt uns allein.

Ich wende mich diesem neuen Menschen zu.

Er sieht gemütlich aus, als fühle er sich zu Hause. »Haben Sie schon zu Mittag gegessen, Fräulein?«

»Ach, ich weiß gar nichts mehr. Was ist Mittagessen! Klipp und klar: raus will ich! Weiter gar nichts.«

Der lacht. »Na, dann beruhigen Sie sich mal!« und schließt die Tür auf, vor der er gerade steht. »So, da ist Gesellschaft.«

Ein schmaler Raum. Etwas Weibliches hockt auf einem Holzbrett, das Gesicht im Schoß vergraben. Gefaltete schmutzige Hände halten hochgezogene Beine eng umschlungen. Der unerwartete Anblick läßt mich den blauen Mann ganz vergessen. Als ich mich plötzlich umwende zur Tür: eisern, ohne Griff, gibt sie nicht nach …

Ich stemme meine beiden Hände gegen die Tür, tobe und trommle: »Das gibt nicht nach! Das gibt nicht nach!«

Das Mädchen auf dem Holzbrett hebt ein ungewaschenes Gesicht empor, streicht sich die gelben Fransen aus der Stirn und läßt den Kopf wieder sinken.

Ich setze mich zu ihr auf die Bank, schaue ihr ins Gesicht.

»Wie lange sind Sie schon da?«

»Seit gestern nachmittag,« sagt sie. »Punkt fünf bin ich eingeliefert worden.«

»Und das lassen Sie sich gefallen?«

Sie ist sehr erstaunt. »Ja, was soll ich denn machen? Sie haben sich’s doch auch gefallen lassen.«

»Ja, das ist wahr.« Ich tobe in der Zelle auf und ab: »Daß ich mir das gefallen lasse! Sie haben recht. Ja. Aber hören Sie mal …« Ich setze mich wieder zu ihr hin. »Hören Sie, das geht doch nicht. Das dürfen wir uns gar nicht gefallen lassen. Wir beleidigen uns ja selbst. Bleibt das denn so? Ist das immer so schrecklich? Seien Sie mir nicht böse, daß ich soviel frage. Ich bitte, seien Sie mir nicht böse. Sprechen Sie zu mir. Gewiß ist es schwer für Sie. Aber sprechen Sie. Zu mir können Sie sprechen. Mir können Sie alles sagen. Ich will alles verstehen. Ich will mir alle Mühe geben. Vielleicht weiß ich etwas für Sie. Ist Ihnen nicht entsetzlich zu Mut?«

Ach, da sitzt sie, ein abgegriffenes Handtäschchen auf dem Schoß, und jetzt sieht sie mich zum ersten Male richtig an und sagt:

»Ja, sehen Sie, bei dem einen ist’s so, beim andern anders. Ich war das erste Mal genau so aufgeregt wie Sie. Gestrampelt hab’ ich mit Händen und Füßen. Hat mir nicht geholfen … Aber jetzt – mein Gott! Ich hab’ mich dran gewöhnt.«

Und das sagt sie so still. Ich bin entsetzt.

»Ja, kann man sich daran gewöhnen? Gefangen zu sein? Dann kann man sich ja auch daran gewöhnen – ja weshalb denn nicht? – täglich durchgepeitscht zu werden. Wie kann man sich an etwas gewöhnen, womit man nicht einverstanden ist? Damit dürfte man gar nicht anfangen. Und ich …«

Oh mein Gott: Habe ich nicht schon alles verloren? Ehre, die Einschätzung der anderen? Ich will als Mensch geachtet werden. Man sperrt wilde Tiere ein. Aber Menschen? Wer gab das Recht, zu richten? Und mir fällt ein: Der Beamte, der mich einsperren ließ – war er empört? Er war es doch nicht. Wen habe ich beleidigt? Ich habe niemanden beleidigen wollen. Und Kläger, Richter, Beamte, Schutzleute ziehen an mir vorüber. Keiner von ihnen war empört, niemand gekränkt. Wie sahen diese Menschen aus? Alle hatten es eilig: das war es. Ich erinnere mich gut. So schnell als möglich wollten sie mich los sein. Warum war ich ihnen so lästig? Jetzt sperrt man mich ein. Wozu? Muß ich jetzt anders werden? Besser? Schlechter? Gestraft? Kann ich anders werden, gegen meine Natur? Soll ich lernen, mich an ein anderes Leben zu gewöhnen? Was soll das? Wozu will man mich zwingen?

