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Dorothee Wierling
Eine Familie im Krieg

Leben, Sterben und Schreiben
1914-1918

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Für meine Schwester Gabi
(1944 – 2010)

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet
diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;
detaillierte bibliografische Daten sind im Internet
über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Inhalt

Einleitung

Die Vier

Der Freiwillige

Die Kriegerin

Im Feld

Lieben und Lügen

Exkurs: Kriegslektüren

Im Feuer

Das Opfer

Berliner Leben

Der Tod

Die (allwissende) Erzählerin

Portraits

Quellen und Literatur

Bildnachweis

Dank

Einleitung

Am 6. Februar 1971 starb in New York Julie Braun-Vogelstein, eine deutschjüdische Kunsthistorikerin, die 1935 Berlin verlassen musste und seit 1937 in den USA lebte. Sie hinterließ dem Leo-Baeck-Institut in New York einen Nachlass an Familienkorrespondenzen, der heute mit über elf Regalmetern den größten Einzelnachlass des Archivs und Forschungsinstituts darstellt. Dazu zählte auch die Korrespondenz der Familie Lily, Heinrich und Otto Braun, ein Briefwechsel, an dem Julie Vogelstein seit 1914 selbst teilgenommen hatte. Die ersten Briefe, die ich in den 1980er Jahren aus diesem Nachlass einsah, waren die von Lily Braun, der bekannten Feministin, die um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert eine sozialdemokratische Dienstbotenbewegung ins Leben gerufen hatte. Da ich über Dienstmädchen promovierte, interessierte mich, welche Rolle diese im Privatleben der Aktivistin eingenommen hatten. Ich tauchte also in den umfangreichen Briefwechsel des Ehepaars Lily und Heinrich Braun ein und plante, irgendwann eine Geschichte dieser interessanten und mit ca. 4000 Briefen ungewöhnlich dicht dokumentierten Beziehung zu schreiben. Dazu kam es zwar nicht. Aber ein (scheinbar) bescheideneres Vorhaben stellte die Geschichte der Familie Braun im Ersten Weltkrieg dar, nachdem ich festgestellt hatte, dass die betreffende, Julie Vogelstein einschließende Korrespondenz mit ca. 2000 Briefen fast vollständig erhalten ist und von dem Sohn Otto, der sich bei Kriegsausbruch freiwillig gemeldet hatte, sieben Kriegstagebücher vorhanden sind, die zusammen einen Umfang von ca. 1000 Heftseiten haben. Bei gelegentlichen New-York-Besuchen las ich die Kriegsbriefe meiner vier Protagonisten und die Kriegstagebücher, später konnte ich im Jüdischen Museum Berlin den verfilmten Bestand lesen. Erst in den vergangenen zwei Jahren hatte ich, dank eines Forschungsstipendiums der Gerda-Henkel-Stiftung, der freundlichen Einladung an das Max-Planck-Institut für Bildungsforschung und der Großzügigkeit meiner Kolleginnen und Kollegen an der Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg die Möglichkeit, mich intensiver mit dieser Familie im Krieg zu befassen.

Die Arbeit mit sogenannten Egodokumenten ist eine besonders intensive, intime Form der Quellenlektüre. Ich war mir der Indiskretion meines Tuns bewusst – und der persönlichen Nähe, die ich damit zu meinen Protagonisten entwickelte. Diese Nähe war verführerisch, aber nicht immer angenehm, denn es handelte sich bei »meiner« Familie keineswegs um Personen, mit denen ich mich identifizieren wollte oder konnte. Dennoch war die Möglichkeit, durch diesen einzigartig dichten Briefwechsel dem Leben und den Geheimnissen der vier Personen auf die Spur zu kommen, sehr attraktiv. Als ich allerdings zu Beginn meiner Recherche in New York einmal unverhofft in einem geöffneten Briefumschlag eine mit einem Wollfaden zusammengebundene dunkle Haarlocke und die beiliegende Notiz: »Mamas Haare« fand, war ich fast erschrocken. Heinrich Braun hatte die Locke wohl seinem Sohn nach dem plötzlichen Tod der Mutter übergeben. Es war eine aufregende, aber auch unheimliche Erfahrung, diese Locke in der Hand zu halten. Wie nah wollte ich dieser und den anderen Toten eigentlich kommen? Nah genug jedenfalls, um mich durch ihr Leben und Sterben im Krieg beeindrucken und berühren, aber auch befremden zu lassen. Denn je mehr ich las, und je ratloser mich die Lektüre gelegentlich zurückließ, desto besser konnte ich meine Korrespondenten dennoch »verstehen«, ihre Gedanken, Gefühle und Handlungen nachvollziehen. Ich versuchte, für sie jene Empathie zu entwickeln, die gerade keine Identifizierung, sondern die Fähigkeit zur Distanz einschließt: die Kernkompetenz der Geschichtswissenschaft.

Ich wollte eine Geschichte erzählen, die nicht nur für professionelle Historiker oder gar für Experten des Ersten Weltkriegs interessant und lesbar sein würde. Am Beispiel von damals prominenten, heute eher vergessenen Personen wollte ich zeigen, wie der Krieg in das Leben von Menschen einbrach, die ihn nicht erwartet oder ersehnt hatten, ihn aber dennoch freudig annahmen. Ich wollte verstehen und verständlich machen, welche Emotionen der Kriegsausbruch auslöste, wie er Menschen scheinbar plötzlich verwandelte und ihre Leben völlig veränderte; aber auch, welche sozialen Zwänge wirksam wurden, die ihnen scheinbar gar keine andere Wahl ließen, als an diesem Krieg nicht nur äußerlich teilzunehmen. Schließlich sollte erklärt werden, warum Menschen auch dann noch den Krieg annahmen und freiwillig mitmachten, als seine Grausamkeit, seine Sinnlosigkeit und seine Aussichtslosigkeit eigentlich nicht mehr geleugnet werden konnten. Wie ich an meinem Beispiel zeigen kann, waren hierfür weniger politische oder ideologische Beweggründe entscheidend, als vielmehr die Hoffnung, unter den Bedingungen des Krieges das Leben besonders intensiv erfahren und fühlen zu können, Hass ebenso wie Liebe, Angst ebenso wie Geborgenheit in einer erstarkten Gemeinschaft. In diesem Sinne eröffnete der Krieg ungeahnte Möglichkeiten: der Abenteuer, der Bewährungen, der Persönlichkeitsentwicklung bis hin zur Neuerfindung des Selbst; aber auch die Chancen der Vertiefung und Beschleunigung von Beziehungen. Das Leben miteinander schien nun zugleich klarer und inniger zu werden. Dass an solchen Hoffnungen und Gefühlen trotz ihrer Enttäuschung festgehalten werden konnte, zeigen die Briefe, die dieser Geschichte zugrundeliegen, ebenso wie den immer mühsameren Alltag und das zunehmende Grauen des Krieges. Erlebt und beschrieben wird das alles von einer Familie aus dem bildungsbürgerlichen Milieu Berlins. Dieses Milieu war schon vor dem Krieg äußerst facettenreich. Die Brauns hatten Berührungspunkte zu sozialistischen, liberalen und liberalkonservativen politischen »Lagern«. Zu ihrem Bekanntenkreis gehörten Menschen aus der protestantisch und der jüdisch geprägten Kultur, bildungs- und wirtschaftsbürgerlicher, adliger und kleinbürgerlicher Herkunft. Urbaner Lebensstil, Luxuskonsum und lebensreformerische Ideale überlagerten sich ebenso wie geschmacklichkulturelle Ausrichtungen an Klassik, Klassizismus, Naturalismus und Impressionismus – wobei die Brauns vor der heute als klassische Moderne bezeichneten Avantgarde der Vorkriegskultur entschieden Halt machten. Ähnlich zeigte sich die Gemengelage auch im Braun’schen Bekanntenkreis, wo aber keineswegs gleichförmig auf den Krieg reagiert wurde. Auch in der Familie, um die es hier geht, gab es unterschiedliche Haltungen zum Krieg, subtile Konflikte, zähe Aushandlungen. Dennoch wurde der Krieg insofern zum entscheidenden Faktor in diesem etwas unübersichtlichen Milieu, als die meisten seiner Angehörigen im positiven Bekenntnis zu ihm die Voraussetzung sahen für die soziale Achtung, die ihnen zustand. Das hieß im Umkehrschluss: Ablehnung oder Zweifel gegenüber dem Krieg barg die Gefahr sozialer Ächtung. Das traf besonders die jungen Männer, aber auch deren Eltern.

