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Manfred Osten

»Alles veloziferisch«
oder
Goethes Entdeckung
der Langsamkeit

Zur Modernität
eines Klassikers
im 21. Jahrhundert

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Inhalt

Vorwort
oder Goethe als Berlinverweigerer

1. Kapitel
»Alles veloziferisch« – Faust und die beschleunigte Zeit

2. Kapitel
Homunculus oder die Entschleunigung der Zeit

3. Kapitel
Ottilie: Die Verweigerung des »Veloziferischen«

4. Kapitel
Stillstand der Zeit: War Goethe ein Mohammedaner?

Homunculus – gezeichnet von Max Beckmann:
Goethes optimierter Mensch

Anmerkungen

Literaturhinweise

»Der Gruß der Philosophen untereinander sollte sein:
Laß Dir Zeit!«

(L. Wittgenstein)

VORWORT

oder
Goethe als Berlinverweigerer

I.

Die Erfahrung moderner Beschleunigungsturbulenzen im Zeichen des Fortschritts hat Walter Benjamin (in seiner Deutung von Paul Klees Bild Angelus Novus als Engel der Geschichte) auf die Formel gebracht: »Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert. Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen. Aber ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, daß der Engel sie nicht mehr schließen kann. Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst.«1

Die Vorboten dieses Sturms sind früh registriert worden. Die Ungeduld als die Quelle allen Unglücks hat der französische Philosoph Blaise Pascal (1623-1662) in seinen »Pensées« (im Kapitel »Größe und Elend des Menschen«) dingfest gemacht mit den Worten: »Ich habe entdeckt, daß alles Unglück der Menschen von einem einzigen herkommt: daß sie nämlich nicht verstehen, in Ruhe in einem Zimmer zu bleiben.« Pascal gewann diese Einsicht aus der fortschrittsorientierten Fluchtbewegung seiner Zeitgenossen vor dem Innewerden ihrer selbst. Als Quelle dieser Fluchtbewegung hatte schon der englische Philosoph Francis Bacon (1561-1626) die Überstürztheit des menschlichen Verstandes diagnostiziert. Ein Syndrom, das allerdings auch der Antike bekannt war; immerhin findet sich im König Ödipus des Sophokles die Warnung: »Und schnell zu denken, König, leicht ist es zu schnell.«

Jetzt, 1620, im Novum organum, dem Entwurf einer erneuerten Naturphilosophie, verlangt Bacon, »daß man einstweilen sich von seinen [dem sich überstürzenden Verstand geschuldeten] Begriffen befreie und versuche, mit den Dingen selbst vertraut zu werden«.2 Der sich selbst überlassene Verstand neige nämlich gegenüber den Phänomenen zu vorschnellen Verallgemeinerungen. »Daher soll man den menschlichen Geist nicht mit Flügeln, sondern eher mit Bleigewichten versehen, um so jedes Springen und Fliegen zu verhindern.«3 Die flügelschlagenden Akzelerations-Tendenzen des Verstandes kritisiert wenige Jahrzehnte später auch der englische Staatstheoretiker und Naturphilosoph Thomas Hobbes (1588-1679). In seinem 1651 erschienenen Leviathan definiert er die Ungeduld des Verstandes als Neugierde und beschreibt diesen Defekt kurzerhand als eine Art »Gefräßigkeit«, als »rastlose Begehrlichkeit der Seele«4.

Daß diese »rastlose Begehrlichkeit der Seele« dann ein Jahrhundert später – durch den im Zeichen seiner »Aufklärung« ruckartig weiter beschleunigten Verstand – offenbar die mittlere Reisegeschwindigkeit des Handelns und Denkens gefährlich erhöht hatte, läßt sich ablesen an einem Aphorismus Lichtenbergs (1742-1799): »Es gibt zwei Wege, das Leben zu verlängern: erstlich daß man die beiden Punkte geboren und gestorben weiter voneinander bringt und also den Weg länger macht; diesen Weg länger zu machen, hat man so viele Maschinen und Dinge erfunden, daß man, wenn man sie allein sähe, unmöglich glauben könnte, daß sie dazu dienen könnten, einen Weg länger zu machen; in diesem Fache haben einige unter den Ärzten sehr viel geleistet. Die andere Art ist, daß man langsamer geht und die beiden Punkte stehen läßt, wo Gott will, und dieses gehört für die Philosophen; diese haben nun gefunden, daß es am besten ist, daß man zugleich botanisieren geht, Zickzack, hier versucht über einen Graben zu springen und dann wieder herüber, wo es rein ist und es niemand sieht, einen Purzelbaum wagt und so fort.« Offenbar hielt Lichtenberg eine allgemeine Akzeptanz der langsameren Gangart bereits für so wenig wahrscheinlich, daß er seine Entdeckung der Langsamkeit als reine Privatangelegenheit betrachtete, die es zu sekretieren galt, um sie ungestört dort zu praktizieren, »wo es rein ist und es niemand sieht«.

