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Sabine Peters

Abschied

Erzählung

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So ist übers Jahr das Wetter gewesen.
Alles andere war anders
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Und er heißt Doktor Phil und schreit Mama, Mama.

Langer langer Flur, in der neuen Wohnung der Eltern, Marie und die Mutter stehen in dicken Mänteln im Eingang der Wohnung.

Mama, Mamska.

Hohes Rufen von hinten, vom Ende des Flurs, die Tür am Ende des Flurs zum Bad ist weit offen.

Die Mutter läuft dorthin. Im Laufen wirft sie ihren Mantel ab, den Marie auffängt. Marie schüttelt Schneeregentropfen von Mutters Mantel.

Die Badezimmertür schließt sich hinter den Eltern.

Mutters Stimme, nicht schlimm, ist zu verstehen, diesmal nicht schlimm.

Das Rauschen von Wasser. Es fließt aus einem der Hähne, fließt, fließt, du packst schon aus, hat die Mutter im Laufen der Tochter gesagt.

Käse in den Kühlschrank. Gemüse in den Korb auf dem Balkon. Den Stollen für Weihnachten? Wahrscheinlich auch auf den Balkon. Nicht vergessen, den eigenen Mantel auszuziehen, aufzuhängen.

Marie zupft die beiden Mäntel auf ihren Bügeln zurecht. Sonst tut es die Mutter.

Warten, Lauschen.

Und jetzt ist es ja wieder gut und jetzt gehst du ins Wohnzimmer und erholst dich vom Schreck in der Morgenstunde und bald gibt es Mittagessen, Papilio.

Der Vater wankt durch den Flur. Er trägt ein blütenweißes Oberhemd, darüber eine weinrote Weste, Kaschmir, die Hosen haben Bügelfalten. Er trägt graue Socken, schwarze Schuhe.

So ist mein Junge anständig. Properes Kerlchen.

Die Mutter redete sonst manchmal so. Früher. Neuerdings, jetzt im Winter, spricht sie wenig. Sie hat sich aufs Horchen verlegt. Mutters Ohren. Mutters Ohren sind Federn, sind Flügel, die Mutter ist ein Vogel, fliegt auf, fliegt hoch, um ihren Jungen zu finden, ihren Mann. Sie findet den Vater überall. Es sind nicht mehr viele Punkte verblieben, zu denen die Mutter fliegt in diesem Winter, im Dezember 2001.

Alle Punkte heißen Rheinstraße.

In der Rheinstraße heißen die Punkte Wohnzimmer, Eßzimmer, Schlafzimmer, Küche, Bad.

Der Vater liegt im Wohnzimmer auf seinem Sofa. Seine Augen sind geschlossen.

Die Mutter rührt in der Küche in einem Topf.

Marie deckt den Tisch.

Es hat sich ergeben, daß die Mutter bei Tisch das Wort übernimmt. Tischvorsitz. Der Vater krümmt sich auf seinem Stuhl. Seine Nase hängt fast im Teller. Das Hemd ist blütenweiß. An seiner Nase hängt ein Tropfen.

Es ist alles anders.

Neben dir, das Taschentuch! Der Ausruf der Mutter fliegt über den Tisch. Der Vater fährt zusammen. Er greift nach dem Tuch.

Marie nimmt noch mal Salat. Salat ist naß, er rutscht leicht. Alle drei stochern im Essen.

Die Mutter strengt sich an, sie sagt, in der Stadt vorhin. Der verrückte Bäcker am Markt. Der hat gehört, sie wollen den Luisenplatz aufreißen. Die Busse sollen wieder am Luisenplatz die Haltestelle haben.