Briefe und Tagebücher sind verführerische historische Quellen, weil sie neben der Lust an der Indiskretion auch Authentizität versprechen. Aber ein solches Versprechen können sie nicht einlösen. Ihr Quellenwert liegt vielmehr darin, dass sie die zeitnahe Deutung von Erlebtem durch den Schreiber enthalten, ebenso wie die jeder einzelnen Äußerung zugrundeliegende kommunikative Gestaltung dieser Deutung. Schließlich enthalten solche Texte auch Selbstentwürfe, denn sie sollen den Adressaten überzeugend zeigen, wer man sein will und wie man sich im Krieg bewährt. Bei der Familie Braun-Vogelstein kam hinzu, dass jedes Mitglied von seiner eigenen Bedeutung und derjenigen der anderen Korrespondenten überzeugt war – insofern stellen die Briefe (und Tagebücher) schon den Beginn der bewussten Selbsttradierung dar. Aus all diesen Gründen bedürfen die von mir benutzten Quellen der Einführung und der Interpretation. Beides dient nicht nur der Verfremdung, sondern auch der Einordnung in größere Zusammenhänge; insoweit aber die Texte durch ihre Fremdheit für uns heute den Zugang erschweren, versuche ich, sie durch interpretierende Reflektionen den Lesern näher zu bringen. Dass ich eine bloße Edition nicht in Erwägung gezogen habe, sondern meine eigene Geschichte erzählen wollte, hat nämlich nicht zuletzt den Grund, dass ich die Quellen vor der verständlichen Irritation der Leser beschützen möchte.

Meine Hoffnung, die Geschichte so zu erzählen, dass auch Nichtspezialisten sie mit Gewinn lesen können, gilt in gleicher Weise auch für Leser mit Expertenwissen. Denn die dichte Überlieferung ermöglicht es, die verschiedensten Spezialkenntnisse über die Militärgeschichte, die politische Geschichte, die Alltagsgeschichte, Kulturgeschichte, Mentalitätsgeschichte und die Erinnerungsgeschichte des Ersten Weltkriegs hier nicht nur wiederzufinden, sondern in ihrer Verknüpfung und persönlichen Verarbeitung am Beispiel einer kleinen, engen Gruppe in neuem Licht zu sehen. Den Anspruch, auf all diese Verknüpfungen explizit zu verweisen oder gar dem exzellenten Forschungsstand über den Ersten Weltkrieg Entscheidendes hinzuzufügen, erhebe ich zwar nicht – wohl aber den, eine neue Geschichte zu erzählen, deren Quellenbasis und Konstruktion transparent und nachprüfbar sind, und die hoffentlich auch ihren Lesern Empathie mit dieser Familie im Krieg ermöglicht.

Die Vier

»Wir vier! Gab es wohl je ein so inniges miteinander Verwurzeltsein?« Mit diesen Worten zitiert Julie Vogelstein den jungen Otto Braun. Im Rückblick auf die »herrliche, nie genug zu preisende Freundschaft« zwischen ihm, den Eltern Lily und Heinrich Braun sowie ihr selbst soll Otto so die kurze Zeit zwischen Juni 1914, als diese vier sich erstmals als vertraute Gruppe fanden, und dem Tod Lily Brauns im August 1916, die das Ende dieser besonderen Konstellation bedeutete, beschworen haben.1 Wer waren diese vier, woher kamen sie und wie begegneten sie einander? Auf welchem Grund – oder über welchem Abgrund – entstand die Verbundenheit, die Otto als »inniges miteinander Verwurzeltsein« beschrieb?

