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Bibliotheksnutzer in der Holland House Library in Kensington, London.

Jeremy Adler

Das bittere Brot

H. G. Adler, Elias Canetti
und Franz Baermann Steiner im Londoner Exil

 

Mit einem Nachwort von

Michael Krüger

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Wallstein Verlag

Eine Publikation der Deutschen Akademie

für Sprache und Dichtung

 

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation
in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische
Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© Wallstein Verlag, Göttingen 2015
www.wallstein-verlag.de
 
Kapitel 3 erschien zuvor als »Good against Evil? H. G. Adler, T. W. Adorno and the Representation of the Holocoust« in dem Band: Robert Fine, Charles Turner (Hg.): Social Theory after the Holocaust. Liverpool: Liverpool University Press 2000.
Für den vorliegenden Band wurde er von Sylvia Höfer übersetzt.
 
Vom Verlag gesetzt aus der Adobe Jenson Pro
und der DTL Prokyon ST
Druck und Verarbeitung: Hubert & Co, Göttingen
Umschlagabbildung und S. 2 f.:
Damaged Library © Central Press/Freier Fotograf über gettyimages
 
ISBN (Print) 978-3-8353-1753-6
ISBN (E-Book, pdf) 978-3-8353-2894-5
ISBN (E-Book, epub) 978-3-8353-2895-2

Inhalt

I

II

III

Nachwort

Literatur

Dank

I.

Die Verbannung ist so alt wie die Gesellschaft selbst. Keine Gruppe kann ohne Abgrenzung existieren. Zu den ältesten biblischen Geschichten gehört die Vertreibung aus dem Paradies. Seitdem lebt der Mensch getrennt von seiner eigentlichen Heimat. Diese Austreibung ist der erste Bruch in der Geschichte. Mit ihr werden Leid und Tod zum Kennzeichen des Menschen. Die Ausweisung hat aber auch einen positiven Sinn. Zwar verliert der Exulant seine Identität, doch kann die Erfahrung des Exils eine neue Zugehörigkeit stiften. So entsteht im Exil der Gründungsmythos des neuen Volkes als Rechtfertigung der Individualität und als Suche nach der verlorenen Heimat. Ebenfalls bedeuten die ägyptische Gefangenschaft und das babylonische Exil sinnstiftende Brüche in der Geschichte des jüdischen Volkes. Wichtige Teile der Bibel stammen aus der babylonischen Gefangenschaft. Die Erfahrung dieses Exils – so bewegend im 137. Psalm besungen – hat das Selbstverständnis der Juden bestimmt. Seither ist der Jude als Wanderer zu begreifen. Er ist ein ewiger Exulant. Das mythische Urbild, demzufolge die Vertreibung einen geschichtlichen Riß markiert, aus dem neue Mythen und eine neue Identität hervorgehen, erscheint in historischer Zeit wieder, in der sich diese archaische Polarität wiederholt. Im klassischen Altertum beklagt Ovid seine Lage, während Seneca die Möglichkeit erkennt, im Exil neue, stoische Tugenden zu entfalten. Die biblischen und klassischen Ideen des Exils verbinden sich in der frühen Neuzeit, da Verbannungen, Ausweisungen und Vertreibungen zum täglichen Leben in Europa gehören. Bezeichnenderweise haben zu Beginn der Renaissance zwei Dichter im Exil – Dante und Petrarca – die moderne Geisteswelt geschaffen. Dante, über den ein lebenslängliches Exil verhängt war, schließt das mittelalterliche Weltbild ab und eröffnet mit seinem Epos den Blick auf die neuzeitliche Literatur. Petrarca, der von sich sagt, er sei im Exil geboren (»in exilio natus sum«), begründet den Humanismus, die tragende Weltanschauung der Neuzeit. So wiederholt sich die mythische Situation im Leben historischer Personen: Der Einzelne, von der Heimat getrennte Dichter, der am Rande der Gesellschaft lebt, bestimmt, was sein Volk in Zukunft denkt und tut. Es dürfen daher Dante und Petrarca als Sinnbilder für das moderne Exil stehen. Was mit ihnen in Italien begann, schlug sich sodann in ganz Europa nieder, z. B. im England des Elisabethanischen Zeitalters, in dem die Verbannung eine bittere soziale Wirklichkeit darstellte. Shakespeares Helden, von Two Gentlemen of Verona bis zu The Tempest – so verstand es auch James Joyce –, erleben häufig die Angst des Exils:

 

Ha, banishment! Be merciful, say »death«,

For exile has more terror in his look

Much more than death. Do not say »banishment«.

