image

Sabine Peters

Singsand

Zwischen Beer Sheva
und Bethlehem

image

Wie nebenbei, eine kleine Folge von Tönen. Sie scheren sich um nichts. Es ist auch nichts da. Absolute Leere.

Es gibt aber doch Sinne? Sie warten, verharren gespannt. Gedehnte, ins Zerreißen gedehnte Wachheit. Die Leere umfaßt alles. Gewalt, in sich selbst gefangen, alles umgreifend, wortlos, ganz und gar undurchdringlich. Ungewiß, ob aus solcher Dichte sich Töne befreien könnten.

Der Tonfaden hat keine Wahl. Er kann nur entstehen wie nebenbei. Als sei er nicht recht da, zumindest nicht ganz ernst zu nehmen. Wie nebenbei nur ein paar Laute. Sie scheren sich um nichts, sie gehen voran, als wüßten sie nicht. Sie gehen einfach vorwärts. So kinderleicht. Es ist ja auch ein Kinderlied, das Mozart für Klavier gesetzt hat. Nur ein paar Noten, nicht mal eine ganze Oktave. Mehr braucht es nicht als die paar Noten, um anzufangen, wie nebenbei. Oder nein. Ja: Sie waren immer schon da. Immer schon da, die Schritte der Töne. Der Trotz.

Winzige harte Kerne an einer Schnur. Natürlich wissen sie, sie sind zerstörbar. Sie scheren sich um nichts. Sie halten zusammen. Ein Ton nimmt einen anderen bei der Hand. So vielleicht erklären sich die Wiederholungen.

cc gg aa g ff ee dd c. gg ff ee d. gg ff ee d. cc gg aa g ff ee dd c.

Beiläufige Wechselrede. Bist da? Bin da.

image

Ah, vous dirai-je. Ah, das werde ich Ihnen sagen. Der Trotz des französischen Kindes. Die Liedertöne reisten durch Europa, sie wurden mit unterschiedlichen Texten versehen. In Schweden sprach das Lied von funkelnden Sternen. In Deutschland kam der Weihnachtsmann. Ah, vous dirai-je. Ein Kind als ein einziger Widerspruch. Winzige harte Kerne.

Töne unterwegs, von A bis Z. Irgendwem ist es mal eingefallen, die Melodie mit dem Alphabet zu unterlegen. Es würde ein singendes Lernen sein. Sechsundzwanzig Zeichen. Mit Hilfe dieser sechsundzwanzig Zeichen die Welt buchstabieren: Das wäre die Arbeit des Schreibens. Widerspruch: Es käme darauf an, die Welt ganz anders zusammenzulesen. Daher die zwölf Variationen.

Zwölf ist eine gute Zahl. Stunde der Geister, Mitternacht. Beschwörendes Singen der Buchstaben, die alle Zeit der Welt haben. Die schließlich auch ganz anders aussehn können, Schrift ist nicht Schrift.

Diese einfachen Töne, dieses umfassende ABC soll die Reiselektüre sein und das Reiselied. Wie beiläufig laufen die Töne fort.

image

Das ist eine Krisenregion! Was hast du da verloren?

Das ist ein ganz normales Land. Kein Grund zur Angst.

Glückliche Reise euch beiden!

Du kommst in die Sonne. Das Ministerium bezahlt dir Ferien und Strand und Sand. Vielleicht sogar Kamele. Unsereins rennt unterm Regenschirm durch die Pfützen zur Arbeit.

Zu den Verrückten da unten würden mich keine zehn Pferde bringen. Auch wenn ich hundertmal den Paß habe. Lieber United States.

Wir beten für euch.

Die Welt ist mehr als der Flecken! Peinlich, wie alle Deutschen ausgerechnet auf das Land starren. Und ich sage dir, das ewige Gequatsche über Bombe hier und Sprengstoffgürtel da und Truppen rein und raus, das ist vor allem eins: langweilig.

Jetzt ist die schönste Jahreszeit da unten. Außerdem: Man kann sich auch den Hals beim Duschen brechen.

Du mußt nicht bei jeder Demonstration in der ersten Reihe mitlaufen.

Bringst du mir einen Granatapfel mit? Wüstensand? Musik?

Fahrt auf keinen Fall mit einem Bus. Und immer viel Wasser trinken!

Schreibst du mir mal?

Schreib keine Post, schreib auf.

Der Geldumtausch ist günstiger direkt vor Ort.