Ich laufe immer auf und ab. Ich sehe: wenn ich nicht spreche, sitzt das Mädchen ganz teilnahmslos da. Ihre Ruhe regt mich auf.

Sechs Schritte auf, sechs Schritte ab. Ich nehme mir vor: Jedermann werde ich sagen: »Dressieren lasse ich mich nicht.«

Stumpf sitzt sie da. Sie wartet. Wie regt sie mich auf! Ich trete vor sie hin.

Sie schaut gar nicht auf, starrt auf den Boden. Was denkt sie? Denkt sie überhaupt nicht? Ist sie gleichgültig?

Ich fasse sie an beiden Schultern. Wie verschlafen sie ist! Ich muß sie schütteln. Ich kann nicht anders.

»Wachen Sie doch auf! Sie schlafen ja beinahe.«

»Der Polizeiwagen fährt erst um halb vier,« gähnt sie. »Man hört ihn vorfahren, wenn er in den Hof kommt. Solange könnten wir schlafen. Legen Sie sich doch auch hin. Seien Sie doch vernünftig. Sie sind ganz unvernünftig.«

Habe ich heute schon einmal gehört.

Ist es vielleicht vernünftig, wenn ich mich an dies Loch gewöhne? Wie soll ich wissen, ob ich vernünftig bin? In diesem Hause werfe ich die Vernunft an die Wand. Hier fliegt jede Vernunft weg; die vernünftigste Vernunft. Was ist das überhaupt? Totschlagen kann man mich: ich werde nicht wissen, was Vernunft ist.

Vernunft! Besonnenheit! Ist es vernünftig, wenn ich ruhig alles mit mir geschehen lasse? Was sind das für Menschen, die dieses Haus führen? Ich habe gar kein Vertrauen. Denn man hat mich überlistet. Man hat mich hierher gelockt auf die heimtückischste Weise. Warum ging man so raffiniert mit mir vor? Die sind nicht unschuldig. Die haben ein schlechtes Gewissen. Die haben sich’s leicht gemacht. Schließen mich einfach ein.

Das Mädchen spricht: »Sie schlagen Ihre Geschichte reichlich hoch an. Ich bin doch auch da. Das Haus ist voller Gefangener. Wenn sich jeder so aufregen wollte! Viele sind froh, wenn sie da sind; besonders im Winter. Es gibt Menschen, denen das Gefängnis Weihnachtswunsch ist. Wenn es so kalt ist, und auf der Landstraße ist es kalt, und an den Türen steht: ›Warnung vor dem Hunde‹ … Man wagt nicht hineinzugehen, weil der Hund kläfft. Und man beneidet den Hund. Man ruft: »Komm, Nero, komm!« … Ich hörte einmal, wie jemand »Komm, Nero!« rief. Daher weiß ich das, und dann wurde ich auch bald eingeliefert. Fieber habe ich bekommen. Und als ich wieder gesund war, fragten mich die in der Zelle, wer denn dieser Nero sei … Was wollte ich doch sagen? Jetzt hab’ ich ganz vergessen …«

Fallen meine Schultern? Was bricht zusammen in mir? Ich fasse Hände, die halten ein abgegriffenes Handtäschchen …

»Wäre ich Ihnen doch begegnet!« Wir sitzen nebeneinander, ganz dicht beisammen. Sie sieht mich an. Ach, die armen Augen tränen und lächeln.

»Ich wäre Ihnen gerne begegnet, Fräulein.«

»Das ist gut.«

Sie lächelt.

»Jetzt ist es ja gut. Nicht?«

»Ich weiß nicht … weiß nicht, ob es gut ist … Sie sind gut … Sie sind über alles gut.«

Weinen schüttelt mich.