Daß man langsamer gehen sollte, ist auch Goethe früh in den Sinn gekommen. Goethe, der auf seine Weise über Gräben gesprungen ist, der botanisierend im Zickzack ging und Purzelbäume gewagt hat. Wohlgemerkt dort, wo es niemand sieht. Denn Goethe wußte, daß das langsame Gehen spätestens seit der Französischen Revolution passé war und daß der Lebensrhythmus sich seitdem dramatisch beschleunigt hatte. Ein Epochenbruch, der sich für ihn bereits im Mai 1778 ankündigte. Damals – in Begleitung seines Herzogs Carl August – nahm er in Berlin Quartier Unter den Linden 23, im L’Hôtel au Soleil d’Or. Man wollte ein wenig spionieren; moderater ausgedrückt: Man wollte sich vorsorglich informieren in Sachen Kriegsgefahr im Bayerischen Erbfolgekrieg. Hatte Preußen bereits eine Entscheidung getroffen, oder bereitete man sie erst vor? Im Klartext also die Frage: Bestand Gefahr für die mitteldeutschen Fürstentümer, in neue kriegerische Aktionen zwischen Preußen und Österreich verwickelt zu werden?

Goethe, der sich zeitlebens als »ein Kind des Friedens« verstand, hatte schon 1766, während der Leipziger Studienjahre, über Berlin irritiert notiert, »daß jetzo in ganz Europa kein so gottloser Ort« zu finden sein möchte. Und Reisepläne nach Berlin hatte er 1775 gegenüber Anna Luisa Karsch, der Deutschen Sappho, ironisch mit dem Satz kommentiert, daß »er gleich gern Lot und seine Hausgenossen in ihrem Sodom wohl einmal grüßen möchte«.

Nun aber, im Mai 1778, muß er sie doch grüßen, nolens volens, die Hausgenossen in ihrem Sodom, und er sieht sich hier »an der Quelle des Kriegs [...] sizzen in dem Augenblick da sie überzusprudeln droht«. Ihm gelingen tiefe Blicke in das große Uhrwerk künftiger Kriege, an den Ort, wo dann später die Drehbücher zweier Weltkriege geschrieben werden. Und er notiert: »von der Bewegung der Puppen kan man auf die verborgnen Räder besonders auf die grose alte Walze TR [...] schliesen die diese Melodieen eine nach der andern hervorbringt.«5 Goethe erkennt vor allem »an der Quelle des Kriegs« die Tendenzen der Übereilung, das, was er später als das »Veloziferische« bezeichnen wird.

Um so mehr wird Goethe dann den Maurermeister und Komponisten Zelter bewundern, der in diesem »neuen Babylon« lebt und es doch versteht, sich nicht zu zersplittern. Ein Babylon, dem Goethe (wie er gegenüber Zelter bemerkt) künftige »Abenteuer« zutraut, »die ich zu bestehen nicht den Mut habe«. Schon in ruhigen – weniger noch in unruhigen – Zeiten sollte man nicht nach Berlin streben: »Wer einmal darin steckt, mag schwimmen und waten wie es gehen will.« Während Goethe sich noch als Repräsentant einer Epoche versteht, in der »Werden, Frieden, Nähren, [...] Kunst, Wissenschaften, Gemütlichkeit, Vernunft« überwiegen, sind für ihn in Berlin bereits die Parameter der veloziferischen Epoche präsent: »Benutzen, Krieg, Verzehren, Technik, Wissen, Verstand«. Zelter aber, dem Goethe das brüderliche Du anbietet, sieht er als Fels der alten Epoche in dieser alles fortreißenden Flut: »Ich begreife nämlich kaum, wie ihr, hastig lebend, so viel genießend, euch gränzenlos zerstreuend, doch noch nebenher auch wieder für’s Leben sorgen könnt.«

