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© Wallstein Verlag, Göttingen 2013
www.wallstein-verlag.de
Vom Verlag gesetzt aus der Stempel Garamond

Fritz Rudolf Fries

Der Weg nach Oobliadooh

Roman

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Man denkt sich nur immer die eigne
Stadt als das Filial und das Wirtschaftsgebäude
zu einer entfernten Sonnenstadt.

Jean Paul

Erster Teil

Südliches Vorspiel

Dieser Sommer südlich der eigenen Stadt. Arlecqs Blick reicht weiter als über die Dächer, die gesunken im Meer liegen, verstreut, einzeln auftauchend, Blick aus der Mansardenkammer für fünf Mark erstanden durch Quittung beim Reisebüro. Er hatte den bibliophilen Blick, der reicht durch Jahrtausende, begrenzt sich an der Seitenzahl des Quartformats: Las flores del romero niña Isabel hoy son flores azules mañana seran miel. Er könnte sie Isabel nennen. Sie hieß aber Maria Dolores te mueves mejor que las olas. Der Refrain des Liedes ging ihr nach wie ein schlechter Ruf. Und bibelfest waren wohl nur noch die Großmütter der Emigranten. Mit Pepe hat man sie auf dem Jahrmarkt gesehen. Die Vogelwiese. Wenn sie hoch auf der Luftschaukel fliegt, bläht sich ihr Rock, und Pepe oder Juan oder Ramón oder wer auch, alle, die in Freital wohnen, können ihr nicht mehr in die Augen sehen, weil ihre Haare drüberliegen. Sie lecken ihr übers Gesicht. Wellen. In Almería noch ein Kind. Die Muscheln rissen ihr die Füße wund am Strand. Aber ihr Vater hatte sie getröstet. Er war General im Estado Mayor im Jahr, als die Brigaden kamen.

Da war viel Blut geflossen. Auch in Paris, wenn sie an ihren ersten Coitus dachte. Da war ihr Vater noch ein Ex-General. In Prag und in Moskau konnte er das Ex unter den Tisch fallen lassen. In Dresden auch. Er war: der General. Jetzt war er ein alter General. Die Seinen machten sich einen Ulk aus ihm, außer er war in Moskau. Er glaubte noch, gegen den andern General ziehen zu können, der nach Süden zu an der Fettsucht litt. Das kam, weil er aus allen Tellern aß, die seine Gefangenen am Morgen übrigließen. Isabel war das gleich. Das mit dem einen General, der ihr Vater war. Das mit dem andern General, der ein Landesvater war. Arlecq war es auch gleich. Kaum daß er Generale liebte, wenn sie in seine Bibliothek eingegangen waren. Er liebte Isabel, falls das hier schon zur Sprache kommen soll. Bitte denken Sie nicht schlecht über Arlecq, sagt Arlecq in seiner Mansarde, es war seine erste Liebe. Aber auch Isabeln wollen Sie sich nicht verschließen; es war ihre letzte Liebe. Dann heiratete sie. Arlecq wollte das an diesem Morgen noch nicht wissen, denn es geschah erst im nächsten Jahr. Nachdem auch der General, der den Mundo Obrero sonst nicht von den Augen nahm, ihre Schwangerschaft als anstößig in der ambivalenten Bedeutung des Wortes konstatiert hatte. Wir wollen das aber jetzt vergessen.

Dieser Sommer südlich der eigenen Stadt. Die Ruinen haben scharf nachgezogene Linien wie von Canaletto, und eine Heiterkeit in b-Moll steigt mit den Dächern ins Frühlicht. Er wird sie in ihrem Zimmer besuchen. Ein Bett, Korbsessel, zwei Blumentöpfe mit Geranien auf dem Fensterbrett. Eine Frau mit weißen Haaren öffnet, wenn man klingelt. Arlecq klingelt: Frau Cecilie ist kurzsichtig, da kann Isabel immer nur von einem Verlobten sprechen, der Frau Cecilie in Idealgestalt erscheint, weil er die Züge aller annimmt, die in dieses Zimmer kommen, am Bettrand sitzen, wenn Isabels Wäsche auf den Korbsesseln trocknet. Arlecq leiht Isabels Verlobtem die Züge ritterlicher Diskretheit. Er hat nichts dagegen, weiß sich aber ganz anders einzuschätzen. Der Blick aus Isabels Fenster strandet auf einem Hinterhof. Aber niemand weiß das außer Arlecq, der nicht ruht, nach Fernen zu schweifen, bis ihn Gott mit Blindheit schlägt. Hier aber kann der Hinterhof nur willkommener Abschluß einer Szenerie sein, daß nichts von Isabel ablenke, die schön ist. Arlecq hatte sie seinem Freund Paasch so beschrieben: Über ihren Augen siehst du alles an ihr die schulterlangen Haare die Gestalt nur in impressionistischen Umrissen vielleicht noch wie ein Goya-Bild es flirrt es flimmert nirgend Kontur aber große Augen wie gesonderte Lebewesen mit Wimpern bewehrt die beim Küssen an Spinnen denken lassen die dir sanft übers Gesicht streichen. Arlecqs Freund Paasch, der den Kampf ums Dasein mit Obszönitäten bestritt, hatte nur eine Frage gehabt. Arlecq erinnert sich ihrer erst an Ort und Stelle.

Isabel riecht nach Heno de Pravia. Das macht, weil ihre Großmutter, die schon immer gegen den General war, der ihr Schwiegersohn ist, nie von Almería wegzog. Da kann sie Heno de Pravia kaufen und ihren Kindern schicken. Viele Pakete, alle mit Heno de Pravia. Das ist manchmal lästig, wenn die Leckereien, der Turron, die Almendras, nach Heno de Pravia schmecken, wie Isabels Küsse, große weiche saugende Küsse, bei denen Arlecq die Augen fest zuschließt. Dann verwechselt er Isabel mit einer früheren, sehr viel früheren Zeit. Seine Mutter, oder war es das Dienstmädchen, sagte, vor Hunden, die an der Leine gingen, brauche man sich nicht zu fürchten. Auch auf Isabels Brüste konnte man das Gesicht legen. Sie waren schmal, fest, aufragend. Sie trug keinen Halter. Chico, sagte sie und schlug ihm auf die Finger.

Sie war so schön wie Soledad Montoya, eine Schwester des im Barranco verscharrten Dichters, dessen Füllfeder nach der Mordnacht feilgeboten wurde. Hier zwischen den Korbsesseln Frau Cecilies war Al-Andalus, das durch einen illegitimen Beischlaf an die Afrikaner gekommen war, mitsamt dem Guadalquivir und den Moscheen von Córdoba.

Asunción de los Reyes, sagte Arlecq, gut gelaunt und schlecht gekleidet, öffnet ihre Tür dem Stern, der daherkam auf der Straße.

Was für Unsinn du weißt, rêveur de mon beauté, sagte Isabel. Zu Reyes bekam ich von meiner Großmutter nur das Neue Testament mit zuckersüßen Bilderchen. Als wir dann in Paris waren, hatte ich so viele Neue Testamente, daß ich, weil ich sie alle verkaufte, davon zehnmal ins Kino gehen konnte. Das zehnte Mal bereute ich etwas und ging deshalb in einen biblischen Film, du lachst, weil du mir nicht glaubst, natürlich gibt es biblische Filme, Samson und Dalila, solltest du wissen. Wir wollen heute abend ins Kino gehen.

