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Sabine Peters

Narrengarten

Sabine Peters

Narrengarten

Roman

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Es sind tatsächlich Vögel über der Stadt geflogen.
Alles andere war anders
.

Das gehört alles dem Herrn Grafen

Hamburg-Mitte, eine der Straßen heißt Hühnerposten. Hühnerposten, öffentliche Bücherhallen.

Gerlinde steht im Foyer, dort zeigt die Uhr Punkt elf. Sie sieht, wie der Wachdienst die Tür aufschließt, vor der das übliche Gedränge herrscht. Die Besucher lernen es nicht, sie hasten zu den automatischen Rückgabeplätzen oder zur Information. Wenn ihr alle gleichzeitig zur Rückgabe rennt, gibt es natürlich Staus. Der Ansturm im Foyer verteilt sich, die Leute greifen nach den Plastikkörben für die Bücher, stehen vor den Schließfächern, kramen Kleingeld. Gewiefte jagen gleich nach oben, zu den Computer-Arbeitsplätzen oder zu den Zeitungen. Unten ist derzeit wegen der Umbaumaßnahmen nichts zu holen, aber demnächst wird hier ein Café eröffnet.

Gerlinde geht in den ersten Stock. Mein Arbeitsplatz, mein Kampfplatz. Margot, die sächsische Tante von Klaus, ist letzte Woche beerdigt worden. Die Alten werden weniger. Und wir nicht jünger. Heute dreiundzwanzig Jahre lang verheiratet. Klaus hat garantiert unseren Hochzeitstag wieder vergessen. Hoffentlich steht wenigstens das Abendessen fertig auf dem Tisch. Die Löwenmäulchen sind versteckt im Keller. Ich werde dir den Strauß um die Ohren schlagen und weiß, was dann kommt. Reuevoll stürzt du dich auf mich und hebst mich hoch, um anzugeben mit deinen Kräften. Um dir danach ans Herz zu greifen und mein Gewicht zu beklagen, aber du schleppst mich doch über die Schwelle aufs Sofa. Schöne sture Rituale einer alten Ehe. Schenken Sie Freude mit Blumen.

Im schmalen Leseraum für die Tageszeitungen sitzt noch keiner, Gerlinde öffnet die Fenster. Gerade hier oft übler Menschenmuff. Es gibt allerdings auch Parfums, von deren Geruch fällt man um. Viele Obdachlose wohnen in den Bücherhallen, vor allem im Winter. Solang sie sich waschen und niemanden stören. Mein Arbeitsplatz, mein Zuhause für viele.

Die frischen Tageszeitungen liegen geordnet in den Ständern, jede vorhin zusammengetackert. Le Figaro, Hürriyet, Al Ahram, alles da. Deutsche Wirtschaft wächst nicht mehr, titelt heute die Süddeutsche, und die Stuttgarter Zeitung: Euroland ist abgebrannt. Tante Margot hätte das übertrieben gefunden, ihr saßen die Dresdner Feuerstürme in den Knochen bis zuletzt.

Die Computer laufen. Kein Kollege hat sich krank gemeldet. Und toi toi toi, die beiden Praktikanten schleichen mittlerweile wieder zur Schule. Der Drehständer ist aufgefüllt mit den Best- und Longsellerlisten, darunter Thriller, von denen das Blut in plastischen Tropfen rinnt. Diese Lust an Leichen im Roman oder im Fernseher. Lust an fiktiven Toten, weil wir selbst Untote sind? Stephen Kings Vampire und die Theorien seiner Exegetenbande, nicht mein Feld. Wir sind lebendig, Punktum. Auch wenn es Klaus seit dem Infarkt schwerfällt, daran zu glauben. Die Pensionierung tut ihm nicht gut, er sitzt zu viel zu Hause. Natürlich ist die Bücherei auch für ihn da. Er kann nur nicht erwarten, dass ich ständig mit ihm schäkere.

Gerlinde macht sich vor dem Bildschirm an die Liste mit den Neuerscheinungen, lauter verlockende Angebote. Sie geht den Buchreport durch und die aktuelle Bestenliste, auch die Nominierungen für den Buchpreis. Der Bestand hier in Mitte liegt bei fünfhunderttausend, jährlich kommen fünfunddreißigtausend neue Bücher rein, in fünfzig Portionen, und entsprechend viele andere fliegen raus. Manchmal blutet ihr Herz. Als müsste sie einen Hund aussetzen. Andererseits, Reiseführer und Kochbücher veralten rasant, und wenn niemand das Frühwerk des ehrenwerten Dichters Who-Meyer mehr lesen will, dann muss er ein neues Buch schreiben.

Ja, bitte? Einer von den langjährigen Kunden. War wohl mal Redakteur. Heute schon wieder im karierten Jackett, dazu ein gestreifter Schlips, scheußlich. Der hat aber zittrige Hände, fehlt ihm was? Als wäre er auf Drogen oder hätte Parkinson. Entschuldigt sich zu stören. Wohin der Sonderstandort Plattdeutsch verlegt worden ist? Kein Problem, Gerlinde steht auf, zufrieden, dass sie trotz des Umbaus immer noch den Durchblick hat. Der Lärm hält sich in Grenzen, auch der Staub. Trotzdem wird sie drei Kreuze schlagen, wenn alles fertig ist. Eine logistische Meisterleistung, den Betrieb am Laufen zu halten, während hier seit Monaten alle Abteilungen verlegt, umgestaltet, vergrößert werden. Die ganze Haustechnik wird überarbeitet, die Beleuchtung ersetzt durch eine energiesparende Lichtanlage. Alle paar Wochen Teilumzüge, wie oft hat man das schon. In einem öffentlichen Haus wie diesem hier ist auch jenseits des Großumbaus immer was los. Dauernder Publikumsverkehr, das heißt: Wenn man einmal durch ist mit dem Renovieren, kann man schon wieder von vorne anfangen. Abgelatschte Auslegeware, zerstöckelte PVC-Bodenplatten, kaputte Computer und Kopierer, außerdem die Patina aus Kratzern an den gekalkten Wänden. Von den speckigen Büchern ganz abgesehen. Man möchte nicht wissen, wo und unter welchen Umständen die Leute lesen. Dass Kleinkinder die ersten dicken Bilderbücher anbeißen, versteht jeder: Lesen soll schmecken. Es härtet die Kinder auch ab, Bazillen zu lutschen. Man soll sie nicht in Sagrotan einlegen.

