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MODERNE ZEIT

Neue Forschungen zur Gesellschafts- und Kulturgeschichte
des 19. und 20. Jahrhunderts

Band III

Herausgegeben von
Ulrich Herbert und Lutz Raphael

Nicolas Berg

Der Holocaust
und die westdeutschen
Historiker

Erforschung und Erinnerung

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Gedruckt aus Mitteln
der Deutschen Forschungsgemeinschaft
und der Jürg Breuninger Stiftung

(Frankfurt am Main)

Für Karoline und Cecilia

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek

© Wallstein Verlag, Göttingen 2003
3., durchgesehene Auflage 2004
www.wallstein-verlag.de
Vom Verlag gesetzt aus der Adobe Garamond
Umschlaggestaltung: Basta Werbeagentur, Steffi Riemann
Auf dem Umschlag abgebildete Personen
(von links oben im Uhrzeigersinn)
Joseph Wulf, Gerhard Ritter, Hans Rothfels,
Martin Broszat, Hermann Heimpel, Friedrich Meinecke.
Druck: Hubert & Co, Göttingen

ISBN 10: 3-89244-610-5
ISBN 13 (Print): 978-3-89244-610-1
ISBN 13 (E-Book, pdf): 978-3-8353-2044-4
ISBN 13 (E-Book, epub): 978-3-8353-2515-9

Inhalt

1. Einleitung

2. Tragödie, Schicksal, Bruch:
Auschwitz und die Paradoxien nationalgeschichtlicher Deutung

2.1. »Wellen des Zeitalters« und »Vertikale Historiographie«: Friedrich Meineckes »Die deutsche Katastrophe«

2.2. »Ein ganz dunkler Fleck auf dem deutschen Ehrenschilde«: Gerhard Ritters Entnationalisierung des Nationalsozialismus

2.3. »Bridging the gulf of these years«:
Hans Rothfels und die Restituierung deutscher Fragen

3. »Historiosophie«, »Vergangenheitsbewältigung«, »Dokumentation«:
Auschwitz zwischen Schuld- und Schamdiskurs

3.1. Hermann Heimpel, Reinhard Wittram und Fritz Ernst oder die »Demonstration protestantischer Bußfertigkeit« im Deutschland der 50er Jahre

3.2. »Wie schwer ist es, über Auschwitz nicht wirkungsvoll zu schreiben«: Zur Entstehung der Zeitgeschichtsschreibung am Institut für Zeitgeschichte

3.3. »Prähistorische Ausgrabungen« und »absolute Objektivität« (Joseph Wulf): Zur »Verschobenen Historiographie« von Quelleneditionen und Dokumentensammlungen

4. Totalitarismus, Faschismus, Antisemitismus:
Auschwitz und der Rahmen theoretischer Modelle

4.1. Judenvernichtung als Thema in frühen Gesamtdarstellungen des Nationalsozialismus: Die Grenzen des Konzepts »Totalitarismus«

4.2. Die zweite Verdrängung: Faschismus als Vermeidungsdiskurs

4.3. Der Verlust der dritten »Säule der Hölle«:
Hannah Arendts Deutungen der Konzentrationslager und des Eichmann-Prozesses

5. Intentionalismus, Funktionalismus, Konzeptualismus:
Auschwitz und die Wertung von Struktur und Verantwortung

5.1. »Auf ein drittes Bild hinarbeiten, das den Zeiten standhalten kann…« (Hermann Mau):
Zur Frühgeschichte des funktionalistischen Interpretationskonzepts

5.2. »Eine Art nachträgliches Sach-Interesse an dem Verhandlungsgegenstand« (Martin Broszat): »Sachlichkeit«, »Funktionalismus« und »Struktur« in Täterargumentationen

5.3. Weder summierte Erforschung noch progressive Erinnerung: Von Betroffenheit und Sachlichkeit in der Arbeit der Historiker

Quellenverzeichnis

Literaturverzeichnis

Abkürzungsverzeichnis

Danksagung

Personenregister

1. Einleitung

Gedächtnis als Konflikt:
Zwischen zuviel und zuwenig Erinnerung

Die Geschichte der Bundesrepublik ist ohne die Aufforderung, sich an die nationalsozialistische Zeit zu erinnern, kaum zu verstehen. Bereits in seiner ersten Rede im Bundestag am 12. September 1949 sagte Bundespräsident Theodor Heuss, es sei eine »Gnade des Schicksals« beim Einzelnen wie bei Völkern, daß »Vergessen« möglich sei, aber es bereite ihm Sorge, »daß manche Leute in Deutschland mit dieser Gnade Mißbrauch treiben und zu rasch vergessen« wollten.1 Zusammen mit dem Hinweis auf die versöhnende Kraft des Vergessens gab Heuss hier zugleich der Befürchtung Ausdruck, daß die Ereignisse des Dritten Reiches im kollektiven Gedächtnis der Deutschen nur wenige Jahre nach der Zäsur vom Mai 1945 zuwenig sichtbar seien.

Diese Äußerung markiert offensichtlich ein gedächtnistheoretisches Grundproblem. Die Auseinandersetzung um den Nationalsozialismus, ob auf der Ebene spezialisierter Fachleute oder in der allgemeinen politischen Öffentlichkeit, kann als Konflikt zwischen der Angst eines »Zuwenig« und der Sorge vor dem »Zuviel« beschrieben werden. Die Warnung von Heuss enthielt die gesamte Ambivalenz des Gedächtnisthemas und war hier keinesfalls gleichbedeutend mit einem Erinnerungsappell. Sie zielte weniger auf eine Kritik des Vergessens insgesamt, sondern drückte vielmehr ein Unbehagen angesichts einer unnatürlich schnellen – und somit falschen – Inanspruchnahme von etwas sonst durchaus Berechtigtem aus. Heuss gab hier dem Vergessensthema ein doppeltes Vorzeichen: Wo es als »Gnade« von allein eintrete, sei es etwas Gegebenes, wer es dagegen herbeizuzwingen versuche, mißbrauche ein fragiles Recht, das ihm nicht allein und nicht auf diese Weise zustehe.