Der Vater legt den Kopf in die rechte Schulter zurück und sieht zu ihr auf. Er zwinkert ihr zu. Eher ist es ein Blinzeln. Als hätte er Mühe, alles richtig zu sehen. Ja, sagt die Mutter, die Stadtverwaltung, sie lächelt den Vater an und schüttelt den Kopf. Bekloppte Fußgängerzone. Auch Marie macht mit. In ihrer Schulzeit sind die Busse alle abgefahren ab Luisenplatz, anfangs, und irgendwann, vielleicht zu Abiturzeiten, ist es geändert worden. Verrückter Städtebau. Eben, sagt die Mutter, hüh, hott. Fußgängerzone, Busse, mal so, mal so. Die wissen auch nicht, was sie wollen. Mit dem Luisenplatz. Sie beugt sich über den Tisch, nimmt Vaters Gabel. Der Vater macht den Mund auf. Zwei Gabeln Bohnen, das schaffst du. Die Mutter fragt die Tochter, ob sie auf dem Markt am Obststand vorhin die dicke Alte an Krücken gesehn hat. Frau Müller. Deren Tochter ging mit Maries Schwester zur Schule. Wie hieß die Müllertochter. Marie und die Mutter besinnen sich. Kein Name will kommen. Egal. Marie zerdrückt die letzte Kartoffel in Soße. Soße ist naß. Die Müllertochter jedenfalls. Die bei dem Vater das Abitur gemacht hat, die Mutter lächelt den Vater an, die Müllertochter sitzt inzwischen in der FDP, schreibt Reden. Oder war es die CDU? Pressereferentin in Berlin. Noch eine Gabel, bittet die Mutter den Vater, dann kannst du dich hinlegen. SPD war es nicht. Marie sagt was zur Stadt Berlin, was Sachliches, Soziologisches, Architektonisches, dann sagt sie, zu Besuch ist sie gern in Berlin, nur wohnen wollte sie da nicht. Alle fertig mit Essen, fragt die Mutter. Wir danken dir, Herr Jesu Christ, daß du unser Gast gewesen bist, Amen. Die Mutter hebt die Tafel auf. Der Vater schafft den Weg zum Sofa. Er legt sich hin, er nimmt die Brille ab, bedeckt die Augen mit dem Unterarm.

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Und er heißt Doktor Phil und erfand die Geschichte vom rollenden Knopf, er stiftete mal Eisbällchen, mal Schweinsohren, und er nannte alle seine Autos Rosinante nach dem Pferd von Don Quichotte, er kutschierte verboten durch Weinberge, nannte sich Anlieger, nannte sich frei, in den Weinbergen ließ er seine vier kleinen Töchter los, zwei durften vorne auf der Motorhaube sitzen, die anderen beiden hinten auf dem Kofferraum, er fuhr sie vorsichtig im Schneckentempo, und an Samstagen konnte er mit den Ohren wackeln, und er kannte nicht nur die drei Weisen aus dem Morgenland, sondern zusätzlich noch Frau Balthasar, so daß seine vier Töchter an Dreikönige als Kaspar, Melchior, Balthasar, Frau Balthasar zur Krippe zogen, und er hatte einen Vierfarbstift, den er verlieh an die vier Kinder, rot, grün, schwarz, blau, und er wärmte Ravioli, wenn die Mutter krank war, und er kannte ein Wort, um den Schnee zu beschwören, so daß der Schnee über Nacht weiterfiel.

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Und er heißt Doktor Phil und ist ein Glöckner, ein Schellenbaum, eine Narrenkappe, ein Silberfisch, ein Kormoran, er ist ein Wasserfall, ein Redenbogen, ein Tyrann und ein Tynarr, und er ist mächtig und er ist ein kleines Licht und ist dunkel und kaum zu erkennen.

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Und er steht abgewandt, schon lang steht er abgewandt, fast scheint es, schon immer.

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Und er findet, er ist Jäger Kläger Richter Scharfrichter, und Angeklagter außerdem, und soviel kann alles in einem sein.

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Und er heißt Doktor Phil und sagt einen der vielen Lieblingssätze. Dieser Satz meint seine Töchter Eins, Zwei, Drei, Vier, und er kommt vom Turm. Man nehme alle vier und stecke sie in einen Sack und schlage zu und einer nur ist unschuldig das ist der arme Sack.

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Und er heißt Doktor Phil. Er steht als dunkler fensterloser Turm.

Türme beherrschen das Land, und Jammermänner sitzen in Türmen hungrig die Schuld ab.

Gespenster leben in Türmen. Wächter wachen. Türme sind Denkanlagen, Sprenganlagen, Sendeanlagen. Sie sind Festungen, vermint. Manchmal aber leuchten Türme.

Töne können aus Türmen kommen, ein Schlagen und Dröhnen, manchmal so etwas wie ein Gesang.