 

Das Exil ist das schrecklichste aller Schicksale, denn es stellt, wie Petrarca schon behauptete, eine Form des lebenden Todes dar (»in morte, que exilio similla est«). Romeo, Othello, Hamlet, Coriolan, Prospero – sie alle wissen um den Zustand des Exils. Nirgendwo begegnet einem das Gefühl des schutzlosen Menschen, bzw. der Heimatlosigkeit, schmerzlicher als in King Lear, denn Shakespeare hat mit der Darstellung des »unaccommodated man« den Zustand des Exulanten zur höchsten Potenz gesteigert. Werden andere Figuren Shakespeares in die Verbannung gejagt, wird hier das innere Exil – das Los des abgedankten Königs im eigenen Land – in seiner ganzen Tragik entfaltet. Dieses kaum zu ertragende Leiden wird in der Folge zum Los der Menschheit. Was Shakespeare als das Schicksal von Einzelnen beschreibt, erlitten in der Geschichte ganze Völker. Schon Romain Rolland sprach von der Reformation als von einer »zweiten Sintflut«, da ganze Züge von Flüchtlingen in Bewegung gesetzt wurden – also vor allem die Hugenotten, die Pilgerväter und die englischen Katholiken. Rollands Bild von der »zweiten Sintflut« nimmt Lyotards Begriff eines »Erdbebens« und H. G. Adlers Metapher von einem »Schneesturm« für die Shoah vorweg: eine Katastrophe, die Massen von Menschen über die Erde trieb. Denn betraf das Exil vom mythischen Zeitalter bis zur Reformation einzelne Menschen und Völker, so haben in der Frühmoderne und in der Moderne ganze Völker unter der Verbannung gelitten. Die Zahl der Exulanten ist ins ungeheure gewachsen. Die Moderne ist das Zeitalter des Exils.

Zu keiner anderen Zeit hat das Exil das Schicksal so vieler Völker bestimmt. Das trifft in politischer wie auch in philosophischer Hinsicht zu. So hat die Heimatlosigkeit die Philosophie von Kierkegaard und Nietzsche bis hin zu Heidegger und Adorno gekennzeichnet. Kierkegaards Begriff der Angst hat die »Unsicherheit des Seins« verabsolutiert; für ihn ist die Moderne »das Zeitalter der Verzweiflung, das Zeitalter des wandernden Juden«. Diese Botschaft eröffnete ein neues Zeitalter, laut Auden ›The Age of Anxiety‹. Nach Kierkegaard hat Nietzsche mit prägnanter Klarheit die Unsicherheit des modernen Lebens festgestellt. Bedeutet das Wohnen für den Bürger das Ziel all seiner Bemühungen, so bildet für Nietzsche die Heimatlosigkeit das eigentliche Ideal. Allerdings ist dies eine entsetzliche Existenz:

 

Die Krähen schrei’n

Und ziehen schwirren Flugs zur Stadt:

Bald wird es schnei’n –

Weh dem, der keine Heimat hat!

 

Nietzsches Gedicht gilt als definitiver Ausdruck der Heimatlosigkeit. Keiner hat vor ihm so knapp und so treffend das Los des Exulanten beschworen. Die Thematik erscheint auch in der Fröhlichen Wissenschaft: »Es gehört selbst zu meinem Glücke, kein Hausbesitzer zu sein.« Die Verzweiflung tritt an die Stelle der Hoffnung. Nur das Unbehaustsein gilt. Kierkegaard und Nietzsche sind die Philosophen der Heimatlosigkeit. Ihnen wird die Moderne folgen. In ihr wird Simmels »Fremder« zum Inbegriff des Menschen.

Nietzsches Aufzeichnungen wurden von Adorno in den Minima Moralia aufgegriffen. Sein Kommentar zieht die logische Konsequenz aus Nietzsches Position: »Dem müßte man heute hinzufügen, es gehört zur Moral, nicht bei sich selber zu Hause zu sein.« Das Exil wird zur moralischen Pflicht. Ohne Exil keine ethische Handlung. Die Notiz, in der dieser Gedanke kulminiert, endet mit dem berühmten Satz: »Es gibt kein richtiges Leben im Falschen.« Die gebrechliche Einrichtung der Welt trifft den Einzelnen ins Herz. Die moderne Heimat rettet nicht, sie vernichtet. Adornos Aufzeichnung, die zu den radikalsten Äußerungen des metaphysischen Exils gehört, entstand während des Zweiten Weltkriegs in Amerika: Wiederum ist es ein Autor, der das Exil erlebt hat, der das abendländische Denken maßgeblich beeinflußt hat.