Die Relevanz des Themas für die Geschichte der Bundesrepublik ist damit angedeutet. Paul Nolte hat kürzlich die Geschichte der Historisierung der Bundesrepublik anhand von drei leitmotivischen Konzepten typologisiert, die in gewisser Weise auch als aufeinanderfolgende Phasen auszumachen sind. Er unterschied das Konzept »Restauration« als frühestes Denkmodell der wissenschaftlichen Beschäftigung mit der Bonner Demokratie von einer Phase, in der primär die Modernisierungsleistung der Gesellschaft herausgestellt wurde. Das dritte Interpretationsmodell nannte er »Nachgeschichte des ›Dritten Reiches‹« – ein Ansatz, wie Nolte hervorhob, der die Geschichte der Bundesrepublik primär von den vielfältigen Versuchen geprägt sah, »zwischen Erinnerung und Distanzierung, zwischen Bewältigung und Vergessen ein Verhältnis zur NS-Geschichte zu gewinnen«.2 Diese dritte Konzeptualisierung ist in der vorliegenden Fallstudie in geradezu idealtypischer Weise zugrunde gelegt. Man hat zu Recht darauf hingewiesen, daß das Thema »Nationalsozialismus« mit all seinen Antagonismen und Ambivalenzen vor allem aus zwei Gründen für die westdeutsche Nachkriegsgeschichte zur förmlichen »Reflexionsgeschichte« wurde.3 Erstens existierte ständig und unabhängig vom Zeitpunkt in den 40 Jahren Geschichte der alten Bundesrepublik eine symbolische Präsenz des Themas, ein Wissen noch im Schweigen, ein Zurückweichen noch in den kritischsten Nachforschungen. Solche Gegenläufigkeiten sind ernst zu nehmen, auch dort, wo sie Kritik und Korrektur fordern – sie stehen im Zentrum dieser Arbeit. Insgesamt nötigt, zweitens, dieses Thema samt seinen theoretischen und politischen Idiosynkrasien auch zur Ernsthaftigkeit und Wahrhaftigkeit, die es legitimieren, anhand der Äußerungen zum Nationalsozialismus, seinen Verbrechen, deren Ursachen und Folgen auch eine Art von mentalitätsgeschichtlicher Einsicht in den Zustand der politischen Kultur zu gewinnen.4 In der Konsequenz hieraus wurde für die vorliegende Arbeit nur auf Texte zurückgegriffen, die diese Ernsthaftigkeit und Wahrhaftigkeit in den Bemühungen um Verstehen überhaupt erkennen lassen, andere werden nur beiläufig diskutiert, in den Fußnoten genannt oder ganz außer acht gelassen. Ausgangshypothese ist, daß die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts sich unablässig mit Auschwitz hat befassen müssen, »ohne daß ein Ende absehbar wäre«:5

»In immer neuen Schockwellen erreichte dieses Faktum das Bewußtsein der zivilisierten Gesellschaften. Es zeigte, was im Extremfall möglich ist; es führte den Menschen vor, daß sie von einem Moment auf den anderen fabrikmäßig in brennbare Materie, in Fett, Haare und Knochen zu verwandeln waren, ohne daß die menschliche Natur derer, die das ins Werk setzten, revoltiert hätte. So wurden die Bilder von Auschwitz nicht nur die Quelle eines namenlosen Grauens, mit dem jeder Mensch, der nach 1945 zur Welt kam, irgendwann konfrontiert wurde, sondern darüber hinaus das Motiv einer kaum zu widerlegenden Verzweiflung an der Humanität. Hier waren nicht einfach Bestien am Werk gewesen, sondern Techniker, Beamte, Soldaten, Familienväter, Mitglieder einer hochzivilisierten Nation. Sie hatten in den Vernichtungslagern einen moralfreien und mitleidslos funktionierenden Kosmos aufgebaut, in dem das Böse, die größte denkbare Mitleidlosigkeit, zum Selbstzweck wurde, in dem ein Menschenvolk dem anderen das Recht aberkannte, die Erde zu bewohnen. Damit ist die Erinnerung bis heute nicht fertig geworden […].«6

In dieser jüngst für eine Jahrhundertbilanz beigesteuerten Beschreibung, sie stammt aus einem Essay von Gustav Seibt, kommt eine Art von konsensualer heutiger Definition über die Bedeutung der Vernichtungslager zum Ausdruck, der hier noch zwei Ergänzungen an die Seite gestellt werden sollen. Zum einen scheint die Tatsache, dass die Erinnerung überfordert ist, in Deutschland mehr noch als in anderen Ländern zu gelten. Anders konnotiert als für die Opfer der Vernichtung, handelt es sich nichtsdestotrotz im deutschen Kontext um eine »negative Erinnerung«,7 weil hier das factum brutum der NS-Verbrechen eine Tätergeschichte impliziert und zugleich nie anders als in der Modalität des »Wir« zu haben war – ob dies nun ausgesprochen wurde oder nicht. Zweitens konnte es kaum anders sein, als daß diejenige Profession, die für Vergangenheit »zuständig« ist, die der Historiker, durch diese Frage in einer besonderen Art und Weise aufgerufen war, gegen die Überforderung der Erinnerung anzugehen, mehr noch, als dies für andere Berufsgruppen oder für Intellektuelle im allgemeinen zutrifft. Die Themenstellung: »Der Holocaust und die westdeutschen Historiker« ist in diesem Sinne als gedächtnistheoretische Problemgeschichte angelegt und zielt nicht auf eine möglichst vollständige Diskussion aller hier subsumierbaren Texte, ja nicht einmal auf alle zitierbaren Autoren, die sich zu Wort gemeldet haben.

Betrachtet man das Thema exemplarisch und unter der hier skizzierten Voraussetzung der »Schockwellen« angesichts des eingetretenen Extremfalls und geht man eher von einer überforderten Erinnerung aus als von Strategien der Verweigerung, so öffnen sich andere Ausblicke. In der Retrospektive erscheint dann eher die Dominanz des Themas in Kunst, Literatur, Öffentlichkeit und Wissenschaft als ein Signum der letzten fünfzig Jahre. Die Erinnerungen an den Nationalsozialismus und seine Verbrechen waren in ihren verschiedenen Formen zwar von solchen unregelmäßig aufkommenden Schockwellen geprägt, die Intensität der Beschäftigung mit dem Geschehen zwischen 1933 und 1945 hat mit der Zahl der Jahre seit dem Zusammenbruch der NS-Herrschaft jedoch ohne Zweifel insgesamt zugenommen, wenn auch nicht kontinuierlich. Dies stellte Hermann Lübbe bereits 1983 mit unverhohlener Skepsis im ersten Satz seines vielzitierten Aufsatzes Der Nationalsozialismus im Bewußtsein der deutschen Gegenwart fest, ohne absehen zu können, daß die stetig anwachsende Einsicht in die Folgen des Nationalsozialismus in Öffentlichkeit und Wissenschaft damals erst eigentlich ihren Anfang nahm.8 Offensichtlich handelt es sich bei der Verknüpfung von Verbrechen und Erinnerung um ein besonderes Thema oder zumindest um das Problem einer besonderen »Evidenz der Vergangenheit«, die weder einer individuellen noch einer kollektiven »Logik« folgte und die auch die Geschichtsschreibung in den Bann der Geschichte schlug, wie dies Dirk Blasius einmal ausdrückte.9