Eben haben sie wieder mit einer Vergeltungsaktion gedroht.

Es gibt ganz andere Krisengebiete. Häng es nicht so hoch.

Grüß die Freunde. Komm gut wieder.

Was hast du da unten überhaupt vor?

image

In case of an accident please inform my husband / my wife … Please inform my sister / my daughter … Thank you.

Wahrscheinlich überflüssig. Wer weiß.

image

Regen rauscht im Rheiderland, an der nordwestdeutschen Küste. Wolkenbrüche überziehen die Äcker, Felder, Straßen, das Dorf Ditzumerverlaat. April. Marie von ihrem Schreibtisch aus sieht Regensträhnen, sie fließen draußen am Fenster nach unten. Rinnender Wasservorhang. Auf der Oberfläche des Kanals, des Tiefs, wie man hier sagt, werfen die auftreffenden Tropfen Blasen. Ein Bisam rudert von einem Ufer zum anderen, das Maul voll Halme. Material fürs Nest. Der Garten ums geduckte Haus wartet auf Sonne. Regen entblättert die Kamelienblüten. Schwarz vor Nässe sind die Stämme von Pflaumen- und Quittenbaum. Auf der anderen Seite des Tiefs umstehen Ulmen einen Bauernhof. Starre Äste, reglose Knochen. Windbewegte Strichelchen die kleinen Zweige. Im Garten halten die grünen Tulpen sich aufrecht. Rupert geht krumm, er hat sich noch kurz vor der Reise den Rücken verrenkt. Marie muß Antibiotika schlucken. Der Arzt gibt beiden Schmerzmittel. Sie packen, er für eine, sie für fünf Wochen. Ruperts kleine Reisetasche ist schnell fertig. Marie kniet vor dem großen Koffer, wickelt platzsparend Mitbringsel ein. Reisen, sich reduzieren auf einen Kern. Sich schmal machen, um dann im Fremden Neues aufzunehmen, sich auszudehnen. Die beiden sehen noch mal nach Maries biegsamem Baum, der struppigen zähen Weide draußen im nassen Versteck am Deich im Schilf, und nach den Schwänen im Kolk. Auf dem Polderweizen gibt es zur Dämmerstunde ein Hasengetümmel.

Die Swiss-Air fliegt am Ostersonntag Hamburg–Zürich–Tel Aviv, Abflug um 7.20, Ankunft 14.45 Ortszeit Tel Aviv.

Frühmorgens teilt am Gate ein Bildschirm mit, der Leib des Papstes werde von Wächtern geschützt während der Messe, eine kugelsichere Weste lehne er ab. Urbi et orbi, der Stadt und dem Erdkreis ein Segen. Draußen taubenblaue Dämmerung, Flutlicht. Drinnen Kittelfrauen mit Putzwagen, Trauben von Stewardessen, Flugbegleiterinnen, gähnende Laptopträger. Die könnten hier auch Liegen aufstellen, zur Rückenschonung, zur Thromboseprophylaxe, anstatt überall Werbung für Medizin aufzuhängen, findet Rupert. Marie schlägt ihm vor, einen Gang durch die Halle zu machen, was für ihn schon wegen der Werbung nicht in Frage kommt, die ihn überall anblafft. Sie dachte, es ginge um seinen schmerzenden Rücken, beide seufzen gereizt. Im Waschraum der Frauen steht ein schwarzbärtiger Turbanträger. Marie sagt sich, er wartet auf seine kleine Tochter.

Sie nimmt den Fensterplatz im Flugzeug. Draußen das Schreiten einer Krähe, als sei der Vogel taub. Was will er auf dem Flugfeld finden. Und jetzt das langsame Rollen, Marie und Rupert Hand in Hand, das rollende Rasen und auf in die Lüfte, wohin der Mensch nicht gehört, glaubt man Ovid und den Metamorphosen. Nicht mal aufs Wasser gehörte der Mensch, als die Zeiten noch golden waren und keine Bäume als Boote ins Wasser stiegen. Die Sonne bescheint jetzt Städte und Felder, Berge, Flüsse, Gerechte und Ungerechte. Außentemperatur bis zu minus 60 Grad. Eiskristalle vor dem Fenster bilden Muster. Die beiden lesen Zeitung, staunen runter auf die Wolkendecke, fummeln an der Verpackung des Essens, schneiden und löffeln. Alles Ablenkung, hetzt Marie später, daß man nur nicht grübelt über die Schwimmweste. Wo die Maschine doch gerade ein steinernes Meer überquert. Immer mit der Ruhe, sagt Rupert. Du bist doch schon geflogen. Auch nach Israel.