Sie zeigt dem Kunden den neuen Standort der plattdeutschen Literatur. Ein höflicher Mann, wer hat ihm bloß die dummen Karos und Streifen aufs Auge gedrückt. Klaus trägt Tweed, was einen Landlord vortäuscht. Das hat er Rupert abgeguckt. Ich habe nie verstanden, warum Rupert und Marie vom Dorf in die Stadt zurückgezogen sind. Der schöne neue Fischgrättweed, zum letzten Hochzeitstag mein Geschenk für Klaus. Karos gehören in die Sparkasse, und der Besucher hier wirkt doch nicht kleinkariert. Ist fast etwas zu höflich. Hat er was zu verbergen? Nein. Ein angenehmes Lächeln. Pfefferminzatem, vielleicht erkältet. Er wartet immer ab, bis man vom Bildschirm aufsieht.

Dabei spürt Gerlinde, wenn ein Kunde sich in Kreisen ihrem Tisch nähert, wenn er zögert zu fragen. Früher waren Bibliothekare Drachen. Ende der Siebziger, ich süße siebzehn. Wollte aus der Bücherei in Pinneberg Freuds Traumdeutung leihen. Frau Kaiser saß am Tisch und las, man störte, wenn man Bücher von ihr stempeln ließ. Wissen deine Eltern, dass du Freud lesen willst? Ich habe sie von fern verehrt, mit ihrer schweren schwarzen Hornbrille. Mit ihren großen Eulenaugen. Sie wirkte selbstbewusst, anders als Mutter. Mein Arbeitsplatz, mein Leben. Was weiß ein Kind? Anfangs sitzt man an einem der niedrigen Tische für die Kleinen, träumt vor dem Bilderbuch mit dem federgeschmückten Fransen-Mädchen. Denn man hat vom Cousin etwas aufgeschnappt über die Indianer. Willi Tu und Otto Schätterhänd, Rote und Weiße. Mit den Jungs versteckt im Heu, zieh dein Kleid hoch, ich bin Doktor Schikago vom Roten Kreuz. Alles hat seine Richtigkeit. Dann buchstabiert man sich selbst durch den glücklichen Löwen, der lacht, und seine Welt ist farbig, leuchtend rot und gold. Die Bilder in den Büchern werden weniger. Unmerklich rückt man vor zu Timm Thaler von James Krüss, den man schon selbst ausleiht bei der strengen Frau Kaiser mit ihrer schwarzen Brille. Sie hatte einen Schnurrbart. Das Schmatzen des Stempels, mit dem sie den Büchern den Segen gab, bevor man sie nach Haus mitnehmen durfte.

Meine Augen werden schlechter. Eines Tages wird Klaus mir vorlesen müssen. Lieber er als Gerd Westphal, der badete zuletzt in der eigenen Stimme. Nichts gegen Hörbücher. Neulich für Klaus ein neuer Leckerbissen von Peter Kurzeck, der liest so fassungslos, als wären die Mohnmühlen gerade vom Himmel gefallen. Klaus hätte beim Zuhören auf den Hometrainer steigen können. Er soll sein Herz hüten. Ich küsse ihn auf den Mund und auf den Blutschwamm am Kinn. Die Geste, eine Hand über das Kinn zu legen, gehört zu ihm wie der Erdbeerfleck, für den er sich noch schämte, als wir uns seinerzeit kennenlernten. Wie sehr er sich verändert hat seit dem Infarkt. Manchmal so freundlich, unheimlich. Als wäre unsere Zeit begrenzt. Die Gabe der Vergesslichkeit. Nicht immer daran denken müssen, wie es Schritt für Schritt die Straße langgeht, bis man sich verliert. Meine Flucht in Bücher, jedes von ihnen ein neuer Anfang. Blind werden halte ich nicht aus. Der weiße Stock. Die schwarze Brille. Frau Kaiser war ernst, ehrfurchtgebietend. Der Kaiser der Bücher.

Gerlinde greift sich einen der Wagen mit gerade wiedergekommenen Büchern, sortiert sie zurück an die Plätze in den Regalen. Sehr schön an ihrem Arbeitsplatz: Man klebt nicht vor dem Bildschirm, rennt auch nicht nur und räumt, hat mal Ruhe und dann wieder Kundenkontakt. Die neue Aufteilung des Raums ist großzügig, ist gut. Da sprach der gestiefelte Kater: Und diese ganzen Ländereien, all dies gehört meinem Herrn, dem Grafen. Gräfin Gerlinde geht an den Bildschirm zurück.

Schön wär’s, wenn unsereins heute noch nebenher lesen könnte wie früher Frau Kaiser.

Ja, bitte? Kann ich Ihnen helfen? HierfindetsichneuerdingskeinMenschmehrdurch. IchbrauchdringendalleszuSturmundDrang.

Leinenhose, Seidenbluse, dezenter Schmuck. Gepflegte Haut, gute Figur. Ganz sicher regelmäßig Sport, vielleicht gelegentlich Fastenkuren, daher der grämliche Zug um den Mund.

HabenSiehierkeinMaterialzuSturmundDrang? Anwenmussichmichwenden? MeineTochterhatLeistungskurs-Deutsch. DieschreibenbaldVorabitur.

Bis dahin ist es noch weit. Was bist du für ein Stürmen und Drängen.

Ich zeige Ihnen ein paar allgemeine Einführungen.

Gronau, Vera Gronau mein Name. Mit wem habe ich?

Genau so siehst du aus. Mein Name steht hier auf dem Schild.