Im »Bann der Geschichte« – damit ist gemeint, daß dieser Teil der deutschen Geschichte mit besonderen Problemen befrachtet ist, die einen steten Appell an jene zu formulieren scheinen, die sich ihr zuwenden. Im »Bann der Geschichte« – dies legt eine Übermächtigkeit des realen Geschehens und eine von ihm ausgehende andauernde Wirkung nahe, eine Wirkung, die auf längere Zeit betrachtet so etwas wie die eigentliche Lehrmeisterin wurde, die langsam und retrospektiv über das Ereignis selbst aufklärte. Auf die Bedeutung der jeder simplen Chronologie sich entziehenden Wirkungsgeschichte ist oft hingewiesen worden, weil immer wieder zu Recht angemerkt wurde, daß »paradoxerweise die zentrale Stellung dieser Ereignisse im heutigen historischen Bewußtsein viel ausgeprägter zu sein [scheint] als vor einigen Jahrzehnten«, als die Geschichte noch Teil der Lebenserinnerung der deutenden und forschenden Intelligenz war.10 Die kollektive Erinnerung nimmt zu, wo die individuelle abnimmt; neben der Unmöglichkeit der Quantifizierbarkeit von Gedächtnisinhalten und der rezeptionsgeschichtlichen Inversion von Ereignis und Wirkung ist das Verhältnis von individueller und kollektiver Erinnerung eine dritte Gedächtnisparadoxie, die in dieser Arbeit zugrunde gelegt wird.11

Während Heuss in dem eingangs zitierten Beispiel vor dem Mißbrauch des Vergessens warnte, zielt heute, über fünfzig Jahre später, die entsprechende Warnung immer häufiger auf das »Zuviel« an Erinnerung, und dies keineswegs allein in Deutschland.12 Diese Sorge, wie sie beispielsweise anläßlich der Einweihung des Washingtoner Holocaust-Museums in den 90er Jahren der jüdische Schriftsteller Leon Wieseltier beschrieb, hat innerhalb des Kontextes, in welchem sie entstand, und vor dem spezifischen Hintergrund der Äußerung natürlich eine eigene Bedeutung. Wieseltier charakterisierte hier Erinnerung als Mischung aus notwendiger Rettung und falscher Beruhigung zugleich und schrieb: »Zu wenig Erinnerung verhöhnt die Katastrophe; aber dasselbe gilt für ein Zuviel.«13 Solche und ähnliche Einschätzungen sind bis in die jüngste Zeit hinein häufig zu finden, etwa bei Imre Kertész oder Josef H. Yerushalmi. Es sei entsetzlich, sich an zuviel erinnern zu müssen, »noch entsetzlicher aber ist das Vergessen.«14 Als Sprechakt sind sie nur in ihrem Kontext zu verstehen, und es ist keineswegs gleichgültig, ob solche Befürchtungen in den späten 40ern oder Mitte der 90er Jahre, in Deutschland oder in den USA, von einem Staatsoberhaupt oder einem Schriftsteller, anläßlich der Eröffnung einer Legislaturperiode oder eines Museums zur Erinnerung an die Vernichtung der Juden, aus deutscher oder jüdischer Sicht formuliert werden.

Die Mißverständnisse aber und die mitunter unüberwindlich erscheinenden Kommunikationsbarrieren prägten vor dem Hintergrund des Zuviel-Zuwenig-Problems gerade im Hinblick auf die Historiographie des Holocaust den Austausch zwischen deutschen und jüdischen Wissenschaftlern und Intellektuellen auf besondere Weise, und das immer wieder neu. Man hat zu Recht die Frage gestellt, ob es sich nicht eigentlich um »zweierlei Holocaust« handele.15 Im historischen Rückblick fällt hierbei nicht so sehr der Konflikt an sich, sondern das deutsche Erstaunen über ihn in den Blick. Doch auch wenn in solchen Konflikten die Dichotomie unterschiedlicher Perspektiven besonders auffällig zu sein scheint, sollten die Auseinandersetzungen den Blick auf die Gemeinsamkeiten, die die Kontroversen umfassen, nicht völlig verstellen.16 Alle diese Aporien kreisen um das Problem, daß offensichtlich ein Zuwenig an Erinnerung oder ein Zuviel an Vergessen bestimmbar zu sein scheinen, nicht aber die richtige Balance zwischen beidem. In der deutschen Diskussion bleibt es ein besonders sensibel wahrgenommenes Faktum, daß die Problematik zwischen zuviel und zuwenig Erinnerung nicht auflösbar zu sein scheint, weder durch die Einführung von öffentlichen Gedenktagen oder den Bau von Museen, Gedenkstätten oder Mahnmalen noch durch die enormen Anstrengungen der wissenschaftlichen Forschung, wie sie verstärkt in den letzten 10 bis 15 Jahren unternommen wurden. Wie immer man sich zu dieser Paradoxie verhalten möchte, es bleibt der Partitur des Themas eingeschrieben, daß Gedächtnis ein Konflikt-Thema ist, daß es primär in seiner Unvollständigkeit und Begrenztheit, seiner Zeitgebundenheit und Einseitigkeit sichtbar wird und stets im Widerspruch zu anderen Erinnerungen steht. Seine Fragilität erweist sich beim Anwachsen und Abnehmen, in einem »Zuviel« oder »Zuwenig«, nicht dagegen in einem richtigen Maß der Erinnerung, auf das man sich einigen könnte. In diesem Zusammenhang ist der Gedanke Peter Burkes in seiner unübertrefflichen Formulierung bekanntgeworden, der von der Zusammengehörigkeit von »Erinnerungskonflikten« und »Konflikterinnerungen« sprach.17 Der Holocaust stellt in exemplarischer Weise eine solche Konflikterinnerung dar, die weder durch eine szientistische Herangehensweise objektiver Geschichtsschreibung noch durch einen Konsenswunsch im argumentativen Kompromiß außerhalb akademischer Ordnung stillgestellt werden kann. Wer Erinnerung von wem einfordert, mit welchen Gründen dieser Appell versehen wird, was an Erinnerungen warum bedeutungsvoll eingeschätzt und für gedächtniswürdig erachtet wird und – nicht zuletzt – wessen »Vergangenheitsversion«18 auf Kosten welcher konkurrierenden aufgezeichnet wird – all das manifestiert sich auch in den Auseinandersetzungen von Historikern und bildet das Zentrum der vorliegenden Studie.19

Zum Verhältnis von Forschung und Quellen

Indem das diffizile Erinnerungsproblem, das »negative« bzw. das »verletzte Gedächtnis« und der Prozeß zwischen Erinnern und Vergessen, Konstruktion und Authentizität in den Mittelpunkt der vorliegenden Arbeit gerückt wird, ändert sich auch das Verhältnis von Quellenanalyse und Forschungsdiskussion.20 Da die vielfältigen Kompromisse zwischen Erforschung und Erinnerung selbst Thema werden, sind beide Bereiche nicht in traditioneller Weise voneinander zu separieren. Wenn im folgenden Texte deutscher Historiker zu Judenverfolgung und ›Endlösung‹ zwischen 1945 und 1990 noch einmal gelesen werden, wird somit die Forschung zur Quellenbasis. Analysiert werden Aspekte der Entstehung einer »Geschichte«, oder anders formuliert: die Geschichte der Entwicklung der Forschung und Suchbewegungen wissenschaftlicher Erkenntnis.