Nie wollte sie nach Israel.

image

Artist in residence. Das Center for German Studies der Universität Beer Sheva/Negev und das niedersächsische Ministerium für Wissenschaft und Kultur bieten Autoren die Möglichkeit eines bezahlten Stipendiums. Vier Wochen freie Zeit, für das, was einer sucht in Israel.

Was hast du da verloren?

Nichts, sagte Marie viele Jahre lang. Und klappte den Mund wieder zu.

Kolonnen gestreifter Leute ziehen vorbei. Die Leute heben Gruben aus. Sie füllen Erde in andere ausgehobene Gruben. Schließlich ist alles wieder flach. Das Orchester baut sich auf. Der Dirigent hebt den Stab, das Orchester setzt ein. Es spielt auf einem einzigen Ton die Schläge der Uhr, und nach zwölf kommt eins. Das Horn bläst die Verlorenen. Der Jäger im grünen Wams legt sein Gewehr an. Alles, was sich jetzt regt, ist freigegeben.

Es wäre dumm, ein israelisches Stipendium nicht anzunehmen. Außerdem war Marie schon einmal im Land, Herbst 2001, im ersten Jahr der zweiten Intifada. Rupert hatte dort zu arbeiten auf den Spuren von Bruno Schulz, sie hatte ihn begleitet. Lieber zusammen untergehn als ihn alleine lassen, sie reisten geflügelt Hand in Hand, eine emotionale Entscheidung, auch melodramatisch kann man sie nennen. Sie fielen nicht aus der Welt. Und auch in Israel kam es so wie in anderen Ländern. Sie fanden Leute, einige wurden Freunde. Die meisten von ihnen, Schüler von Bruno Schulz, waren sehr alt. So würde es, sagten sie sich, auch jetzt wieder eine Reise in unterschiedliche Zeiten werden.

image

Eben noch unten blitzende Wolkenfelder, tief darunter karstige Berge, schon sehen sie ein dunkel türkises Meer, Inseln, winzige weiße Segel, eine rötlich wirkende Küste, dann sind da die Flachbauten um den Flughafen Ben Gurion. Schon winkt der Taxifahrer Izak, den sie noch von der letzten Reise her kennen, er wird sie wie abgesprochen zu seinen und ihren Freunden nach Jerusalem bringen. Draußen dicke wäßrige Wärme, sie schnappen nach Luft. Auf schwingenden Straßen geht es hoch in die alten Berge zur alten Stadt. Rauschen in den Ohren. Die Seelen flattern irgendwo weit hinterher. Rupert fragt nach einem Jungen, der draußen eine Schafherde vorübertreibt. Araber, sagt Izak, oder ein Jordanier. Ein Schafsjunge. Jetzt spielt er mit Tieren. Bald spielt er mit Sprengstoff.

Jerusalem, Stadtteil Beit Hakerem, das Reich-Hotel kennen sie noch von der ersten Reise, edler Schmuddel, ein freundlicher kleiner Familienbetrieb. Und weiter zu Fuß, durch einen leicht ansteigenden Park. Zwischen Löwenmaul und Steinen und Bewässerungsschläuchen nimmt eine Eidechse ein Bad im untergehenden Sonnenschein. Else, sagt Rupert, wie geht es dir? Immer möcht ich auffliegen / mit den Zugvögeln fort / buntatmen mit den Winden / in der großen Luft. An der großen Kreuzung Kikar Dania, Denmark Square, sehen sie wieder die dunkle Skulptur, den Bootsrumpf, er erinnert an die Rettung dänischer Juden durch dänische Fischer im Oktober 1943. Sie gehen am Rand einer der städtischen Schnellstraßen bergauf und einen Boulevard hoch, dann kommt die Bank für Ruperts Rücken. Sie rauchen eine Zigarette.