Türme sind unter den Häusern die Riesen. Sie drohen. Türme stoßen Tiraden aus. Türmen darf man mit Tränen nicht kommen.

Türme sind Schwermut, Türme sind erstarrtes Aufbegehren. Türme können Wasser enthalten. Fluten von Wasser.

Türme bestehen aus Steinen und Schweigen, es gibt auch solche die flüstern befrei mich befrei mich oder die donnern fort fort.

Die Sprache der Türme zu lernen braucht für Töchter lebenslänglich plus eins.

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Und er heißt Doktor Phil und ist achtzig im Dezember 2001. Achtzig und klein, kein Turm. Der Buckel drückt ihm die Brust ab. Skoliose. Wasser in der Lunge. Zwei Herzinfarkte liegen zehn Jahre zurück. Mit der Luft ist es schlecht. Eine Hüfte schmerzt. Die Augen sind wieder gut, nach der ambulanten Operation des Stars. Von jetzt auf gleich waren draußen die Bäume wieder mehr als grün flirrende Flächen. Bäume draußen haben unzählige Blätter, die schweben, fächeln, winken. Von drinnen sieht der Vater draußen die Bäume am Rheinufer. Vaters Hände machen die Blätter nach, wenn eine der Töchter die Eltern besucht. Kleiner Mensch mit großen Händen, schmalen Handgelenken, wie Blätter an Bäumen. Er dreht die Hände in den Gelenken, läßt sie schweben, fächeln, winken. So begrüßt er die Töchter, so verabschiedet er sie. Umarmen, Küssen, das liegt ihm nicht, das ist nicht so seine Sache. Die Küsse sind formalisiert, es sind immer drei, schnell hintereinander, man hält sich nicht auf mit einem einzigen unsicheren Kuß, dessen Ende rätselhaft wäre. Daß man sich nicht zu nahe kommt. Es reicht schon, daß der Masseur einmal in der Woche sich am Körper des Vaters zu schaffen macht. Aber er hilft, der Masseur. Wie auch das Wasser geholfen hat, im Thermalbad. Zuletzt haben die Mutter, eine der Töchter oder der Bademeister dem Vater geholfen, die Stufen ins Wasser zu gehen. Zuletzt, als er noch ins Thermalbad ging. Manchmal war noch die Rede davon, wann er wieder dort wäre. Irgendwelche Idioten. Marie hätte sie treten können. Der Vater sagte nichts zu Thermalbadbesuchen. Es fanden sich andere Themen.

Der Vater draußen, das ist kein Thema im Dezember 2001.

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Draußen bei der Tochter Drei, bei Marie auf dem Land, es ist noch nicht so lang her. Das Rheiderland, die Emsmündung, der Dollart. Die west-nordwestdeutsche Küste. Marie steht mit den Eltern auf der Halbinsel. Zum Horizont hin, draußen ist das Wasser eine unbewegte ruhige Fläche, grau, vereinzelte helle Sicheln sind Schaumkronen. Manchmal ein Schiff, unhörbar oder hörbar je nach Windrichtung. Am Horizont liegen westlich die holländischen Orte Delfzijl und Termunten. Richtung Nordost die Kräne der Emdener Werften, sie stehn als mechanische Pferde, Giraffen. Am Horizont die Lücke, dort öffnet sich der Dollart in die Nordsee. Hier nah das Regelmaß der Wellen, eine Handschrift, die Wellen schlagen vor und zurück, braungrüne Algen schwanken vorwärts und rückwärts. Wolkenschatten ziehen übers Wasser, übers Land. Ein Kormoran sitzt auf einem der Pfähle, die nah einer Buhne aus dem Wasser ragen. Aus dem schimmernden schwarzen Gefieder schüttelt der Vogel Tropfen. Der Vater stützt sich auf die Rücklehne einer Bank, er winkt mit einer Hand. Ihr lauft ein paar Schritte. Laufen, Gehen, das fällt ihm schwer. Die Hüfte die Lunge die Luft. Nicht zu vergessen die Beine.

Wie er sich schüttelt, dein Kormoran, sagt der Vater zur Tochter. Das wiedergewonnene Augenlicht nach der Operation des Stars gibt dem Vater den Eindruck fliegender, funkelnder Wassertropfen aus Vogelgefieder.