Vor dem Hintergrund einer solchen Ausgangshypothese kann es in der Tat nicht darum gehen, jene zumeist »manichäische Sicht akademischer Ordnungsversuche«21 zu wiederholen oder fortzuschreiben, die zu Recht kritisiert wurde, weil sie zuweilen zur Entscheidung zu zwingen scheint, die selbst wiederum fast schon erkenntnisverhindernden Charakter annimmt. Ob der Holocaust die Konsequenz von Hitlers Wahnideen oder Ergebnis gesellschaftlicher Gleichgültigkeit war? Ob er eine »machinery of destruction« inmitten der zivilisierten Welt des 20. Jahrhunderts darstellte oder eine verwirklichte destruktive Phantasie jener ideologisch verblendeten Weltanschauungskrieger? Ob er eine Variante in den Planspielen des social engineering gewesen ist oder Ausdruck des wider alle Vernunft in Gang gesetzten Atavismus des Hasses? Ob er spezifisch deutsch genannt werden kann oder als ein Zeichen der allgemeinen europäischen Krisen des Totalitarismus zu erinnern ist? Ob er in seinem Kern barbarisch-irrational oder rational war wie die Moderne selbst? Ob besser funktional oder intentional zu erklären? Als ein Ereignis eskalierender institutioneller Gewalt oder in seiner Logik der kalten Technizität unseres Zeitalters? Als eine »projektive Konfliktüberwindung«? Oder als Erfüllung eines Jahrzehnte und länger gehegten »Erlösungsantisemitismus«? Vollbracht von ganz normalen Männern oder jenseits hermeneutischer Zugänglichkeit? Ein säkularer Einbruch, der unsagbar bleibt oder historisierbar wie jedes andere Thema? Ergebnis einer longue durée oder »gestaute Zeit« (Dan Diner)? Eher im »Schmelztiegel des Romanciers« oder auf dem »Amboß des Historikers« (Yosef H. Yerushalmi) repräsentierbar?

In diesen Fragen sammeln sich die Kurzexzerpte jener Debatten aus bald sechs Jahrzehnten Erklärungsanstrengungen des nationalsozialistischen Genozids im Westen bzw. dem vereinigten Deutschland nach 1989/90. Sie bilden das Terrain für das Thema, aber nicht ihre Beantwortung, sondern ihre Historisierung, also ihre Vorgeschichte und ihre Verortung in der Zeit, in der sie entstanden sind, ist Aufgabe der folgenden Kapitel. Man mag dabei zuweilen der Versuchung erliegen, die Dichotomien dieser Herangehensweisen synthetisch zu schlichten, denn es wird immer offenkundiger, daß wir mit der Heterogenität der Erklärungen auch verschiedene Ereignisse memorieren, deren intellektuelle Inkompatibilität zunehmend zum Problem geworden ist.22

Der Forschungsstand im Zusammenhang mit der vorliegenden Studie ist also nicht ganz im traditionellen Sinne zu taxieren, und das aus drei Gründen. Er ist, erstens, aufgrund der Fragestellung nicht gleichzusetzen mit dem Stand der Forschung zum Holocaust selbst.23 Zweitens synthetisiert er sich aus der gleichzeitigen geschichtswissenschaftlichen Lektüre von empirischen und theoretischen Arbeiten, die sich selbst mehr und mehr aus dem Weg zu gehen scheinen – weniger bei Einzelstudien, aber im Hinblick auf das Gesamtthema.24 Drittens kann er nicht ohne interdisziplinäre Überschreitung der Grenzen der historischen Fachwissenschaft beschrieben werden, denn wesentlichen Einfluß auf das Nachdenken über das Verhältnis von Geschichte und Gedächtnis hatte die Kulturwissenschaft im allgemeinen und Literatur- und Medienwissenschaften im speziellen.25

Für das spezifische Erkenntnisinteresse des Gesamtrahmens der Arbeit wurde an den älteren und nach wie vor wichtigen Arbeiten bzw. Sammelbänden zur deutschen Geschichtswissenschaft angeknüpft, wie z.B. an Ernst Schulins Traditionskritik und Rekonstruktionsversuch von 1979, an den von ihm herausgegebenen Sammelband Deutsche Geschichtswissenschaft nach dem Zweiten Weltkrieg von 1989 oder an der neunbändigen Aufsatzsammlung zu deutschen Historikern.26 Unverzichtbar waren natürlich auch die bibliographischen Einführungen zur Deutungs- und Interpretationsgeschichte des Nationalsozialismus, allen voran Ian Kershaws mehrfach überarbeiteter Überblick Der NS-Staat und die weniger prominente und auch weniger strukturierte, aber wertvolle und materialreiche Einführung in Hitler-Interpretationen von Gerhard Schreiber – um nur diese beiden zu nennen.27 Für die empirischen und ideologiekritischen Aspekte der deutschen Geschichtswissenschaft blieben natürlich auch Pionierstudien zur Historiographiegeschichte, wie die von Winfried Schulze aus dem Jahre 1989 oder das ältere, vor kurzem neu aufgelegte Buch von Georg G. Iggers über die deutsche Geschichtswissenschaft Vorbild. Beide waren unverzichtbare Grundlage einer neu fokussierten Fragestellung, beide haben den Status einer grundlegenden Einführung bzw. den eines Klassikers längst erreicht.28 Dennoch galt es, um exemplarisch bei diesen wichtigsten Büchern zu bleiben, die Akzente völlig anders zu setzen, wenn die Frage nach der Thematisierung des Holocaust gestellt wird. Während Schulze eine viel breitere Rekonstruktion deutscher Geschichtswissenschaft zwischen 1945 und 1965 anstrebte und dieses wiederum primär auf institutioneller Ebene durchführte, beschrieb Iggers’ weit ins 19. Jahrhundert ausgreifende Studie, deren Titel in der deutschen Übersetzung dabei seine Hauptintention gar nicht spiegelte, eine Art von Vorgeschichte des Bruches, ja, sie thematisierte eher den ideologischen Anteil deutscher Historiker an ihm. Für ein wirkungs- und rezeptionstheoretisches Interesse waren beide Bücher in ihrem zeitlichen Horizont zu schmal (Schulze) bzw. viel zu weit (Iggers), und in ihrer Fragestellung waren beide dafür gleichzeitig zu umfassend. Es galt nicht noch einmal, wie Iggers dies vorgelegt hatte, die theoretischen Voraussetzungen und politischen Wertvorstellungen der deutschen Historiker zu analysieren (und das vor allem im Rückgriff auf die lange Fachtradition seit Ranke), sondern in dieser Arbeit wurde statt dessen der Blick auf die konkreten interpretatorischen Schwierigkeiten deutscher Historiker bei einem einzigen Thema, nämlich dem der Judenvernichtung, gelenkt. Dabei sollte weniger Ideologie unterstellt werden, sondern stärker die lebensgeschichtliche und generationelle, mithin also historisch gewordene Perspektive der Historiker ermittelt werden. Gerade das aber konnte und wollte auf der anderen Seite auch Schulze nicht leisten, weil er den Aspekt der individuellen Erinnerungen eher als Informationsquelle für den Wiederaufbau der deutschen Geschichtswissenschaft nutzte, nicht aber die Spannungen und Ambivalenzen zwischen Erinnerung und Erforschung, zwischen Leben und Werk einzelner Vertreter des Faches zum Ausgangspunkt nahm, sondern sozusagen »das Fach selbst«. Zudem, so scheint mir, lassen sich die von ihm in seiner Einleitung unter der Überschrift »Geschichtswissenschaft und Zeiterfahrung« entwickelten differenzierten Fragen, wie die Historiker die Katastrophe des Nationalsozialismus verarbeitet haben, tatsächlich eher beantworten, wenn man nicht das ganze Fach untersucht, sondern eine Problemgeschichte in exemplarischer Absicht ansteuert.