Lily Braun war am 2. Juli 1865 in Halberstadt zur Welt gekommen. Ihr Vater war der spätere General Hans von Kretschmann, ihre Mutter war Jenny, geb. von Gustedt, ihre gleichnamige Großmutter eine geb. von Pappenheim, tatsächlich aber die uneheliche Tochter Jérome Napoleons. Eine zweite Tochter, Mascha, kam 1878 zur Welt. Die Familie folgte dem Vater in verschiedene Garnisonsstädte in allen Teilen Preußens, wobei es der jungen Lily von Kretschmann durch ihre Schönheit, ihren Charme und ihre Entschlossenheit stets gelang, als Mittelpunkt der um das Militär herum organisierten städtischen Geselligkeit wahrgenommen zu werden. Eine systematische Bildung erhielt sie anscheinend nicht, las viel, aber wahllos und bereitete sich ansonsten auf das Leben einer adligen Offiziersgattin vor. Unter dem frisch gekürten Wilhelm II. fiel ihr Vater jedoch in Ungnade und wurde gedrängt, seinen Abschied zu nehmen; im selben Jahr scheiterte eine heimliche Verlobung Lily von Kretschmanns mit Gottfried von Pappenheim, einem entfernten, 20 Jahre älteren Cousin und Witwer mit zwei halbwüchsigen Töchtern. In dieser Situation fand sie einen neuen Lebensinhalt, indem sie sich der Geschichte ihrer 1890 verstorbenen Großmutter widmete, die Teile ihres Lebens in Goethes Nähe verbracht und als später verheiratete Jenny von Gustedt in den adligen Salons des klassischen Weimar verkehrt hatte. Lily begann, über die gelehrten (adeligen) Frauen dieser Gesellschaft zu schreiben und eröffnete sich dadurch den Zugang zu jenen sozialen Kreisen, die gegen Ende des 19. Jahrhunderts eine hingebungsvolle Goetheverehrung zelebrierten. Ihren Hauptwohnsitz nahm die Familie Hans von Kretschmanns nach dessen Abschied in Berlin, wo die Tochter Lily 1891 den querschnittsgelähmten Kathedersozialisten und Aktivisten der »Gesellschaft für Ethische Kultur« Georg von Gizycki kennenlernte. Unter seiner Anleitung begann sie, sich systematischer zu bilden und erstmals auch eine begründete politische Meinung zu entwickeln. 1893 zog sie zu ihm, der inzwischen ein enger Freund geworden war. Zugleich näherte sie sich dem sogenannten radikalen Flügel der bürgerlichen Frauenbewegung an und trat in die Redaktion der Zeitschrift »Die Frauenbewegung« ein. Die bald darauf folgende Eheschließung mit Gizycki führte zu einer zeitweiligen Entfremdung von ihrer Herkunftsfamilie. Doch schon im März 1895 starb ihr Mann. Im August desselben Jahres lernte Lily den Sozialdemokraten Heinrich Braun kennen, einen Freund ihres verstorbenen Mannes, den sie um Hilfe bei der Ordnung von dessen Nachlass gebeten hatte. Sie verliebte sich und heiratete ihn nach dessen Scheidung im Jahre 1896. Im Juni 1897 kam der gemeinsame Sohn Otto zur Welt. Zugleich wurde Lily Braun innerhalb der SPD aktiv, insbesondere widmete sie sich der Frauenfrage und arbeitete in der Redaktion der »Gleichheit«. Darüber kam es erneut zum Abbruch der Beziehungen zu ihrer Herkunftsfamilie. Doch auch die Arbeit in der Partei verlief nicht ohne Konflikte, die einerseits auf dem Misstrauen gegenüber der adligen Aktivistin, andererseits auf dem Unwillen Lily Brauns beruhten, sich der Parteidisziplin und insbesondere der einflussreichen Clara Zetkin zu fügen. 1903 beteiligte sich Lily Braun noch begeistert an der Wahlkampagne ihres Mannes während der Reichstagswahlen. Politische und persönliche Konflikte in und mit der SPD führten jedoch zu einer wachsenden Distanzierung, obwohl Lily Braun sich weiterhin als Sozialistin bezeichnete und verstand. Mit ihrer schriftstellerischen Arbeit sicherte sie den Lebensunterhalt der Familie, insbesondere durch Publizistik zu Frauenfragen und Biographisches zu ihrer Familie, einer als Schlüsselroman verfassten Autobiographie, sowie durch Erzählungen, Romane, Theaterstücke und ein Opernlibretto. 1910 bezog die Familie eine Villa im gerade erschlossenen Klein-Machnow am südlichen Rand von Berlin. Dennoch litt sie unter Geldsorgen, da Lily Braun sich dem Vater gegenüber verpflichtet hatte, nach dessen Tod seine beträchtlichen Spielschulden zu begleichen. Phasen intensiver Arbeit wechselten mit ausgiebigen Erholungsreisen nach Bayern und später nach Italien, wo sie 1913 eine leidenschaftliche Affäre mit einer italienischen Zufallsbekanntschaft, einem gewissen Tancredi di Stefano begann. Außerdem startete sie ein neues Romanprojekt, in dessen Mittelpunkt ein deutscher Adliger namens Konrad stand, eine Geschichte, die sich an den unterschiedlichsten Schauplätzen Europas entfalten sollte.

Heinrich Braun wurde am 23. November 1854 in eine jüdische Familie in Budapest geboren.2 Der Vater war als Eisenbahnanlagenbauer viel unterwegs, häufig begleitet von seiner Frau und Heinrichs jüngeren Geschwistern. Die Familie zog schließlich nach Wien. Im Alter von 14 Jahren wurde Heinrich für zwei Jahre auf die Thomasschule nach Leipzig geschickt. Nach dem Abitur studierte er Jura und wechselte später zum Studium der Nationalökonomie nach Straßburg. In dieser Zeit begann er sich – neben seinem festen Glauben an übersinnliche Phänomene (er zog regelmäßig eine Wahrsagerin zu Rate) und seinen lebensreformerischen Überzeugungen – für sozialistische Politik zu interessieren. Er trat der SPD bei. 1881 promovierte er an der Universität Halle zum Dr. phil. und heiratete. Seine geplante Habilitation in Halle scheiterte, vermutlich an seiner Weigerung, zum Protestantismus zu konvertieren. Auch an der Universität Jena konnte er wegen seiner politischen Überzeugung nicht reüssieren. Seit 1883 gab er zusammen mit Karl Kautsky die sozialdemokratische Monatszeitschrift »Neue Zeit« heraus und arbeitete zugleich als deren Redakteur. 1888 gründete er das »Archiv für soziale Gesetzgebung«, eines von zahlreichen Zeitschriftenprojekten, mit denen er nicht nur Ideen verbreiten und öffentliche Debatten anregen wollte, sondern auch hoffte, seinen Lebensunterhalt finanzieren zu können. 1903 verkaufte er das »Archiv« an Edgar Jaffé, der es gemeinsam mit Werner Sombart und Max Weber in »Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik« umbenannte. Nach demselben Geschäftsmodell folgten 1891–1895 das »Sozialpolitische Centralblatt«, 1903–1907 »Die Neue Gesellschaft«, als deren Mitherausgeberin Lily Braun fungierte, und seit 1912 die »Annalen für soziale Politik und Gesetzgebung«.

Anfang 1895 ließ Heinrich Braun sich von seiner ersten Frau scheiden und heiratete wenig später die Hausdame, die er zur Betreuung seiner bei ihm lebenden Söhne eingestellt hatte und die zum Zeitpunkt der Eheschließung von ihm schwanger war. Doch noch vor der Geburt des Kindes lernte er die verwitwete Lily von Gizycki kennen und lieben, so dass es binnen kürzester Zeit zu einer zweiten, dramatischen Scheidung kam. Danach hatte Heinrich Braun keinen Kontakt zu seinem dritten Kind, während die beiden schulpflichtigen Söhne aus seiner ersten Ehe bis zur Geburt des gemeinsamen Sohnes Otto bei ihm und Lily Braun in Berlin lebten. Währenddessen engagierte Heinrich Braun sich politisch in den innerparteilichen Kämpfen der SPD auf Seiten des revisionistischen, an einer Zusammenarbeit mit bürgerlichen Kräften interessierten Flügels. 1903 errang er das Reichstagsmandat des Wahlkreises Frankfurt-Lebus, konnte aber, nachdem die Wahl aus formalen Gründen angefochten worden war, bei der Nachwahl seinen Erfolg nicht wiederholen. Persönliche und geschäftliche Schulden häuften sich, immer öfter kam es zu gerichtlichen Auseinandersetzungen um Geld, Verleumdung oder Beleidigung. Nach 1910 geriet die Ehe mit Lily Braun in eine Krise, bei der es oft um Geld ging – ständig drohte die Zwangsversteigerung des neu gebauten Hauses, zugleich erfuhr Heinrich erst jetzt von den Schulden seines Schwiegervaters, die Lily Braun zu begleichen versprochen hatte, eine stattliche Summe von 78.000 Reichsmark (RM). Lily Brauns wachsende Enttäuschung über ihren Mann und seine – oft mit ihrem Geld – gescheiterten Versuche, sich und seiner Familie ein gesichertes Einkommen zu bieten, wurde schließlich in ihrem offenen Ehebruch deutlich. Äußerlich akzeptierte Heinrich Lilys Anspruch auf ein Ausagieren ihrer Leidenschaft, verfiel aber selbst in eine zunehmende Depression. Anfang 1913 lernte er in München Julie Vogelstein kennen, mit der er zunächst aber nur in losem Kontakt blieb.