Bedeutete Heimat vor Kierkegaard und Nietzsche die Sicherheit, wird sie in der Moderne als Hort der Angst empfunden; war im bürgerlichen Zeitalter die Geborgenheit Ausgangspunkt und Ziel des Denkens, so wird in der Moderne die Angst zum Grund der Erfahrung. Man sei – so Rilke – »ausgesetzt auf den Bergen des Herzens«:

 

Du bist der leise Heimatlose,

Der nicht mehr einging in die Welt.

 

Die existentielle Analyse läuft auf eine geistige Nacktheit hinaus. König Lears Zustand ist unser aller Schicksal geworden. Nur als Außenseiter, als einer, der am Rande lebt, kann man in der modernen Welt das Innere begreifen, nur als Exulant kann man seiner Pflicht genügen. Das entspricht der Tatsache, daß die Väter der Moderne, auf die sich das Weltgebäude des zwanzigsten Jahrhunderts stützt – also Marx, Freud und Einstein –, ihr Leben im Exil beendet haben. Marx kam 1849 als politischer Flüchtling nach England. Einstein mußte 1933 als Jude aus Deutschland in die USA fliehen. Und Freud flüchtete 1938 ebenfalls als Jude nach England. Alle drei schrieben Werke, die 1933 der Bücherverbrennung zum Opfer fielen. Schon vor der Flucht hatten sie sich dem geistigen Exil verschrieben, denn jeder hatte in seiner Weise die alte Welt aus den Angeln gehoben, sich dem heimatlosen Denken verpflichtet. An Stelle der Sicherheit setzten die Begründer der neuen Welt die Revolution, die Relativität und das Unbewußte: drei Begriffe, die von der Unbehaustheit der Moderne zeugen. So können wir durchaus Edward Said beipflichten, daß »die moderne westliche Kultur im Großen und Ganzen die Arbeit von Exulanten« sei.

Freilich kannte man das Exil auch im bürgerlichen Zeitalter. In herzzerreißender Weise hat die deutsche Lyrik die Problematik im neunzehnten Jahrhundert thematisiert. Zwei Dichter, die sich entschieden haßten – Heine und Platen –, haben das Gefühl des Exils in Gedichten festgehalten. So schreibt Heine in den ›Nachtgedanken‹:

 

Denk ich an Deutschland in der Nacht,

Dann bin ich um den Schlaf gebracht,

Ich kann nicht mehr die Augen schließen,

Und meine heißen Tränen fließen.

 

Die Vaterlandsliebe führt in der Ferne zur Trauer, einer Trauer, die auf den ersten Blick durchaus konventionell wirkt, denn das Gefühl von Heimweh, das zum Ausdruck kommt, scheint der Inbegriff der Romantik zu sein. Hier geht es aber nicht um die seelische Erfahrung eines Eichendorff oder Schubert. Es handelt sich nämlich um die Sehnsucht nach einer anderen Existenz, die Heine nicht im romantischen Sinne als »Land«, sondern politisch als »Deutschland« auffaßt. Die Beschwörung des Namens bringt die Politik ins Spiel. Das ist neu. Indem im neunzehnten Jahrhundert die Politik in die moderne Lyrik eintritt, entsteht konsequenterweise eine Lyrik des politischen Exils. Das Leid, das der Dichter besingt, rührt nicht von der Privatsphäre her, wie in der Erlebnisdichtung, sondern von seiner politischen Überzeugung. Indem die soziale Wirklichkeit als Bedingung des Seins an die Stelle der Natur tritt, wird der Außenseiter zum politischen Exulanten. Auch Platen leidet an der Gesellschaft. Verließ Heine aber aus politischen Gründen das Vaterland, so war es für Platen eine Frage der sexuellen Orientierung. Er verließ Deutschland als Homosexueller. Es bestand kein äußerer Zwang, ins Exil zu gehen, Platen hat selber die Isolation in der Fremde – Italien – gewählt. Sein Sonett ›Es sehnt sich ewig dieser Geist ins Weite‹ ist das eindrucksvollste Zeugnis eines Exulanten, der selbst den Weg ins Exil gesucht hat:

 

Es sehnt sich ewig dieser Geist ins Weite,

Und möchte fürder, immer fürder streben:

Nie könnt ich lang an einer Scholle kleben,

Und hätt ein Eden ich an jeder Seite.

