image

HISTORISCHE GEISTESWISSENSCHAFTEN
FRANKFURTER VORTRÄGE

Herausgegeben von
Bernhard Jussen und Susanne Scholz

Band 6

David Nirenberg

»Jüdisch« als
politisches Konzept

Eine Kritik der Politischen Theologie

Aus dem Englischen
von Karin Wördemann

image

Das Werk Die zwei Körper des Königs von Ernst Kantorowicz trägt den rätselhaften Untertitel »Eine Studie zur politischen Theologie des Mittelalters«. Rätselhaft deshalb, weil »politische Theologie« zwar eine Anspielung auf Carl Schmitts Buch von 1922 mit diesem Titel sein könnte, die Bedeutung der Anspielung jedoch schwer fassbar ist: Kantorowicz kommentierte den Untertitel nicht.1 Auch mein Titel soll eine Schrift von Schmitt anklingen lassen, in diesem Fall »Der Begriff des Politischen«.2 Ich werde um meine These kein Geheimnis machen, dass nämlich entscheidende europäische Konzeptionen des Politischen (oder mit Carl Schmitts Wort: Begriffe des Politischen) – die von Carl Schmitt eingeschlossen – aus dem Denken über das Judentum und das Jüdische entstanden sind. Damit meine ich nicht das Judentum als eine geschichtliche oder gelebte Religion, sondern das Judentum als eine Figur des christlichen Denkens, eine Figur, die von Generationen von Denkern mit ihren Bemühungen, der Welt Sinn abzugewinnen, hervorgebracht worden ist, eine Figur, die auf diese Welt projiziert wurde und für sie konstitutiv ist.

»Politische Theologie«, so werde ich behaupten, ist eine Konzeption des Politischen, die durch christliche Vorstellungen vom Judentum als Feind entstanden ist. Wie bei vielen anderen Konzepten sind ihre Bedeutungen vielfältig und nicht dauerhaft stabil, aber ich werde die Wendung nur in einem sehr allgemeinen Sinne gebrauchen, der Schmitt und Kantorowicz ebenso wie vielen anderen Denkern gemeinsam ist: im Sinne einer Begründung des politischen Handelns der Menschen in einem Gebot des Gehorsams gegenüber der souveränen Autorität Gottes.3 Ich möchte Sie erstens davon überzeugen, dass die Vorstellung von der Feindseligkeit der Juden für die Theoriebildung der christlichen politischen Theologie historisch bedeutsam gewesen ist, und zweitens davon, dass diese historische Relevanz nicht in erster Linie das Produkt irgendeines wesentlichen Aspekts des gelebten (um nicht zu sagen »realen«) Judentums ist, sondern vielmehr durch Schlüsselbegriffe und Praktiken christlichen Denkens erzeugt wurde.

Die zentrale Bedeutung der Vorstellung von jüdischer Feindseligkeit für Carl Schmitts eigenes Konzept des Politischen ist nicht schwierig zu zeigen. Die »wesentliche Einsicht«, erklärte Schmitt in Die Deutsche Rechtswissenschaft im Kampf gegen den jüdischen Geist (1936), ist, »daß mit jedem Wechsel der Gesamtsituation, mit jedem neuen Geschichtsabschnitt, so schnell, daß wir es nur bei größter Aufmerksamkeit erfassen, auch eine Änderung des jüdischen Gesamtverhaltens, ein Maskenwechsel von dämonischer Hintergründigkeit eintritt«.4 Hinter den wechselnden Masken steckt eine wesensmäßige und gleichbleibende jüdische Feindseligkeit, die den Sinn christlicher Geschichte erklärt, einen Sinn, der, wie Schmitt es viel später in Der Nomos der Erde (1950) formulierte, enthüllt wird durch das Nachdenken darüber, »was es politischgeschichtlich bedeutete, daß die Juden vor der Kreuzigung des Heilands gerufen haben: ›Wir haben keinen König als den Cäsar‹ (Joh. 19,15).« Loyalität zu den satanischen Fürsten dieser Welt, eine mörderische Feindschaft gegenüber Gottes Souveränität, die Verbannung des Wunders und die Unterwerfung der Welt unter »gesetzmäßige Regelmäßigkeit«: Für Schmitt waren dies die grundlegenden Attribute des »jüdischen Geistes« und blieben es im weiteren Verlauf seiner langen Karriere.5

Selbstverständlich müssen Schmitts Schriften im Kontext des frühen 20. Jahrhunderts und des Denkens und der Gesellschaft der Weimarer Republik verstanden werden. Aber es ist gleichermaßen zu berücksichtigen, dass sich diese Schriften auf eine lange Tradition stützten, in der es üblich war, Figuren des Judentums zu verwenden, um über christliche Politik und christliches Recht nachzudenken, eine Tradition, die sogar in Gesellschaften wirksam war, in denen gar keine Juden lebten. Ohne eine Geschichte dieser Denktradition – das heißt ohne die lange Geschichte des Jüdischen als eines Konzeptes christlicher Politik – können wir weder verstehen, welche Denkgewohnheiten Schmitts Politik formten, noch die Denkfiguren des Judentums verstehen, die diese Gewohnheiten zu erzeugen imstande waren.