Frau Cecilie abonnierte die Neuesten Nachrichten der Stadt. Arlecq legte die Zeitung auf dem Bett aus, daß sie kniend davor lesen mußten. Isabel schlug das Kreuz, während sie ihren Kleidersaum ausbreitete, um nicht mit nackten Knien auf den nackten Dielen zu knien.

Wen beten wir an, sagte sie.

Immer nur dich, sagte Arlecq, teilte ihre Haarsträhnen und küßte sie aufs Ohr. Das gefiel ihr nicht. Du wirst mir jetzt vorlesen, was sie auf der Kinoseite schreiben. Arlecq las: Zweiherzenimmaieninimoktobersemmelweißretterder müttersietanztenureinensommer.

Amen, sagte Isabel. Gibt es nicht einen Film mit einem kürzeren Titel? Wir könnten ja auch in die Galerie gehen. Das ist was für Fremde, wie du einer bist, her zu uns gekommen. Das ist besser. Da könnte ich mein schwarzes Kleid anziehn, das man im Kino sowieso nicht sehen kann, weil kein Licht ist. Und vorher trinken wir noch den Rest aus der Flasche meiner Großmutter.

Pedro Domecq. Das ist ausgezeichnet, sagte Arlecq. Da könnte ich mich Domecq nennen. Dann freilich müßte es hier heißen (Arlecq zog den Romancero aus der Jacketttasche): Mit drei Perserfürsten geht hinterher Pedro Arlecq.

Aber du heißt ja gar nicht Pedro. Du bist verdreht. Ein Schwindler. Mit so einem läßt man sich ein, sagte Isabel. Ich, wo ich hier für die Spanische Republik stehe. Und du, wo stehst du? Was bist du für einer? War dein Vater General? Auf welcher Seite hat er gekämpft, eh? Das schweigst du aus? Bei welcher Brigade wenigstens war er Patriot? Wo spricht man von seinen Heldentaten?

In der Ukraine, nehme ich an, sagte Arlecq. Oder am Gran Sasso. Er warf ihr das schwarze Kleid aus einem der Korbstühle ins Gesicht. Zieh das an und laß dich einsargen mit deiner república. Die Pasionaria würde dich nicht mal dazu verwenden, daß du ihr Bild einrahmen dürftest.

Er goß sich ein Glas Pedro Domecq ein, trank aus, sagte, für heute abend lassen wir den Arlecq in der Flasche Domecq. Ich bin jetzt Domecq für dich, komme mit drei Perserfürsten, um mit deinem Vater in der Sierra de Guadarrama zu kämpfen, und mit Hemingway habe ich Fundador in El Paso gesoffen, wenn du weißt, wer das ist.

Qué va, in die Hosen hast du in El Paso gemacht, sagte Isabel mit erstickter Stimme, das enge Schwarze über den Kopf ziehend. Qué va, mein Süßer. Komm auf ein Küßchen zu mir. Soll ich für dich singen? Ich tu’s auf der Stelle. Nur die Hände bestätigten die Schlankheit ihres Schlangenkörpers. Arlecq trug sie aufs Bett, Frau Cecilies Mädchenbett mit den Amoretten am Fußende. Ein Geraune weltpolitischer Alpträume in den Schlaf nehmend, rollten sich die Neuesten Nachrichten unters Bett. Sie gingen an diesem Abend nicht in die Galerie, auch nicht am nächsten und nicht am übernächsten.

Straßen. Die Brücke. Terrassen überm Flußufer. Der Himmel eine nach Farben abgestufte Himmelsleiter. Arlecq springt vom Turm der Frauenkirche, die Heiligen starren entsetzt. Das heißt Gott versuchen. Isabel rettet ihn. Arlecqs Verwandlung heißt Isabel. Die Heiligen auf den Kathedralen greifen sich väterlich in den Bart, den steinernen, von Pöppelmann mit dem Meißel ziselierten Bart, mit Regierungszuschüssen renovierten Bart.

Arlecq läßt sie vorangehen auf der Brücke im Mittagslicht. Ihr Haar schlängelt den Nacken hinab, tänzelt bis auf die Knöchel in der Bewegung ihres lautlosen Gangs. Auf dem Fluß bewegen sich träg breite Kähne. Da fallen zwölf Mittagsschläge über die Flußlandschaft, setzen auf Vogelschwingen ans Ufer, wo die Maler in den großfenstrigen Gebäuden ihre Ansichten zur Schau stellen oder mit gewissen Bezeichnungen unter Bildern von Mädchen, die Kühe melken, Männern, die pflügen, Arbeitern, die am Schraubstock stehen, für ihre Ausbildung sich erkenntlich zeigen.

Arlecq hat mit dem Morgenkaffee aus Frau Cecilies blauer, im Grund beblümter Tasse seinen Namen, der in der leeren Domecq-Flasche nicht zu ertränken war, wieder angenommen, um nicht als Phantom neben Isabel zu stehen, zu gehen auf dieser Brücke über die mittägliche Stadt. Ihn plagen schon hier, kaum für dies Dasein entworfen, die Sorgen des zukünftigen Romanciers, denn, so wägt er, indes Isabel sich im Winde wiegt, der aus dem Fluß steigt, so bedenkt er, sein Roman, so meint er, sollte in jedem Satz das Ganze sehen lassen, so wie im Samenkorn auch der Baum enthalten ist, mit allem, Stamm, Gezweig, Blättern, Früchten, Vögeln und Sternen. So wie Isabel alles mit sich führt, was sie verließ, andere Städte und Flüsse, Meersalz und Muscheln. So viel Blau über ihnen. Da sind ihre Augen Inseln, auf denen sein Blick ruhen kann vor diesem Blau. Ihre Nähe löscht aus, was dahinter ist, feinziselierte Kirchtürme im Blau, Brückengeländer, ihn selbst. Noch zittert der letzte Mittagsschlag über dem Fluß, bis ihn der Wind einlullt und unter Zärtlichkeiten davonträgt. Es ist in diesem letzten Ton, daß sich ihnen die Stadt entvölkert. Daß ihnen eine neue Sprache gegeben wird. Daß der dreizehnte Glockenschlag, der in einer Stunde erst über dem Fluß hängen wird, vorauseilt, sich im Herzschlag fortsetzt, spürbar, hörbar wie nach einem Schrecken, der alles Blut andrängte. Denn dieses Glück des Augenblicks erschreckt. Dann aber flutet es wieder und drängt durch den Korallenstrauch ihrer Venen. Ein unbändiges Glockenspiel hämmert hoch in die Schläfen. Dann löst sich Isabels Gestalt vom Brückengeländer. Dahinter sind wieder die Kirchentürme, ragend im Unendlichen, der Himmel wolkenlos, und die Stadt bevölkert sich.