Der problemorientiertere diskursgeschichtliche Argumentationsansatz, der sich hierfür anbietet, der die Linearität des Erkenntnisinteresses durchbricht29 und der die Literatur über historiographische Fragen stärker kontextualisiert, also die Theoriedebatte um Kontexte und Kulturen des Erinnerns, wurde seit Mitte der 80er Jahre innerhalb der Debatten um die deutsche Geschichtswissenschaft und ihren Umgang mit dem Nationalsozialismus vor allem von Dan Diner und Saul Friedländer vorbereitet.30 Den Aporien der Singularitätsaxiome, Unsagbarkeitstopoi und Verharmlosungsvorwürfe konnte nicht anders als durch eine kritische Historiographiegeschichte in erweiterter Absicht begegnet werden, denn auch der richtige Hinweis auf die Notwendigkeit empirischer Detailforschung löste eine solche erkenntnistheoretische Problematik nicht auf.31 In den letzten Jahren hat sich deshalb neben der Historisierung der Historiker32 auch die Tendenz verstärkt, Erkenntnistheorie als Teil einer kritischen Historiographiegeschichte zu begreifen. Christoph Cornelißen hat seine Biographie Gerhard Ritters explizit als Beitrag verstanden, »der in Kenntnis der neueren Tendenzen des Faches die bislang weitgehend theoretisch geführte innerfachliche Diskussion zur Verständigung über die eigenen Grundlagen in die ›Laboratorien‹ zurückführt, in denen Geschichte ›gemacht‹ wird«, Thomas Etzemüller hat seine Darstellung über Werner Conze und die Neuorientierung der westdeutschen Geschichtswissenschaft nach 1945 auf den konstruktivistischen Schriften des polnischjüdischen Mediziners, Mikrobiologen und Wissenssoziologen Ludwik Fleck aufgebaut.33 Die meisten jüngeren Wissenschaftler meiden die Skandalisierung bei der Untersuchung der institutionellen und intellektuellen Restauration an den Nachkriegsuniversitäten und untersuchen statt dessen ihre Formen und Strategien, die das »Ausblenden, Versachlichen und Überschreiben« nach 1945 als »Vergangenheitsmanagement« in eigener Sache erscheinen lassen und deren Funktion es war, einen wie immer empfundenen authentischen Anschluß an den neuen Staat herzustellen. Jan Eckel hat das Korpus der frühen Widerstandsliteratur zum Nationalsozialismus als Medium eines Denkprozesses in einer historischen Übergangsphase analysiert, dessen autobiographisch grundierte und moralische Selbst- und Sinndeutungen den Verfassern vor allem die Gegenwartsorientierung in der neuen Bundesrepublik erleichterten. Die »idealistischen Umbauten«, »intellektuellen Umwidmungsprozesse« und »wissenschaftlichen Verwandlungen« wurden in der jüngeren Forschung insgesamt Leitlinien einer Re-Lektüre jener Nachkriegstexte, die nicht anders als im Spannungsfeld zwischen einer defensiven »akademischen Vergangenheitspolitik« einerseits und fluiden »Wandlungsprozessen« andererseits zu verstehen sind.34 Neben der heuristischen Öffnung zum Untersuchungsfeld von »Vergangenheits-« und »Geschichtspolitik« waren es dabei auch Probleme der »Geschichtskultur«, die den Rahmen der Diskussion erweiterten und für die Fragen der Problematik von Interpretationen sensibilisierten,35 in diesem Zusammenhang nicht selten in jenen vielfältigen und kontroversen Debatten, wie sie um Personen,36 um neue Quellen und einzelne Bücher, Ausstellungen oder Filme,37 Gedenktage und -reden oder um mediale Vermittlungsformen unseres Wissens über Verbrechen und Vernichtung geführt wurden.38 Aus der Fülle der Literatur, die hier zu nennen wäre, seien nur die beiden Studien von Cornelia Brink genannt, deren theoriegeleitete und materialintensive Untersuchungen des öffentlichen Gebrauchs von Fotografien der Konzentrationslager nach 1945 und der Semantik der Erinnerung in Fotoausstellungen der 60er Jahre nicht nur interdisziplinäres Neuland für die Geschichtswissenschaft betreten haben, sondern auch beispielhaft dafür sind, wie mit neuen Fragestellungen und einem der Geschichtswissenschaft traditionell fremden Material Diskursgeschichte geschrieben werden kann, ohne lediglich in theoretische Posen zu verfallen.39 Verstärkt konnten auch – dies ein letzter Kontext, der hier nur andeuten soll, wie vielfältig die Anregungen der neuen Kultur- und Diskursgeschichte sind – innerhalb dieser Forschungsentwicklung Parallelen und Unterschiedlichkeit national codierter Gedächtnisse herausgearbeitet werden, erinnert sei hier nur an die Studien von Dan Diner und Moshe Zuckermann, von Peter Novick und Sebastian Conrad.40