Otto Braun kam am 27. Juni 1897 zur Welt.3 Er wurde als Erfüllung der großen Liebe seiner Eltern begrüßt und von Beginn an intensiv beobachtet und gefördert, wie aus dem während seiner ersten vier Lebensjahre von der Mutter geführten Tagebuch deutlich wird.4 Bald wurden seine außergewöhnlichen geistigen Talente offenbar, er begann früh zu schreiben und galt nicht nur den Eltern als Wunderkind; schon seine ersten Briefe und Tagebucheinträge zeugen von einer ungewöhnlichen sprachlichen Ausdrucksfähigkeit, aber auch von anmaßender Altklugheit. Dabei genoss er eine für die damalige Zeit ungewöhnlich freie und liberale Erziehung: Es gelang den Eltern, den Zehnjährigen in der Freien Schulgemeinde Wickersdorf unterzubringen.5 Nach einem Jahr kehrte er auf eigenen Wunsch zurück und erhielt – nach einem kurzzeitigen Besuch des Gymnasiums – bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs, u. a. gemeinsam mit Stefan Lepsius und Peter Kollwitz, Privatunterricht bei Dr. Herrman Schmalenbach, einem jungen Philosophiedozenten und späteren Professor an der Universität Basel. Die Freundesgruppe der Privatschüler verbrachte auch außerhalb des Unterrichts viel Zeit miteinander und gab eine kleine hektographierte Zeitschrift heraus, »Der Anfang. Zeitschrift für kommende Kunst und Literatur«, in der sie ihre Gedichte und Aufsätze »veröffentlichte«.6 Otto selbst las intensiv klassische Literatur, griechische im Original, Werke von Historikern und Abhandlungen über den Staat, dem sein besonderes Interesse galt. Er schrieb Gedichte, Dramen und politische Essays, aus denen sein kindliches Bewusstsein um seine eigene Bedeutung und Bestimmung deutlich werden – verbunden mit einem starken Bedürfnis nach Selbsterkenntnis und Selbsterziehung. Die Mutter begleitete er häufig auf ihren Erholungs- und Bildungsreisen innerhalb Deutschlands, sowie nach Frankreich und Italien.

Julie Vogelstein wurde 1883 in Stettin geboren, wo ihr Vater Heinemann Vogelstein als Rabbiner tätig war.7 Sie wuchs in liberalem Geist auf, in relativer Freiheit erzogen und in jeder Hinsicht gefördert und geliebt. Ihre drei älteren Brüder erlebte sie als freundliche Beschützer. Der älteste, 1870 geborene Bruder Herrmann war wie der Vater ein führender liberaler Rabbi und Antizionist, der ein Jahr später geborene Bruder Ludwig lebte als erfolgreicher Industrieller in den USA, wo er sich ebenfalls im Reformjudentum engagierte. Ihr 1880 geborener dritter Bruder Theodor lebte in München als Dozent, er war promovierter Nationalökonom, befreundet mit dem Kreis um Max Weber und Mitglied des Vereins für Sozialpolitik. Es war anlässlich eines Besuchs von Heinrich Braun bei diesem Bruder, dass sie jenem zuerst begegnete. Julie Vogelstein hatte eine systematische Bildung genossen, zunächst in einer öffentlichen Schule, ergänzt durch Privatunterricht. Dann bemühte sie sich, gegen die zunehmende Skepsis des Vaters, mit dem Abitur den Zugang zu einem Hochschulstudium zu erlangen. Sie reiste mit älteren Freundinnen nach Berlin und Paris und lernte Italien kennen, bevor sie mit 24 Jahren endlich das externe Abitur ablegen konnte. Danach studierte sie zunächst Kunstgeschichte in Berlin bei Heinrich Wölfflin und hörte bei Georg Simmel eine Einführung in die Philosophie. Anschließend ging sie nach München, um Archäologie zu studieren. Dort hörte sie auch Philosophievorlesungen bei Max Scheler. Ermutigt, sich ein eigenes Forschungsfeld zu erarbeiten, wählte sie die mittelalterliche Buchmalerei. Dafür forschte sie in Wien, Paris und London. 1910 besuchte sie erstmals ihren Lieblingsbruder Ludwig in New York. 1912 kehrte sie nach München zurück, wo sie ihre abgeschlossenen Forschungen für eine Buchveröffentlichung vorbereitete und erneut bei Wölfflin studierte, der dort inzwischen eine Professur angenommen hatte. Von ihrem Bruder Theodor wurde sie in die intellektuellen Kreise der Stadt eingeführt. Julie Vogelstein war bei der ersten Begegnung mit Heinrich Braun zwar eine finanziell unabhängige Privatgelehrte, zugleich aber auch eine schüchterne und wenig selbstbewusste junge Frau von fast 30 Jahren.

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In welcher biographischen Phase befanden sich die vier Protagonisten, als der Krieg ausbrach, wie gingen sie mit ihren Wünschen, Enttäuschungen, Ängsten und Hoffnungen um? Welche Rolle spielten sie füreinander? Was konnte der im August 1914 erklärte Krieg jedem der vier angesichts seiner/ihrer aktuellen Lage bedeuten? Die Vergegenwärtigung des Frühsommers 1914 lässt erahnen, in welche Leben und in welche Beziehungen der Krieg eingriff, wie er sie beschleunigte, veränderte, ermöglichte oder zu zerstören drohte – und lässt fragen, welchen Gebrauch »die vier« davon machen würden.