»Beruhigen Sie sich doch!« Sie streichelt mich und: »Sie haben so hübsche Haare …«

»Ich kann nicht vergessen … ich behalte alles … weiß noch alles. Ich kann nicht anfangen mit dem Vergessen. Nicht einen Gendarmen auf der Landstraße … Ich kenne die Straße … ich ging einmal … in Schlesien ging ich … Kennen Sie Schlesien? … Im Herbst war es. Raben flogen über den Feldern … Ich gehe so gern … immer weiter … auch wenn es regnet, gehe ich gern … Ich war bei einem Wandertheater engagiert. Denken Sie: Wandertheater. Ich kann leben von dem Wort: Wandertheater … Wandertheater ist für mich alles. Wenn man Theater spielt, ist alles anders. Das können Sie sich wohl denken, nicht? Man kann leben und sterben und am andern Tag lebt man wieder und anders. Ich lebe so gern! … Was sage ich? Wer lebt nicht gern? Wissen Sie, daß man spielen kann, wie man leben möchte? Wie soll ich Ihnen sagen? Ich spielte immer, was ich ersehnte. Spielte mir mein Ideal … spielte so lange, und alles wurde mir Wahrheit … Nur darf man nicht umkippen … Das gibt es nämlich auch. Aber ich war routiniert, ziemlich … Wir spielten ein Stück, das hatten wir uns selbst ausgedacht … Nein, ausgedacht ist nicht das richtige Wort. Es kam so von selbst .. wir hielten zusammen .. Wir machten schlechte Geschäfte, sehr schlechte Geschäfte. Im Hochsommer auf den Dörfern. Kein Klassiker zog die Bauern ins Theater ..! Kennen Sie ›Romeo und Julia?‹ Nicht? Das zog nämlich auch nicht. Ich spielte den Pagen, der in der Gruft die Julia beschützt, die Leiche der Julia … Das wollte ich nicht erzählen. Wir hielten zusammen, sagte ich, nicht wahr? Das fing an, wie es uns sehr schlecht ging … Es hätte ja auch früher anfangen können, das Zusammenhalten. Von dem ausgedachten Stück wollte ich noch sagen. Das war improvisiert. Zwei oder drei Menschen saßen im Theater. Zuerst sollen sechs dagewesen sein; denn es waren drei Mark in der Kasse. Und es mußte also gespielt werden. Wir haben phantasiert … Einige nennen das ›Schwimmen‹: wenn man eine Rolle nicht gelernt hat, wenn man aus dem Stegreif spricht. Wir verzichteten auf das Stück. Da wurden wir die verzweifelte Stegreiftruppe … Ach, es ist alles nicht wahr, was ich sage. Ich weiß nicht, warum ich überhaupt spreche; aber mir ist so eigen zu Mut, begreifen Sie mich? … Verlassen Sie mich nicht mehr. Könnten Sie doch bei mir bleiben … Wir wollen uns verständigen … Geben Sie mir Ihre Hand. Wir verstehen uns nicht mit dem Kopf … damit brauchen wir nicht erst zu beginnen … Ich halte Ihre Hand und daran glaube ich. Nichts läßt sich denken. Ich habe meinen Kopf verloren. Man war so gewaltsam heute. Mit Gewalt läßt man sich nicht überzeugen. Nicht wahr? Es kann nicht gut sein, daß wir hier sind. Man hat mich nicht überzeugen können, daß man es gut mit uns meint. Das Brutale kann mich nicht bezaubern. Ich bin mißtrauisch geworden gegen diese Menschen, die uns hier eingesperrt haben. Ich erwarte das Schlimmste; denn sollten sie nicht gründlich sein, wenn sie böse sind? Böse ist böse. Wir aber müssen zusammenhalten. Wir sind gleichgestellt. Es geht Ihnen doch wie mir. Und Sie sind ein Mensch, und ich bin ein Mensch. Warum sollten wir uns nicht verstehen?«

* * *

Plötzlich wird die Zelle aufgeschlossen.

Mir ist, als hätte der blaue Mann die ganze Zeit über draußen vor der Tür gestanden. Ob er wohl gehorcht hat?

Jetzt muß etwas geschehen, denke ich. Eine Veränderung wird eintreten. Erwartungsvoll wende ich mich gegen den Schließer. Der aber will nichts von mir und sagt nur zu dem Mädchen:

»Kommen Sie!«

Sie folgt aufs Wort, sagt »Adieu«, ohne mir die Hand zu geben. Ihr Gesicht nimmt den Ausdruck der kommenden Dinge an. Ich werde nicht dabei sein …

Wohin mag man sie führen? Der lange Korridor da draußen … den sind wir ja gemeinsam gegangen. Dies Mädchen … und dann ich. Sind unsere Empfindungen gleich, ähnlich oder verschieden?

Die Tür fiel wieder ins Schloß. Schlüssel rasselten. Wie genau mir das nachklingt … Wie lange wohl? Oh, diese langen Echos … Ich bin allein.