image

Zvi und Mascha Vogel leben in Israel seit fast fünfzig Jahren. So sagen sie es. So nickt man dazu. Zvi wird in Wien geboren 1921. Er verbringt Kindheit und Jugend im galizischen Drohobycz. Sie flieht eines Tages aus Paris. Es kann einer dort oder dort geblieben sein lebenslänglich. Zvi, klein gebückt, große Ohrenhand, schwerhörig horcht er. Er unterbricht seine Frau, die sich erkundigt nach dem Flug, die ihren Gästen Komplimente macht. Er sagt: Nicht wollen die Ohren noch hören. Also spricht er. Von daher. Weil die Ohren nicht hören wollen, darum muß der Mund reden. Sein Mund redet so und so, verzweifelt, lustig, auch Sachliches sagt der Mund, gibt Informationen weiter. Der Mund weiß. Jeder, der Zvis Gast ist, kann sehen, welche Mühe es ist für die Ohrenhand. Und was es für eine Arbeit ist für den Mund. Die eigenen Ohren können das eigene Wort nicht verstehen, das gibt es. So liegt die Muschelhand am Muschelohr. Mascha trägt ihrem Mann das Hörgerät nach. Zvi legt es beiseite. Maries Stimme ist zu hoch, und Ruperts Lippenbewegungen sind unterm Schnurrbart schlecht zu deuten. Mascha und Zvi verstehen sich, polnisch, französisch, wortlos. Mit ihrer einzigen Tochter in Tel Aviv, erklärt Mascha auf englisch, sprechen sie Polnisch oder Ivrit, schön ist die Tochter, klug, begabt, ohne Arbeit. Sie hat schon vor Jahren mit ihrem Kind ihren Mann verlassen. Um mit einer Frau zu leben. Sehr schlecht und nicht klug und nicht schön, flüstert Mascha zu Marie und hat nichts gesagt. Zvi muß sie falsch verstanden haben, das kann selbst ihm passieren. Der älteste Sohn lebt mit Frau und Kindern in den USA. Physiker wie sein Vater. Mascha nimmt ein Foto von der Wand, hier gibt der Sohn Bush Junior die Hand, er hat viele, comme on dit, er hat viele Fähigkeiten. So viele Fähigkeiten, unterbricht ihr Mann, daß er nie kommen konnte. Zuletzt war er vor zwei Wochen hier. Es war schön. Der Sohn war aber nicht lange genug da. Mascha zeigt viele Familienbilder. Washington. Die beiden zu Gast beim jüngeren Sohn in Paris. Alle zusammen in Jerusalem. Zvi sagt: Hier spielte der Enkel bei uns Klavier. Auch mein Urenkel war hier. Ein Säugling. Zart. Aber laut war er in der Nacht, starke Stimme, wir konnten nicht schlafen. Hier seht ihr die ganze Familie, letztes Jahr war es, im Saal von dem Hotel, in dem Marie und Rupert jetzt wohnen, der ganze Saal war voll mit Familie. Wir waren mehr als fünfzig Menschen. Die Nazis erreichen ihr Ziel nicht, sehr traurig ist es für sie. Bruno Schulz, Maler und Autor in Drohobycz, der arbeiten muß für die Nazis, Bruno Schulz, mein seltsamer Zeichenlehrer, wird von der SS erschossen. Die Filmemacher wollten mein Wissen über Bruno Schulz ganz genau hören. Ich war wie Greta Garbo so wichtig für sie! Mein Leben war aber nicht so schwer wie ein Film von der Liebe. Es geht einfach, solch ein Erschießen. Was die SS für Menschen sind, wer will es sagen. Sie tragen wertvolle Uniformen. Die Zahl derjenigen, die tätig sind, Saujuden auszurotten, ist um vieles höher als die Zahl der SS, der Sicherheitspolizei von Himmler, der Einsatzkommandos. In Drohobycz gibt es nur zweiunddreißig Mitglieder der Sicherheitspolizei. Was sind zweiunddreißig Polizisten gegen sechstausend Juden, die sie in Vernichtungslager abtransportieren. Zwölftausend werden im Ghetto gepackt und erschossen im nahen Bronica-Wald. Zweiunddreißig Himmlerleute sind mächtig, aber nicht mächtig genug, nicht genug Leute, das große Werk auszuführen. Sie nehmen Hilfe von ukrainischer Miliz. Auch Garnisonssoldaten, Schupos, Feldgendarmen, Feuerwehrleute nehmen teil. Wenn es gibt eine Aktion. Wie Himmler sagt in einer Direktive: Keiner muß. Wer es nicht schafft mit der Seele, die nötige, aber peinliche Reinigung auszuführen, darf frei an die Front. Ich weiß nicht, wie oft sie die Direktive nutzen. Aber ich sehe im Versteck, wie Feldsoldaten Kinder bei den Füßen fischen. Sie schleudern sie in Lastwagen. Was machen sie mit den Müttern? Ich weiß nicht. Ich glaube, Männer, die sich so benehmen, werden später im Zivil Verbrecher sein. Aber es gibt in Österreich und Deutschland keine Kriminalprobleme. Friedliche Leute. Das ist interessant. Viele sind sympathisch, haben zu Hause Freunde, Familie, Nachbarn, Kollegen. Die Nazis können es nur so gut mit dem Völkermord machen, weil Juden überall verurteilt sind. Ein Jude ist ein Saujud, Israel ein Saustaat. Niemand weint ehrlich, wenn der Islam Millionen Israelis ausradiert. Ihr seid aber unsere Freunde. Ihr sollt verzeihen mein schwaches Deutsch, ein Analphabet bin ich, ich stoße mir die Zunge an neun Sprachen. Lesen und Schreiben nützt nicht. Was war in der Zeitung heute wieder. Wie die Welt uns sieht als Nazis. Bin ich nicht immer noch blau in den Augen? So kann ich mit falschen Papieren gehen als polnischer Offizier. Sie glauben mir, teils teils. Wie ich bewundere das große dritte Reich und deshalb freiwillig nach Deutschland gehe. Zu arbeiten bei Bauern. Blond und blau ist gut. Stramm gehen ist wichtig. Schön gerade. Immer weiß ich, welchen Lebensweg ich als Pole gehe. Immer finde ich Erklärungen gegen polnische Nazis. Sie wollen einen aushorchen. Da bin ich klüger und schneller. Hopp, hopp. Bin ich kriegserfahren als Offizier? Bin ich nicht. Muß ich einen Grund finden, warum denn nicht. Ich hab also studiert. Wo? In Lemberg. Da ist der polnische Nazi auch Student gewesen. Sagt er. Ich frag ihn schnell, kennst du auch den Professor wieheißter, mit Kreuzbeinen der Kleine, der zuckt um den Mund? Sicher kennt der Pole ihn. Er lügt. Professor Soso ist erfunden. Der Pole fragt nicht mehr soviel. Er muß auch was verstecken. Lügen und betrügen lernen. Immer habe ich ein Alibi. Ich schlage schnelle Kurven. So sind die Juden überall. Es geht nicht anders. Sie machen uns zu Juden. Frag Mascha, sie ist als Russin geboren und geht als russisches Kind nach Paris. 1926 war es, sagt Mascha, die Großmutter blieb bei den Sowjets, ich ging mit den Eltern, ich war erst Russin, dann Französin. Mehr wußte ich nicht. Es war ein verrückter Krieg. Ich war im Lazarett, wo junge französische Männer starben. Einer nannte mich Françoise. So viel half ich ihm. Comme on dit? Du tröstest ihn, sagt Zvi, er hört, sie ist Jüdin, da schreit er voll Haß. Er war voll Wut, sagt Mascha, bevor er starb. So muß man sich gerade halten, sagt Zvi, immer schön gerade halten gegen die schlechte Rede. Nicht wollen die Ohren noch hören. Sehr müde wird man, sagt er, kein Stück Müdigkeit ist in mir jetzt, wo ihr bei uns seid.