Arlecq ist betroffen über die Gesichter, in die er sehen muß. Da ist ein schwangeres Mädchen, dessen Haut sich bläulich über Wangenknochen strafft. Sie hält eine Tüte mit Weintrauben in der Hand, aus der sie kleine Bündel Trauben nimmt und zum Mund führt. Ihre Augen schlitzen sich boshaft, wenn sie die Trauben zwischen die Zähne nimmt und abbeißt. Isabel prüft die Gestalt des Mädchens mit Widerwillen und geht schneller. So kann sie unmöglich Arlecqs Neugier für ein zweites Mädchen beobachten, denn Arlecq bleibt einen Schritt zurück, um ins Gesicht einer Fünfzehnjährigen zu sehen, in Schulmädchenkleidung. Ihr Haar windet sich zum Knoten, ehe es fließend den Nakken hinabfällt. Ihr Gang ist Selbstbeherrschung, nur die schmalen, von schmalen Mokassins geschnürten Füße tänzeln. Sie geht vorbei, und Arlecq vergißt sie. Isabels gelbes, mit schwarzen Blumen durchsetztes Kleid züngelt ihm voran. Wer wird ihr’s geschenkt haben, dieses Fähnchen, seine Fahne, der er folgt. Die Farben der Republik sollte sie tragen. Er hat schon immer wissen wollen, was es mit dem Violett auf sich hat. Rot mit dem Violett reifer Brombeeren auszutauschen, nur weil es die andern auch haben auf ihrer Farbe. In seinem Zimmer hat er ein Bild an der Wand, ein Erbstück, sein Großvater kaufte es, als er auch das Auto kaufte, den Willis wie aus einem Western. Auf dem Bild, das auf Arlecq gekommen ist, wird eine Häuserfront vor einem Platz gezeigt. Es regnet, der Platz gähnt in Grau und in Schwarz. Aber die Häuserfronten sind beflaggt, rotgelb-rot, die Farben der Großväter. Isabels Großmutter, wenn sie Pakete schickt, die alle nach Heno de Pravia riechen, vergißt nicht, eine Papierflagge, kleiner als für ein Kinderfest, aber rot-gelb-rot, ins Paket zu packen, als gelte es, so den General, der ihr Schwiegersohn ist, zu beschwören. Wohin beschwören? Dem General ist so viel Rot zuviel Rot, entweder alles Rot ohne Gelb, oder aus Rot Violett, anders, und er sieht rot wie der Stier bei Picasso, bevor er alle viere von sich streckt wie ein umgeworfener Tisch, auf dem, dreht man das Bild um, ein Stilleben blüht.

Violett reifer Brombeeren. Arlecqs Zunge hat das Wort behalten, als sie längst schon über der Brücke sind. Und noch, als sie, Arlecq über Rot und Violett nachsinnend, Standseilbahn fahren, hoch zum Weißen Hirsch, hoch wie zum Montmartre, meint Arlecq, der den Montmartre nur über Toulouse-Lautrec kennt, vielleicht noch über Gertrude Stein. Weil er, anders als Isabel, keinen französischen Paß hat. Brombeeren. Arlecq, soweit schon existent, zitierte an dieser Stelle nach seinem Großvater seinen Vater, als gälte es, einen Geist anzurufen; denn Arlecqs Vater gab seine Gebeine zur Ausgestaltung eines Schlachtfeldes, düngte damit einen friedlichen ukrainischen oder italienischen oder serbokroatischen Acker. Wahrscheinlich doch einen italienischen, was Arlecq vor allem mit dem deutschen Drang nach Süden erklärte. Schon Goethe. Auch Goethe. Nicht vorzustellen, in welchen Mahlstrom ein so simples Wort wie Brombeeren einen bringen kann, denkt Arlecq, indes er Hand in Hand mit Isabel, weich ineinandergeschmiegt, ineinanderschmelzend, die Mitfahrenden beobachten das mißmutig, hier ist nicht Paris, indes beide Standseilbahn fahren, unter ihnen der Abgrund. Immer noch Brombeeren. Arlecq erinnert sich endlich. Er hält sich mit der Linken an der Hand seines Vaters fest, indes beide Standseilbahn fahren oder auch Drahtseilbahn, einen anderen Berg anfahren, in einer anderen Gegend. Vorbei an Wänden, wild von Sträuchern, von Brombeersträuchern bewachsen. Schwarz sind die Beeren im August wie in den Märchenbüchern. Arlecq hat sie alle auf der Zunge der Einbildung. Als sie, oben angelangt, aussteigen, weiß er, daß ihn von nun an nichts mehr erfreuen kann. Nie, auch nicht unter den fantastischsten Möglichkeiten, wird er diese Brombeeren in die Hand bekommen, an denen die Bahn mit boshafter Langsamkeit sich hochseilte. Brombeeren der unerfüllten Liebe, Brombeeren der erfüllten Liebe. Deine Augen sind Brombeeren. Tienes moras en la cara, sagt Arlecq zu Isabel, die daraus ein Wortspiel knüpft, weil sie ihn nicht versteht, so nah wie sie zueinander stehen, ihn nicht begreift, seinen Kummer zu Wortspielen verbiegt. Brombeeren, die zu weit hängen. El moro eres tu, sagt sie. Arlecq kann nicht lachen. Er nimmt sich vor, sie besser zu lieben. Nur sie allein. Ein Romantiker, werden sie sagen, denkt Arlecq, in der helllichten Stadt des Jahres neunzehnhundertundsiebenundfünfzig. Hätte sein Vater ihm damals die Brombeeren pflücken können, mit schnellen, gewandten Fingern, wäre sein Arm so lang gewesen, vielleicht daß er seine Italiensehnsucht mit einer Marmeladenfabrik kompensiert hätte, und Arlecq wär heut sein Teilhaber und Millionärserbe, mit der Wünschelrute der Erfüllung, die aus Blüten Früchte macht, doch meist nur aus Mädchenschößen Kinder wachsen ließ. Wenigstens hatte hier die segensreiche Natur einen ewigen Trost gespendet. Letzteres konnte jeder mit seiner ihm von Gott auf die Welt gegebenen ureigenen Wünschelrute, Gott sei Dank, das konnte man, wenn es auch nicht für die Brombeeren langte. Sollten seines armen Vaters Gebeine in Frieden in italienischer Erde bleichen, wo ihm schon dessen Vater keine Brombeeren pflücken konnte, welche die Inflationszeit noch unerreichbarer gemacht haben wird. Arlecq, fest entschlossen, diese Genealogie nicht fortzusetzen, beschloß, indem er fragend jene Stelle betrachtete, wo man unter Isabels Kleid, Unterrock und Slip einen fündigen Boden erwarten konnte, keine Kinder haben zu wollen.

Dieser Sommer südlich der eigenen Stadt. Arlecq, in zwei Stunden mit dem Zug aus einer anderen Stadt gekommen, schwört auf die Liebe zu Isabel. Soviel Glück ist mit ihnen am Beginn ihrer Geschichte, daß sie im blauen Flirren der Luft auf Schritt und Tritt ein Heiligenschein einrahmt, den sie bitte ebenso tatsächlich wie rhetorisch nehmen wollen, meint Arlecq, und der aus ihnen etwas ganz Seltenes macht, das des besonders gearbeiteten Rahmens bedarf. Arlecq, dreiundzwanzigjährig, naiv, sentimental, romantisch, melancholisch, temperamentvoll mit Bedacht, die ganze Skala eines Liebenden, auf der jede und keine Markierung Gültigkeit hat, weshalb es mit seiner Charakteristik vorläufig dieses Bewenden haben muß. Maria Dolores, hier von Arlecq als Isabel vorgestellt, leider nicht nur auf Arlecq beziehbar; denn eine Fremde in fremdem Land, leicht und willig in ihrer Zigeunermelancholie (diese Termini von Arlecq entliehen) auszubeuten. Wer es auf sie absieht, appelliert dabei an sein besseres Selbst. Eine ungewöhnliche Geliebte macht ungewöhnlich. Goethe vor Mignon. Die klassische deutsche Konstellation. Denn der Einfluß unseres größten Dichters der Nation auf diese ist wahrlich bis ins letzte organisiert. Letzteres könnte Arlecq aus einem Kolleg seines Professors entlehnen, der, einst auf das Fallbeil in Plötzensee wartend, sich derer entsann, die der sanitären Erfindung des Dr. Guillotin entronnen waren, um die Fackel über die Jahrhunderte weiterzureichen, bis sie dann in den Köpfen der Semesterstudenten verglimmte. Den Fortschritt vom Katheder zu verkünden, wo man davon in der Zeitung lesen konnte, schien Arlecq noch im vorigen Monat zumindest an einer Stelle überflüssig zu sein. Dennoch war er, anders als Paasch, nicht durchs Examen gefallen.