Es wäre gut, zu schlafen. Ach, käme eine Ohnmacht! Aber dies Glück kommt nicht zu mir. Zusammenbruch, aber unvollkommen; wissend und kontrollierend bei aller Qual … Oh, daß ich mich sehe! …

Immer die Augen offen … Erschöpft sein, und nicht schlafen können!

Ich will nicht denken … Beschwerde werde ich einreichen gegen meine Verhaftung, sobald ich Gelegenheit habe. Sterbend würde ich mich auflehnen gegen denjenigen, der mir die Freiheit nimmt … Geben Sie Gedankenfreiheit … liegt mir im Sinn, im Blut, wie tief! … Ich werde nicht begreifen lernen. Das Recht … Freiheit nehmen … Anmaßung … Wie kommt das alles? Aber war das nicht gestern auch so? Und hundert Jahre hindurch? Nur traf es mich nicht …

Aber andere werden nach mir kommen. Oh, daß ich ruhig leben konnte! Ich habe versäumt. Ich habe nicht beachtet, daß Menschen gefangen saßen, während ich träumte … frei träumte.

›Sie schlagen Ihre Geschichte reichlich hoch an‹, sagte mir jemand. Ja. Ich kann mir nichts gefallen lassen. Bin ich ein Schaf Gottes? Aber was habe ich versäumt? Alle Geschichten anzuschlagen, als wären sie die meinigen. Mit dem Maße, mit dem ihr messet, wird euch gemessen werden …

Meine Augen stoßen überall an. Alles ist mir zu nah. Es gibt keinen Ausblick. Wo ist die Ferne? Wo sind die Flächen? Ich stehe still … ich kann nicht atmen. Was ist das? Jetzt weiß ich, weiß für immer: Es gibt keinen Raum, es gibt keine Zeit, es gibt keine Luft.

Oh Einstellung, Einbildung! Ich muß meine Stimme hören, und ich sage deutlich, sehr deutlich: »Die Welt ist ein Schwindel. Aber man muß glauben können …« Wie ungeschickt ich bin, ich glaube nicht! Ist es taktlos, das Geheimnis der Illusion zu entdecken? Oh, wäre ich kurzsichtig! Aber so begabt bin ich nicht. Wäre ich verträumt oder trunken, mein Befinden wäre nicht schlecht. Aber zu grell, stechend sehe ich Wirklichkeit, das Wunder, Kartenkunststück. Ich will höflich sein, nicht genau hinsehen.

Ich stehe in der Mitte meiner Zelle und schließe die Augen, die sich von selbst öffnen. Das ist ihnen wohl eigen, ist ihr Wesen. Ich sehe vor einem Fenster fünf Eisenstangen, die unbestechlich scheinen.

Da steht mein Wärter hinter mir:

»Träumen Sie? Sie werden abgeholt.«

»Ja. Und was kommt jetzt?« Warum frage ich? Bin ich wieder neugierig?

»Jetzt werden Sie spazierengefahren,« sagt er scherzend.

Ich höre das und sage nur: »So … so.«

Wenn er gesagt hätte: »Jetzt werden Sie gerädert,« oder: »Sie müssen sehr lange tanzen, immer tanzen« – hätte ich mich gewundert?

Ich werde in einen Raum geführt, in dem es sehr bunt aussieht. Unordentlich. Männer und Frauen stehen und sitzen, warten sehr ungeduldig, nervös, blaß. Plötzlich aufsteigendes Fieberrot: Mädchen, ertappt und ohne Fassung – wo war’t ihr noch vor einer halben Stunde? Männer, Vergangenes in gehetzten Augen. Gekrümmte Hände, die etwas gepackt hielten, hängen jetzt teilnahmslos. Was haftet noch an euch? Hübsches Mädchen, blaue Augenringe – wie und wie lange wachtest du? Schlichst du dich fünf Uhr früh aus einem Hause? Vier Stufen auf einmal? In der vierten Etage schon in Gedanken auf der Straße … Muß gemacht werden, Scham hin, Scham her … Aber das ist es ja auch nicht. Du verträgst nicht, kontrolliert zu werden … Kräftige Zähne haben sich in deinen Hals gewühlt … Jetzt brauchst du keine Schminke mehr. Dein Puder, noch im Handtäschchen. Der kann lange warten, bis du wiederkommst …

Menschen, verludert und elegant, die sich nicht kennen, möchten miteinander sprechen. Flüstern … »Wenn Sie früher hinauskommen sollten, grüßen Sie Nanny, Neuhauserstraße 34, im dritten Stock. Sie soll auf mich warten, es kann lange dauern, aber warten soll sie.« Schlecht gehobelte, halbschmutzige Tische.