Quellengrundlage war außerdem der edierte Briefwechsel Meineckes in der Gesamtausgabe seiner Schriften und die Briefe Ritters, die Schulze für seine Darstellung als wohlbekannt fast schon voraussetzte. Zu diesen sind neue umfangreiche Sammlungen hinzugekommen, hingewiesen sei vor allem auf die Edition wichtiger zusätzlicher Kaehler-Briefe durch Bußmann und die jüngsten Publikationen der Briefe Hannah Arendts aus den 90er Jahren. Außerdem, auch das ist dem vorliegenden Ansatz geschuldet, wurde in weit stärkerem Maße als gemeinhin üblich auf autobiographische Schriften zurückgegriffen, nicht zuletzt angeregt durch die in der Öffentlichkeit vieldiskutierten »Brechungen von Biographie und Wissenschaft«41 in den Erinnerungsinterviews Versäumte Fragen, die im Anschluß an den Frankfurter Historikertag von 1998 entstanden sind, und durch die Memoiren der letzten Jahre von Fritz Klein (2000), Peter Gay (1998/99), Walter Grab (1999) oder die Beiträge im Sammelband, den Hartmut Lehmann und Otto G. Oexle unter dem Titel »Erinnerungsstücke« herausgegeben haben. Die Deutungskonkurrenz und Interdependenz von Zeitgeschichte und Erinnerung, die vielfältigen Probleme, die sich aus der Gemengelage aus Primärerfahrung, Erinnerungskultur und Geschichtswissenschaft ergeben,42 und die Frage nach dem »Historiker als Zeitzeugen« haben in den letzten Jahren derart verstärkte Aufmerksamkeit erfahren, daß Omer Bartov die Reflexion des Amalgams von Perspektiven als eines der wichtigsten Forschungsdesiderate zum Verständnis des Holocaust ausgerufen hat.43 Deshalb wurde in der vorliegenden Studie auch den kleineren und versteckteren autobiographischen Texten, wie denen von Joseph Wulf (1958), H. G. Adler (1956 und 1970), Hans-Dietrich Loock (1975), Reinhart Koselleck (1995) oder Julius H. Schoeps (1995), Aufmerksamkeit geschenkt, nicht zuletzt deshalb, weil sie unabhängig von ihrer Erscheinungszeit in der Fachliteratur kaum zitiert werden, obwohl gerade sie die Probleme, mit denen Erinnerung an und Erforschung von Auschwitz konfrontiert sind, auf hohem Niveau reflektieren. Vor allem aber wurden, da das Problem der Perspektivität unterschiedlicher kollektiver Gedächtnisrahmen im Zentrum des Interesses stand, in der vorliegenden Arbeit auch die Autobiographien von jüdischen Historikern berücksichtigt, die bislang ebenfalls viel zu wenig Beachtung in der Forschung gefunden haben.44 Neben den bereits genannten sind dies solch bemerkenswerte Texte wie von Herbert A. Strauss (1997), Raul Hilberg (1994), Felix Gilbert (1988/89) oder Saul Friedländer (1978/79). Gemeint sind aber auch manche fast vergessenen älteren Texte, wie die Lebensbeschreibung von Gustav Mayer (1949), Gerhard Masur (1978) oder die kurze von Hans Rosenberg (1978). Die historische Auswertung von Autobiographien, so hat vor kurzem die Historikerin Dagmar Günther kritisiert, ist in weiten Teilen über die Benutzung als »Fakten- und Praktiken-Steinbruch« und als »Seelenspiegel« nicht hinausgekommen. Wichtig aber, so auch für die vorliegende Arbeit über das Spannungsverhältnis von Erforschung und Erinnerung, werden sie vor allem als »biographische Sinnkonstruktionen«, die in den gängigen Paarungen Fakten und Fiktionen, Dichtung und Wahrheit, Authentizität und Verzerrung gerade nicht aufgehen.45

Die wichtigsten benutzten Archivalien waren ausgewählte Nachlässe, wie die von Ritter, Rothfels, Rassow, Meinecke und Kaehler im Bundesarchiv Koblenz bzw. im Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Berlin-Dahlem und in der Niedersächsischen Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen. Neben diesen bekannteren habe ich auch die Akten des »Verbandes der Historiker Deutschlands« am Max-Planck-Institut in Göttingen, umfangreiche Bestände des Hausarchivs des Münchner Instituts für Zeitgeschichte, den ebenfalls in München liegenden Nachlaß von Gerhard Masur und Teile des Privatnachlasses von Eugen Kogon eingesehen. Wichtiger für das Gesamtbild der Arbeit waren aber ohne Zweifel die Briefwechsel zwischen H. G. Adler und Hans Buchheim aus dem Nachlaß Adlers im Deutschen Literaturarchiv in Marbach und vor allem der in der Forschung bisher ganz übersehenene Nachlaß des jüdischen Historikers und Dokumentaristen Joseph Wulf im Zentralarchiv zur Erforschung der Geschichte der Juden in Deutschland (Heidelberg).

Fragestellung: Kein Gegensatz, sondern Paradoxie –
Erinnern und Vergessen

Es würde sich lohnen, so sagte einmal der israelische Historiker Moshe Zuckermann eher beiläufig, zu untersuchen, »warum man sich an einem Ort so beharrlich um Bewahrung der ›Vergangenheit‹ bemüht, während man sich am anderen nichts sehnlicher wünscht, als daß sie doch endlich vergehen möge«.46 Diese Beobachtung könnte in der Tat in eine komparative Untersuchung münden; trotzdem ist die Interdependenz beider Wünsche, der Mühe um Bewahrung und der Sehnsucht nach Vergehen, komplexer und nicht ohne weiteres allein an zwei verschiedenen Orten oder zu zwei diachron voneinander geschiedenen Zeiten zu studieren. Nur auf den ersten Blick leuchtet es ein, daß jedes »mehr« an Erinnerung die Quantität von Vergessen reduziert oder umgekehrt, Vergessen ein Auslöschen von Gewußtem darstellt. Der zweite Blick enthüllt, daß das Verhältnis zwischen beiden Größen keineswegs ausreichend beschrieben ist, wenn das Modell einer quantitativ-reziproken Gegenläufigkeit die Vorstellung beherrscht.