Zelter erscheint hier als Zeitgenosse einer sich abzeichnenden Tragödie der Übereilungen, deren Gespenster Goethe nicht aus der Vergangenheit, sondern aus der Zukunft auf die Menschheit zukommen sah. Und der am weitesten vorgerückte Vorposten dieser Gespenster-Zukunft war für ihn die Stadt Zelters, dem er am 6. 6. 1825 anvertraut: »alles aber mein Teuerster, istjetzt ultra, alles transzendiert unaufhaltsam, im Denken wie im Tun. Niemand kennt sich mehr, niemand begreift das Element, worin er schwebt und wirkt, niemand den Stoff, den er bearbeitet. [...] Junge Leute werden viel zu früh aufgeregt und dann im Zeitstrudel fortgerissen; Reichtum und Schnelligkeit ist, was die Welt bewundert und wornach jeder strebt; Eisenbahnen, Schnellposten, Dampfschiffe und alle mögliche Fazilitäten [Erleichterungen] der Kommunikation sind es, worauf die gebildete Welt ausgeht, sich zu überbieten, zu überbilden und dadurch in der Mittelmäßigkeit zu verharren.«

Es sind pessimistische Worte im Zeichen der genannten sechs Gespenster »Benutzen, Krieg, Verzehren, Technik, Wissen, Verstand«, denen Zelter durch Tüchtigkeit widerstand. Das durch ihn repräsentierte Handwerk erschien Goethe jedenfalls als eine der letzten verbliebenen Möglichkeiten, die Gangart zu verlangsamen.

II.

Franz Kafka hat hundert Jahre später diese Möglichkeit nicht mehr erkennen können. Die Fähigkeit des Widerstehens gegen die »so schnell aufeinander zueilenden Mauern« des Jahrhunderts tendierte bereits gegen null. Kafka, der das Tempo seiner Zeit bereits mit einem Paradoxon als »stehenden Sturmlauf« bezeichnete, hat 1920 in der kurzen Parabel Kleine Fabel die Empfindung fataler Ausweglosigkeit und Ohnmacht gegenüber einer Änderung der »Laufrichtung« gleichnishaft artikuliert: » ›Ach‹, sagte die Maus, ›die Welt wird enger mit jedem Tag. Zuerst war sie so breit, daß ich Angst hatte, ich lief weiter und war glücklich, daß ich endlich rechts und links in der Ferne Mauern sah, aber diese langen Mauern eilen so schnell aufeinander zu, daß ich schon im letzten Zimmer bin, und dort im Winkel steht die Falle, in die ich laufe‹. – ›Du mußt nur die Laufrichtung ändern‹, sagte die Katze und fraß sie.«

Eine Ausweglosigkeit, die auch Nietzsche schon in den Unzeitgemäßen Betrachtungen heraufkommen sah. Unter dem Eindruck einer rasanten Zunahme des Wissens antizipiert er die Risiken der künftigen naturwissenschaftlich-technischen Zivilisation der »überstolzen Europäer« mit den Worten: »Du rasest! Dein Wissen vollendet nicht die Natur, sondern tötet nur deine eigene. Miß nur einmal deine Höhe als Wissender an deiner Tiefe als Könnender. Freilich kletterst du an den Sonnenstrahlen des Wissens aufwärts zum Himmel, aber auch abwärts zum Chaos.«6

Eine Talfahrt des »Rasens« zum »Chaos«, die auffällig erinnert an die kurzgefaßte Handlungsformel der Faust-Tragödie, die gleich zu Beginn – im Vorspiel auf dem Theater – angekündigt wird mit einer ähnlichen Richtungsangabe: »Vom Himmel durch die Welt zur Hölle«. Auch bei dieser Talfahrt steht die Ratio des Menschen im Verdacht, der eigentliche Quellgrund der von Hobbes bereits zitierten »rastlosen Begehrlichkeit« zu sein. Mephisto jedenfalls meint ganz offensichtlich diesen Defekt, wenn er gegenüber Gott (im Prolog im Himmel) kurzerhand dessen Geschöpf, den Menschen, als korrekturbedürftig kritisiert: »Hätt’st du ihm nicht den Schein des Himmelslichts gegeben; / Er nennt’s Vernunft und braucht’s allein, / Nur tierischer als jedes Tier zu sein.«