Gerlinde Dette. Also, Frau Gronau, ich zeig Ihnen erst mal Schiller, ein klassisches Beispiel, und von da aus werden Sie sicher fündig.

Die beiden gehen los, zum Buchstaben S, zu Schiller. Ein stolzes Angebot an Primär- und Sekundärliteratur. Frau Gronau erklärt, das kann ich nicht alles lesen. Wir müssen eingrenzen!

Wer wir?

Vera Gronau sagt, wenn meine Tochter mal die Zähne auseinanderkriegt, versteh ich nur, Bruch mit der Vaterwelt. Das ist in Deutsch das Thema. Ein gefundenes Fressen für Insa. Die tut gern so, als wären wir der Lord Duweißtschonwer. Wir sind aber Freunde und Wegbereiter für unsere beiden Kinder.

Dann bereite mal schön. Gerlinde empfiehlt eine Einführung, weist auf ein Reclam-Bändchen mit Unterrichtsmaterialien hin.

Meine Tochter war immer in Deutsch bei elf Punkten. So soll es bleiben, sagt Vera Gronau, und Gerlinde sagt, Ihre Tochter kann gerne vorbeikommen.

Sie haben wohl keine Kinder? Insas Terminkalender! Unsereiner würde einen Sekretär anstellen. Für Kinder gibt es die Mütter. Ich hab Insa schon früh trainiert, damals beim Schwimmen hatte sie als eine von den Ersten dieses Dings, das Seepferdchen, geschafft. Ich kutschiere sie nachmittags durch die Gegend, zum Klavierspielen, zum Judo. In der Schule kümmern die Lehrer sich nur um die Luschen. Insa hat jeden Monat einen neuen Spleen. Gerade schwärmt sie fürs Saxophon. Hat sich in einen Straßenmusikanten verguckt. Garantiert sieht sie sich nach dem Abi schon herumziehen und in Berlin oder Paris den Mond anblasen. Ich bitte Sie! Man muss die Kinder immer wieder erden, man muss sie begleiten, muss mitreden können. Geometrie, Weimarer Republik und Sturm und Drang. Mutter macht’s möglich.

Hast du selbst nichts vor? Deine Brut wird flügge, das begreifst du nicht. Wolltest du, dass deine Mutter immer hilft? Lies Kafkas Brief an seine Schwester. Kinder sind zur Rettung ihrer Eltern da, schrieb er, und von der Übermacht der Eltern. Von ihrem Eigennutz, ein Kind zu formen nach dem eigenen Bild. Vom unvermeidlichen Verwechseln ihres Kindes mit sich selbst. Warum soll deine Insa nicht neun Punkte schreiben, selbstgemachte neun Punkte? Aber ein Narr lässt sich nicht raten. Und ich bin eifersüchtig auf die Muttis, die gepanzert sind mit ihrem Sinn. Die einen immer wieder überrollen.

Vera Gronau blättert. Schrickt zusammen. Sie hat vergessen, Insas Leseausweis mitzunehmen. Gerlinde verbeißt sich die Frage, ob die Kundin selbst kein Mitglied ist. Sie sagt, wenn Sie heute nicht ausleihen wollen, können Sie drüben an den Tischen arbeiten.

Ob du etwas zu schreiben mithast? Viele Besucher reißen aus den Büchern alle ersten weißen Seiten raus, um Notizen zu machen.

Gerlinde zeigt einem Kopftuchmädchen die Abteilung Modezeitschriften. Macht sich an ihrem Tisch wieder an die Bestenliste, bestellt. Zwei Jungen brauchen Informationen über die Expressionisten. Ich würde sie zu Klaus schicken, wäre er heute zufällig hier. Er kann Bilder zum Sprechen bringen.

Zwischen den Regalreihen zu Philosophie und Religion sitzt eine junge Frau verknautscht auf einem Hocker. Anorektisch. Blättert mit roten Ohren, vielleicht hat sie sich mit Charlotte Roche hierher verzogen. Wissen deine Eltern, dass du das liest? Frau Kaiser war gut. Vielleicht sollte ich auch eine schwarze Hornbrille tragen.

Ob die Sturm-und-Drang-Tochter hier schon mal war? So viele Schüler jeden Tag. Fast alle tun sich schwer, etwas zu fragen. Auf der Straße und in Gruppen laut und trampelig, alleine schüchtern und oft rührend höflich. Ihre Körper sind unbegreiflich. Alles Bodybuilding, oder Ernährung? Seit wann wird man von McDonald’s langbeinig und breitschultrig und flachbäuchig. Also doch Fitness. Deshalb auch keine Zeit für Schularbeiten. Mutti muss ran, jedenfalls beim bewussten Mittelstand. Und weil Mutti frustriert ist über ihr eigenes Leben, weil sie nicht unberechtigt ahnt, dass die fetten Jahre vorbei sind, haut sie den Kindern Förderung um die Ohren, so lange, bis Blut fließt.

Ja, bitte? Dreitagebart und grauer Zopf und Künstlerschal. Stimmt, sagt Gerlinde, die Tageszeitungen sind verlegt worden, ich zeig’s Ihnen. Sie geht dem Mann voraus. Wer hat bei dem schönen Wetter in diesem Kabuff die Fenster geschlossen? Etwa zehn Besucher, Durchschnittsalter fünfzig Jahre. Zwei Gebetsketten, ein Rastajüngling. Das riecht hier wie in einem Pantherkäfig, und es ist nicht der obdachlose Stotterer in seiner Ecke, den kenn ich. Einmal hat er das Ende der Öffnungszeiten verschlafen, ich musste ihn wecken. Tu-tu-tut mir l-l-leid. Ach was, tut mir leid, Sie aufzuschrecken, aber morgen ist wieder ab elf Uhr geöffnet. Trotzdem kam er danach eine Weile nicht. Unter seinesgleichen ist er Elite. Wagt sich in eine Bücherei, fällt auch beinahe nicht auf. Nur seine leeren Augen, seine gelben Raucherfinger und sein schwerer Schritt, als hätte er zwei bis drei Weltreisen hinter sich. Man kriegt einen Blick für die Leute. Und täuscht sich trotzdem oft.