Lily Braun befand sich im Winter und Frühjahr 1914 auf einer ihrer anstrengenden, zeitlich knapp kalkulierten Vortragsreisen, mit denen sie Geld verdiente und über die sie ihren Ehemann Heinrich in täglichen Briefen genauestens informierte. So schrieb sie ihm auch am 5. Februar, einem Donnerstag, aus Mannheim. Am nächsten Tag solle es nach Stuttgart gehen, von wo aus sie einen Abstecher nach Mailand plante, um ihren italienischen Liebhaber zu treffen. »Für Otto habe ich in Fürth am Dienstag noch einen Vortrag angenommen«, schlug sie als Erklärung für den Sohn vor. Schließlich teilte sie Heinrich en détail ihre Pläne für ein Treffen mit Tancredi di Stefano mit:

»Ich bin schon in Berlin entschlossen gewesen, Tankred statt in Freiburg, wo er nur einen Tag bleiben könnte, da er mittwochfrüh in Rom sein muss, in Mailand zu treffen. … Ich wollte zuerst in Stuttgart Sonntag um 3.21 nachmittags abreisen, wo ich einen direkten Waggon nach Mailand gefunden hätte, aber erstens erreicht der erst um ½ 1 nachts den Anschluss an einen Schlafwagen, zweitens kommt er schon um 6.22 früh in Mailand an, während T. erst um 6.45 ankäme. Ich fahre also von Stuttgart nachmittags nach Karlsruhe, wo ich den Zug über Basel erreiche, und um 8.52 mit dem schon bestellten Schlafwagen in Mailand ankomme (Montag). Dienstagabend reise ich zurück und zwar bis Weimar, wo Briefe mich im Russischen Hof erreichen. Ich weiß, Du zürnst. Aber bitte bedenke, mein lieber Heinz, dass T. vor 10 Tagen nach Berlin (auf einen Tag!) kommen wollte u. ich es der innerlich unerträglichen Situation wegen mit viel, viel Herzensschmerz im letzten Moment noch verhindert habe. Die Mehrkosten der Reise schlage ich durch irgendeinen Vortrag wieder heraus.« (5.2.14)

Lily Braun nutzte in ihrem Brief eine zwischen den Korrespondenten häufige Textsorte: Informationen über Reisewege und -zeiten, gute und schlechte Zugverbindungen, Daten und Orte, unter denen die viel reisenden Brauns zu erreichen waren, um die tägliche Post zu empfangen oder Sendungen nachgeschickt zu bekommen. Dabei hielt sie ihren Ehemann Heinrich zugleich über den Gang ihrer Affäre mit »T.«, wie er üblicherweise in den Briefen genannt wurde, auf dem Laufenden: über die Mühen und Kosten, die sie auf sich nahm, um ihn zu sehen; über die Rücksichten, die sie nahm, um Heinrich und den unwissenden Sohn Otto zu schonen; und über die genaue Zeit, die sie mit T. in Mailand verbringen würde: von Montagmorgen bis Dienstagabend. Dabei war sie sich durchaus bewusst, dass Heinrich ihr nicht nur »zürnte«, weil sie sich einer so anstrengenden Unternehmung unterzog, sondern dass er auch litt. Denn in einem früheren Brief vom selben Tag hatte sie ihn beschworen: »Lieber, lieber Heinz – wenn ich an Dich denke, weiß ich nicht, welch Gefühl überwiegt: tiefe Zärtlichkeit oder tiefer Gram.« Aber die Offenheit, mit der sie ihre außereheliche Leidenschaft auslebte, war anscheinend ein unverzichtbarer Teil dieser Affäre selbst. Heinrich Braun erreichte der Brief in Berlin, wo er mit der Redaktionsarbeit für die »Annalen«, Gerichtsprozessen, Geldsorgen und Lilys Angelegenheiten während ihrer Abwesenheit beschäftigt war. Die Vortragsreise seiner Frau verfolgte er von dort durch intensive Zeitungslektüre und versorgte sie mit den Pressereaktionen auf ihre Auftritte, da sie bei deren Erscheinen die jeweilige Stadt meist schon verlassen hatte. Auch nach ihrem Vortrag in Mannheim zitierte er ihr ausführlich aus der Lokalpresse, die er in einem Berliner Café vorfand. Eine knappe Meldung im Generalanzeiger nannte er »belanglos«, »dagegen glüht geradezu von außerordentlichem Enthusiasmus und einem seltenen Verständnis für Deine Persönlichkeit das ›Lily Braun in Mannheim‹ überschriebene Feuilleton in der Morgenausgabe der ›Neuen Badischen Landeszeitung‹ vom 6. Februar. … In dem Feuilleton heißt es, dass ›der gestrige Abend für den Kaufm. Verein der glanzvollste dieses Winters war.‹ Der Referent wünscht, dass der … bis auf den letzten Platz gefüllte Saal dreimal so groß gewesen wäre, ›um diesen wundervollen, klaren, mutigen und ergreifenden Vortrag einer innerlich unendlich reichen, aufrechten, verehrungswürdigen Frau mit zu erleben.‹ Und zum Schluß heißt es: ›Wie Frau Lily Braun dieses Bekenntnis gab, schien sie zu wachsen und ihre stolze, große, schöne, bestrickende Erscheinung stand wie in einem verklärten Licht …‹ Der Verfasser, der in der N. B. Landeszeitung, dem bedeutendsten bürgerlichen Blatt Badens, mit G. W. P. zeichnet, hat Deines Geistes neuen Hauch gespürt. Immer mehr setzt sich Deine außerordentliche Persönlichkeit durch, immer fruchtbarer wirkt Deine unvergleichliche geistige Kraft und nur Du bist es, die an Deiner schöpferischen Fähigkeit gezweifelt. Das ist eine traurige Gegenseite zu dem mächtigen Einfluß, den Du mit jedem Tag unbestrittener übst. Wenn Du doch zu starkem Selbstbewusstsein Dich durchringtest und Dein wunderbares Wesen sich in seinem ganzen Reichtum zu voller Blüte entfaltete.« (7.2.14)

Heinrich ging in seinem Antwortbrief an Lily auf deren Treffen mit T. nicht ein, konzentrierte sich statt dessen auf die Bewunderung und Unterstützung seiner Frau und versuchte, ihre Selbstzweifel als unbegründet zurückzuweisen. Er hatte ihr, nachdem sie ihn 1913 über ihre Affäre informiert hatte, lediglich das Versprechen abgenommen, diese vor Otto zu verheimlichen. Das erklärt seinen Zorn, als er, während sie sich im Anschluss an die Vortragstournee für mehrere Wochen in Weimar aufhielt, um für eine geplante Herausgabe der großmütterlichen Briefe zu recherchieren, in der Berliner Wohnung einen »Postschein« aus Italien vorfand, also die Benachrichtigung über einen Brief von Tancredi, und er bat Lily in strengem Ton, künftig »auf Otto und sein seelisches Gleichgewicht die gebotenen Rücksichten zu nehmen« (10.3.14). Lily verteidigte sich, es sei doch »für Jeden (eine) ganz harmlos aussehende Sache«. Dann aber verlor sie sich in Klagen und Selbstanklagen: »Ach am besten ist es, nicht denken, alles Nachdenken führt zu den Abgründen der bittersten Verzweiflung. Erst an der Strafe, die mir wird, sehe ich, wie grässlich ich gesündigt haben muß! Laß mich verstummen. Das ist besser als alle Wunden betasten. Sähe ich wenigstens nach irgendeiner Seite ein Licht!« (11.3.14) Aber Heinrich leugnete, unter ihrer Affäre mit dem Italiener zu leiden. Als Lily im April wieder auf dem Weg nach Italien war, versicherte er ihr:

»Die Qualen Deiner zerrissenen Empfindungen … schmerzen mich tief, und ganz besonders soweit sie durch mich verursacht sind. Warum weißt Du immer noch nicht, dass das einzige Mittel, mein Unglück zu verringern, darin besteht, Dich glücklich zu wissen? Wenn Du mich wirklich lieb hast, solltest Du die trüben, grundlosen Gedanken gar nicht bestehender Schuld niemals über Dich Gewalt gewinnen lassen, und Dich ganz und gar Glücksempfindungen hingeben. Im Moment bedarf es dieser Mahnung gewiß nicht und ich will lieber von Anderem sprechen.« (25.4.14)

Die Andeutung am Ende des Abschnittes enthält einen indirekten Vorwurf, der umso stärker wirkt, als er im Kontext seiner Großzügigkeit geäußert wird; und in seinem folgenden Brief wird er deutlicher, als er ein vielleicht verloren gegangenes Schreiben von ihr, von dem er befürchtet, es könne »einen besonders ernsten und intimen Inhalt« (1.5.14) gehabt haben, zum Anlass nimmt, seiner »Sorge« um die »Gefahr« einer Entdeckung der Affäre durch Dritte Ausdruck zu geben:

»In ähnlicher Gefahr schweben wir immer, und weil Du deswegen gegen sie abgestumpft wirst, bitte ich Dich um mehr Vorsicht, als Du vermutlich übst. Speziell in Florenz bist Du vielleicht sorgloser als gut ist. … Ich bitte Dich, diese Warnung ernsthaft zu beachten. Der Ausbruch eines, in seinen Folgen unabsehbaren Skandals kann durch einen Zufall, durch unbeabsichtigte und, wenn sich die Gelegenheit gar zu leicht darbietet, auch durch beabsichtigte Beobachtung herbeigeführt werden. Bedenke, was das bedeuten kann. Und nun gar noch in Italien und der kritischen Lage.«8

Lily Braun reagierte auf Heinrichs selbstgerechten Großmut ebenso empfindlich wie auf seine indirekten Vorwürfe: nämlich mit Wut und herausforderndem Trotz, da sie hinter seinen Warnungen – sicher zu Recht – seine explizit geleugnete Kritik an ihrer Beziehung zu Tancredi und schwere Vorwürfe vermutete, indem er die Folgen des »Skandals« für Otto in den Vordergrund rückte. »Warum soll das plötzlich gefährlich sein«, schrieb sie gereizt, »was ich als Witwe und sogar als Mädchen in voller Freiheit getan habe? Gefährlich ist vielleicht, dass irgendjemand in Gegenwart Ottos einmal fragen könnte, wer das war, mit dem man mich in Florenz gesehen hat. Aber darauf will ich nicht eingehen, da Du doch nicht einsiehst, wie viel harmloser es ist, wenn Otto weiß, dass ich T. traf, als wenn er es nicht weiß.« (3.5.14)

Auch die mit der italienischen Affäre verknüpften finanziellen Kosten boten Heinrich Anlässe für Kritik. Lily schrieb ihm zwar mit übertriebener Demut, mit wie wenig Geld sie in Italien auskam, so dass er sie beschwor, nicht unnötig zu sparen; zugleich erinnerte er sie aber an »die unnützen Ausgaben für Toiletten, Pelzwerk, Bücher, Autographen u. s.w. u. s.w., die Du zum Theil auch dann machtest, als es am Nöthigsten gebrach« (8.5.14), und bat streng, solche in Zukunft zu unterlassen. So schwankten seine Bekundungen zwischen Bewunderung und kritischen Ermahnungen, die aber umgehend halb zurückgenommen wurden, während Lily ihren scheinbar selbstbewussten Stellungnahmen immer wieder durch Selbstanklagen und Bekenntnissen ihrer Verzweiflung und »Zerrissenheit« widersprach. Nach einem Streit bat sie Heinrich um Nachsicht angesichts ihrer »Ausbrüche … Bitte, bitte verzeih! Du sprichst von Deinem Unglück in diesem Jahr; ich weiß nicht, ob nicht das meine größer ist, denn Du bist frei von Schuld, Du bist der Große, Starke, und ich?« (4.6.14)

Tatsächlich versuchten beide, dem anderen möglichst viel Leid zuzufügen und zugleich ihr eigenes Leid – oder dessen angebliche Nichtexistenz – zu betonen. Lily bestand darauf, dass ihr großes Liebesglück mit T. zugleich die Quelle größten Kummers sei. Heinrichs Strategie erwies sich insofern als raffinierter, als er sein Leid zugleich zeigte und abstritt. So war das Paar in einem erbitterten, wenngleich geleugneten Kampf auf selbstquälerische Weise miteinander verbunden.

Heinrichs Briefe an seine Frau konzentrierten sich jedoch – neben der Erörterung praktischer Fragen – vor allem auf das Thema, das von Ambivalenzen frei zu sein schien und zugleich die letzte verbliebene Verbindung zwischen den Ehepartnern darstellte: den gemeinsamen, geliebten und bewunderten Sohn Otto. Während Lily in Deutschland und Italien unterwegs war, richteten Vater und Sohn ihr Leben in Klein-Machnow ein. Otto arbeitete im Kreis von Freunden und Freundinnen mit dem Privatlehrer Schmalenbach, doch offensichtlich weitgehend selbstbestimmt, und berichtete der reisenden Mutter regelmäßig darüber. Die Beziehung zum Vater dagegen war nicht ohne Spannungen, insbesondere weil Heinrich die Schwärmereien des Sechzehnjährigen mit wachsender Besorgnis beobachtete. Diese richtete sich vor allem auf die Gefahr der Homosexualität für den außerordentlich schönen Jungen. Denn dessen Bewunderung für die griechische Klassik, die Jugendbewegung, den Dichter Stefan George und die mit ihm verbundenen Intellektuellen mochten ihn in Heinrichs Augen dafür anfällig machen; und Heinrich fürchtete, die von Otto für die Sommerferien geplante Reise nach Heidelberg könne zu gefährlichen Begegnungen führen. Auch wenn er Otto nicht wirklich, d.h. aus eigenem Antrieb, in Gefahr sah, so fürchtete er doch, er könne z.B. für homoerotische Lehrer-Schüler-Beziehungen anfällig sein. In seinem Aufsatz über Herder und Goethe habe Otto Letzteren zitiert: »O könnte ich nur einen Tag und eine Nacht Alkibiades sein!«, schrieb Heinrich alarmiert an Lily (6.4.14) In der Folge kam es zu einem Konflikt zwischen Vater und Sohn über George und dessen Anhänger Friedrich Gundolf. Otto bat die Mutter um Vermittlung:

»Vor ein paar Tagen hatte ich auch mit Pa aus Anlass einer recht schlechten Schrift Gundolfs einen Streit über George. Pa wurde etwas erregt und ich konnte nicht mehr recht weiter sprechen, weil er mich immer unterbrach, aber im Verlaufe des Nachdenkens dann wurde mir einer der wesentlichen Gründe klar, warum ich ihn so stark und eigentlich nach jeder Lektüre stärker liebe, denn auch Mörike hat schließlich ganz herrliche Gedichte gemacht und obwohl ich ihn sehr liebe, liebe ich ihn doch nicht so persönlich. Es ist hier also noch ein anderer Grund, und zwar wohl der wesentliche, dass George nach Art, Gesinnung und Ausdruck ein Sänger [sic] des Staats, der Gemeinschaft ist, woher auch die Notwendigkeit für ihn rührt, den Kreis zu bilden. Jedenfalls scheint mir von hier das Wesen Georges erkennbar zu sein, seine Liebe zu den festgefügten = und doch nicht diktierten, sondern lebendig gewachsenen organischen Ordnungen, woraus dann weiter die Liebe zu Griechenland, die Liebe zum nackten Menschen, zum Tanz und zu all diesen Jungen entspringt, die er dauernd neu preist. Doch das interessiert Dich wahrscheinlich gar nicht.« (2.5.14)

Das interessierte Lily selbstverständlich sehr, wie Otto auch wusste, denn sie nahm an allem intensiven Anteil, was ihn betraf. Umgekehrt berichtete sie ihm von ihren Reiseeindrücken und ihrer Arbeit, insbesondere die mit ihrem Romanmanuskript verbundene; und sie kommentierte gründlich die Texte Ottos, die er ihr schickte – so auch den, dann von Heinrich doch noch enthusiastisch gelobten Aufsatz über »Herders Einfluss auf den jungen Goethe«. Doch anders als ihr Mann setzte sie sich als professionellkollegiale Ratgeberin damit auseinander, indem sie alle möglichen starken Gefühle: Ottos Schwärmerei, Heinrichs Ängste und beider Begeisterung völlig beiseite ließ:

»Deinen Aufsatz habe ich fünfmal gelesen, kann also darüber schreiben. Ich finde ihn, was die Sprache und Ideen betrifft, ausgezeichnet. Die Entwicklung Deines Stilgefühls macht mir besondere Freude. Aber ich muß auch ein ›aber‹ hinzufügen. Man muß, meines Erachtens, bei solch einer Arbeit immer die Voraussetzung machen, dass der Leser vom Gegenstand nichts weiß, während Du voraussetzt, dass deine Leser das eigentliche Gerippe der Sache kennen: den Beginn der Goethe-Herderschen Beziehungen …, die historischen Quellen dafür … Auch meine ich hätte über ihre spätere Auseinanderentwicklung ein Wort einfließen müssen. Was meinst Du zu meiner Kritik und was meint Schmalenbach dazu?« (10.5.14)

Zugleich versuchte Lily in ihren Briefen an den Sohn, dessen potentielle Konflikte mit dem Vater zu vermeiden oder zu vermitteln: So erklärte sie Heinrichs Aufregung über George und Gundolf mit des Vaters großer Liebe und Sorge für Otto, gab ihrem Mann im Hinblick auf die Gefahren, die von George und seinen Jüngern ausgingen, teilweise recht und versicherte ihrem Sohn zugleich, sie glaube fest, er teile ihren eigenen »physischen Ekel« vor jeder Form von Homosexualität (14.5.14). Damit war für sie die Sache erledigt.

Als aber Otto Mitte Mai seiner Mutter (und sich selbst) ausführlich Rechenschaft über den Stand seines weltanschaulichen Denkens ablegte, war auch Lily Braun alarmiert. Ausgehend von einem Stammbaum ihrer väterlichen Kretschmann-Linie, die er dank des »Gotha«9 bis ins letzte Detail hatte erkunden können, träumte er zunächst von der Erstellung eines »sauberen« Stammbaums für beide Elternteile: »Wenn ich nur auch etwas über Papa erfahren könnte, aber ich getraue mich nicht, ihn zu fragen.« (13.5.14) Dann berichtete er von der mittelalterlichen Literatur, in der er am Vortage »geschmökert« habe, um im Anschluss zu bekennen:

»Du kannst Dir überhaupt nicht denken, wie nationalistisch ich werde; Griechenland Italien Deutschland, das lasse ich gelten; dagegen verliert sich meine frühere Wut auf andere Länder, wie Frankreich oder England, und ich bin gerne bereit, ihr Wesen anzuerkennen, freilich höchstens in Einzelheiten, nicht in der Gesamtheit als gleichberechtigt. Auch scheint es mir nachgerade unwiderleglich geworden zu sein, dass eine wahre Kultur nur auf der Grundlage des Volkes und eines in sich gefestigten Volkes entstehen kann. Deshalb trete ich stets so sehr dafür ein, sich vor allem als Deutscher zu fühlen; von diesem Standpunkte aus kann man dann ruhig alles Fremde an sich herankommen lassen und assimilieren, so wie es alle starken Nationen mit den Fremden getan haben. … Heute Vormittag las ich übrigens ein ganz dummes Buch, was mir nachträglich sehr unangenehm war, denn so etwas verblödet zweifellos, es ist das »Tagebuch eines Tauentzien-Girls«10, sicher nicht schlecht geschrieben und im Ganzen geschickt gemacht. Ich bin auch überzeugt, dass die Zustände genau so sind, wie sie geschildert werden; der Stil und Ausdruck ist ungewöhnlich richtig und die ganze Versumpftheit passt zu den eklen Eindrücken, die ich auf der T.-Strasse selbst erhalten habe. Ich habe den festen Glauben, dass aus dieser ›Welt‹ unter keinen Bedingungen mehr etwas werden kann, entweder muss sie mit Stumpf und Stil [sic] zernichtet [sic] werden, oder aber sie verfault und zersetzt allmählich unsere Kultur. … Wir haben hier die schauerlichste Kehrseite des Judentums, aber ich hoffe, dass es nur ein vermorschter Ast ist, den die guten Juden, die verantwortungsvollen meine ich, selbst mit werden überwinden helfen.«