Da steht ein altes Grammophon … Riesige Blechtrompete. Wem hat denn gefallen, das an sich zu nehmen? Ein Regulator steht da .. Schlachtermesser daneben .. Durchlöcherte Schirmmütze .. Sechs sorglich zusammengebundene Regenschirme .. Kleiner Mädlerkoffer, Etiketten: Hamburg, Monte Carlo, Cherbourg … Eine rote Perücke, grandios frisiert .. Tüllrobe neben Fleischhackmaschine .. Alles gewürfelt.

Ich sehe die Gegenstände an, ohne darüber nachzudenken, was sie bedeuten, warum sie daliegen. Ich sehe einen jungen Burschen, der gemessen wird. Er macht ein Gesicht dabei, als würde er porträtiert.

Ein Mädchen wird ausgefragt und aufgeschrieben. Sie gibt höflich Auskunft, wie auf einem Vermittlungsbureau. Mir ist, als träume ich; weiß gar nicht, weshalb ich da bin; sitze auf einer Holzbank und finde es ganz nett.

Einigen wird die Geldbörse abgenommen. Das Geld wird sorglich gezählt, die Summe notiert.

»Stimmt’s?« fragt der Beamte, »zählen Sie selbst nach.«

»Ja, es stimmt. Gewiß,« höre ich bescheiden antworten.

»Na, also. Schreiben Sie: 1 Mark und 75 Pfennige.«

Ich freue mich in aller Stille über die Genauigkeit der Beamten. Das Geld wird also doch aufgehoben. Es geht nicht alles drunter und drüber.

Ein Mädchen muß die Hand auf eine schwarz bestrichene Platte legen. Sie stellt sich ungeschickt an. Ein Beamter gibt ihr Anweisung. Er legt seine Hand auf den gehobelten Tisch; natürlich nicht auf die schwarz bestrichene Platte. Ich würde das auch nicht tun. Vielleicht ist es glühendes Pech, das allmählich erhitzt wird. Ich beobachte genau; will wissen, was geschieht. Soviel ich begreife, kommt es hier darauf an, daß der Daumen nicht rutscht.

Das Mädchen lacht geschmeichelt. Wie intensiv man sich aber auch mit ihr beschäftigt! Sie ziert sich, streift die Aermel in die Höhe; sie stellt sich an, als solle sie Klavierspielen lernen; als verstehe sie nicht, die Finger zu setzen. Sie erregt die Aufmerksamkeit der Beamten und lächelt freudig und verschämt.

»Den andern Daumen her!« sagt der Beamte.

Das Mädchen zeigt die andere Hand. Da fehlt der Daumen. Die Hand ist ein verkrüppeltes, knorpliges, viereckiges Stück Fleisch. Am Zeigefinger fehlt ein Glied? Wo ist das? Nie sah ich eine solche Hand.

Das Mädchen lächelt wieder, als habe sie die Hand so gemacht. Lächelt, als habe sie sich eine kleine Laune erlaubt. Sie lächelt, findet sich selbst ein wenig albern, aber das mit der Hand sei nun mal so … Sie dreht die Hand ein wenig hin und her.

»Ja, da ist nichts zu machen,« sagt der Beamte.

Ich sitze da und lache laut auf. Lustig, schadenfroh, wie wenn jemand ein Gesellschaftsspiel verliert.

»Was fällt denn Ihnen ein dahinten?« ruft ein Herr hinter dem Schreibtisch.

»Ach so. Ja.«

Ich verstumme. Bin geniert, daß ich mich »benommen« habe. Weiß gar nicht, wo ich hinsehen soll; denn alle sehen mich an. Es ist mir peinlich, daß ich so allein sitze, und ich rutsche die lange Bank entlang, so unauffällig wie möglich; immer nach links. Das ist ein langes Ende.