So kann sich Arlecq an diesem Sommertag an der Seite Isabels mehr im Reiche der Mütter fühlen, wo es trotzdem Hunde gibt, denn sonstwo. Er denkt nicht daran, die Bastille zusammen mit seinem Professor zu stürmen und sich dafür den Nationalpreis zu holen.

Isabel in ihrer unverletzten Schlankheit fürchtet sich vor dem Mütterlichen, was verständlich ist. Ein wenig aber gibt sie doch davon in ihre Liebe zu Arlecq, von dem sie nicht weiß, was er eigentlich von ihr will, außer was alle; doch will jeder darüber hinaus noch etwas Bestimmtes, das sie, befragt, Liebe nennen würde.

Die Stadt im Blickfeld, sitzen sie und bestellen beim Kellner, dessen Gesicht so gut in gespielter Teilnahmslosigkeit geschult ist, daß es nicht verlohnt, den Blick über den Kragenrand seiner weißen Jacke wandern zu lassen, ein Mittagessen.

Weiß die Tischdecke, silbern das Besteck, weiß die Teller. Arlecq malt sich Frau Cecilies blaue Chinoiserien auf den Tellergrund. Seinem poetischen Gemüt ist so viel Weiß zuviel Weiß. Die Teller so in Porzellan aus der nahen Werkstatt Augusts des Starken verwandelnd, nahe, weil Meißen nur eine Wegstunde rechter oder linker Hand weit liegt, legt Arlecqs Geist zwei Jahrhunderte zurück, um als russischer Gesandter Graf Keyserling (sein Cembalist, der ihn abends in den Schlaf präludiert, heißt Goldberg) zu erscheinen. Doch dieser Keyserling am Dresdner Hof war ein Einzelgänger. Arlecq kann Isabel nicht in seine Verwandlung mitnehmen, weshalb er aus ihr, ins nächste Jahrhundert wechselnd, Chopins große Dresdner Liebe Maria Wodzinska macht, der er das Thema des Walzers in As-Dur, Opus 69, Nummer 1, auf die Serviette notiert. Aber das sollte auf einem anderen Blatt stehen, weshalb Arlecq den Deckel des Klaviers, keines beliebigen Klaviers, über seine Imagination fallen läßt. Denn so ein Thema, wie es gerade ein paar Haltestellen weiter im großen Trainingsraum der Tanzschule mit dem weltbekannten Namen gespielt wird, geht unter im Flußtal dazwischen. So wird es unterbrochen, ehe es noch einmal getanzt wird, gewiß von keiner Maria Wodzinska, im Silhouetten schneidenden Trikot getanzt wird, während nur den von einem Knoten im Nacken gehaltenen Haaren erlaubt wird, sich anders, als sie es will, zu drehen, zu spalten, bei den Pirouetten ins Gesicht zu peitschen, deren Energie um einiges größer ist als die des Walzers, der in Liebe geschrieben wurde. Wie soll man Liebe tanzen, die man nicht kennt.

Verblaßt sind Arlecqs blaue Chinoiserien aus Frau Cecilies Jungmädchentasse. Weiß die Tischdecke, silbern das Besteck, weiß die Teller. Schwarz Isabels Augen. Sie warten auf die Rückkehr des Kellners ohne Gesicht über weißem Kragenrand. Da schlägt es ein Uhr. Von den Kirchen und vom Rathausturm. Normal und ohne Hast markieren die Zeiger in den Glasgehäusen der Normaluhren ein Uhr. Versteckt, im geheimen, nicht ohne einen Anflug von hämischer Schadenfreude ragen die Zeiger auf in Arlecqs Armbanduhr unter der Manschette des weißen Hemds. Den Heiligen auf dem Gesims der Kirchen bröckelt kalkiger Staub von den Bärten, kaum daß sie sich von den Erschütterungen der zwölften Stunde erholt haben.

Sie sitzen über den Vorspeisen. Krebsschwänze, klein wie der Embryo im ersten Monat, ringeln sich auf ihren Tellern. Weißwein lockt mit der trügerischen Kühle eines glatten Meers in den Gläsern. Sandfarbenes Brot vertritt den Strand. Auch der Himmel über der Stadt ist der gleiche Himmel des Mittags wie über dem Meer, wo zur Stunde, niemand weiß es, keiner ahnt es, Arlecqs Freund Paasch hinter den Dünen ein Mädchen schwängert, gewiß nicht in böser Absicht. Arlecq und Isabel stoßen an, Isabels Hand ist am hellen Glas noch dunkler als zwischen den hellen Falten ihres Kleids, wenn sie geht, dunkel auf dem Weiß des Tischtuchs sind beide Hände, liegen ineinander, sind eins, wie Arlecqs Freund Paasch eins ist mit einem fremden Mädchen, indes ihre jeweilige Rechte das Glas wieder an den Mund führt, der Wein den Krebsschwänzen nachspült.

Was hat sie nur diese großen Augen. Er kann, so er möchte, die Augen aller Frauen seiner Familie betrachten, so weit das Familienalbum reicht, das bis auf die Urgroßmutter zurückgeht, die sich mit dreiundneunzig das linke oder das rechte Bein brach. Niemand hat diese Augen, aus Afrika mitgebrachte Augen, von einem arabischen Kupferschmied, den die Inquisition zu Recht verbrannte, listig im Feuer geschmiedete Augen, als Fluch seinen Kindern vermacht, daß die Flammen, die sie anzünden, auf ihren Besitzer zurückschlagen. Nur die Augen, ist alles zu Asche verbrannt, sind so fest geschmiedet, daß nichts ihnen etwas anhaben kann. Alle Kinder Isabels werden solche Augen als Mitgift haben. Schwarz wie Arlecqs Brombeeren der erfüllten und der unerfüllten Liebe.

Paseábase el rey moro
por la ciudad de Granada
desde la puerta de Elvira
hasta la de Vivarrambla

»Ay de mi Alhama!« Woher hast du nur all den Unsinn im Kopf, sagte Isabel. Du solltest Schullehrer sein. Wir hatten in Paris einen in der Klasse, der war genauso wie du. Dann ging er zurück nach Asturien, mit Gedichten für die Bergarbeiter, damit sie einen Streik machten. Aber die Guardia Civil sperrte ihn ein, noch ehe er den Mund richtig auftun konnte.