Schwimmvögel, doziert Marie. Sie balzen auf dem Nest. Spezialisierte Fischfresser. Man hat die Kormorane in Ostasien zum Fischfang eingesetzt.

Wellen, Gefieder, Vögel, Natur, das war viele Jahre lang nicht so sehr Vaters Sache. Seine Sachen waren immer Museen, Kirchen, Städte, Kultur. Ein Kulturmensch. Was hat die Tochter Marie auf dem Land verloren? Sollte nicht gerade sie als Schriftstellerin in einer Großstadt leben, Berlin zum Beispiel, am Puls der Zeit?

Viele Jahre lang waren es solche Fragen, die der Vater hatte. Jetzt steht er auf der Bohrinsel am Dollart, stützt sich auf die Lehne einer Bank, auch langes Sitzen ist nicht seine Sache. Schöner, schöner Kormoran, sagt der Vater.

Nach dem Tauchen sitzt der große Vogel auf einem salzzerfressenen Pfahl, breitet die düster leuchtenden Flügel aus, er schwenkt sie geduldig zum Trocknen im Wind.

Es ist noch nicht so lang her. Nicht mal zwei Jahre.

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Jetzt im Dezember 2001, zu Haus bei sich in der Wohnung, ist der Vater vom Sofa längst wieder aufgestanden. Es hält ihn dort nicht lange. Liegen ist nicht seine Sache. Er hängt, auf die Unterarme gestützt, überm Schreibtisch. Die Ellbogenknöchel sind etwas wund vom Druck des Körpergewichts, das ganz auf den Armen liegt. Vaters Füße, sie streifen den Boden nur. Der Vater biegt den Kopf aus dem Buckel, blinzelt die Tochter an. Mechanische Pferde und die Giraffen am Dollart, ja. Natürlich erinnert er sich. Auch an den Kormoran. Und die Prinzessinnen? Wie geht es ihnen?

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Es ist noch nicht so lang her. Als die Eltern vom Rheinland aus Marie im Rheiderland besuchten, rannten dort Ferkel rosa über die Weide. Die Mutter und Marie gingen da hin, sie warfen ihnen Fallobst zu, sahen das schmatzende Fressen, es tropfte nur so, die Ringelschwänze bebten vor Eifer. Der Vater saß vor dem Haus auf einem der Gartenstühle, er sah ihnen von weitem zu. Der Stuhl war ihm zu hart. Er knurrte, als die beiden bei ihm standen. Was habt ihr bloß mit den Ferkeln. Begriffsloses Viehzeug ohne Verstand. Einen Tag später sahen Marie und die Mutter den Vater, als sie mit der Milchkanne vom Bauern kamen. Er machte seine Schrittchen, über die Brücke ging er, die den Kanal überquert, hier sagt man das Tief. Der Vater machte auf der Brücke über dem Tief ein Päuschen, stützte sich auf das Geländer, sah über das Wasser, das schilfbewachsene Ufer, die Weiden, auf denen Kälber und Ferkel standen. Vaters Schrittchen, Päuschen, langsam kam er näher, bis sie zu dritt am Weidegatter lehnten. Du und diese Schweine, sagte der Vater zur Tochter, du als Kulturmenschtochter. Er griff in seine Jackentasche. Blitzschnell warf er eine Handvoll Erdnüsse durchs Gatter, zum Jubel der Schweine. Krachend fraßen sie die Nüsse. Der Vater sagte vor sich hin, was ist denn wohl schön an Schweinen. Sieh mal, rief Marie, wie anmutig, wie elegant! Wie musikalisch sie sich aufführen! Die Schweine kratzten sich rhythmisch an Pfählen, trippelten auf kleinen schnellen Füßen. Sie tänzeln!

Prinzessinnen, sagte der Vater. Königstöchter. Ts ts. Wer hätte das gedacht hier draußen. Von königlichem Geblüte welche. Solche habt ihr hier auf dem Land. Ihr Kulturlandmenschen. Seit dieser Zeit fragt er, was machen die Prinzessinnen, wenn Marie kommt.