 

Mein Geist, bewegt von innerlichem Streite,

Empfand so sehr in diesem kurzen Leben,

Wie leicht es ist, die Heimat aufzugeben,

Allein wie schwer, zu finden eine zweite.

 

Doch wer aus voller Seele haßt das Schlechte,

Auch aus der Heimat wird es ihn verjagen,

Wenn dort verehrt es wird vom Volk der Knechte.

 

Weit klüger ist’s, dem Vaterland entsagen,

Als unter einem kindischen Geschlechte

Das Joch des blinden Pöbelhasses tragen.

 

Das Gedicht bekundet ein geistiges Streben: gleich Goethes Faust ist der Sprecher ein »Unbehauster«, ein Wanderer. Doch handelt es sich hier anders als bei Goethe und ähnlich wie bei Heine um ein politisches Exil – »Heimat« und »Vaterland« bedeuten nicht nur geistige Begriffe, sondern soziale Wirklichkeiten. Platen empfindet sich selbst als Exulant und leidet wie ein Heimatloser. Die Situation im Vaterland treibt ihn in die Fremde. Dabei geht es nicht um die übliche politische Polarität von links und rechts, wie man sie von Heine und Marx bis zu den kommunistischen Gegnern der Nazis antrifft, sondern um das ästhetische Dasein in der Freiheit. An diesen zwei Beispielen – an Heine und an Platen – läßt sich das enge Korrelat zwischen dem selbstverhängten Exil und der Verbannung erkennen. Paul Tabori geht so weit, das freiwillige und das unfreiwillige Exil gleichzusetzen:

 

An exile is a person who is compelled to leave his homeland – though the forces that send him on his way may be political, economic, or purely psychological. It does not make an essential difference whether he is expelled by physical force or whether he makes the decision to leave without such an immediate pressure.

 

Worauf es im Exil ankommt, ist die physische Trennung von der Heimat und die geistige Scheidung des Einzelnen oder eines Volkes vom Heimatland. Dieses Ineinandergreifen der verschiedenen Arten des Exils läßt sich in der Moderne besonders deutlich erkennen.

Georg Lukács fand für die Moderne den treffenden Ausdruck der »transzendentalen Obdachlosigkeit«. Er meinte damit eine literarische Gattung, den Roman, aber die Bezeichnung gilt für die Kunst des zwanzigsten Jahrhunderts schlechthin. Die typische Form dieser Kunst – laut Peter Bürger – ist die Montage. Anstelle der Einheit des klassischen Kunstwerks tritt das Fragmentarische, das Gebrochene, das Brüchige. Dem geschichtlichen Bruch, der mit dem Ersten Weltkrieg einsetzt, entspricht ein verwandtes künstlerisches Prinzip. Selten haben sich Kunst und Geschichte so genau gespiegelt. Und woher kam diese Kunst? Die heroische Moderne in Literatur, Malerei und Musik wurde im Wesentlichen von Exulanten hervorgebracht. Man denke nur an Joyce, Picasso und Strawinsky. Der Schluß ist eindeutig: Die größte Erneuerung in der Kunst des zwanzigsten Jahrhunderts stammt von Künstlern, die ihre Heimat aus freien Stücken aufgegeben haben. Joyce’ Portrait of the Artist as a Young Man enthält folgende bekannte Zusammenfassung der Gründe für das freiwillige Exil:

 

I will tell you what I will and will not do. I will not serve that in which I no longer believe whether it calls itself home, my fatherland or my church: and I will try to express myself in some mode of life or art as freely as I can, using for my defense the only arms I allow myself to use, silence, exile and cunning.