Wenn er inzwischen nicht vergessen hat, wie ein Baum aussieht, sagte Arlecq, ist noch Hoffnung für ihn.

Warum ein Baum, sagte Isabel. Er hatte noch nie eine Frau gehabt, als sie ihn einsperrten. Vielleicht, daß er darüber selbst die Revolution vergessen hat, die er in Asturien machen wollte.

Ein Baum oder eine Frau oder eine Revolution, sagte Arlecq, das ist manchmal alles dasselbe. Freilich, die Revolution, die Bäume im Sinn hätte, müßte wohl erst erfunden werden.

Du bist ein Phantast. Revolutionen sind zur Befreiung des Menschen. Frag meinen Vater.

Was ist ein freier Mensch ohne einen Baum, sagte Arlecq. Revolutionäre, wenn sie alt werden, leiden an Gedächtnisschwund. Wann haben sie euch eigentlich aus dem lieblichen Frankreich vertrieben?

Frag die dahinten, sagte Isabel und wies dem Blick mit einer Handbewegung die Richtung, vorbei an ihrer rechten Haarsträhne, über die Köpfe der hinter ihr Sitzenden, die gebeugt Suppe löffelten, Fleisch zerschnitten, kauend lachten, lachend kauten, essend sprachen, tranken, Knochenstückchen wie zufällig in die hohle Hand husteten, sich den Mund abwischten. Es war schwer für Arlecqs Blick, an ihren Augen vorbeizukommen. In Gesichter abgleitend, die Aufmerksamkeit verlangten, Blond von Mädchenhaaren, das Arlecqs von Isabels Schwarz versengten Blick kühlte, mußte er noch einmal zurück mit den Augen, um sich von neuem, von ihrer Hand verwiesen, auf den Weg zu machen, in Kenntnis diesmal der Hürden, die ihm auflauerten. Erreichte endlich das Hinterzimmer, der Dresdner spanischen Emigration an Montagen reservierte Raum, dem Isabel den Rücken zuwandte. Die Generalstochter hatte sich durch einen undisziplinierten Lebenswandel den Umgang mit den Spitzen der Dresdner Emigration verscherzt. Denn hier, im Exil, schätzte man einen intakten Ehrenkodex, wenn auch nicht mehr auf der Grundlage des Dogmas Philipps II., eher auf dem des XX. Parteitages der KPdSU, die eben dabei war, das B wie den Stalin abzulegen.

»Ay de mi Alhama!« sagte Arlecq und zerblies mit Zigarettenrauch das Bild, das sich ihm aus der Ferne bot. Die Emigranten als Vorhut internationaler Beziehungen. Die Gärung treibt sie in die Ferne. Eine Diktatur wird stets an der Qualität ihrer Emigranten erkannt, am Ende auch an ihrer Quantität. Ost zog nach West, West nach Ost, Süd nach Nord, Nord nach Süd. Er hatte voriges Jahr einen pakistanischen Emigranten kennengelernt, dem Nehru Asyl bot. Ein Land, das auf sich hält, tut etwas für seine Emigranten. Der Grad an Zuneigung zum Nachbarland, den ein Grenzübertritt erkennen läßt, sollte vergolten werden. Entsprechende Ministerien richten sich ein. Die Sache der Emigranten und der Emigration kommt zu den Akten. Dann vielleicht hocken sie in Vorzimmern, im Blickwinkel langbeinige Damen, die mit Papieren aus Türen kommen und in Türen treten. Trauernd auf der Wartebank sitzend, Zweifel, ob der Verzicht auf die kleinen Bedürfnisse des Lebens, die in ihrem Land einen andern Geschmack hatten, die Beharrlichkeit einer Ansicht nicht zersetzen kann. Wenn am Ende dann nur die Farbe der Nationalflagge, an Feiertagen aus dem Fenster zu hängen, eine andere wurde. Violett-Gelb-Rot anstatt Rot-Gelb-Rot. Auch wenn die Revolution ein Baum war und eine Frau und die Taube über den Wassern.

Einsatzfiguren, dachte Arlecq, als der Rauch zerstob, den Blick erneut freigab ins Hinterzimmer, wo der Mundo Obrero von Tisch zu Tisch ging und Reden geflochten wurden, die ins Brackwasser halbgeleerter Weingläser und Kaffeetassen sanken. Arlecq konnte den General sehen. Er verschwieg es Isabel. Still saß er. Allein. Schwarzer Blick, in dem sich nichts bewegte. Immer die Zigarette im Mundwinkel. Ein kahler Schädel. Die Hände in den Taschen seines violetten Anzugs aus dem GUM. »Ay de mi Alhama!« hätte er ihm zurufen mögen, Klage des maurischen Königs um sein Reich, Eure Idee scheint verloren, wo sie uns nicht gewinnen konnte, deren sie bedurfte, um mit Erfolg zu Ende geführt zu werden. Da sind an gleichen Tischen, in anderen Städten, andere Grenzen überschritten habend, Emigranten aus anderen Lagern. Doch konnten diese Sätze, erwog Arlecq, hier und jetzt auch gestrichen werden aus seinen Gedanken. Das war späte Rebellion gegen den obligatorischen Lehrstoff, den er mit bestandenem Examen besiegelt zu haben glaubte. »Ay de mi Alhama!« Zu Rauch zerblasen der General und sein Blick, Isabels Gesicht, nur nicht die Augen mit ihrem Anspruch auf Ewigkeit.

Drei haben die Uhren geschlagen, die auf Türmen und Kirchen den Heiligen und Vögeln die irdische Zeit künden. Drei Schläge der Vergänglichkeit. Denn Arlecq zieht zu allen Dingen Verbindungslinien, wirft über alles, was er sieht, hört, schmeckt, das Koordinatensystem seiner Vorstellungskraft. Gitterwerk oder Spinnennetz. Am Ende aber wird es ein Käfig. Arlecq also zieht seine Linien, drei Schläge im Ohr, die ihm die Liebe zu Isabel einteilen. Zieht eine Linie von der Uhrzeit hin zu Isabel. Wieder gleiten sie eng aneinander, die Rechte des einen in der Linken des andern, Spiegelbild einer dem andern, gleiten sanft wie auf Vogelschwingen den Berg hinunter zur Stadt. Schon, meint Arlecq, ist das hier Vergangenheit, ein Wunschbild aus dem Gestern. Dreiundzwanzig Uhr dreiundzwanzig, eine Narrenkonstellation des Fahrplans, fährt sein Zug aus der halbmondrunden Bahnhofshalle in eine, so hofft er, von Sternen signalisierte Nacht, den Lichtstern in ihren Augen suchend. Denn Isabel existiert, steht so nah vor ihm, daß seine Hände ihre Schultern fassen können. Er zieht sie zu sich, legt sein Gesicht an ihr Gesicht, löscht so alle anderen Gesichter aus. So fahren sie, in verschiedene Richtungen schauend, er ins Weite, sie ins Abteil. Isabel lächelt ihr feines Lächeln. Man weiß nicht, ob über Arlecqs große Liebe, ob über die Leute, die sanft, aber unwillig mit ihnen zu Boden gleiten. Arlecq glaubt sich Serafim über Sodom und Gomorrha. Aber er ist kein Vorbote. Er findet ein Sodom vor, auf das Feuer schon gefallen ist. Als Doppelwesen schweben sie zurück zur Stadt, Arlecq und Isabel, eins und doch nach verschiedenen Richtungen Ausschau haltend. Sieht der eine den Abend, entdeckt der andre den Morgen. Sieht der eine den gläsernen Horizont hinter Dächern zerbrechen, fahren die Blicke des andern zwischen Dächern, Giebeln, Häusern nieder. Die Bahn hält jäh, die sanfte Erschütterung löst sie voneinander. Isabel streift sich das schwere Haar aus der Stirn. In den Füßen spüren sie wieder das Gewicht des Körpers.