Da sitzt ein Herr in den mittleren Jahren. Der trägt einen feinen Strohhut und einen weißen Tennisanzug. Ich schiele ihn von der Seite an, nehme heimlich mit, was das Auge reichen kann. Weiße Tennisschuhe, mit Ankergarn gestopft. Gewiß, der Strohhut ist mit Strobin gebürstet, nicht gut gespült, hat Streifen. Soll ich ihm nicht sagen: ›Man darf einen Strohhut nicht in der Sonne trocknen? Sie können ihn auf ein reines Handtuch legen. Wenn Sie das nicht haben, nehmen Sie den Ueberzug von Ihrem Kopfkissen. Sie können sich dann zugleich den Kopf damit frottieren.‹ Ich mache mich an den Herrn heran.

»Sie, hören Sie, bitte!«

Hab’ ich das schon gesagt? Der Herr räuspert sich, scharrt mit den Füßen … Um Gotteswillen, ich hab’ es nicht böse gemeint …

Der Herr sieht ganz beklommen aus, räuspert sich laut, sieht mich von der Seite an, und dann auf die Beamten, als wolle er jedermann aufmerksam machen, daß ich ihn belästige. O, dieser geradeaus gerichtete, starre Blick! Nun weiß ich: dieser Herr legt Wert auf Einsamkeit.

Ich will mich nicht aufdrängen und rutsche sofort wieder nach oben. Langsam und leise; denn ich will nicht unliebsam auffallen.

»Können Sie denn nicht ruhig sitzen?« ruft jemand. Das gilt mir. Brummt weiter: »Ist doch hier keine Rutschbahn, Sie!«

Und da ich höre, daß es hier keine Rutschbahn ist, mache ich mir endlich Gedanken, was es denn eigentlich für ein Raum ist, in dem ich mich befinde, und was das alles zu bedeuten hat. Ich sehe die geschäftigen Beamten, die hin und her laufen und sich alle Mühe geben. Und ich sitze da und weiß nichts.

Aber ich werde mich schon zurechtfinden. Ich will mir alles genau überlegen.

»H …!«

»Jawohl,« rufe ich prompt.

Einige lachen hell auf.

Ich bin verzweifelt. Gebe mir doch alle Mühe. Nur nicht ausbrechen. Nur nicht weinen.

»Herkommen!«

Ich erhebe mich. Man lacht, aber einige sind todernst. Irgend-wo, tief in mir: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen.

»Haben Sie Geld bei sich? Legen Sie die Uhr ab.«

Wird hier geplündert? Aber mir ist alles recht. Alles will ich abstreifen, meine Lenden, mich selbst; wenn nur ein Mensch hier wäre, an den ich mich klammern könnte.

Ich zerre an der Armbanduhr.

»Vorsicht. Immer mit der Ruhe,« sagt ein Beamter und hilft mir die Schnalle meiner Uhr lösen. So sorglich ist er mit meiner Uhr! Ich sehe auf, in ein starres Gesicht. »Sie haben die Uhr zu fest geschnallt!«

Warum schreie ich nicht, wenn es doch in mir schreit: »Lieben Sie mich!«

»Die Uhr steht. Haben Sie sonst noch Schmucksachen bei sich? Ketten, Ohrgehänge, Nadeln?« knurrt er.

»Hab’ nichts.«

»Zählen Sie das Geld nach!«

»Ungefähr zehn Mark muß ich haben.«

»Genau nachzählen! Damit Sie Ihr Geld richtig wieder kriegen. Sonst reklamieren Sie nur.«

»Ach nein.« Ich zähle. Habe ich denn den Chauffeur auch bezahlt?

Unruhige strenge Stimme: »Haben Sie Schulden? Wo haben Sie nicht bezahlt?«

»Doch, ich habe bezahlt. Es stimmt. Stimmt ganz genau. Auffallend.«

»Na, also. Fertig. Los!«

* * *

Zwei Schutzleute treten ein. Der eine hat eine Anzahl Zettel in der Hand. Die Gefangenen bilden zwei Gruppen, eine, die mitkommt, und eine, die dableibt. Der Schutzmann ruft Namen auf. Ich glaube, ich bin bei der »mitgenommenen« Partei. Ich bleibe stehen, wo ich hingestellt werde; gehe mit den andern, als es »Los!« heißt und lasse mich durch die Tür schieben. Wir werden in den Hof geführt.