Der Rastajüngling ist der Panther. Er kann nichts für seine Hormone. Wenn er eine Freundin hat, denkt sie, er duftet nach Abenteuer und Lust. Ernst sieht er aus. Schreibt aus der neuen Ausgabe der Jungen Welt ab. Selbst in seinem zarten Alter lassen einige die Finger nicht vom Kommunismus. Weiß deine Mutter, dass du das liest? Frau Kaiser ist vielleicht längst tot. Oder sie weiß ihren Namen nicht mehr, und den Wochentag. Die kurze Lebenszeit der Bücher, früher wurden sie weitergegeben von Generation zu Generation. Immer wieder neue Ausgaben der Klassiker. Zu Hause Kafka, in der Fischer-Taschenbuchausgabe von ’76. Schon beim Ansehen bricht sie auseinander. Die Bände ersetze ich aber nicht, die lass ich binden. Der Namenseintrag mit Tintenhandschrift, Tintenkiller hatten wir in der Schule auch noch, zum Anspucken, ekelhaft.

Gerlinde öffnet die Fenster. Bisschen Sauerstoff, sagt sie, bei diesem schönen Wetter. Keine Antwort. Blätterrascheln.

Sie verlässt den Zeitungsraum. Zwinkert dem Kollegen Christof zu, noch so ein Fürst im Reich der Buchstaben. Ein langer Schlacks mit Eulenaugen, trägt die Lesebrille würdevoll am Bändchen. Als wäre sie ein Orden. Wieder sitzt sie am Tisch. Ein Besucher schenkt den Bücherhallen eine nagelneue Simenon-Ausgabe, sie bedankt sich, sieht im Katalog nach. Wir haben sie schon zwei Mal, gut erhalten, aus den Neunzigern. Also geht Simenon an eine Zweigstelle. Altona ist schon eingedeckt, Blankenese nicht. In den Elbvororten leihen sie aus wie wild, dabei haben sie Geld, um Bücher zu kaufen. Bei uns wird viel geklaut, trotz Sicherheitsschleuse und Wachdienst. Die sollen zu Thalia gehen oder zu einer anderen Kette, anstatt sich hier selbst zu bestehlen. Öffentliches Eigentum, darüber würde ich gern einen Vortrag halten. Mein Arbeitsplatz, euer Interesse. Unseres. Dafür kann man auch Steuern zahlen. Wer hier stiehlt, den sollte man verdonnern, das Gestohlene abzuschreiben, in Schönschrift, für alle. Das wäre nicht mal eine Strafe. Der Respekt vor dem Buch würde wachsen. Mein Arbeitsplatz sind meine Schutzbefohlenen. Besucher und Bücher, Betonung auf und. Nicht besser als Diebe sind die kleingeistigen Durcheinanderwerfer. Quetschen einen aktuellen SPIEGEL hinter sämtliche Werke von Wieland, um nach einem Kaffee draußen später in Ruhe weiterzulesen. Kollege Christof hat dafür ein Auge, gestern erst hat er einen Schlipsträger in flagranti erwischt. So einen miesen Egoisten. Weiß deine Mutter, dass du hier Unordnung machst?

Sie zeigt einem Besucher den Weg zur Musikabteilung, die ist ein Reich für sich, für Notenleser. Der Kollege dort hat nicht viel zu tun, sitzt über einer Partitur und trommelt mit den Fingern einen Takt und lacht, als hätte er was Witziges gelesen. Kompositionen sind für Kenner lesbar wie für unsereinen Romane.

In der Nische bei den Theaterstücken hockt ein junges Paar am Boden Arm in Arm, sieht sich stumm in die Augen. Da möchte Gerlinde nicht stören. Vielleicht haben die beiden gerade Sartre entdeckt. Das Spiel ist aus, wir sind füreinander bestimmt. Lasst Bücher sprechen. Die sagen, was man selbst nie über seine Lippen bringen würde, was man höchstens leicht ironisch zu zitieren wagt. Die könnten uns erzählen, wie viele Liebesgeschichten hier ihren Anfang hatten. Mein Arbeitsplatz, mein Lustgarten.

Gestern kamen wieder frische Bücher. Wenn sie vom Einarbeiten zurück sind, suchen viele aus dem Team sich ein, zwei Titel aus, nehmen sie ein paar Tage mit nach Hause, zum Schmökern. Das ist die interne Abmachung, das ist das Recht der Büchereimenschen, das Jus primae noctis. Denn wir sind hier die Grafen.

Die Heimat

Die Heimat gab es lange vor mir. Um sich ihr wieder zu nähern, könnte man in einem Bild vielleicht sagen, sie ging leicht gebeugt, ihr Gesicht war faltig. War sie alt? Auf jeden Fall hat sie viel gesehen. Und bestimmt war sie so, wie alle Heimaten sind, manchmal stur, engstirnig und verschlossen. Dann wieder öffnete sie unerwartet Türen zu ihren Kammern, Räumen, Ländereien, es gab immer Neues zu finden. Also war sie gleichzeitig auch jung?

Die Nachrichten über sie sind wenig verlässlich und wiedersprüchlich. Wüste, heißt es von ihr, oder noch schlimmer, Fata Morgana, Trugbild. Sie wird verglichen mit einem Kasernenhof, dann wieder mit einem Urwald, oder, romantisch, sogar mit dem offenen Sternenhimmel. Es heißt auch, sie sei ein mäandrierender Fluss, ein unberührbares Dornengestrüpp oder ein Vogel ohne eigenes Nest, ein Kuckuck. Was auch immer von dritter Seite aus über die Heimat gesagt wird, vielleicht bleibt für mich nur, dass sie wandelbar war wie fast alles und alle.

Durch ihre Ländereien streifte ich tagelang, nächtelang. Täler und Hügel, Dünen, Salz, das Lieblingsgestrüpp da und dort. Ihre Haut trocken zart, sie erinnerte an das Papier aus China.