Hättest du einen Regenschirm, sagte Arlecq, so einen, wie mein Großvater aufspannte, wenn das Verdeck des Willis kaputt war und er bei Regen ausfahren mußte, dann könnten wir heut nacht damit aus deinem Fenster schweben.

In den Hof? Aber wenn du mich gut festhieltest, ginge es vielleicht ohne Schirm. Ich habe keinen. Regenwasser macht schön.

Ohne Schirm? Ich wußte nicht, daß du eine Hexe bist. Mir war schon immer, als hätte ich deine Personalbeschreibung in den Annalen der Inquisition gelesen. Im Archivo de Sevilla.

Schwindler, sagte Isabel. Du warst nie in Sevilla. Aber halt den Mund von solchen Sachen. Ich kann so was nicht hören. Arlecq sah sie an. Sie war blaß geworden. Bei uns in der Familie erzählten sie immer von einem Vorfahren, der verbrannt worden war, weil er Löcher in Hostien bohrte.

Mit dem Klassenkampf schwer zu erklären, sagte Arlecq und strich ein Zündholz über die Phosphorfläche. Isabel blies die Flamme aus.

Horizonte, in die Brücken eingezeichnet sind.

Der Sommer hat staubige Ränder. Die Straße am Flußufer ist kühler als die andern, vom Staub der Ruinen überzogenen, in den Kinder Gesichter zeichnen. Indes Isabel von ihrem Bruder erzählte.

Auch noch einen Bruder? sagte Arlecq. Das verstimmte ihn. Ja, sagte Isabel. In Paris. Im Gefängnis. Er hat einen erschossen. Hab ich’s dir nie erzählt?

Nein, sagte Arlecq. Ich hab nichts mit deiner Familie.

Ich auch nicht, sagte Isabel. Aber meinen Bruder habe ich schon immer gemocht. Also: In Paris drehten sie einen Film über Spanien.

Das macht sich immer gut, sagte Arlecq. Für die Gesinnung, meine ich.

Red mir nicht dazwischen, oder du kannst dir deine Geschichte woanders suchen. Also einen Film. Es war einfach für die Filmleute, Komparsen zu bekommen, die wirkliche Spanier waren. Soviel sie haben wollten. Du weißt nicht, wieviel Spanier es in Paris gibt, die nicht Picasso heißen.

Ich weiß, sagte Arlecq. Das ist etwa wie mit Marx und den Dogmatikern.

Das weiß ich nicht, sagte Isabel. Aber: die brauchten sie für eine Kriegsszene. Beide Seiten. Mein Bruder machte natürich auf der republikanischen Seite mit. Die andern, die für die andere Seite stehen mußten, verlangten doppelte Gage. Sie hätten sich sonst geweigert mitzumachen.

Eine rebellische Nation, sagte Arlecq.

Alle hatten Gewehre bekommen, die aber nur knallten und nicht geladen waren. Auf der Gegenseite aber war einer drunter, von dem mein Bruder wußte, daß er ein Verräter gewesen war. Als sie jetzt die Szene drehten und beide Seiten zu schießen hatten, schoß mein Bruder nach dem Verräter und traf ihn, denn er hatte sich ein richtiges Gewehr besorgt. Zuerst fiel es keinem auf, die Szene wurde zu Ende gedreht, denn einige sollten ja tot umfallen. Dann aber kam die Polizei. Sie sperrte ihn ein. Und jetzt macht er Strafarbeit. Wenn nicht so viele von den Geschworenen in der Kommunistischen Partei gewesen wären, hätten sie ihm keine mildernden Umstände zugebilligt.

Arlecq, im stillen, berauschte sich an der Geschichte. Ein Bühnentrick wie bei Moreto. Was aber hatte der General dazu gesagt?

Mein Vater, erzählte Isabel, ging nicht zum Prozeß. Den Zeitungsleuten sagte er zu Hause, das sei nicht der Weg zur neuen Republik. Diesmal ohne Blutvergießen. Das war auch das Programm der Partei. Aber es muß ihm schwergefallen sein, bei dieser Meinung zu bleiben.

Das glaube ich auch, dachte Arlecq. Ein General, der Tauben verkauft. Reine Tauben, weiße und graue, mit Augen, die wie die Fische die linke und die rechte Weltseite überblicken können.

Trägt dein Vater nicht immer einen Revolver in der linken inneren Tasche seines violetten Anzugs aus dem GUM? Hast du das nicht erzählt?

Du träumst. Warum sollte er einen Revolver tragen. Er kennt dich noch nicht, sagte Isabel und vergaß ihren Bruder über den Kinderzeichnungen auf der Straße. Sie lachte, lief zwei Schritte zurück, nahm einem der auf den Knien rutschenden Kinder die Kreide aus der Hand, malte mit flinker schlanker brauner Hand in Weiß auf dem Grau des Pflasters einen Engel mit weißbepuderten Haaren, der dahinschwebend ein Herz in seinen Händen balanciert wie ein übergroßes Tablett. Engel bringen das Gewünschte, sagte Arlecq zu den Kindern, die staunten, indes Isabel ein R und ein M in das Herz schrieb, ihr Herz im Staub der Straße (dachte Arlecq), das der Engel hostiengleich vor sich hertrug. Sie gab die Kreide zurück, die Kinder dankten. Isabel strahlte und war albern, wie es Klee nicht gewesen wäre, der keine Frau war, sondern ernst und ein Mann. Doch über das, was dann geschah, hätte auch er gelächelt, wie Gott lächelt, wenn er sich sonntags einen Spaß erlaubt und die Kobaltbombe erfindet. Denn was geschah? Es geschah, daß ein Leichenwagen, schwarz, silberwürdig, die Straße befuhr, daß Isabel sich bekreuzigt hätte, hielte sie in letzter Minute nicht die von ihrem Vater genossene republikanische Erziehung zurück. Ein Leichenwagen fuhr auf, ungebeten wie der Tod, daß es eine Unanständigkeit war an diesem Sommernachmittag im kühlen Schatten der Brückengeländer. Auf fuhr ein Leichenwagen denn, überfuhr den Engel, rollte glatt darüber hin auf abgenutzten Reifen, daß sich weiß die Reifen färbten mit Herz, Haaren, Initialen, alles mit ins Jenseits nehmend, endlich auch das R und M, A und O einer ganzen Liebe, eins gewesen in einem Herzen. Arlecq lächelte, wie Klee gelächelt haben würde, wie Gott lächelte über einen Spaß des Papstes Pius XII. alias Pacelli.

Qué mal agüero, sagte Isabel, ergriffen bis ins Innerste. Vielleicht muß ich jetzt sterben, Roberto, oder du wirst mir untreu, oder ich werde dir untreu, und du mußt sterben. Eine andere Möglichkeit gibt es nicht.

Oder aber du bekommst ein Kind, sagte Arlecq.