Es ist dieser Punkt, an welchem die Arbeiten ansetzen, die die Zusammengehörigkeit von Erinnern und Vergessen betonen, denn zwischen beiden Potenzen besteht mehr als nur ein einfacher Gegensatz. So hat zum Beispiel Avishai Margalit darauf hingewiesen, daß das Problem vielmehr in einer beide zusammenhaltenden Angst oder Sorge besteht. Beide Befürchtungen seien eigentlich weniger ein Argument als vielmehr die »Artikulationen einer Stimmung«: Angst nämlich vor dem »Verlust des Erbes«, bzw. Sorge vor der Idee, der »Vergangenheit gerecht werden zu müssen«.47 Ob Sorge oder Angst – die Artikulation solcher Stimmungen bricht sich häufiger in Affekten Bahn als im wohlgesetzten Argument. In der deutschen Öffentlichkeit ist diese Dynamik in Martin Walsers Friedenspreisrede aufzuzeigen, seine Haltung gegen die »Dauerpräsentation unserer Schande« und seine abschätzig gemeinte Bemerkung über jene, die, wie er sich ausdrückte, »im grausamen Erinnerungsdienst arbeiten«, war im Gestus des Widerstands vorgebracht worden.48 Hier ist nicht der Ort, diese Debatte erneut aufzurollen, es bleibt vielmehr festzuhalten, daß der Affekt gegen die Last der Erinnerung hier zwar besonders markant artikuliert wurde, aber keineswegs auf die öffentliche Diskussion und nicht auf Deutschland beschränkt ist, auch wenn beides für eine laut vernehmbare Verstärkung des Gesagten sorgt, wie viele Gedächtnisdebatten in den letzten fünfzehn Jahren deutlich gemacht haben.

In der gegenwärtigen Entwicklung der Fachwissenschaft wird ebenfalls kritisch über den »Memory-Boom« nachgedacht:49 »Erinnerung« gilt derzeit als geschichtsmethodologische »Göttin«, »Liebesdienerin« und »Kronzeugin« in einem.50 Im Kontext wissenschaftlicher Kritik am Erinnerungsdiskurs war es beispielsweise der französische Historiker Henri Rousso, der gegen den aktuellen Gedächtniskult anschrieb51 und dem Begriff »Gedächtnis« allgemein Vieldeutigkeit, Sentimentalisierung, Moralisierung und Irrationalisierung im Verhältnis zur Vergangenheit vorwarf. In der deutschen Diskussion haben vor allem die Beiträge von Heinz D. Kittsteiner die Kritik an der »Gedächtniskultur« auf eine Weise formuliert, die von abwehrender Polemik frei blieben und das Problem des Gedächtnisdiskurses als »Einbruchstelle« von Sinnstiftung und mythischem Denken zur Diskussion stellten.52 Trotzdem hat sich, allgemein gesprochen und die Kritik an manchen Fehlentwicklungen im ubiquitären Erinnerungsdiskurs einmal beiseite gelassen, das Bewußtsein in der Geschichtswissenschaft verschärft, daß historische Erinnerungen gruppenspezifische Kontinuitäten konstruieren, sich zur Überbrückung von Widersprüchen eignen, selbst mythisch werden und somit mitunter regelrecht auf das Realgeschehen zurückwirken können. »Erinnerungen sind geschmeidig«, so die zunehmende methodologische Einsicht der Historiker, »und wir müssen zu begreifen suchen, wie und von wem sie geformt werden.«53

Geschichtswissenschaft unternimmt es in erklärter und systematischer Hinsicht erst seit kurzem, neben der erinnerten Vergangenheit auch die Erinnerung selbst zu betrachten, also über Themen und Gegenstände hinaus auch die Formen, in denen sie bewahrt werden, zu erforschen. Das begann mit dem Interesse an dem Projekt Pierre Noras Mitte der 80er Jahre in Frankreich,54 wurde aber nicht zuletzt auch durch Akte der Wiedererinnerung selbst hervorgerufen, z.B. durch die Wiederentdekkung der Schriften von Maurice Halbwachs55 und Aby Warburg.56

Die oben zitierte Kritik Roussos und vieler anderer am Begriff und an den Möglichkeiten seines Mißbrauchs ist keine Entdeckung der Gegner dieses Diskurses, sondern ein Teil der Debatte von Anfang an. Die Spannung zwischen zuviel und zuwenig Erinnerung ist eine derjenigen Paradoxien des Gedächtnisses, die erst innerhalb dieser Diskussion erarbeitet wurden. Denn ein normativ »richtiges Erinnern« wird ja in der theoretischen Diskussion nirgends gefordert, ganz im Gegenteil: Solche Forderungen bilden zumeist den Ausgangspunkt von diskursgeschichtlicher Kritik. Was dagegen einzufordern ist, ist die Berücksichtigung von Wahrnehmungsweisen, von jenen Formen also, in denen Erinnerungen erzählt werden. Aufmerksamkeit benötigt auch, wie solche Erzählungen konkurrieren, wo sie öffentlich werden und wann sie privat bleiben, warum sie mal Streit entfachen und mal in »konsensuelles Schweigen« münden.57 Nur in diesem reflexiven Sinne hat man vom richtigen Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit gesprochen; als Aufforderung zur intensiven Reflexion der grundlegenden Bedingungen wissenschaftlicher Erkenntnis, des Verhältnisses zwischen Geschichte und Gedächtnis und des komplexen Zusammenhangs von historischer Erinnerung und Bereitschaft zum Vergessen:58 »Wer über Gedächtnis spricht, ist gezwungen, auch über Wahrnehmen und Lernen, über Wissen und Wiedererkennen, über Zeit und Erinnern zu sprechen – von Aufmerksamkeit, Emotion und Vergessen ganz zu schweigen.«59

Die vorliegende Arbeit »Der Holocaust und die westdeutschen Historiker« ist nicht ohne ihren Untertitel zu verstehen – die Betonung auf »Erforschung und Erinnerung« wird hier nicht als lediglich verdoppelte und parallel – aber getrennt – verlaufende Diskussion verstanden, sondern als elyptischer Doppelbrennpunkt eines verschränkten, beide Seiten sich gegenseitig kommentierenden Diskurses, in welchem Geschichtsschreibung als Teilsystem innerhalb des kollektiven Gedächtnisses verstanden wird, Gedächtnis dagegen auch im Diskurs der Geschichtsschreibung aufzufinden ist. Der Doppelcharakter von Gedächtnis gilt mithin wissenschaftstheoretisch auch für die eigene Fachwissenschaft: Sie ist stets beides, Aufbewahrungsort und Konstruktionsarbeit. Wer sich mit der Vergangenheit beschäftigt, so Reinhart Koselleck, werde immer mit sich selbst konfrontiert – eine Antinomie zwischen »damals« und »jetzt«, der man sich auch wissenschaftsimmanent nicht einfach entziehen könne, im Gegenteil: Sie setze geradezu voraus, so Koselleck weiter, »daß wir die Fragwürdigkeit unserer Wissenschaft theoretisch klären«.60 Die Grundfragen für die folgenden Kapitel lauten deshalb: Mit welchen Argumenten wurden und werden Geschichtswissenschaft und kollektives Gedächtnis als Opposition gesehen, wie ihre Teilidentität begründet? Wie war zu unterschiedlichen Zeiten ein Nachdenken über die Shoah möglich, und wo lagen die Grenzen der Reflexion? Wo und auf welche Weise wurden diese Grenzen überschritten, und wann ging dieses Überschreiten gerade nicht von der Geschichtsforschung aus? Welche Begriffe, Modelle und Erklärungsmuster wurden dabei verwendet, und welche intellektuellen Folgen hatten bestimmte Interpretationen? Welche Rückwirkungen auf das historische Gedächtnis hat die Erforschung des Holocaust gezeitigt? Wie wurden aus den Erinnerungskonflikten zwischen Deutschen und Juden, Tätern und Opfern, Mitläufern und Widerständlern, der älteren und der jüngeren Generation, etablierten Wissenschaftlern und akademischen Außenseitern jene Konflikterinnerungen, die auch heute noch in den wissenschaftlichen Debatten und Kontroversen zum Thema fortwirken? Wie stellte sich die Historiographie dem Dilemma einer traumatisch fortwirkenden Vergangenheit, und wo ritualisierte sie ihr Wissen in formelhaften Wendungen und Interpretationsschemata?