 

Exil bedeutet hier die Freiheit von den Einschränkungen der Heimat – Gesellschaft, Kirche, Staat – und die Möglichkeit, ihre Begrenzungen zu transzendieren. Erst in der Fremde, wie es ferner am Ende von Portrait heißt, kann der Künstler die Identität seiner Mitmenschen bestimmen – »and to forge in the smithy of my soul the uncreated conscience of my race«. An solchen Beispielen wie Joyce, Strawinsky und Picasso erkennt man übrigens, wie fließend die Grenzen sind zwischen geistigem und politischem Exil. Der Intellektuelle, der Neues denkt, scheint immer in Gefahr, ausgeschlossen zu werden, und umgekehrt jener, den man ausschließt, denkt notgedrungen etwas neues. Darauf bezog sich auch Hannah Arendt, als sie erkannte, daß Flüchtlinge die eigentlichen Vordenker, die Avantgarde eines Volkes ausmachten. Von dieser Perspektive aus wird es verständlich, wieso der Dadaismus, die radikalste Kunstrichtung der Moderne, im Ersten Weltkrieg im Zürcher Exil entstanden ist.

 

Der tiefe geschichtliche Einschnitt, der mit der nationalsozialistischen Machtergreifung begann und – so Karl Jaspers – Deutschland in ein »geistiges Gefängnis« verwandelte, hatte unmittelbar eine Exilbewegung zur Folge. In mehreren ansteigenden Wellen flohen die vom Regime Verfolgten aus Deutschland, Österreich und der Tschechoslowakei: nach der Machtergreifung, nach den Nürnberger Gesetzen, nach dem Anschluß, nach der Kristallnacht und nach der Übernahme Böhmens und Mährens. Immer stieg die Zahl der Flüchtlinge. Etwa 600.000 Menschen verließen Deutschland bis zum Ausbruch des Krieges – vor allem Juden, Kommunisten, Sozialisten und Pazifisten, aber auch Künstler, Wissenschaftler. Die Flüchtlinge gingen in aller Herren Länder – nach England, Frankreich, Dänemark und Holland, zuerst auch in die Tschechoslowakei, nach Palästina und in die USA, nach Kanada und Australien, Kuba und Ecuador, ja bis nach Indien und China. Sozial gesehen waren es am ehesten die Bildungsbürger, die das Land verließen. Zurück blieben aber trotzdem viele Bürger sowie Alte, Arbeiter und Arme. »Waren wir Assimilanten nach Westen emigriert«, bemerkt Georg Stefan Troller über die Wiener Juden, »so die frommen Chassidim geschlossen nach Auschwitz«. Es gab keine eigentliche Verbannung, sondern Terror, denn wenn man die Juden nicht verbannte, wie 1492 in Spanien, setzte man sie doch derartig stark unter Druck, daß sie, wo sie konnten, die Flucht ergriffen. Es kam auch zu einzelnen Deportationen: Eichmann hat in Wien ein System entwickelt, Busse und Züge mit Juden anzufüllen, diese einfach über die nächste Grenze zu fahren und die Juden dort ihrem Schicksal zu überlassen. Die Historiker behaupten faktisch richtig, daß Auschwitz nicht vorherzusehen war, aber manche Zeitgenossen scheinen doch eine genaue Ahnung von der bevorstehenden Katastrophe gehabt zu haben. Gershom Scholem sah schon zur Zeit des Ersten Weltkriegs, daß die Juden in Deutschland keine Zukunft hatten, und 1935 erkannte der britische Botschafter in Berlin, daß ihnen die »Vernichtung« drohe. Allerdings war die Flucht keineswegs einfach und mit Schwierigkeiten bei der Aus- und Einwanderung verbunden. Chaim Weizmann, der spätere Präsident von Israel, brachte es auf den Punkt: »Die Welt schien in zwei Hälften geteilt – jene Länder, in denen die Juden nicht leben konnten, und jene, in die sie nicht hinein durften.« Auch wenn man entkam, endeten die Probleme nicht. Im Gastland gab es oft eine mildere Form des Antisemitismus, die den Juden zu schaffen machte, und war es keine Judenfeindlichkeit, so gab es Fremdenfeindlichkeit. Was machte einem nicht alles zu schaffen? Armut, Arbeitslosigkeit, Wohnungsnot, Sprachkenntnisse, Bräuche, die Sorge um die Zurückgebliebenen – unzählige Probleme erwarteten den Einwanderer, für den der geistige Riß schwieriger war als die physische Trennung. Man fand sich zuerst nicht so sehr in einer neuen Kultur als in der kulturellen Leere. Das hatte schlimme Folgen. In seinem Aufsatz ›Größe und Erbärmlichkeit des Exils‹ (1938) schildert Lion Feuchtwanger die Folgen der Traumata, die der Exulant erlitt:

 

Viele von den Emigranten verkamen. […] Die meisten wurden ichbesessen, verloren Urteil und Maß, unterschieden nicht mehr zwischen Erlaubtem und Unerlaubtem, ihr Elend wurde ihre Rechtfertigung für jede Zügellosigkeit und Willkür.