Die Heimat war gastfreundlich, neben vielen anderen bewirtete sie regelmäßig einen Tischler mit harten Händen und seine Frau, die trotz ihrer Veilchen zu ihm hielt. Die Heimat hatte auch Platz für den pubertierenden Sohn des Paares, einen Schwerenöter mit Irokesenfrisur und Tattoos. Die Heimat beherbergte einmal ein trampendes junges Liebespaar, und als sie den Gästen morgens Tee ins Zimmer brachte, war das Besucherbett irreparabel zerspielt. Das nahm die Heimat hin. Sie besuchte getreulich andere Alte, oft mit einem kleinen Gelegenheitsgruß, da schnitt sie einen Zweig vom Fliederbusch vor dem Haus oder pflückte an Wegrändern Wildblumensträuße. Die Heimat kutschierte eine verunfallte Russlanddeutsche spätnachts ins nächstgelegene Krankenhaus zwanzig Kilometer weiter, und sie begleitete einen verwahrlosten Sozialfall mehrfach zum Amt. Solches Tun war ihr so beiläufig und selbstverständlich, dass sie sich über das Wundern anderer Leute nur wunderte. Man könnte von ihr sagen: Die Heimat gab gerne an alle von ihren Früchten, und sie blühte im Frühjahr und Sommer und Herbst und Winter. Jede Jahreszeit stand ihr gut zu Gesicht. Aber dann war sie doch wieder verwelkt und verdorrt, ganz verbrannt. In manchen Zeiten war sie ein Unheim, sich selbst und anderen unverständlich, erschreckend.

Im Kleinen war die Heimat klein, bange bei jeder gefälschten Steuererklärung. Aber im Kleinen war sie auch groß, versorgte alles, was in ihren Ländereien kreuchte und fleuchte. Sie fütterte die Spinnen, begrüßte den Igel, kratzte das Schwein, kämmte den Seehund, schneuzte den Wal und summte für den Maulwurf Melodiefetzen. Sie mochte Narreteien, und sie sprach den Briketts im Stall, dem Butt im Backofen und der an der Leine fliegenden Wäsche gut zu.

Im Großen war die Heimat großzügig und sang ihr Lied zum Lob der Welt. Das heißt bei ihr, sie sang von Zorn und Liebe in den Büchern, die sie schrieb. Die Heimat konnte auch hassen, in einer finsteren Freude, vor der sie selbst sich immer zuletzt doch fürchtete. Sie war heiß oder kalt, niemals lau. Zu ihrer Gestalt gehörte ihr Duft, der unverwechselbar war. Die Heimat roch nach Tabakrauch und Schwarztee und Knoblauch und Sonne und Schnee. Sie hatte Sternenfalten in den Ohrläppchen, und ihre zarten großen Ohren hörten mehr, als es den Sprechenden immer angenehm war. Nachts trug die Heimat lange weite Flanellnachthemden, und wenn sie sich aufmachte in die weite Welt, Cordhosen, schottische Schlipse und Tweedjacketts. Zu Hause sah man sie in Gummistiefeln und eigenhändig sorgsam gestopften Strickpullovern. Sie trug eine Brille, und um den Hals baumelte ihr ein Kettchen, an dem waren ein silbernes Marienmedaillon und ein roter fünfzackiger Stern aus Blech befestigt. Ihren Schnurrbart ließ sie wachsen, denn sie mochte ihren Mund nicht sehen lassen.

Die Heimat, so sind Heimaten, sie engte einen manchmal ein. Sie war bedächtig, schätzte Rituale, und manchmal wollte ich es lieber unbedacht und regellos. Ich war oft ungeduldig mit der Heimat. Dabei mochte ich auch wieder gern den Schutz, der von ihr ausging. Und erschrak, wenn sie plötzlich zornig wurde, wenn sie tobte. Donner und Blitz durchzitterten die Heimat und alle, die dort lebten. Dann wieder lag sie in Schwermut, düster.

Die Heimat, das war immer wieder ein Regen, dem ich mich hingab in Lust. Wie viele Sorten von Regen sie kannte. Wie unerschöpflich sie war. Wie sie Durst weckte und stillte. Nach dem Regen schwebte die Heimat davon, wurde ein ferner Regenbogen, unter dem wir beide zusammen unbesorgt einschlafen durften.

Leicht kommt man vom Wetter und vom Regen aus zum Redenbogen, denn so ein Redenbogen war meine Heimat zeitlebens ganz gern. Reden ins Offene, Reden als Wandern, das war ihre Freude.

Zurück zur Enge, zum Schutz, den meine Heimat mir gab, und von da aus weiter. Denn man würde ihr nicht gerecht, wenn man nicht noch hinzufügen würde: Sie ließ einem die Freiheit. Man konnte gehen und wiederkommen. Sie selbst verstand sich als Internationalist. Zu Hause sein in der Welt, ein Traum. Sie fand sich selbst oft ganz ohne Heimat.

Ihr Maikäferlied ging sinngemäß so: Der Vater blieb im Krieg. Die Mutter zog den Haustürschlüssel ab. Die Heimat kam immer wieder darauf zu sprechen, wie sie von klein auf geprägt war durch eine ihr lebenslang unverstehbare Tyrannei. Über die Gewaltherrschaft ist viel geschrieben worden, und auch die Heimat las und schrieb dazu viel. Aber soviel sich auch analysieren lässt, was Tyrannei bedeutet, es bleibt ein unbegreifbarer schreiender Rest.