Und was Francis Bacon im Novum organum gegenüber der Überstürztheit des menschlichen Verstandes gefordert hatte, nämlich die Ratio »nicht mit Flügeln« zu versehen, »sondern eher mit Bleigewichten [...], um so jedes Springen und Fliegen zu verhindern«, dies macht auch Mephisto dem Schöpfer des »Himmelslichts« zum Vorwurf, indem er den Menschen vergleicht mit einer »der langbeinigen Zikaden, / Die immer fliegt und fliegend springt / Und gleich im Gras ihr altes Liedchen singt; / Und läg’ er nur noch immer in dem Grase! / In jeden Quark begräbt er seine Nase.«

III.

Andeutungen hat Goethe bezeichnet als »Miene, Wink und leise Hindeutung«7. Goethe hat Andeutungen geliebt, und man findet bei ihm durchaus Andeutungen einer schwarzen Anthropologie im Zeichen der Übereilung, der Ungeduld. Diesen Andeutungen Goethes vor einem sich verdunkelnden Hintergrund soll in den folgenden Kapiteln nachgegangen werden. Dies gilt nicht nur für den Faust. Auch am Beispiel anderer Werke der Spätzeit, anhand der Wahlverwandtschaften und des West-östlichen Divan, soll kursorisch verdeutlicht werden, welche Zukunft Goethe auf uns zukommen sah. Eine Zukunft, von der Grillparzer im März 1849 (in dem Gedicht Der Leopoldsritter8) behauptete: »Der Weg der neuen Bildung geht / Von der Humanität / Durch die Nationalität / Zur Bestialität.« Goethe hatte diese Prognose schon im 5. Akt von Faust II gewagt. Denn dort werden – mit der Ermordung von Philemon und Baucis – metaphorisch jene »Überreste des Altertums« eliminiert, die für Goethe den Beginn der Barbarei aufgehalten hatten im Sinne seines Verdikts: »Wir würden ja noch in der Barbarei leben, wenn nicht jene Überreste des Altertums in verschiedner Gestalt vorhanden wären.«9 – Die anamnetische Kultur, das heißt, Gedächtnis und Erinnern als Bedingung der Humanität, fällt der Ungeduld zum Opfer. Es beginnt hier jener Weg in die Barbarei eines gedächtnislosen Fortschritts, der in die 1955 von Thomas Mann diagnostizierte »Nacht der Unbildung und Erinnerungslosigkeit« führen wird.

Und das auf diesem Weg befindliche, von Goethe als »ewig verdammenswert« bezeichnete 19. Jahrhundert hat der Weimarer Berlinverweigerer im November 1825 – im Konzept eines Schreibens an den Berliner Juristen Nicolovius – mit den Worten charakterisiert: »So wenig nun die Dampfwagen zu dämpfen sind, so wenig ist dies auch im Sittlichen möglich: die Lebhaftigkeit des Handels, das Durchrauschen des Papiergeldes, das Anschwellen der Schulden, um Schulden zu bezahlen, das alles sind die ungeheuern Elemente, auf die gegenwärtig ein junger Mann gesetzt ist [...].«

Wenige Monate vorher, am 6. Juni desselben Jahres, hatte Goethe schon gegenüber Zelter den Phänotyp eines jungen Mannes für diese Zeit der »Lebhaftigkeit des Handels« und des »Durchrauschens des Papiergeldes« beschrieben. Es ist der Phänotyp für die Stellenausschreibung einer Zeit auf dem Wege zum bereits global operierenden Dr. Faustschen Handelskonzern im 5. Akt des zweiten Teils des Faust. Ironisch heißt es in dem Schreiben an Zelter: »Eigentlich ist es das Jahrhundert für die fähigen Köpfe, für leichtfassende praktische Menschen, die, mit einer gewissen Gewandtheit ausgestattet, ihre Superiorität über die Menge fühlen, wenn sie gleich selbst nicht zum höchsten begabt sind.«

Gegenüber dieser »gewissen Gewandtheit« hat Goethe sich berufen auf das, was sich ihr entzog: die im sittlichen Charakter einer Person gründende Gesinnung, die er unterscheidet von den schnell wechselnden Meinungen des sich bereits ankündigenden Informationszeitalters. Goethes gegenläufiges Credo lautet: »Die Menschen werden durch Gesinnungen vereinigt, durch Meinungen getrennt.«10