Erste Gegenüberstellung:
Der »Historikerstreit« als Paradigma

(Christian Meier und Ernst Nolte)

Noch der »Historikerstreit« Mitte der 80er Jahre ließ solche Fragen vermissen. Er soll hier keineswegs noch einmal analysiert werden, vielmehr ist beabsichtigt, ihn als Paradigma der intellektuellen Aporie der 80er Jahre zu verstehen und zum Ausgangspunkt eines archäologischen Rückblicks in seine Vorgeschichte zu machen, der versucht, seine Verwerfungen besser zu verstehen. Denn während der Kontroverse selbst gab es nur sehr wenige Einsichten in die Schwierigkeiten des perspektivischen Erinnerungsdiskurses. Schaut man von heute auf diese letzte Großdebatte der alten Bundesrepublik und die sie einordnenden Kommentare, so fällt die Eindeutigkeit der Bewertungen auf.61 Die meisten sahen in ihm ein »Gegenbild einer historischen Kontroverse« (Lutz Niethammer), eine anachronistische, wissenschaftlich irrelevante und intellektuell verengende Episode (Karl Dietrich Bracher) ohne Ergebnis.62 Aus Sicht der Forschung wurde der Streit als langweilig, falsch oder sogar »schädlich« – kurz: als »Stellvertreter-Krieg«63 bewertet. In der Tat war ja der politische Subtext dieser Auseinandersetzung ebenso evident wie paradox, fand sich doch die politische Linke auf einmal (methodisch gesprochen) in der Position des klassisch-historistischen Singularitätspostulates wieder, welches sie traditionell abgelehnt hatte, während die Konservativen universalhistorische Vergleichsbezüge einforderten. Angesichts der überzogenen Anforderung, mit dem Sprechen über die Judenvernichtung zugleich die richtige politische Gesinnung zu zeigen, kam es zu jenen notorischen politischen, wissenschaftlichen und logischen Kontradiktionen, und die verärgerten Bewertungen des »Historikerstreits« haben hier ihren Grund und ihre Berechtigung. So formulierte es Bracher, der den »von leichtfertigen oder Aufsehen suchenden Thesenrittern ausgelösten sogenannten Historikerstreit« am schärfsten attackierte, letztlich konsequent, wenn er bemerkte: »Er betraf eigentlich gar nicht die Historiker. Er hieß ›Historikerstreit‹, aber die Historiker waren gar nicht die Auslöser. Nolte ist eigentlich mindestens zur Hälfte Philosoph und Habermas ebenfalls.«64 Diese Einschätzung hatte nicht zuletzt Ernst Nolte selbst vertreten und von »im Kern nichts andere[m] als eine[r] große[n] Kampagne gegen mich« gesprochen.65

Doch all diese Feststellungen sind aus Sicht der Gedächtnisgeschichte zu reduktionistisch und belegen nur die Vermutung, daß die andere Dimension dieser Debatte während ihres Verlaufs nur vereinzelt und in ihrer Bewertung erst ex post herausgearbeitet wurde.66 Der »Historikerstreit« lag in der Tat noch ganz innerhalb jenes geschichtswissenschaftlichen Selbstverständnisses, welches die Dynamik geschichtskultureller und postmoderner Verunsicherungen noch in den alten und eingeschliffenen historischen Denkformen abarbeiten und damit abwehren konnte.67 Die Frontlinien der Diskussion waren geradezu altbekannt, die Argumentationsstrategien verliefen innerhalb der bewährten Paradigmen der Geschichtswissenschaft, und »die Positionen lassen sich eindeutig wissenschaftshistorisch verorten und charakterisieren«.68 Die dem Thema »Erforschung und Erinnerung« inhärente Spannung selbst zu thematisieren war den Beteiligten seinerzeit aber nahezu unmöglich. Der Streit hatte seine bedeutsameren Momente dort, wo dies ausnahmsweise gelang, seine Blindstellen dagegen resultierten folgerichtig umgekehrt aus der Weigerung, die Ambivalenzen im Verhältnis von Geschichte und Gedächtnis, Erforschung und Erinnerung zu erkennen und anzusprechen. Dies wäre an der Gesamtdebatte ebenso eindrücklich zu zeigen wie anhand einzelner Texte und ihrer Bezüge.

Der Althistoriker Christian Meier hatte zum Beispiel als Vorsitzender des deutschen Historikerverbandes seinerzeit in Tel Aviv einen Vortrag gehalten, der solche Fragen verhandelte. Er machte eine in das bundesrepublikanische Selbstverständnis übergegangene Dauerauseinandersetzung um die Vernichtung der Juden im Nationalsozialismus aus, die sich in den verschiedensten Formen äußere – etwa in Trauer, Scham, Ratlosigkeit, Obsessionen, Fluchtversuchen oder Kompensationen –, die aber alle Symptome ein und derselben Sache seien, nämlich einer im ganzen unbewältigten Geschichtserinnerung als Teil gemeinsamer Identität.69 Nicht eine gelungene, sondern eine ständig mißlingende Erinnerung, so könnte man diesen Vortrag heute etwas verkürzend zusammenfassen, etwas also, das Meier seinerzeit »Virulenz der Erinnerung« nannte,70 war ständiger Teil der deutschen Gegenwart; die Erinnerung an die deutschen Verbrechen sei auf gerade diese Weise, so Meier, »tief in die Fundamente der Bundesrepublik installiert«, mehr noch, sie müsse dies auch bleiben: »Was damals geschah, wird – und darf – nie, jedenfalls nicht in den Zeiträumen, an die die heute Lebenden denken können, vergessen werden.«71

Diese These hatte Brisanz, und das aus drei Gründen: Meier forderte hier vierzig Jahre nach Kriegsende in semioffizieller Weise bereits im Januar 1986, also ein halbes Jahr vor72