Vielleicht ist das zu abstrakt. Nie werde ich die Anfänge meiner Heimat verstehen, ich teile nur einen Ausschnitt ihrer Geschichte. Sicherer sind konkrete Details aus dem gemeinsamen Alltag. Also: Die Heimat bügelte hingebungsvoll ihre Hemden, verwandte sogar ein Ärmelbrett. Sie sagte, Plätten riecht nach Mama. Die Heimat machte einen kleinen Sprung, wenn sie den Reibekuchen in der Pfanne hochwarf zum Wenden. Sie stellte auf dem Fensterbrett den Mäusen eine Falle hin und nannte das: ihnen die Instrumente zeigen. Die Heimat log nie, und wenn, dann waren die Lügen durchschaubar wie die eines Kindes. Als sie sich einmal das Rauchen verbot, lagen bald Kippen vor ihrem Fenster, und so rauchte sie lieber offen und ehrlich. Als Letztes vor dem Schlafengehen zog sie entschlossen die Strümpfe aus, dann legte sie im Bett den Arm um mich. Sie sprach mit mir oder schwieg mich an. Bis heute weiß ich nicht: Hab ich dir gut genug zugehört? Hab ich gut genug mit dir gesprochen?

Als wir nach vielen Jahren auf dem Land zurückgezogen waren in die Stadt, wurde die Heimat krank. Wörter wie Antibiotika, gegen das Leben also, waren ihr immer verdächtig gewesen. Ihr wurde Medizin gegeben, Tabletten und Tropfen und Strahlen. Die Heimat kam nach Hause und sagte erschrocken, sie rieche nur noch Chemiegestank, sie könne sich selbst nicht mehr riechen. Sie fror oft, sie wurde aufgedunsen, gleichzeitig nahm sie ab. Dabei war sie doch ohnehin, wie sagt man, immer ein Strich in der Landschaft gewesen. Als der Heimat das Haar ausfiel, schnitt sie sich eine Strähne ab und gab sie mir.

Es ist schwer, über die Heimat zu sprechen nach ihrem Verlust. Sie selbst kann nicht mehr widersprechen, spötteln, nachfragen, ergänzen. Wir sind kein Redenbogen mehr. So frage ich mich immer wieder: Zeichne ich sie zu schön? Zu schwarz? Wie kann ich ihr gerecht werden? Wie bin ich ihr begegnet und sie mir? Reichlich pathetisch könnte man sagen: Weil sie so viele Eigenschaften hatte, war sie in unseren zweiundzwanzig Jahren väterlich und mütterlich. Mal war sie wie ein Bruder, mal wie ein Kind. Sie war mein Freund, Kollege und Gefährte auf dem Weg. Sie war mein Ehemann, mein Garten.

Bis heute taucht die Heimat manchmal unerwartet auf, sei’s in Begegnungen mit anderen oder in Gegenständen. Unlängst erst wieder im selten geöffneten unteren Fach des Küchenbüfetts ein kleiner blauer Karton. Er ist gefüllt mit Gummibändchen. Die Heimat sammelte sie gern, und sie behauptete: Wenn sie jemals einem Verein beitreten würde, dann dem vom Gummiband oder auch dem vom Tempotuch. Die Genossen mochten diesen Satz nicht hören, denn die Heimat war zwar Kommunist, doch nicht vereinstreu. Auch das Lob des Tempotuchs war irritierend, denn die Heimat trug beides bei sich, Tempos und immer ein Stofftaschentuch. Sie ging sorgsam mit ihren paar Sachen um. Selten warf sie einfach was weg, sondern sie brachte die Dinge lieber auf einen Weg. Vieles verschenkte sie, als sie ans Ende ging. Und sie bat mich, verschiedenen Leuten später Dinge von ihr zu geben, aus ihrer Geschichte, die so viel älter war als unsere gemeinsame. So brachte ich einer anderen Frau eine Wolldecke, einen Aschenbecher, und einer weiteren eine Uhr. Die Heimat hat, wie gesagt, viel erlebt, viel genossen, sie hat viel erlitten und viel geliebt. Also wird ihr auch viel verziehen.

Gestern erst beim Schuheputzen kam die Heimat unerwartet bei mir vorbei. Im Holzkasten mit den Tuben und Bürsten war einer ihrer alten Strümpfe vom letzten Putzen unbenutzbar verfleckt und verklebt, den warf ich weg. Neben dem Kasten der Beutel voller Stofffetzen. Darin ein Ärmelstück des grauen Flanellhemds der Heimat, auch dieser Fetzen schon mit ein paar Schuhcremeflecken. Die doppelten Nähte, das abgestoßene Manschettenbündchen, im Sommer krempelte die Heimat ihre Hemdsärmel ordentlich hoch, sie hatte schmale Handgelenke. Jahrelang trug sie einen Armreif, von dem ein Juwelier ihr sagte, der hätte allenfalls am Silber gelegen. Der Armreif ist zersprungen, und es kann gut sein, dass meine Heimat ihm auf einem ihrer Wege einen letzten Platz gefunden hat, dass sie die Bruchstücke von der Emsbrücke aus in den Fluss fallen ließ oder sie hinter einem Säulenheiligen im Straßburger Münster versteckte. Auf diese Weise hielt die Heimat also Dinge wert. Trotzdem sagte sie mir im Krankenhaus, als ich ein Plastikherzchen verlor, das sie mir einmal schenkte: Lass fahr’n dahin. Dabei fand sich der kleine Schmuck am andern Tag im Treppenflur des Krankenhauses wieder.

Die Heimat hatte viele Namen. Sie hieß Liebster und Herz, Leevsten und Mann und Lord O’Whippy, Süßer, Löwenmaul, mijn seuten und Orlando. Sie hieß Pietsch, Proff, Ole Blessi, Feuerfreund und Rupert. Sie lebte von 1928 bis 2008.

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Rupert und Marie. Die kleine Zeit von zweiundzwanzig Jahren auf dem Dorf am Dollart und in Hamburg.