Marie versucht dem Redefluß zu folgen. Zvi wechselt zwischen Deutsch und Englisch oft mitten im Satz. Aber das ist es nicht. Sie horcht den Sätzen nach. Feldsoldaten fischen Kinder bei den Füßen. Der Sohn war vor zwei Wochen da. Die Zeit ist umgedreht. Marie fängt an zu schwitzen. Zvi ist 2000 Kilometer weiter in Drohobycz.

Um ihn und Mascha spätabends zu umarmen, muß sogar Marie sich bücken. Zvi warnt die beiden freundschaftlich. Heute geht ihr in Jerusalem zu meiner Tür hinaus zurück in das Hotel. Viele, viele Freunde und Bekannte sind geklettert über meinen Balkon, aus meinem Fenster, heimlich, ich rede und rede und es gibt kein Ende.

image

Wünschet Jerusalem Glück: Sicher seien deine Gezelte! Friede herrsche in deinen Mauern, so sagt es der Psalm. Wörtlich übersetzt heißt sie die Stadt des Friedens, sie wird besungen, beschworen, sie ist eine alte umkämpfte Stadt, wird besucht von Juden, Christen, Muslimen, von Touristen aus aller Welt. Jetzt sind hier kaum Besucher. Marie und Rupert fallen auf. Welcome, billiges Taxi, günstiger Schmuck, guided tours, where are you from, Germany, guten Tag.