Diesmal freilich versagte die Erziehung. Isabel bekreuzigte sich heftig.

Daran habe ich nicht gedacht, sagte sie. Das kommt auch in Frage. Mein Gott.

Dann noch die Milchbar im Winkel zum Fluß. Mondkühle sonnensüße Getränke für Isabels Durst. Die Maschine quirlt die Mixtur in hohe Gläser, ein Lächeln präsentiert die Getränke. Arlecq stülpt alles Hartgeld aus seiner Jakkentasche in die hohle Hand, dann auf die Kunststoffplatte der Bar. Die Münzen spiegeln sich auf der Platte. Hinter der Theke wird das Lächeln immer von neuem betätigt wie ein mechanischer Sonnenaufgang. Sei ein Mann, der mich glücklich machen kann, sagt das Lächeln oder das Radio oder sagen die kleinen Mädchen mit den grünblaugelbroten Kleidern und den unruhigen Füßen hinter Arlecq und Isabel, die süße Milch und das Radiolied abwechselnd einsaugt, indes über dem Fluß rechts der Brücke ein zitronengrüner Mond die links untergehende Sonne verfolgt. Die langbeinigen Mädchen, die in der Schule mit dem berühmten Namen am Vormittag nach Chopin noch die Schritte des Boleros, Ravels Bolero, schwankend im Rhythmus interpretiert vom Hauspianisten, geübt haben, bezähmen ihre Neugierde nicht, als sie Isabels schnellen Zigeunerrhythmus hören.

Isabel, die keinen Bolero tanzen kann, verdächtigt Arlecq, Augen zu haben für jene eine, Mondblasse. Das straff gekämmte Haar fällt ihr zur Schlinge geflochten locker in den Nacken, berührt die schmalen Schultern, wenn sie den Kopf bewegt. Noch sind Arlecqs Blicke so leicht, daß eine Kopfbewegung dieser einen genügt, sie abgleiten zu lassen. Sie hat beide heute mittag gesehen, oder eigentlich nur: ihn, auf der Brücke, die jetzt von Sonne und Mond flankiert wird. Arlecqs Augen, ausgebrannt von Isabels Blicken, blind geworden für andre Augen, die nicht Isabels Augen wären, gleiten an ihrem Gesicht vorbei. Gegenwart, die Zukunft wird, Teil einer noch unnotierten Geschichte. Isabel, Gegenwart, die schon Vergangenheit ist.

Mit ein paar Gesten, Worten bindet Isabel ihn wieder an sich. Die Mädchen, die Isabel beobachten, sind jetzt alle, außer einer, überzeugt, daß Isabel den Bolero tanzen kann. Sie, die eine, seit drei Wochen den elterlichen Ansprüchen entkommen, wagt eine stumme Liebeserklärung. Dann erheben sich die Mädchen in weißgelbrotblauer Eintracht. Durch die hohen Fenster, die rötlich spiegeln, ist sie als letzte, sie, die eine, Mondblasse, noch zu sehen, hätte Arlecq Augen für sie.

Comme tu es belle, sagt Arlecq zu Isabel.

Fünf schlagen die Uhren der Stadt. Arlecq ertränkt fünf Schläge in einem Schnapsglas. Dann gehen auch sie.

Es ist die überstürzte Kaskade eines Jazzpianos, die da durch die dünnen Wände von Frau Cecilies Wohnung schlägt. Dem schwerhörigen würdigen Ohr der alten Dame (auf deren Jungmädchenbett Arlecq liegt und die Amoretten betrachtet, rauchend), dem alten Ohr der schwerhörigen Dame, zu dem das Radio mit der Kaskade gehört, klingt es gerade nur säuselnd wie ein Schubertsches Moment musical, was eine Generationsfrage ist. Arlecq ist es recht. Die leere Domecq-Flasche im Auge, an den Händen den Geruch nach Heno de Pravia, Seifenschaum aus Isabels Waschschüssel mit dem angeschlagenen Rand wie in drittklassigen Hotels mit Blick auf den Hinterhof. Sie hat es sich nicht nehmen lassen, ihm warmes Wasser in einem metallnen Kessel aus Frau Cecilies Küche zu bringen, eine Dienstfertigkeit, die Arlecq bis ins Unerträgliche gerührt hätte, wäre da nicht die pianistische Kaskade Oscar Petersons. Darauf dann, nach der hemdsärmligen Überleitung Joe Chudacs, Chefsprecher bei AFN im Jahre neunzehnhundertsiebenundfünfzig, denn nichts anderes hörte, durch Schwerhörigkeit von jedem Verdacht einer Sympathie mit den nordamerikanischen Imperialisten freigesprochen, Frau Cecilie, dann also Frank Sinatra. Und ehe Isabel den Tee bringt, ausgerechnet auch noch Doris Day mit Sentimental Journey, dem Bildungsschlager der Nachkriegsgeneration. Erkennungsmelodie eines gewissen Stanislaus bei Geschäften auf dem schwarzen Markt von Frankfurt. Main natürlich.

Isabel indessen bereitet den Tee, säubert Frau Cecilies blaublümige Tassen, setzt deren zwei aufs Tablett, daß Frau Cecilie, in die Küche kommend, den Sachverhalt sofort über- und durchschaut. Ihr Verlobter? fragt sie, ein Lächeln im Gesicht, das Poesiealben aufblättert, gepreßte Blumen und Gräser in die Küche streut.

Ja, sagt Isabel schnell. Er ist auf Landurlaub und fährt morgen zurück zu seinem Schiff. Er ist Matrose. Sie wissen das doch. Jetzt war er in Afrika.

Frau Cecilie besinnt sich wie immer nur mit Mühe, weshalb sich Isabel in der Berufswahl ihrer Verlobten eine Großzügigkeit leisten kann, bei der die Plankommission (wie Arlecq vergleicht) sogleich in die Zeitung käme. Heute also ein Matrose, und warum nicht, ein hübscher Beruf, so gesund auch, wie Frau Cecilie bemerkt, und so viel Blau ist in der Küche, die Kacheln, die blaubeblümten Tassen, da bleibt der Fantasie kaum Raum für andere Berufe.

Ein Matrose, seufzt Frau Cecilie. Das ist was Rares. Den halten Sie sich mal gut, Kind.

Isabel nickt heftig wie ein Schulmädchen. Ein Gespräch mit Schwerhörigen intensiviert auch die Zeichensprache.

Isabel, das Tablett balancierend, wie der Kreideengel das Herz balancierte, das zerrädert längst samt Engel den Friedhof erreicht hatte, abstraktes Liniengewirr zu einem konkreten Leichnam, Isabel kam aus der Küche. Sie hatte es bunt beladen, ihr Tablett, rote Paprikaschoten zu blassem Käse, Weißbrot zu schwarzem Tee, Äpfel und Pflaumen aus dem Laden an der Ecke.

Frau Cecilie wünscht dir einen guten Appetit, sagte sie.

Oh, sagte Arlecq und nahm eine Tasse vom Tablett. Wäre sie die fünfte Witwe von Johann Melchior Ding linger, der dem starken August das goldene Kaffeegeschirr fabrizierte, hätte sie zu ihren Wünschen ein Präsent geschickt. Wir nehmen’s auch so an.

Hatte er denn fünf Frauen? Isabel verriet eine Schwäche für Familiengeschichten.