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Wenn es, wieder und wieder und wieder, ganz unerträglich scheint, ein Leben in zwei dürre Zahlen gesperrt zu sehen, lässt sich versuchen, weiter und weiter und weiter zu sprechen, zu schreiben, zu hören. Ein Sohn der Heimat zitiert sie bis heute ganz gern. Dabei hatte die Heimat selbst ihre Mutter zitiert, wenn die beim Rauchen sagte: Was nutzt das schlechte Leben, Kinderchen. Ein Freund schlägt sein Kochbuch auf, ganz hinten steht in der Handschrift der Heimat ein Rezept für allerbeste Nudeln. Unsere portugiesische Freundin schickt einen Brief, und ich erinnere mich daran, wie oft die Heimat auch in ihr Land reiste. Wochen- und monatelang war sie unterwegs, gern allein. Immer noch steht hier die große grüne Blechkiste, in der Platz war für Bettzeug, Bücher und Manuskripte und Haushaltskerzen, von denen brauchte sie viel.

Die Heimat verstaute methodisch ihr Gepäck im Citroën, wenn sie sich wieder einmal auf den Weg machte. Und ich sehe dich, wie du die Hand über den Mund legst, wie du sagst: Abschiede kann ich nicht gut ab.

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Die Heimat liebt das Wandern. Gott hat sie so gemacht. Von Einem zu dem Andern. Die Heimat geht im Schatten.

Und sie werden sein ein Fleisch

Aufgeräumt kommt er spätvormittags vom Einkaufen zurück in seine Straße, beim Gehen schlenkert er mit beiden Stoffbeuteln. Eberhard ist einer von vielen Ruheständlern hier in Uhlenhorst, wird oft gegrüßt und grüßt bei Tag auch selbst ganz gern. Man kennt sich vom Sehen, und er gehört hier zum Urgestein. War Redakteur, das wissen nur noch wenige, er muss seinen Beruf jetzt nicht mehr vor sich hertragen. Gut ist es, sein eigener Herr zu sein. Im Schaufenster der Bäckerei nickt er sich zu. Doch noch ganz gut erhalten. Dichtes Haar, ein elegant geschnittenes kariertes Jackett, als reizvoller Kontrast der gestreifte Schlips. Fehlt nur noch der Übergangsmantel, der ihn so schön umweht. Gleich denkt er an Arztvisiten in Fernsehfilmen, lauter Weißkittel mit wichtigen Gesichtern. Diese Narren, Scharlatane, alles nur Schwindler mit Schellen. Trotzdem angstvolle Patienten in den Betten. Die sind dankbar oder schon ohne Bewusstsein. Aber er, Eberhard, ist bei vollem Bewusstsein. Er hat alle Besorgungen erledigt, jetzt zieht es ihn an den heimischen Herd zu Lotte, zur Erholung bei Wein und Weib und Gesang.

Wie soll er nicht erfreut sein, heute so ganz im Reinen mit sich. Der Abend gestern ist unauffällig verlaufen, er ist beizeiten verschwunden. Ein trockenes Beisammensein nach dem Film im Kino, trockener Sekt aus zierlichen Flöten. Und staubiger Smalltalk. Lottes Bruder Piet ist eine Schlaftablette. Eberhard hat sich ein Taxi geschenkt, um schneller in den vier Wänden zu sein. Keiner kann ihm wegen gestern etwas nachsagen, er bummelt wohlgemut weiter. Sieht in einem der Vorgärten den verwilderten Sauerkirschbaum, eine Freude für alle Vögel. Er späht in das Laub des Baums, in die Hecke. Sollte ihn nicht wundern, wenn die Amseln jetzt noch mal brüten. Die werden um den Verstand gebracht vom ewigen Heckenschneiden, von Lärm und Licht in der Stadt. Als Vogel wäre Eberhard immer am Meer und führte ein freies Leben jenseits aller Kultur, aller Gebote und Verbote. Tiere sind aber nicht frei, das sind nur Menschen, und auch die nur begrenzt. Nicht mal mit der Pensionierung hört das auf. Überall die Sorgen und Ermahnungen von Leisetretern, Typ Arzt oder Mutti. Man muss sich vorsehen und taub stellen bei manchen Themen. Auch Gerüchteküchen sind gefährlich. Aber er liefert niemandem Anlass zum Tratschen, siehe gestern. Vater hat vor Jahrzehnten Recht gehabt, man wäscht seinen Dreck zu Hause und nicht in der Öffentlichkeit.

Moin, Herr Geiger. Soll sonnig bleiben dieser Tage, oder? Nein? Wir lassen uns überraschen, genau. Grüße an die Familie! Geiger ist Zeuge Jehovas. Der Wahnsinn mit Methode. Nie ein Tropfen Alkohol. Und samstags harkt er unter der Hecke. Sein Enkelsegen reicht bis Asien, soweit man hört, und er ist wohl selbst noch erfolgreich in seinem Laden. Sonst hätte er nicht wieder einen neuen Benz. Die Gesichtsfarbe wirkt aber ungesund, etwas zu rot. Na, mein Lieber? Was will deine aufgedunsene Rothaut mir sagen? Hast du tatsächlich auch dein süßes kleines Geheimnis? Geh nicht zum Arzt, der macht dir höchstens Vorwürfe. In unserem Alter, was soll das.

Eberhard geht weiter, bleibt an der Lieblingsplatane stehen, einem der nächtlichen Stützpunkte. Bevor es gilt, den Hausschlüssel ins Schlüsselloch zu bringen. Nachts braucht er vor so einem schwierigen Balanceakt eine Stärkung, das macht die Sache nicht besser, er weiß es. An der Platane kleben die üblichen Zettel. Unsere zwei Jahre alte Mieze ist verschwunden, Finderlohn. Die ist wohl endgültig abgestürzt. Nie gesehen hier in unserer Straße. Es sollten Katzen schwarz sein oder getigert. Als Frau hätte ich eine auf der Schulter. Lotte würde eine Katze sehr gut stehen. Was sagen die Zettel sonst noch? Yoga und Feldenkrais-Kurse, irgendein Quatsch mit Qigong, das alles soll die Seele heilen.