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Jutta, Barbara, Marie, Katrin. Die Töchter Eins, Zwei, Drei und Vier besuchen die Eltern neuerdings oft. Jahrelang schien alles fest gefügt zwischen Töchtern und Eltern. Die alten Eltern rangen die Hände bei dem Gedanken an die erwachsenen Kinder, was soll noch aus den armen Kindern werden. Die armen Kinder rangen ihrerseits, sie konnten sich viel Schweres ausmalen, was die Eltern betraf. Alles war stabil. Man sah sich nicht oft. Bis es sich verändert hat, mit dem Winter 2000.

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Eltern bestehen aus Vater und Mutter. Doktor Phil und seine Frau sind miteinander verschworen, in diese Verschwörung kommt keiner rein. Vaters Sache ist das Wort, er ist der Herr der Rede. Mutters Sache ist die Tat. Der Vater begründet den Laden, die Mutter hält ihn zusammen. Es ist die Aufgabe der Töchter, dem Vater Fenster in die Welt zu öffnen. Sie haben Rede und Antwort zu stehen auf seine Fangfragen, seine Verirrfragen, seine Insleerelauffragen, sie werden am Ende immer verstummen, damit er erklärt, was es ist mit der Welt. Vaters Wort überragt die Töchter jahrelang. Sein Wort steht noch gerade hoch oben, turmhoch, als er immer krummer und kleiner wird. So scheint es den Töchtern. So fürchten sie ihn und sein Wort. Die Mutter steht am Rand, bereit, zwischen den Vater und die Töchter zu springen und aus sich selbst eine Pufferzone zu machen. So ist es gewesen. Kann sein.

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Dezember 2000. Einschnitt. Plötzlich steht die Mutter nicht mehr am Rand und nicht mehr bereit. Putzmunter geht man zum Arzt, sagt sie, und kommt krank wieder raus. Sie sagt es auch anders.

Nein, sagt die Mutter, nein.

Ihr Herz ist krank. Sie braucht neue Herzklappen. Sie muß sich sofort operieren lassen, sonst kann es plötzlich zu spät sein von jetzt auf gleich.

Nein, sagt die Mutter. Sie lebt in einer Verschwörung. Da kann sie nicht einfach ausbrechen.

Sie ist Vaters Schutzmantel und will es bleiben. Aber wenn sie es bleiben will, muß sie sich operieren lassen, und wer schützt den Vater, wenn sie selbst schwach ist.

Und was ist, wenn diese Operation, wenn bei dieser Operation, ja was ist dann, der Vater wedelt Sturm mit beiden Händen. Nein, ruft der Vater, Unsinn, Unverstand!

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Plötzlich ist die Mutter zu einer Zumutung für den Vater geworden. Plötzlich steht er mit aufgerissenen Augen vor seiner Frau, die ihm Mut zumutet. Seine Hände fallen ihm runter, manchmal, plötzlich.

Man könnte einfach weitermachen so wie immer. Einfach so tun, als gäbe es nicht die Frage des Herzens. Darf die Mutter nicht im Alter müde werden? Daß sie die Treppen zur Wohnung, dreiundsechzig Stufen sind es, plötzlich selbst nicht mehr gut schafft, wen soll es wundern. Ist sie nicht auch über siebzig? Soll man nicht alles laufenlassen wie immer? Aber jetzt gibt es auch eine Drohung. Die Mutter macht plötzlich nicht weiter. Sie kippt einfach weg und läßt den Vater zurück, mutterseelenallein. So haben sie nicht miteinander gewettet. In den letzten Jahren waren die Eltern nicht nur verschworen im Alltag, sie haben sich auch für ihr Ende verschworen. Sie würden ganz gern zusammen sterben. Hand in Hand dahinfahren, Hand in Hand in den Sturz oder Flug oder wie man es sonst noch nennt. Das Konzept heißt, entweder zusammen sterben, oder der Vater geht zuerst, gehüllt in Mutters Schutzmantel. Nur nicht ins Krankenhaus am Ende. Das Krankenhaus soll Vaters Ende nicht sein. So sind die Eltern verschworen in dieser Sache. Vaters Sache ist das Wort. Die Mutter muß ihm Taten folgen lassen. Sie wird sich operieren lassen. Sie wird wieder zu Kräften kommen, es wird ihr bessergehen, sie wird auch wieder für den Vater dasein. Ja, sagt die Mutter.