 

Dieses harte Urteil, das auf eine Pathologie des Exils schließen läßt, erklärt manche Fehlhandlung, die man bei den Exulanten antrifft. Im Extremfall führten die Probleme in den Selbstmord. Die Menschen, die Hand an sich legten, wie Walter Benjamin, Ernst Toller und Stefan Zweig, handelten aber nicht aus freiem Willen, sie waren allemal Opfer. Stefan Zweigs Abschiedsbrief zeugt von seiner subjektiven Freiheit in einer Situation, die alles andere als frei ist:

 

Ehe ich aus freiem Willen mit klaren Sinnen aus dem Leben scheide, drängt es mich eine letzte Pflicht zu erfüllen: diesem wundervollen Lande Brasilien innig zu danken, das mir und meiner Arbeit so gute und gastliche Rast gegeben. Mit jedem Tage habe ich dies Land mehr lieben gelernt und nirgends hätte ich mir mein Leben lieber vom Grunde aus neu aufgebaut, nachdem die Welt meiner eigenen Sprache für mich untergegangen ist und meine geistige Heimat Europa sich selber vernichtet.

Aber nach dem sechzigsten Jahre bedürfte es besonderer Kräfte um noch einmal völlig neu zu beginnen. Und die meinen sind durch die langen Jahre heimatlosen Wanderns erschöpft. So halte ich es für besser, rechtzeitig und in aufrechter Haltung ein Leben abzuschließen, dem geistige Arbeit immer die lauterste Freude und persönliche Freiheit das höchste Gut dieser Erde gewesen.

 

Das Exil zwingt den Einzelnen in den Tod, obwohl er jeden Grund zu leben hat. Bedenkt man, daß Zweig zu den erfolgreichsten Autoren seiner Zeit gehörte und über reichliche Mittel verfügte, sich und seine Frau zu erhalten, so wird die Tragik seines Endes besonders deutlich. Die Verzweiflung des Exulanten kommt auch in den Worten Walter Hasenclevers zum Ausdruck, der sich in einem französischen Lager das Leben nahm, um nicht in die Hände der Nazis zu fallen: »Wir Verbannten. Wir Heimatlosen. Wir Verfluchten. Was haben wir noch für ein Recht zu leben?«

Ein lehrreiches Zeugnis von der Situation im Exil liefert das Gedicht Brechts ›Über die Bezeichnung Emigranten‹, das die essentielle Unfreiheit des Exulanten darstellt. Die Auswanderer verstand man damals als Flüchtlinge oder Emigranten. Brecht, der gleich nach der Machtergreifung geflohen war, hat jene aber als Exulanten begriffen:

 

Immer fand ich den Namen falsch, den man uns gab:

Emigranten.

Das heißt doch Auswanderer. Aber wir

Wanderten doch nicht aus, nach freiem Entschluß

Wählend ein anderes Land. Wanderten wir doch auch nicht

Ein in ein Land, dort zu bleiben, womöglich für immer.

Sondern wir flohen. Vertriebene sind wir, Verbannte.

Und kein Heim, ein Exil soll das Land sein, das uns aufnahm.

 

Das Gedicht stellt den Mechanismus des Terrors dar. Brecht sieht, daß die Flucht einer Vertreibung gleicht und daß diese nichts anderes ist als eine Form der Verbannung. Der Exulant mag in Freiheit leben: seine Situation im Exil ist aber eine Form von geistiger Gefangenschaft. Er steht im Spannungsfeld zwischen zwei Kräften: zwischen einer Heimat, die zur Fremde geworden ist, und einer Fremde, die nie zur Heimat werden kann. So ist die Stellung des Exulanten grundsätzlich prekär. Auch das erkennt Brecht:

 

Unruhig sitzen wir so, möglichst nahe den Grenzen

Wartend des Tages der Rückkehr, jede kleinste Veränderung

Jenseits der Grenze beobachtend […]