Eberhard lacht in sich rein. Lesen Sie noch mal Hermann Hesse, das Siddhartha-Buch. Dann schminken Sie sich das Beten ab und das Stehen auf einem Bein. Bei Lotte sieht das schön aus. Es sah schön aus, als ihr Zimmer noch nicht ihre Festung war. Siddhartha hat Bescheid gewusst. All die vertrackten Übungen der Jainas und Ballerinas und Chinas und Palästinas wollen nur auf das eine raus, die Leute suchen nach der Meeresstille des Gemüts. Betäubung schafft ein guter Whiskey auch. Ein sanftes Feurio.

Eberhard schwenkt die Taschen, kein Klirren von Glas. So dumm ist er schon längst nicht mehr. Seine Beutel packt er methodisch: Flasche, Saftpackung und Knäckebrot. Flasche, Tüte von der Käsetheke, Tafel Riesenschokolade, Flasche, und so weiter. Vier verschiedene Läden in Fußnähe, die alle von ihm leben. Denn auch die Ketten stehen unter Konkurrenzdruck, Penny gegen Nahkauf, aber er lässt niemanden auf dem Trocknen sitzen. Als Pensionär erledigt er den Löwenanteil des Haushalts, auch wenn Lotte das nicht sieht. Sie hat wieder einen schönen Auftrag, steht aber wie üblich unter Druck. Dabei hat sie noch jede Übersetzung fristgerecht abgegeben. Er nimmt ihr vieles ab, das Einkaufen auch, alles in schönster Ordnung. Schließlich ist er nicht der Typ, beim Senf nach Mengenrabatt zu fragen. Er ist kein Geschäftsmann, sondern ein Intellektueller, immer noch schreibt er gelegentlich einen Artikel für den Hintergrund.

Jetzt muss er darauf achten, Lotte nicht zu begegnen im Flur, in der Küche. Erst mal will er in sein Zimmer. Jedem sein Rückzugsgebiet. Er hat sich damit abgefunden, dass sie kein Schlafzimmer mehr teilen. Der Raum ist längst ein Gästezimmer, oft besetzt. Lotte ist so gesellig. Aber er macht gute Miene und hat allen, die es wissen wollten, klipp und klar gesagt, als Paar kann man sich schließlich tagsüber und nachts besuchen. Kann unterkriechen beieinander, es gibt keine abgeschlossenen Türen.

Erst mal muss er jetzt die Einkaufsbeutel ungesehen in sein Zimmer bringen. Lotte verdächtigt ihn bei jedem Gang an die Luft, wortlose sprechende Verdächtigungen, die er nicht verdient. Eberhard liebt seine Frau. Weiß sie nicht, dass er fast alles für sie tun würde? Keiner kann den eignen Schatten überspringen. Der Abend gestern war unauffällig. Er hat sich nicht blamiert, ist nach der Pfütze Umtrunk weggehuscht, ein Aschenputtel. Nach dem Tanz das Ballkleid gut versteckt, zurück im Dreck das Prinzesschen. Er selbst als eine Königstochter! Eberhard lacht in sich rein, dass ihm die Tränen kommen. Sie waren zu viert im Kino, Lotte und er, ihr Bruder Piet und seine Mareike, die sich als Königin aufspielt. Von der Welt verkannt, sitzt Aschenputtel in der rauchgeschwärzten Küchenhöhle, während oben im Licht das Fest weitergeht. Junge, Junge, ist das lustig. Er muss schon wieder lächeln.

Aber dann fragt er sich, wann Lotte gestern wohl zu Hause war. Keine Ahnung. Wenn sie fährt, trinkt sie nie einen Tropfen. Man kommt auch ohne Führerschein durchs Leben. Eberhard ist so erleichtert über den Abend gestern, dass er noch heute auf Flügeln geht. Natürlich ist es lachhaft, zwei Stunden vor der Leinwand auf dem Trockenen zu sitzen und sich danach an das kindische Flötchen zu halten. Er hat sich Lotte zuliebe zusammengenommen, ist nur beizeiten gegangen. In den modernen Ehen ist jeder frei, man muss nicht gemeinsam kommen und gehen. Er hat sich ein Taxi geleistet. Bitte nach Haus in meine Höhle. In meine Hölle, Feurio. In meinen ewigen Frieden. Davon sagte er aber nichts zu dem Fahrer, die armen Kerle werden von den Kunden immer zum Quatschen missbraucht. So ein Kutscher freut sich, wenn er was erzählen kann, und er, Eberhard, hat immer ein offenes Ohr, ist höflich, gibt schönes Trinkgeld. Er würde nie ein fremdes Auto vollkotzen. Deshalb gab es auch schon Fahrer, die ihm nachts mit dem Hausschlüssel halfen, und seine Wohnungstür hat er immer noch selbst geschafft. Die zweieinhalb Stunden gestern im Kino waren grenzwertig, aber er fühlt sich gut. Denn er hat seiner Frau etwas von seiner besten Zeit geopfert. Heute abend gibt’s keine Termine und keinen Besuch, ihn erwartet der große Frieden. Allein in seinem Zimmer. Lotte mag ja nicht mehr mit ihm sein am Abend.

Er öffnet die Haustür, nimmt die Post aus dem Kasten, sieht ihr handgeschriebenes Schild, keine Werbung. Sie hätte freundlich bitte dazuschreiben können. Immer so direkt und geradeaus. Frauen sind gröber gestrickt.

Er geht zu Fuß hoch, weil er auf sich hält. Mangelnde Bewegung kann ihm keiner nachsagen. Erst wenn sie ihn aufschneiden, werden sie staunen über seine Leber. Großmutter, was hast du für große Ohren?

Aber er will ja gar nichts hören, sehen, riechen, schmecken, fühlen. Er sucht den heiligen Todesfrieden. Bei ihm als Leiche wird es zu spät für Vorwürfe sein, die hört er nicht mehr. All das Wiedergeburtengedöns ist Kokolores: Was soll für ein Trost darin liegen, erneut zur Welt zu kommen und das Unheil und das Unrecht eines letzten Lebens abzuarbeiten? Irgendwann muss Schluss sein.

Er horcht an der Wohnungstür, gewohnheitsmäßig, dabei dringt kein Laut von innen raus. Altbauwohnung, alles solide.