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Also Krankenhaus. Und noch eine Zumutung kommt auf die Eltern zu im Winter 2000. Umzug. Im Nachbarhaus ist eine Wohnung freigeworden, das Haus hat einen Aufzug. Nie mehr müßten sie sich mit den dreiundsechzig Stufen quälen. Alte Leute soll keiner verpflanzen, heißt es. Unsinn und Unverstand, schnauben die Eltern. Aber wie soll es gehen mit Krankenhaus und mit Umzug?

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Die Verschwörung weitet sich aus. Es gibt die Töchter Jutta, Barbara, Marie und Katrin, Eins, Zwei, Drei, Vier. Es gibt die Putzfrau Lisinka, gelernte Biologin aus Kasachstan, das fünfte Kind im Haus, sagt die Mutter. Es gibt das Ehepaar Becker, er Handwerker, beide haben bei früheren Umzügen schon geholfen. Alle, bis hin zum Arzt, zum Masseur, zu den Nachbarn, reden den Eltern Mut zu. Die Eltern reden sich selbst gut zu. Sie sind nicht allein. Es kommt Hilfe von außen. Das Krankenhaus der Bundeswehr im Nachbarort hat einen guten Ruf. Die Mutter geht dorthin, in der Zwischenzeit wird der Umzug gemacht, danach wird für die Eltern alles leichter, so heißt das Versprechen. Jetzt erst der Rollentausch. Die Mutter wird schwach sein, der Vater muß stark sein. Ja, sagen die Eltern mit aufgerissenen Augen.

Einschnitt. Rollentausch. Ende Januar 2001 findet der Umzug statt. Zwei Tage später, schon Februar, geht die Mutter mit ihrem Herzen ins Krankenhaus.

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Heute wird die Mutter operiert. Der Vater kann für seine Frau nichts tun. Sie haben ausgemacht, daß er warten wird, bis sie ansprechbar ist. Dann wird eine der Töchter mit dem Vater ins Krankenhaus kommen. Alleine fahren geht nicht. Der Vater ist in der neuen Wohnung zwischen Kartons allein. Abends wird seine jüngste Tochter vorbeikommen, Vier wird für ihn kochen, nach ihm sehen. Die Schwestern haben sich abgesprochen, so daß die Eltern keinen Tag allein sein werden. Aber jetzt ist niemand beim Vater.

Barbara hat ihm geschrieben, von Hamburg aus, nach dem Umzug mußte sie gleich zurück, wieder an ihre Arbeit. Der Vater tigert mit dem Brief von Zwei durch die Wohnung. Zwei schreibt, sie hofft, daß der Vater den Tag von Mutters Operation erträgt. Sie ist in Gedanken bei ihm und bei der Mutter. Briefe kann jeder. Sie soll mit ihm sprechen. Aber Zwei ist nicht erreichbar, und er, was ist mit ihm.

Jutta ruft er nicht an, er, Doktor Phil, tut den Teufel, Eins anzurufen. Eins hat den falschen Mann genommen, der Schwiegersohn ist kein Kulturmensch, das macht die Verbindung zur ältesten Tochter schwer, da kann sie vier Straßen weiter wohnen, da kann sie alle Umzüge der Welt organisieren. Eins arbeitet in der Nähe des Krankenhauses, in dem die Mutter liegt, sie wird vor Arbeitsbeginn bei der Mutter gewesen sein, sie wird nach der Arbeit bei ihr vorbeisehen. Der Vater pfeift drauf. Soll sie ihn anrufen. Wenn es etwas zu sagen gibt.

Abends wird Katrin, die Jüngste, von Bonn aus herüberkommen, Vier wird kommen, das weiß der Vater, aber was hilft es ihm jetzt, jetzt.