Die Stadt und das ganze Land spüren das Fehlen der Gäste. Unabhängig davon, ob man die Fremden mag, ob sie aufdringlich sind und vorlaut oder freundlich und interessiert, ihr Geld fehlt. Die großen, für Hunderte Busse angelegten Parkplätze am Fuß der Festung Massada, am See Genezareth, am Mittelmeerhafen Jaffa, vor den Toren der Stadt des Friedens stehn leer.

Jerusalems Tore. Marie und Rupert gehen durchs Damaskustor ins muslimische Viertel. Sie fallen auf mit Haut und Haar und Kleidung. Sie werden Teil des Gewimmels, man nimmt sie hin.

Und tausendundeine Nacht und tausendzwei Tage und tausenddrei Leute, wirbelndes Durcheinander, Vielfalt und Fülle. Das stille Brodeln der Wasserpfeifen, alle Farben bei Früchten und Teppichen, der klingende silberne Schmuck, die Echos der Mudschaheddin, der Duft der Gewürzhügelchen auf den Ladentischen, das Pinkergeräusch bei Schustern, die Blut- und Wasserlachen vor Fleisch- und Fischläden. Schwaden Faules, Süßes, frisch duftende Kräuter, die lauten Rufe der Händler, das Feilschen, Sonneneinfall und tiefer Schatten, ein Schieben und Drängen, überfüllte grünblauundrot gemusterte Karren werden gezogen, geschoben, Stickluft und Windhauch, Stufen nach irgendwohin, Labyrinth, Dunkelheit, Dichte, immer unerwartet ein Ausblick. Die Dächerlandschaft, Wassertonnen und Satellitenschüsseln, aufgehängte Wäsche, träge sich blähend, in Tontöpfen kleine trockene Stauden, weiß staubiges Licht. Katzen gähnen in die Sonne. Und wieder zurück in Gänge, ins Halblicht eintauchen, Gassen, beschattet von Tor- und Hausbögen, Gänge, überdeckt mit Planen aus Plastik. Passagen. Sie steigen hoch zu einem Café am Damaskustor, ruhen aus. Tee mit Minze und türkischer Kaffee. Der Ausblick ins Tausenderlei. Das Drängen und Schieben der Leute um Stände und Läden, einer trägt auf dem Kopf ein türgroßes Brett, auf dem liegen gestapelt plastikverpackte Hemden, einer schiebt einen der blaugrünundroten dreirädrigen Karren, voll beladen mit Schachteln. Schulmädchen in Uniformen trödeln in kleinen Gruppen, eine aufrechte Alte trägt ihre Einkäufe auf dem Kopf davon, einer schwingt ein Tablett an drei schmalen Ketten, verkauft an Passanten Gläser mit Saft, kein Tropfen schwappt, und israelische junge Soldaten, grün uniformiert, bahnen sich ihren Weg, nehmen Raum ein mit großen Gesten, mit den Maschinengewehren, die baumeln locker von ihren Schultern. Die Leute weichen den Soldaten aus, sie gehen ihren Geschäften nach. Man sieht Schleier, Galabayas, man sieht die grünen Uniformen. In der ganzen Bewegung, in all dem Fließen der Leute ist auf der anderen Seite der Gasse plötzlich ein Ruck, rasch, ein Soldat tritt ein Kind, schnell, scharf. Es fällt um. Und noch mal. Der Tritt gegen den liegenden Jungen, zack. Niemand rührt sich. Kein Schrei. Absolute Leere, die alles umfaßt, eine Gewalt, in sich selbst gefangen tonlos, wortlos, dann geht die Zeit wieder weiter, die Umstehenden machen weiter. An den Cafétischen fragen die Leute sich gegenseitig. Was war das? Hat der Junge getreten, geschlagen, geschrien, gespuckt? Das runde Gesicht beschämt. Der getretene Junge steht auf. Marie und Rupert gehen weiter.