Es ist offenkundig unmöglich, diese Geschichte in einem Aufsatz dieser oder jeder anderen Länge vollständig zu rekapitulieren. Deshalb schlage ich vor, sich nur einige frühchristliche Quellen kurz anzuschauen, um meine These plausibel zu machen, dass die Erzeugung des Judentums in der christlichen Hermeneutik kodiert ist. Dann werde ich zu einigen mittelalterlichen Beispielen aus England, Frankreich und Spanien übergehen, um zu veranschaulichen, wie Denkfiguren des Judentums in Gründungsmomenten basaler Ideen über Monarchie und Souveränität erzeugt und eingesetzt wurden, bevor ich zum Schluss noch einige Worte darüber sage, was mein Ansatz für die Ideengeschichte allgemein impliziert.

Die christliche Version unseres Problems beginnt mit dem Apostel Paulus, und sie nimmt ihren Anfang eher als hermeneutisches denn als politisches Problem. Eine der entscheidenden Fragen, die durch die Missionen des Paulus hervorgerufen wurden, betraf das Verhältnis von nichtjüdischen Anhängern Jesu zum jüdischen Religionsgesetz. Mussten auch Heidenchristen Vorschriften wie die Beschneidung und die Speiseregeln einhalten?

In dieser Frage gingen die Meinungen der Apostel weit auseinander. Die Antwort des Paulus darauf – zuerst in seinem Brief an die Galater und später noch einmal im Römerbrief – war ein energisches Nein. Die Beschneidung, so argumentierte er, sei ein körperliches Zeichen, dessen spirituelle Bedeutung »Glaube« sei. Die heidnischen Anhänger Christi seien in diesem spirituellen Sinne bereits beschnitten und bräuchten den Körper des Zeichens nicht. Ganz im Gegenteil, wenn sie den körperlichen Aspekt übernehmen würden, offenbare dies, dass sie sich »von Christus losgesagt« haben durch »das Begehren des Fleisches« (Gal. 5,4; 5,16-18).6

Im Galaterbrief benutzte Paulus das Judentum gewissermaßen als Wetzstein, um den Unterschied zwischen Leib und Seele, dem Begehren des Fleisches und dem Begehren des Geistes zu schärfen. Er zeigte seinen Lesern, wie man den äußeren Körper eines Buchstabens, Wortes, Symbols oder Rituals abstreifte und stattdessen an seiner inneren oder spirituellen Bedeutung festhielt, wie hier in seiner Neuinterpretation der Biographie Abrahams:

Es steht doch geschrieben, dass Abraham zwei Söhne hatte, einen von der Magd und einen von der Freien. Der von der Magd aber ist auf natürliche Weise gezeugt worden, der von der Freien aber kraft der Verheißung. Dies verweist auf etwas anderes: Die beiden Frauen bedeuten zwei Bundesschlüsse, die eine den vom Berg Sinai, der Nachkommen für die Sklaverei hervorbringt – das ist Hagar. Der Name Hagar […] entspricht dem gegenwärtigen Jerusalem, der Stadt nämlich, die mit ihren Kindern in der Sklaverei lebt. Das himmlische Jerusalem aber, das ist die Freie, und sie ist unsere Mutter. […] Aber was sagt die Schrift? Verstoße die Magd und ihren Sohn! Denn der Sohn der Magd soll nicht gleiches Recht auf das Erbe haben wie der Sohn der Freien. (Gal. 4,22-31)

Abrahams Familien, die eine versklavt, die andere frei, bilden eine Kette von Gegensätzen. Hagar und Ismael stehen für Fleisch und Sklaverei, Sara und Isaak stehen für Verheißung und Freiheit. Soweit dürfte die Lektüre seine Leser nicht überrascht haben. Doch dann geschieht Revolutionäres: Hagar und Ismael, Fleisch und Sklaverei, werden mit dem Gesetz verknüpft, das auf dem Berg Sinai gegeben wurde, und mit dem »gegenwärtigen Jerusalem«. Sara und Isaak, Geist und Freiheit, stehen für einen neuen Bund und eine himmlische Stadt. Das mosaische jüdische Volk und Gemeinwesen und dessen Gesetz (das »gegenwärtige Jerusalem«) sind nicht die Erben der Verheißung Gottes für Abraham, sondern verdammt als »vom Fleische«, verurteilt zu Sklaverei und Exil. Dieses weltliche Jerusalem soll vertrieben, soll durch das spirituelle Jerusalem ersetzt, im Glauben an Jesus befreit werden. Und diese gesamte Revolution (wir sind von der Politik gar nicht so weit entfernt) wird durch einen Typ von Interpretation erreicht, den Paulus »Allegorie« nennt, im Griechischen wortwörtlich »andere-Rede«, gemeint ist die spirituelle anstelle der körperlichen Stimme des Textes.7