Mehr noch. Auch dreiundzwanzig Kinder. Und als er auf dem Böhmischen Friedhof begraben wurde, geleiteten ihn vierzehn Karossen zur Gruft, kein so häßlicher Leichenkarren wie der, der uns vorhin deinen Engel aufleckte wie Zitroneneis.

Hör auf davon. Und dreiundzwanzig Kinder! Du lügst bestimmt.

Zum Glück starben ihm die meisten vorzeitig. Seine Frauen übrigens auch. Es muß mit der Kunst zusammenhängen. Die Heiligen waren auf seiner Seite, weil er ein so großer Künstler war, daß sie ihm die Frauen immer dann sterben ließen, wenn er genug von ihnen hatte, sagte Arlecq und goß Tee über die blaue Blume cecilianischer Romantik.

Die Blumenblätter schimmerten feucht aus dem Grund, daß er nicht wagte, sie mit dem Löffel zu berühren. In der Moderne, sagt er, haben wir ein ähnliches Beispiel in Gottfried Benn, der es freilich, da er kein so großer Mann war wie Dinglinger, auf nur drei Frauen brachte, wenn ich nicht irre.

Du wirst es zu keiner bringen, sagte Isabel, wenn du jetzt nicht Mund und Augen zumachst, damit ich mich umziehen kann.

So trinkt Arlecq seinen Tee am Fenster aus, die Züge ritterlicher Diskretheit wahrend, die ihm Isabel vor Frau Cecilie verlieh. Sich plötzlich umdrehend, denn er wandte den Dingen nicht gern den Rücken zu, saß in keinem Lokal mit dem Rücken zur Tür, seinen Instinkten folgend Kopf und Rücken wendend, vergißt er den Tee und die Blumen, den Tag, die Stunde, Dinglinger und so fort. Isabels nacktes Braun, seltsam verschwimmend mit den Gegenständen, die es umgeben und alle im weichen Licht des Spätnachmittags miteinander in Beziehung treten. Und Arlecq vor Isabel, von Haus aus gut katholisch, stirbt den Kreuzestod der Begierde, fährt hinab zur Vorhölle und aufersteht zu den Seligen, begrüßt vom bronzenen Flügelschlag der Amoretten auf der Empore zum Riesenrad. Das Rad dreht sich, kreist dem Mond zu, schwebt ab in Dreck und Licht und Geschrei der Vogelwiese, ein paar Fetzen Drehorgel mitnehmend zur neuen Wendung. Doch kühl bleibt der Mond auf der Höhe. Isabels Haut friert unter dünnem schwarzem Kleid.

Längst haben die Uhren erneut geschlagen in der Stadt. Wer ihre Schläge nicht wahrgenommen hat, wie Arlecq, mit Isabel beschäftigt in Frau Cecilies Jungmädchenbett, kann ihre Konstellation am milchweißen neonblauen Zifferblatt der Rathausuhr ablesen. Arlecq aber kann auch das nicht, den Blick verloren im Mond, Isabels Küsse tun das Ihre, wenn sich ihre Gondel über das Rund des Jahrmarkts hebt. Fallend, wie schon einmal fallend auf Serafim-Flügeln, nimmt Musik und Geschrei sie auf. Angelangt auf der Rampe des Riesenrads, reichen sie dem Mann im offenen Hemd Geld zur neuen Runde und beobachten die Figuren des Orchestrions, die weniger die Musik als der eingebaute Mechanismus zucken läßt. Oder ist es denn doch die Musik, der sie folgen müssen? Arlecq streift en passant das Wechselverhältnis von Materialismus und Idealismus angesichts dieser verwirrenden Figuranten, denen die Farbe vom hölzernen Gesicht blättert.

Der Mond erwartet sie auch diesmal reserviert. Seine scharfen gelben Ränder schneiden Isabel durchs Kleid. In ihrem Zimmer hat sie dicke Vorhänge, die ihm den Eintritt verwehren. Zwischen den Schaubuden reibt sich Strom an Gegenstrom. Isabels und Arlecqs Hände verbeißen sich ineinander, daß sie nicht getrennt werden. Arlecq, im ungewohnten Element, ist unsicher. Der Sprung zur Seite, auf die Rampe einer neuen Verheißung, rettet sie ins Glück des Autoskooters. Die blauen Funken eines kalten Höllenfeuers knistern über ihnen wie ein Himmel aus Seidenpapier. Isabels Augen, abgrundtief geweitet vor Vergnügen, locken die Fahrer der andern Wagen in die Irre. Arlecq hat doppelte Mühe, dem Verderben auf ihrer Bahn männlich konzentriert auszuweichen. Noch vor Beginn der neuen Fahrt in dem eisenbeschlagenen blauumfunkten Rechteck halten ihnen Gestalten mit verwegen aufgesetzten Hüten schmutzige Hände vors Gesicht, auf die Arlecq Münzen häuft.

Sie gleiten in Schlangenlinien durchs Rechteck, die Wagenantenne zaubert ihnen das Universum einer Milchstraße, sie kreuzen im Viereck, kreisen, fahren rückwärts, wagehalsig als einzelne im Gegenstrom, werden in die Zange genommen, mit dumpfem, bis in die Hände am Lenkrad erschütterndem Anstoß angehalten. Aber da entweicht schon der Strom aus der Leitung, eine Sirene haucht den Ton aus, der Kerl im Hut hält ihm die Hand vor die Augen, die Arlecq beiseite schiebt, um Isabel beim Aussteigen behilflich zu sein und mit ihr von der Rampe in die Menge dem Vergnügen Ausgelieferter zu springen. Ihre Hand – aber Arlecq läßt sie fahren, streift sie ab, eine plumpe, kurzfingrige Hand mit einem dicken Ring am Mittelfinger, dazu ein zwar langhaariges, leuchtend geschminktes Geschöpf, lächelnd, einladend lächelnd, mit gefährlich vorgewölbter Brust. Aber nichts von alledem ist Isabels, das nicht Isabels schmale Hand, an die er da geraten, die Isabels Schwester im Fleische ist, nichts mehr. Arlecq dreht sich in Verzweiflung um sich selbst, sieht einmal links Gesichter, rechts Rücken, dann rechts Gesichter, links Rücken, immer wieder die gleichen Gesichter, die gleichen Rücken. Wo ist Isabels von einem gelben schwarzbeblümten Kleid eingefaßte Gestalt. Dreiundzwanzig Uhr dreiundzwanzig schlagen die Uhren des Bahnhofs wie auf Verabredung.

Arlecq hat durch des Zufalls gnädiges Wirken, das ein Taxi am Ausgang der Vogelwiese bereit hatte, den Bahnhof erreicht. In letzter Minute, nach einer entsetzlich entsetzten Fahrt durch die vom Bombenhagel ausgeräumte Stadt, in der, abwechselnd mit dem Mond, die blaue Rathausuhr wacht. Isabel hat sie in gleicher Richtung längst mit der Straßenbahn durchquert. Denn sie vertrug keinen Abschied, keine Szenen am Bahnhof, seit sie ihren Vater zum Estado Mayor, ihren Bruder ins Gefängnis verabschiedet hatte, ihre Brautmänner zurück in ihre Berufe und Stände, Matrosen aufs Schiff und Dachdecker auf ihre diversen Dächer, Arlecq in eine andere Stadt.