Belebte enge Straßen, überall Läden, Stände, Gespräche, Handeln. Sie geraten in Gassen ohne Läden und Stände, ohne Leute. Sie verlieren ihre Richtung. Schmale Treppen führen irgendwohin, hinauf, hinunter, Haustore sind eisern streng verschlossen. Katzen laufen geduckt. Dann stehen, lehnen, hocken kleine Kinder in der Gasse, Fünfjährige, Sechsjährige. Einer kauert auf einer Schwelle, schlägt auf ein Tor. Ein Trommeln, das sagt nicht, mach auf. Ein Trommeln als Nachricht woanders hin. Der Junge sieht die Fremden an. Er schlägt noch heftiger gegens Metall. Kein Spiel. Andere Jungen tauchen auf, Kinder in seinem Alter. Sie rempeln die Fremden an. Einer sagt zur Frau: Fuck you, leise, sehr scharf. Die Fremden gehen schneller, lassen die Kinder hinter sich. Etwas saust zack durch die Luft. Ein Stück zusammengedrehter Draht trifft Maries Fußknöchel.

Es ist nicht der Knöchel verletzt.

Abends sind beide bei einem Übersetzer zu Gast. Marie kennt ihn seit einem Aufenthaltsstipendium in Ghent, New York, sie wechseln regelmäßig E-mails. Wie findet ihr Jerusalem, möchte der Übersetzer wissen. Marie beschreibt die beiden Vorgänge. Sie bittet um Entschuldigung für dummes Fragen. Der Übersetzer grinst, sie sei ganz die Alte von früher. Marie fragt: Was kann ein Kind wissen? Wenn die Welt ihm zweigeteilt scheint in Unterdrücker und Unterdrückte, dann haben weiße Fremde, israelische Zivilisten oder Soldaten in dem muslimischen Viertel nichts verloren. Was wußten die Kinder, die wir getroffen haben?

Ich wünschte mir, sie wüßten, sagt Rupert, wie es sich anfühlt, gesund zu sein, geliebt und geachtet zu werden. Im übrigen weiß jedes Kind von Feinden. Eine Nachbarin, die gegen Kirschdiebe schreit, ist ein konkreter Gegner. Wir waren abstrakte Gegner für diese palästinensischen Kinder. Deren Wissen sagt ihnen, Fremde mit diesem Haar, dieser Haut, dieser Kleidung gehören auf die Seite der Soldaten. Solches Wissen, solche Erfahrungen hat man den Kindern von allen Seiten beschert. Mehr wissen sie vielleicht nicht.

Der Übersetzer sagt, ihr seid naiv. Es interessiert mich einen Dreck, was diese Kinder wissen, nicht wissen, wissen sollen, erfahren haben. Sie sollen sich benehmen. Diese Kinder, von denen ihr schwafelt, werfen auch Steine. Wißt ihr nicht, daß Steine töten? Ihr seht im europäischen Fernsehen Bilder, unsere Soldaten gegen arabische Kinder. Glaubt ihr, das macht uns Freude? Ihr seht nur die eine Seite des Kriegs. Wir sind die ersten, denen die Integrität genommen wird. Sie zwingen uns zu hassen. Sie zwingen uns in die Steinzeit zurück. Sie machen uns häßlich. Ihr redet von Kindern. Der Übersetzer winkt ab. Kind heißt nichts.

Zack. Drahtwörter.

Einen Tag später sind Marie und Rupert bei Moshe Bibermann an der Uni in Tel Aviv. Sie kannten seine Eloquenz und Intellektualität aus seinen Büchern. Sogar noch Moshes Empörung, nachdem sie ihm erzählt haben, ist druckreif. Marie soll sich nicht entschuldigen. Diese Kinder sind Individuen, mit allem, was es bis hin zum geschichtlichen Kontext impliziert. Wer ihnen ihr Kindsein und ihr Menschsein abspricht, dehumanisiert sie. Euer Bekannter und seinesgleichen frönen der Freund-Feind-Dichotomie. Sie suhlen sich in patriotischem Schlamm. Sie leugnen fortgesetzt das Leid derjenigen, die leben müssen unter der Okkupation. So selbstgerecht wie larmoyant rollen sie ihre Augen zum Himmel, und sie beklagen voll bigottem Selbstmitleid den gegen sie gerichteten Abscheu. Wie soll ich mich nicht aufregen? Ein schönes Kollektiv, in dem ich lebe. Ich rede über meine Seite. Ihr habt eine Schrittfolge aus einem bösen pas de deux gesehen. Zwei rettungslos Aneinandergekettete. Die eine Seite zeigt der anderen und umgekehrt nichts weiter als: Ich kann dir weiter Schmerz zufügen.

Und in den europäischen Nachrichten auch dieser Tage wieder tausendfach Gehörtes. Sprecherstimmen ohne Emotion. Zunächst die Übersicht. Israel. In Israel sind heute wieder. Kamen heute ums Leben. Rissen mit sich in den Tod. Wurden heute getötet.