Der für den 16-jährigen Otto typische, altkluge Stil, mit dem er sich als mit den Eltern ebenbürtiger Gesprächspartner zu beweisen sucht, ist das eine, das andere seine – durchaus altersgerechte – Phantasie über das überlegene nationale Kollektiv, dem er angehört und von dem aus er die Assimilation des Fremden zwar gestattet, ohne aber auf die Reinheit der vermeintlich höheren deutschen Kultur verzichten zu wollen. Halten wir ihm aber zugute, dass er gerade einen Aufsatz über Herder geschrieben hatte und dass sich sein eigener, jüdischer Vater in seinen Briefen selbst gelegentlich und sicher auch im Gespräch mit Otto über »schauerliche Kehrseiten« des Judentums, die Heinrich vor allem im Klischee des »Ostjuden« realisiert sah, in abwertender Weise geäußert hatte. Ebenso verwundert es kaum, wenn der sexuell interessierte Junge bei gelegentlichen Streifzügen durch die Tauentzienstraße sich gleichermaßen beunruhigt und angezogen fühlte. Das »Tagebuch des Tauentzien-Girls«, das er sich zur Nachbereitung seines letzten Spaziergangs besorgt und an einem Vormittag durchgelesen hatte, mochte seine sexuellen Phantasien weiter beflügelt haben. Diese wurden nun zur Abwehr dem »Judentum« bzw. dessen (schlechter) »Kehrseite« zugeordnet. In ihrer Antwort auf diesen Brief bat Lily den Sohn nun, »wegen Papa … recht vorsichtig zu sein. Ich erzählte Dir einmal etwas und Du machtest einmal eine Andeutung vor ihm, die mir recht peinlich war. Überhaupt solltest Du vermeiden, über Juden in der bekannten Weise zu sprechen, um Papa nicht zu verletzen. Zeige ihm auch lieber diesen Brief nicht. Was Du über Volk und Kultur schreibst, ist sicher ganz richtig, nur darfst Du zweierlei nicht vergessen: erstens, dass es ein Volk, im Sinne eines unvermischten Blutes, überhaupt in Europa … nicht mehr giebt, ferner, dass die Erscheinungen in der Tauentzienstr. nicht nur auf Juden zurückzuführen sind, sondern auf alle Finanzkreise und leider auch so drastisch nach außen auftretend, auf die des Offizier-Adels.« (16.5.14)

Heinrichs jüdische Herkunft war also eine alle drei peinlich berührende Tatsache, auf die mit Vorsicht und Takt reagiert werden musste, was anscheinend nicht immer gelang. Zugleich zeigte Lily Braun sich entschlossen, Ottos Phantasien hinsichtlich der Reinheit und Einheit des Volkes und der kulturellen Überlegenheit der Deutschen unter Verweis auf die europäische Realität zu bändigen, ohne seine pubertären Wünsche nach enthusiastischer Identifizierung zu denunzieren. Vorerst schien das zu gelingen.

Mitte Mai hatte Lily Braun in einem Brief an Otto ihre baldige Rückkehr aus Florenz angekündigt. Heinrich schrieb in beider Namen »nur ein Wort … das Dir sagt, dass wir in zärtlichster Liebe Dich erwarten und sehr glücklich sind über die Ankündigung Deiner Rückkehr.« (16.5.14) Einige Wochen nach ihrer Rückkehr, Anfang Juli, machte dann Otto sich auf die Reise, die ihn auch nach Heidelberg führen sollte, wo er sich an der Universität umtun und sich auf sein Studium nach dem Abitur im Herbst vorbereiten wollte. Heinrich war wie immer voller Sorge und zugleich voller Stolz auf den Sohn. Zwar fürchtete er die Gefahren, denen Otto durch die persönliche Begegnung mit realen und vermeintlichen Homosexuellen ausgesetzt sein würde, zumal der in Heidelberg lehrende Friedrich Gundolf auch noch »von blendender Schönheit« sein sollte, wie Heinrich am 6. April in seinem Alarm brief an Lily geschrieben hatte. Er sah aber in dieser Reise vor allem einen bedeutsamen Schritt Ottos auf dem Weg zu einer unabhängigen, erwachsenen Existenz. Ottos Lebensentwurf sah er im engsten Zusammenhang mit der eigenen, gescheiterten Biographie:

»Alles was Dich bereichert, erscheint mir als ein doppelter Gewinn: um Deinetwillen, den ich mehr liebe als mich selbst, aber auch um meinetwillen. Du hast wol [sic] eine Vorstellung davon, dass das Leben mir viele Enttäuschungen bereitet hat. Die einzige Hoffnung, auf die ich noch fest vertraue, und von der ich nicht glaube, dass sie auch in einer Illusion zerstieben wird, ist die auf Dich. Dir soll das Leben halten, was es mir versagt hat. Enttäusche mich nicht! Erfülle Dich, wie Du es jetzt bist [sic], immer mit großen Gefühlen und hohem Streben; laß Dich nicht Dir selbst entgleiten und in die Tiefe sinken. Bleib Dir selber treu und laß den Helden in Deiner Brust nicht sterben. Auch wenn ich nicht mehr sichtbar neben Dir lebe, soll meine Bitte in Deiner Erinnerung nicht verblassen, und diese Gesinnung in Dir durch nichts entwurzelt werden können.« (9.7.14)

Die Liebeserklärung an den Sohn enthielt zugleich eine Mahnung, einen Auftrag und das Bekenntnis zum eigenen Unglück, über dessen Grund Otto nicht aufgeklärt wurde. Er wird es auf den politischen, vielleicht auch den ökonomischen Misserfolg des Vaters bezogen haben, möglicherweise auch auf dessen Kränklichkeit und depressive Neigungen. Ob er die Ehekrise der Eltern gespürt hat, ist ungewiss, von der Affäre der Mutter wusste er nicht, obwohl er sich nach ihrem Tod dunkel an eine Szene in Venedig erinnerte, in der er beide anscheinend bei einer Umarmung überrascht hatte (vgl. Kapitel: Das Opfer). Der Auftrag Heinrichs im Sommer 1914 jedenfalls lautete ebenso allgemein wie bestimmt, Otto möge durch das eigene, gelungene und erfüllte Leben das väterliche Unglück kompensieren. Darauf sollte Heinrich sich nach Kriegsausbruch wieder beziehen. Noch schien der Appell an »den Helden in Ottos Brust« abstrakt und mithin folgenlos.

Zunächst ging es für Otto in Begleitung von Schmalenbach und dessen Frau (das Paar war frisch verheiratet) zur Odenwaldschule, die Otto zwar als Schüler nicht besucht hatte, dessen Leiter, Paul Geheeb, er aber persönlich aus seiner Wickersdorfer Zeit kannte, als dieser dort noch Lehrer war.11 Zurück in Berlin war Lily Braun inzwischen im Schaffensrausch und meinte, ihr Buchmanuskript bis Anfang August abschließen zu können. In ihren Briefen an Otto berichtete sie deshalb vor allem über ihren Helden Konrad und seine Reisen durch Europa, über das in Arbeit befindliche Kapitel, »das uns mit Konrad nach Trouville bringen wird« (6.7.14), wobei sie schon einen Tag später »in meinem Ms. mitten in Florenz« war. Während sie so selbst in imaginären Reisen schwelgte, bemerkte sie doch misstrauisch an Ottos Briefen und seinem vorherigen Verhalten »eine gewisse Unrast …, die mich besorgt macht. … Fast scheinst Du das Alleinsein, oder sogar das Mitunssein zu fürchten. Du suchst fast krankhaft Menschen, auch solche – verzeih! – die Deiner nicht ganz würdig sind. Habe ich Recht? Und hättest Du nicht das Vertrauen zu mir, Dich auszusprechen? Rückhaltlos!« (4.7.14)