Hier steht ein hausartiger Wagen, der zugleich Auto ist. Ich erinnere mich: als Kind sah ich in einem Panorama die »Cholera-Epidemie in Hamburg«. Der grüne Wagen, der vor uns steht, hat Aehnlichkeit mit dem monströsen Cholerawagen, in dem man die Kranken und Toten expedierte. Die Schutzleute lassen zuerst die Gefangenen einsteigen. Ich glaube, die Schutzleute werden wohl nicht mitfahren; aber die fahren gerade mit, und es ist mir auch gleichgültig.

Es dauert geraume Zeit, bis jeder seinen Platz hat; denn der Wagen ist schmal, und die Bänke sind schmal. Und das eine paßt nicht zum andern. Die Frau mit der blauen Küchenschürze ist dick und zwängt sich durch die andern hindurch, um den Rückplatz zu bekommen. Der Dame mit dem Federhut paßt es nicht, neben der Dicken zu sitzen. Sie bittet einen Herrn, doch mit ihr Platz zu wechseln. Die Bitte wird stumm erfüllt. Ich lasse mich hin und her schieben. Alles ist mir ein ungemütlicher Traum.

Die Federhut-Dame sitzt links neben mir. Rechts bildet ein poliertes Holzbrett eine Grenze. Ich erlebe schnell, warum das so ist; denn rechts neben mich setzt sich der Schutzmann isoliert in eine Art Sessel.

Zwei Schutzleute sitzen einander gegenüber direkt an der Wagentür. Man muß also an ihnen vorbei, wenn man aussteigen will. Endlich ist alles arrangiert.

Der Wagen fährt ratternd zum Hofe hinaus. Wir werden durcheinander geschüttelt. Wir fahren in schnellem Tempo durch die Hauptstraßen hindurch.

Mir fällt ein: Bekannte könnten mich von der Straße aus sehen; denn die Tür des Wagens ist ein großes, vergittertes Fenster, durch das man hindurchsehen kann.

Mir gegenüber sitzen zwei junge Leute in Gebirgstracht. Sie haben staubige, eisenbeschlagene Schuhe.

»Hätten wir nur die Sandalen angehabt,« sagt der eine zum andern. »Jetzt können wir die ganze Untersuchungshaft in Bergstiefeln absitzen.«

Der andere zuckt die Achseln.

Ein rothaariger Bursche, der in der äußersten Ecke des Wagens sitzt, horcht interessiert auf jedes Wort, das gesprochen wird.

Ich bin erstaunt, daß überhaupt gesprochen wird; aber die Schutzleute kümmern sich nicht um uns und unterhalten sich miteinander.

»Waren Sie in den Bergen?« fragt der Rothaarige. »’s muß arg heiß sein dort.«

Als Antwort erfolgt ein verdrießliches: »’s geht an.«

Weil die Touristen offenbar keine Unterhaltung wünschen, wendet sich der Rothaarige an seine Nachbarin.

Die sieht verstrubelt aus, als käme sie direkt aus dem Bett. Sie blinzelt ihren Freund unruhig fragend an. Minutenlange Augensprache.

Tonlos und gleichgültig: »Also höchstens drei Monate, wenn ich dir’s sag’.«

Verärgerte Stimme: »Jawohl, drei Monate! Als wäre das nichts! Aber mit dir fällt man immer ’rein. Ich hab’ keine Lust mehr.«

»Sei doch ruhig!« raunt der Rothaarige dem verstrubelten Mädchen zu. »So sei doch nur ruhig.« Als habe sie eine Taktlosigkeit begangen.

Verdrossen schaut das Mädchen zum Schutzmann hinüber. Der Wagen schaukelt. Der Säbel des Schutzmanns streift mein Knie. Dies ist mir sehr unangenehm und ich mache mich schmal, presse mich zusammen.

Der Schutzmann fängt mit dem Rothaarigen ein Gespräch an:

»Was haben Sie denn schon wieder? Wir fuhren doch erst neulich zusammen.«

Der Rote schiebt die lästige Schirmmütze in den Nacken, will erzählen, besinnt sich und lacht verlegen:

»Eigentlich dürfen S’mich überhaupt nicht einsperren. Heiß’ doch Adam, bin der erste Mensch.«

Der Schutzmann lacht.

Einige der Fahrgäste verziehen den Mund zu verstohlenem Lächeln.

Ein Mädchen, das neben mir auf der Bank sitzt, erfüllt die Luft mit starkem Parfüm. Das übertrumpft den Tabakgeruch des alten Bauern, der andauernd schnupft und sich ekelhaft räuspert.