Jerusalem heißt übersetzt die Stadt des Friedens.

image

Und wieder ist da die weiße Mauer zum Klagen. Wieder wachsen unbegreiflich Krautbüschel aus Stein. Wieder ist der Himmel über Jerusalem beinahe weiß.

Eine Schwarzgekleidete kauert auf den abgewetzten Stufen der Altstadt, hält die Hand auf, schaukelt sich. Verschleierte Frauen tragen ihre Säuglinge waagerecht vor sich. Um auf der abschüssigen Gasse einen der grünblauundroten Karren zu stoppen, stemmt ein Junge sein bißchen Körpergewicht auf ein brüchiges plattes Bremsrad, zieht gegen den hochbeladenen Karren an. Türme von Apfelsinenkisten. Soldaten machen daneben Pause, reden miteinander und in die Handys, der Händler sieht durch sie durch. Beim Kistenstapeln fallen ihm Apfelsinen runter, ein schwarzer Soldat bückt sich und hebt sie auf. Sekundenlanger Augenblick zwischen zwei Leuten. Rupert und Marie gehen vorsichtig weiter ins Tief der Gassen und kleinen Läden. Ein Fischverkäufer scheucht eine Katze von seinem Stand, die springt in den nächsten offenen Laden, in dem ist Geschirr aufgebaut. Panischer Händler mit Besen, panische Katze mit nichts als sich selbst, will sich retten, hangelt von Brett zu Brett, tatzt Hindernisse aus dem Weg, zerklirrt das Geschirr, in Nullkommanichts ein Schaden von wieviel Schekeln. Schräg gegenüber winkt ein Mann Marie und Rupert zu sich zum Tee. Sie sitzen in einer Runde auf Schemeln, der Mann fragt Rupert, ob er Wasserpfeife rauchen möchte? Gleich sieht Marie neidisch und bang, wie sie ihn auf dem Rücken wegträgt, sich im Gassenlabyrinth elend verläuft und Schluß Aus Ende. Der Mann sagt Rupert, drei Züge sind genug, wenn du es nicht gewöhnt bist. Rupert fragt, dürfen Frauen auch rauchen? Unsere tun es nur zu Haus. Mit fremden Frauen ist es etwas anderes. Er schiebt die Pfeife zu Marie, legt ein Kohlestückchen nach. Sie zieht am Mundstück. Kein Kratzen im Hals, weicher Geschmack, und warm. Der Mann lächelt sie an und sagt noch einmal, nicht zuviel. Schön langsam. Schön langsam trinken sie den Tee aus, reden, fragen, wie es den Männern hier geht. Die sehen vor sich hin. Einer sagt, Geduld. Schweigsam rauchen sie, gleichgültig, wie abwesend. Vielleicht ertragen sie die Lage nur mit Hasch.

Schön langsam gehen die beiden weiter, aus den überwölbten Gassen ins Offene, kauern auf einem Treppenabsatz. Mehr von diesem Stoff zu rauchen wäre nicht gut gewesen. So war es gerade genug. So fühlt es sich rund an. Sie schweben. Marie sieht neben sich in Steinritzen Ameisen bei der Arbeit. Sie döst ein kinderleichtes Lied in allen Weltsprachen und etwas von Verbrüderung der internationalen Ameisen. Rupert schüttelt sich zuerst. Jetzt ist es weg, sagt er. War schön.

image

Spiegelbrille. Baseballcap über den letzten dünnen grauen Locken. Harte Jeans um alte Hüften gezurrt. Um seine Turnschuh-Füße liegt die Kamera mit sämtlichen Objektiven, sie wird nicht fallen, keiner kann sie stehlen. Der Fotograf sitzt mit Marie und Rupert auf der Terrasse des Hotels. Erwin Krinsky, Jahrgang 1929, ist noch einer aus Drohobycz, noch einer, der als Zeitzeuge über Bruno Schulz befragt wurde. Erwin wechselt nicht wie Zvi mitten im Satz die Sprache, er bleibt bei Englisch.

Marie erinnert sich. Als Rupert ihn während der letzten Reise wiedersehen wollte, fuhr er mit ihnen nach Nabi Samwill, in den Nordwesten Jerusalems. Da starb Samuel, und ganz Israel versammelte sich und hielt um ihn die Totenklage, und man begrub ihn in seinem Hause zu Rama