So ruft er bei Drei an, der Schriftstellerin, die als solche zu Haus erreichbar sein muß. Verbundenheit, schreit der Vater ins Telefon, das Telefon verbindet die Menschen! Der Vater schreit in Richtung Marie, er schreit von der Rheinstraße in der Kleinstadt im Rheintal bis ins Rheiderland an den Dollart. Mutter, schreit er am Tag der Operation, sie ist jetzt eine Rakete zum Mond! Es schüttelt den Vater vor Schreien und Schluchzen, es schüttelt den Hörer in Maries Hand. Ihr nachwinken, schreit der Vater. Sie muß heil wiederkommen! Marie setzt eine tiefe Stimme auf, mit der sagt sie Beruhigendes. Und kommt nicht auch nachher die jüngste Schwester, wollen sie nachher nicht Bilder aufhängen? Damit es von Tag zu Tag auch für ihn in der neuen Wohnung vertrauter wird? Der Vater setzt neu an. Alles ein Quatsch! Ihn, ihn beachtet keiner, siehe Umzug, die Packer rannten zu schnell, die Töchter räumten zu schnell, die Älteste hat die Pausenbrötchen mit falschem Käse belegt, er soll im Weg nicht stehn, man hält ihn für verrückt, dabei war er es, der den Wohnungsplan entworfen hat, bis auf den Millimeter, keiner wollte hören, was er sich dabei gedacht hat, er, der Denkmensch, Doktor Phil, aber die Packer wissen nichts, sie haben kein Interesse als den Feierabend, Marie sagt mit Helferstimme Beruhigendes, auch sollte gleich die jüngste Schwester beim Vater ankommen, vielleicht hängen sie schon ein paar Bilder auf. Nein, ruft der Vater, über die Bilder bestimmt er mit der Mutter. Gut, sagt Marie, apropos Bilder, ihr letzter Artikel, über ein Bild von Gustave Courbet, er unterbricht sie, Heil! Heil, ruft der Vater ins Telefon. Ja, sagt Marie, die Mutter wird wiederkommen, ein bißchen heiler am Herzen mit den neuen Klappen, nein, ruft der Vater, Heil, die Kultur, der Artikel, seine Kulturmenschtochter, wer nimmt Kultur heute noch ernst, er beschwört sie, wer ist der Kultur bedürftig, er nimmt seine Stimme zurück, er wird feierlich und verhalten, Bedürfnis, das ist das Wort. Ja, sagt Marie. Sie selbst hat das Bedürfnis beispielsweise, Geschwätz, ruft der Vater, was weißt du in deinem Alter, was die Bedürfnisse sind. Er ringt nach Atem, Dextropur, ruft er. Salzstangen! Flaschen mit Schraubverschlüssen, was braucht der Mensch mehr. Kleine Bedürfnisse, sagt er, verglichen mit dem Heil der Mutter, die Türklingel geht beim Vater, das ist Nummer Vier, ruft er, er legt den Hörer auf.

Marie sieht den Mond am Horizont. Der Mond ist eine Pampelmuse, die langsam wandert, die lautlos rollt. Später ist der Mond oben am Himmel zu einer silbernen Nuß geworden. Orange, gelb, silbern. Marie sagt ihrem Mann Rupert, der Vater sei durcheinander. Vielleicht auch habe er nicht gegessen und Wein auf nüchternen Magen getrunken. Der Arme, sagt Rupert, er kann einem leid tun. Später geht das Telefon, es ist die jüngste Schwester. Der Vater schlafe jetzt. Er habe die ganze Zeit durch die Wohnung geschrien. Er weigere sich, die Transportkosten für das Klavier zu bezahlen, spuckend vor Wut habe er ihr eine Tirade gehalten, er zahle nicht, niemals, nicht hier und nicht auf einem andern Stern, denn die Firma habe seinen Titel Doktor Phil auf der Rechnung vergessen. Der Vater rufe ohne Punkt und Komma. Er rede so, als gehe es um Kopf und Kragen. Er habe Logorrhöe, sei nicht bei Trost. Er sei ganz außer sich. Als sie gekommen sei, wäre der Wasserkessel schwarz verbrannt gewesen. Man könne ihn nicht allein lassen. Wie solle das aber gehen. Ob er entmündigt werden müsse? Er laufe ihr nach, gebe nicht Ruhe für eine Minute, sie wisse nicht, sie könne nicht mehr. Ein Schwanken in der Stimme, dann reißt Katrin sich zusammen. Sie knurrt. Es werde weitergehen. Man könne sich auf was gefaßt machen. Wann Marie komme.

Am andern Tag frühmorgens geht Marie noch durch den Garten, unterm Apfelbaum im Laub kommen die ersten Schneeglöckchen, ein schwarzverfaulter Apfel liegt über einem der Schneeglöckchennester, sie räumt ihn beiseite, legt das Nest frei. In ihrem Aberglauben denkt sie, jetzt wird ihr Vater sich fassen.